Language of document : ECLI:EU:F:2012:114

URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST DER EUROPÄISCHEN UNION (Zweite Kammer)

17. Juli 2012(*)

„Öffentlicher Dienst – Disziplinarverfahren – Disziplinarstrafe – Entfernung aus dem Dienst – Zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung über die Entfernung aus dem Dienst von einem nationalen Strafgericht eingeleitete Voruntersuchung – Gleichbehandlung von Männern und Frauen – Verbot der Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin während der Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs“

In der Rechtssache F‑54/11

betreffend eine Klage nach Art. 270 AEUV, der gemäß Art. 106a EAG auch für den EAG-Vertrag gilt,

BG, ehemalige Beamtin des Europäischen Bürgerbeauftragten, wohnhaft in Straßburg (Frankreich), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältinnen L. Levi und A. Blot,

Klägerin,

gegen

Europäischer Bürgerbeauftragter, vertreten durch J. Sant’Anna als Bevollmächtigten im Beistand der Rechtsanwälte D. Waelbroeck und A. Duron,

Beklagter,

erlässt

DAS GERICHT FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST

(Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin M. I. Rofes i Pujol sowie der Richterin I. Boruta und des Richters K. Bradley (Berichterstatter),

Kanzler: X. Lopez Bancalari, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2012

folgendes

Urteil

1        BG hat mit Klageschrift, die am 4. Mai 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage auf Aufhebung der Entscheidung des Europäischen Bürgerbeauftragten, gegen sie die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung des Ruhegehaltsanspruchs zu verhängen, und auf Ersatz des ihr durch diese Entscheidung entstandenen Schadens erhoben.

 Rechtlicher Rahmen

2        Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestimmt:

„…

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

…“

3        In Art. 23 der Charta, der die Überschrift „Gleichheit von Männern und Frauen“ trägt, heißt es:

„Die Gleichheit von Frauen und Männern ist in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen.

…“

4        Art. 1e Abs. 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) lautet:

„Für Beamte im aktiven Dienst gelten Arbeitsbedingungen, bei denen angemessene Gesundheits- und Sicherheitsnormen eingehalten werden, die zumindest den Mindestvorschriften aufgrund von Maßnahmen entsprechen, die in diesen Bereichen nach den Verträgen erlassen wurden.“

5        Art. 12 des Statuts bestimmt:

„Der Beamte enthält sich jeder Handlung und jedes Verhaltens, die dem Ansehen seines Amtes abträglich sein könnten.“

6        Art. 86 Abs. 3 des Statuts lautet:

„Die Disziplinarvorschriften und ‑verfahren sowie die für Verwaltungsuntersuchungen geltenden Vorschriften und Verfahren sind in Anhang IX des Statuts geregelt.“

7        Anhang IX des Statuts betrifft das Disziplinarverfahren. In Art. 5 heißt es:

„(1)      In jedem Organ wird ein Disziplinarrat eingerichtet. Mindestens eines der Mitglieder des Disziplinarrats, gegebenenfalls der Vorsitzende, muss eine Person sein, die dem Organ nicht angehört.

(2)      Der Disziplinarrat besteht aus einem Vorsitzenden und vier ordentlichen Mitgliedern, die durch stellvertretende Mitglieder ersetzt werden können; in Fällen, die Beamte bis zur Besoldungsgruppe AD 13 betreffen, setzt sich der Disziplinarrat aus zwei weiteren Mitgliedern zusammen, die derselben Funktions- und Besoldungsgruppe angehören wie der Beamte, gegen den das Disziplinarverfahren eingeleitet worden ist.

(3)      In allen Fällen, die Beamte betreffen, die nicht der Besoldungsgruppe AD 16 oder AD 15 angehören, werden die ordentlichen und stellvertretenden Mitglieder des Disziplinarrates aus dem Kreis der im aktiven Dienst stehenden Beamten bestellt, die mindestens der Besoldungsgruppe AD 14 angehören.

…“

8        Art. 6 des Anhangs IX des Statuts bestimmt:

„(1)      Anstellungsbehörde und Personalvertretung bestellen gleichzeitig jeweils zwei ordentliche und zwei stellvertretende Mitglieder.

(2)      Der Vorsitzende und sein Stellvertreter werden von der Anstellungsbehörde bestellt.

(5)      Innerhalb von fünf Tagen nach Bildung des Disziplinarrates kann der betreffende Beamte ein Mitglied des Disziplinarrates ablehnen. Auch das Organ kann ein Mitglied des Disziplinarrates ablehnen.

…“

9        In Art. 10 des Anhangs IX des Statuts heißt es:

„Die verhängte Disziplinarstrafe muss der Schwere des Dienstvergehens entsprechen. Bei der Feststellung, wie schwer das Dienstvergehen wiegt und welche Disziplinarstrafe angemessen ist, wird insbesondere Folgendem Rechnung getragen:

a)      der Art des Dienstvergehens und den Tatumständen;

b)      dem Ausmaß, in dem das Dienstvergehen die Integrität, den Ruf oder die Interessen der Organe beeinträchtigt;

c)      dem Ausmaß, in dem das Dienstvergehen mit vorsätzlichen oder fahrlässigen Handlungen verbunden ist;

d)      den Gründen des Beamten für das Dienstvergehen;

e)      der Besoldungsgruppe und dem Dienstalter des Beamten;

f)      dem Grad der persönlichen Verantwortung des Beamten;

g)      dem Niveau der Aufgaben und Zuständigkeiten des Beamten;

h)      der Frage, ob das Dienstvergehen mit wiederholten Handlungen oder wiederholtem Verhalten verbunden ist, und

i)      der bisherigen dienstlichen Führung des Beamten.“

10      Art. 18 des Anhangs IX des Statuts lautet:

„Nach Prüfung der ihm vorgelegten Unterlagen und unter Berücksichtigung etwaiger schriftlicher oder mündlicher Erklärungen sowie der Ergebnisse der gegebenenfalls durchgeführten Ermittlungen gibt der Disziplinarrat mit der Mehrheit seiner Stimmen eine mit Gründen versehene Stellungnahme darüber ab, ob die Anschuldigungen begründet sind, und welche Disziplinarstrafe die betreffenden Handlungen gegebenenfalls nach sich ziehen sollten. Diese Stellungnahme wird von allen Mitgliedern des Disziplinarrates unterzeichnet. Jedes Mitglied kann der Stellungnahme einen abweichenden Standpunkt beifügen. Die Stellungnahme wird der Anstellungsbehörde und dem Beamten innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Berichts der Anstellungsbehörde zugeleitet, sofern diese Frist der Komplexität des Falls angemessen ist. Die Frist beträgt vier Monate, wenn der Disziplinarrat die Durchführung von Ermittlungen veranlasst hat, sofern dieser Zeitraum der Komplexität des Falls angemessen ist.“

11      Art. 23 des Anhangs IX des Statuts bestimmt:

„(1)      Hat die Anstellungsbehörde einem Beamten ein schweres Dienstvergehen, sei es eine Dienstpflichtverletzung oder eine rechtswidrige Handlung, zu Last zu legen, so kann sie den Beamten unverzüglich für einen befristeten oder unbefristeten Zeitraum vorläufig seines Dienstes entheben.

(2)      Außer in Ausnahmefällen erlässt die Anstellungsbehörde diese Verfügung nach Anhörung des betreffenden Beamten.“

12      Art. 25 des Anhangs IX des Statuts lautet:

„Ist gegen den Beamten wegen desselben Sachverhalts ein Strafverfahren eingeleitet worden, so wird seine Rechtsstellung erst dann endgültig geregelt, wenn das Urteil des zuständigen Gerichts rechtskräftig geworden ist.“

13      Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40) lautet:

„Diese Richtlinie steht nicht den Vorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft, entgegen.“

14      Die Richtlinie 76/207 wurde mit Wirkung vom 15. August 2009 durch die Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) (ABl. L 204, S. 23) aufgehoben. Art. 1 dieser Richtlinie, der die Überschrift „Gegenstand“ trägt, lautet:

„Ziel der vorliegenden Richtlinie ist es, die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sicherzustellen.

Zu diesem Zweck enthält sie Bestimmungen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf

a)      den Zugang zur Beschäftigung einschließlich des beruflichen Aufstiegs und zur Berufsbildung,

b)      Arbeitsbedingungen einschließlich des Entgelts,

c)      betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit.

Weiter enthält sie Bestimmungen, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Verwirklichung durch die Schaffung angemessener Verfahren wirksamer gestaltet wird.“

15      Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie gelten als Diskriminierung

c)      jegliche ungünstigere Behandlung einer Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaftsurlaub im Sinne der Richtlinie 92/85/EWG.“

16      Art. 10 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. L 348, S. 1), der die Überschrift „Verbot der Kündigung“ trägt, bestimmt:

„Um den Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 2 die Ausübung der in diesem Artikel anerkannten Rechte in Bezug auf ihre Sicherheit und ihren Gesundheitsschutz zu gewährleisten, wird Folgendes vorgesehen:

1.      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Kündigung der Arbeitnehmerinnen im Sinne des Artikels 2 während der Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs nach Artikel 8 Absatz 1 zu verbieten; davon ausgenommen sind die nicht mit ihrem Zustand in Zusammenhang stehenden Ausnahmefälle, die entsprechend den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zulässig sind, wobei gegebenenfalls die zuständige Behörde ihre Zustimmung erteilen muss.

2.      Wird einer Arbeitnehmerin im Sinne des Artikels 2 während der in Nummer 1 genannten Zeit gekündigt, so muss der Arbeitgeber schriftlich berechtigte Kündigungsgründe anführen.

…“

 Sachverhalt

17      Die Klägerin arbeitete seit 2002 bei dem Europäischen Bürgerbeauftragten (im Folgenden: Bürgerbeauftragter) als Bedienstete auf Zeit und sodann als Beamtin in der Funktionsgruppe der Assistenten (AST). Vom 1. Oktober 2008 bis zum 31. Juli 2010 übte sie in der Funktionsgruppe der AD-Beamten die Aufgaben der für die Kommunikation Verantwortlichen im Referat Kommunikation der Dienststellen des Bürgerbeauftragten mit der Besoldungsgruppe AD 5 aus.

18      Sie hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass sie zur entscheidungserheblichen Zeit Eigentümerin eines Hauses in Kehl (Deutschland) gewesen sei, das ihr Ehemann und sie niemals als Hauptwohnsitz genutzt hätten, und dass sie im Jahr 2006 eine Wohnung in Straßburg (Frankreich) gekauft habe, die später verkauft worden sei.

19      Ende Februar 2008 reichte die Klägerin Unterlagen bei einer Wohnungsförderungsgenossenschaft (Société coopérative de promotion immobilière, im Folgenden: Genossenschaft) ein, um mit Hilfe staatlicher Subventionen, die in Frankreich geringverdienenden Ersterwerbern ihrer Hauptwohnung gewährt werden, eine Wohnung in Straßburg zu kaufen. Zur Vervollständigung ihrer Unterlagen übersandte sie der Genossenschaft zwei Bescheinigungen über ihre Einkünfte in den Jahren 2006 und 2007, die das Datum vom 27. Februar 2008 trugen.

20      Die Genossenschaft fragte mit Schreiben vom 24. März 2009 bei der Klägerin an, ob sie noch am Erwerb der Wohnung interessiert sei, und bat um bestimmte Auskünfte.

21      Um den Antrag der Klägerin bearbeiten zu können, ersuchte die Genossenschaft sie im Juli 2009, Gehaltsabrechnungen für sich und ihren Ehemann einzureichen.

22      Daraufhin übersandte die Klägerin Gehaltsabrechnungen für die Monate April, Mai, Juni und Juli 2009 (im Folgenden: Gehaltsabrechnungen) und erteilte Auskünfte über das Einkommen ihres Ehemanns.

23      Am 3. August 2009 ersuchte die Genossenschaft den Leiter des Referats Verwaltung und Personal der Dienststellen des Bürgerbeauftragten um Erläuterungen bezüglich der Frage, inwieweit die Bezüge der Beamten der Europäischen Union bei der Gewährung von staatlich subventionierten Immobiliendarlehen berücksichtigt werden könnten, und stellte Fragen bezüglich der von der Klägerin eingereichten Gehaltsabrechnungen. Auf Ersuchen der Dienststellen des Bürgerbeauftragten übersandte die Genossenschaft am 7. August 2009 Kopien der Gehaltsabrechnungen.

24      Nach Kenntnisnahme von den Gehaltsabrechnungen stellte das Referat Verwaltung und Personal fest, dass sie so geändert worden waren, dass sie ein niedrigeres als das tatsächliche Gehalt der Klägerin wiedergaben. So ergab sich aus den Gehaltsabrechnungen für April, Mai und Juni 2009 ein Nettogehalt von 2 410,36 Euro anstelle von 5 822,43 Euro und aus der Gehaltsabrechnung für Juli 2009 ein Nettogehalt von 5 711,32 Euro anstelle von 9 123,39 Euro.

25      Am 10. August 2009 teilte der Leiter des Referats Verwaltung und Personal der Genossenschaft per E-Mail mit, dass er keine Auskünfte darüber geben könne, welche Beträge nach französischem Recht zu berücksichtigen seien, und dass er in den von der Klägerin übersandten Gehaltsabrechnungen schwerwiegende Unrichtigkeiten festgestellt habe.

26      Am 11. August 2009 schlug der Leiter des Referats Verwaltung und Personal vor, eine Verwaltungsuntersuchung über die „mögliche Fälschung amtlicher Dokumente des Bürgerbeauftragten … und ihre Benutzung gegenüber einem Dritten mit dem Ziel der Erlangung eines persönlichen Vorteils“ einzuleiten.

27      Am 17. August 2009 teilte die Genossenschaft dem Leiter des Referats Verwaltung und Personal mit, dass sie beabsichtige, die Klägerin um Übersendung einer Bescheinigung über ihr steuerpflichtiges Referenzeinkommen im Jahr 2008 zu ersuchen.

28      Am 25. August 2009 bat die Klägerin die Dienststellen des Bürgerbeauftragten, ihr die von der Genossenschaft verlangte Bescheinigung sowie eine weitere Bescheinigung in deutscher Sprache auszustellen. Am selben Tag antwortete der Leiter des Referats Verwaltung und Personal der Klägerin, dass es nicht möglich sei, ihr die Bescheinigung für das Jahr 2008 sofort auszustellen, übersandte ihr jedoch die Bescheinigung in deutscher Sprache.

29      Am 26. August 2009 reichte die Klägerin bei der Genossenschaft ein als „Bescheinigung“ bezeichnetes Schriftstück ein, in dem auf Briefpapier mit Briefkopf des Europäischen Bürgerbeauftragten, Referat Verwaltung und Personal, ihr steuerpflichtiges Einkommen für das Jahr 2008 angegeben wurde.

30      Die Genossenschaft übersandte die Bescheinigung dem Referat Verwaltung und Personal, das feststellte, dass dieses Schriftstück nicht von ihm stammte. Die Bescheinigung enthielt namentlich das Aktenzeichen der der Klägerin am 25. August 2009 in deutscher Sprache erteilten Bescheinigung.

31      Am 2. September 2009 leitete der Bürgerbeauftragte eine Verwaltungsuntersuchung ein, informierte die Staatsanwaltschaft der Französischen Republik von dem Sachverhalt und enthob die Klägerin für einen unbefristeten Zeitraum vorläufig ihres Dienstes ohne Kürzung ihres Gehalts. Die Klägerin wurde darüber am selben Tag unterrichtet.

32      Am 3. September 2009 wurde die Klägerin zu einer ersten Anhörung im Rahmen der Verwaltungsuntersuchung geladen. In dieser Anhörung gab sie zu, die vier Gehaltsabrechnungen und die Bescheinigung über ihre Einkünfte im Jahr 2008 gefälscht zu haben. Außerdem teilte sie den ermittelnden Beamten mit, dass sie schwanger war, beantwortete die ihr gestellten Fragen und übergab den ermittelnden Beamten eine handschriftliche Erklärung dahin gehend, dass sie die ihr vorgeworfenen Handlungen keinesfalls leugne, jedoch Erklärungen dazu abgeben wolle. Sie führte namentlich aus, sie habe „unvernünftig“ gehandelt, um „eine völlig unerträgliche familiäre Situation zu beenden“, nämlich die durch die schwere Krankheit ihres Ehemanns bedingte Unmöglichkeit, ein Immobiliendarlehen aufzunehmen.

33      Am 18. September 2009 übersandten die ermittelnden Beamten der Klägerin ihre Schlussfolgerungen zu den ihr vorgeworfenen Handlungen. Die Klägerin gab am 22. September 2009 zusätzliche Erklärungen ab. Sie führte darin namentlich aus, dass sie sich Anfang Juli 2009 darüber klar geworden sei, dass sie schwanger war, und in einem Anfall von Panik gehandelt habe, weil sie fürchtete, dass ihrem Antrag bei der Genossenschaft nicht stattgegeben werde.

34      Am 24. September 2009 übersandten die ermittelnden Beamten dem Bürgerbeauftragten den Untersuchungsbericht, in dem sie ausführten, dass die Klägerin Dokumente gefälscht und der Genossenschaft im Rahmen eines Antrags übersandt habe, der es ihr, wenn ihm stattgegeben worden wäre, ermöglicht hätte, ein Immobiliendarlehen zu erhalten, das nach französischem Recht Haushalten mit geringem Einkommen vorbehalten sei. Folglich empfahlen die ermittelnden Beamten die Einleitung eines Disziplinarverfahrens.

35      Am 23. Oktober 2009 wurde die Klägerin vom Bürgerbeauftragten gemäß Art. 3 des Anhangs IX des Statuts angehört.

36      Am 20. November 2009 leitete der Bürgerbeauftragte ein Disziplinarverfahren ein. Er verschob jedoch mit Verfügung vom 18. Januar 2010 aufgrund des Gutachtens des Vertrauensarztes des Organs die mit dem Disziplinarverfahren zusammenhängenden Handlungen wegen der Schwangerschaft der Klägerin auf die Zeit nach ihrer Entbindung.

37      Am 19. Mai 2010 befasste der Bürgerbeauftragte den Disziplinarrat, der die Klägerin am 8. Juli 2010 anhörte.

38      Am 9. Juli 2010 erließ der Disziplinarrat eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der er zu dem Ergebnis kam, dass die der Klägerin vorgeworfenen Handlungen nachgewiesen seien und von ihr zugegeben würden.

39      Hinsichtlich der vorgeschlagenen Strafe erläuterte der Disziplinarrat seinen Standpunkt wie folgt:

„–      Die der Beamtin zur Last gelegten Handlungen sind dem Ansehen [ihres] Amtes abträglich, namentlich im Zusammenhang mit dem Wert der Integrität, der mit dem sie beschäftigenden Organ verbunden ist, und stellen schwere Verstöße gegen Art. 12 des Statuts dar …,

–        die absichtliche Begehung der der Beamtin zur Last gelegten Handlungen und ihre Schuld stehen außer Zweifel,

–        die Beamtin verrichtet Aufgaben, die mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden sind,

–        die der Beamtin zur Last gelegten Handlungen wurden nicht wiederholt begangen,

–        die Beamtin wurde während ihrer gesamten Laufbahn positiv beurteilt.“

40      Aus diesen Gründen schlug der Disziplinarrat mehrheitlich die Strafe der „Einstufung der Betroffenen in eine niedrigere Funktionsgruppe mit Einstufung in eine niedrigere Besoldungsgruppe (AST 1, Dienstaltersstufe 1)“ vor. Eine Minderheit des Disziplinarrats hielt dagegen die Entfernung aus dem Dienst für die am ehesten angemessene Strafe.

41      Der Bürgerbeauftragte verhängte durch Entscheidung vom 20. Juli 2010, die der Klägerin am 22. Juli 2010 bekannt gemacht wurde, die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung des Ruhegehaltsanspruchs mit Wirkung zum 31. Juli 2010 (im Folgenden: streitige Entscheidung).

42      Am 21. Oktober 2010 legte die Klägerin gegen die Entscheidung vom 20. Juli 2010 eine Beschwerde gemäß Art. 90 Abs. 2 des Statuts ein.

43      Der Bürgerbeauftragte wies diese Beschwerde mit Entscheidung vom 18. Januar 2011, die der Betroffenen am 24. Januar 2011 bekannt gemacht wurde, zurück.

 Anträge der Parteien und Verfahren

44      Die Klägerin beantragt,

–        die Entscheidung vom 20. Juli 2010 aufzuheben;

–        soweit erforderlich, die vom 18. Januar 2011 datierte und ihr am 24. Januar 2011 bekannt gemachte Entscheidung, mit der ihre Beschwerde ausdrücklich zurückgewiesen wurde, aufzuheben,

und folglich

–        festzustellen, dass die Aufhebung der streitigen Entscheidung ihre Wiedereinweisung in ihre Planstelle als AD‑Beamtin der Besoldungsgruppe AD 5, Dienstaltersstufe 2, mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Entscheidung sowie die Begleichung der finanziellen Ansprüche zur Folge hat, die ihr für diesen gesamten Zeitraum zustehen, zuzüglich Verzugszinsen nach dem um zwei Prozentpunkte erhöhten Zinssatz der Europäischen Zentralbank;

–        hilfsweise, den Bürgerbeauftragten zur Zahlung eines Betrags zu verurteilen, der der Vergütung entspricht, die die Klägerin ab dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens ihrer Entfernung aus dem Dienst bis zu dem Monat, in dem sie das Ruhestandsalter erreichen wird, d. h. bis Juli 2040 bezogen hätte, sowie zur entsprechenden Regelung ihrer Ruhegehaltsansprüche;

–        jedenfalls den Bürgerbeauftragten zur Zahlung von 65 000 Euro als Ersatz ihres immateriellen Schadens zu verurteilen;

–        dem Bürgerbeauftragten die Kosten aufzuerlegen.

45      Der Bürgerbeauftragte beantragt,

–        die Klage insgesamt als unbegründet abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

46      Das Gericht hat die Parteien in seinem am 15. Dezember 2011 übersandten Vorbericht aufgefordert, prozessleitenden Maßnahmen nachzukommen, was diese fristgemäß getan haben. Die Klägerin hat dem Gericht allerdings mitgeteilt, dass es ihr nicht möglich sei, eine Kopie des Fragebogens beizubringen, der der Aufforderung der Genossenschaft vom 24. März 2009 als Anlage beigefügt war.

 Rechtliche Würdigung

1.     Zum Gegenstand der Klage

47      Die Klägerin beantragt außer der Aufhebung der Entscheidung vom 20. Juli 2010 soweit erforderlich die Aufhebung der Entscheidung vom 18. Januar 2011 über die Zurückweisung ihrer Beschwerde durch die Anstellungsbehörde.

48      Nach ständiger Rechtsprechung bewirken formal gegen die Zurückweisung einer Beschwerde gerichtete Aufhebungsanträge, dass das Gericht mit der Handlung befasst wird, gegen die die Beschwerde gerichtet ist, wenn diese Zurückweisung als solche keinen eigenständigen Gehalt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 17. Januar 1989, Vainker/Parlament, 293/87, Randnr. 8). Da die Zurückweisung der gegen die streitige Entscheidung gerichteten Beschwerde in der vorliegenden Rechtssache keinen eigenständigen Gehalt hatte, ist davon auszugehen, dass die Klage allein gegen die streitige Entscheidung gerichtet ist.

49      Außerdem ist das Gericht bei Klagen nach Art. 91 des Statuts nicht befugt, den Gemeinschaftsorganen Weisungen zu erteilen (vgl. z. B. Urteil des Gerichts vom 24. Februar 2010, P/Parlament, F‑89/08, Randnr. 120, und vom 14. September 2010, Da Silva Pinto Branco/Gerichtshof, F‑52/09, Randnr. 31). Der Antrag auf Feststellung, dass die Aufhebung der streitigen Entscheidung die Wiedereinweisung der Klägerin in ihre Planstelle als AD‑Beamtin der Besoldungsgruppe AD 5, Dienstaltersstufe 2, mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Entscheidung zur Folge hat, ist folglich als unzulässig zurückzuweisen.

2.     Zu dem Aufhebungsantrag

50      Die Klägerin stützt ihre Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung auf fünf Gründe: Verletzung der im Statut enthaltenen Disziplinarordnung, Verletzung der Begründungspflicht, offensichtlicher Beurteilungsfehler, Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen und des Rechts auf Mutterschaftsurlaub sowie Verletzung der Fürsorgepflicht und des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung.

51      Außerdem wirft die Klägerin in ihren Schriftsätzen eine Frage auf, die die Rolle des Bürgerbeauftragten im Disziplinarverfahren unter dem Gesichtspunkt der Grundsätze der Waffengleichheit zwischen den Parteien und des fairen Verfahrens betrifft. Aber selbst wenn die Klägerin mit diesem Vorbringen ihren Aufhebungsantrag stützen möchte, ist es als unzulässig zurückzuweisen, da es entgegen der in Art. 35 Abs. 1 Buchst. e der Verfahrensordnung aufgestellten Regel keine Begründung enthält.

 Zum ersten Klagegrund: Verletzung der im Statut enthaltenen Disziplinarordnung

52      Der Klagegrund der Verletzung der im Statut enthaltenen Disziplinarordnung besteht aus drei Teilen: Verletzung des Art. 25 des Anhangs IX des Statuts, Verletzung des Art. 23 des Anhangs IX des Statuts und Verletzung der Art. 5 und 6 des Anhangs IX des Statuts.

 Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes betreffend das Vorliegen eines Strafverfahrens wegen desselben Sachverhalts

–       Vorbringen der Parteien

53      Die Klägerin macht geltend, der Bürgerbeauftragte habe eine endgültige Entscheidung erlassen, ohne den Ausgang des gegen sie eingeleiteten Strafverfahrens abzuwarten, und dadurch gegen Art. 25 des Anhangs IX des Statuts verstoßen.

54      Der Bürgerbeauftragte vertritt die Auffassung, dass der Begriff „Strafverfahren“ in Art. 25 des Anhangs IX des Statuts nach dem auf den betreffenden Fall anwendbaren nationalen Recht, hier also nach französischem Recht zu beurteilen sei. Ein Strafverfahren im Sinne des französischen Rechts sei zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung nicht anhängig gewesen. Deshalb beantragt der Bürgerbeauftragte, diesen Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.

55      Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, Art. 25 des Anhangs IX des Statuts sei autonom auszulegen, und die Bezugnahme des Bürgerbeauftragten auf das französische Recht in seiner Klagebeantwortung gehe fehl.

–       Würdigung durch das Gericht

56      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Verwaltungsverfahren keine Verletzung des Art. 25 des Anhangs IX des Statuts geltend gemacht worden ist.

57      Der Bürgerbeauftragte hat zwar keine Einrede der Unzulässigkeit der Klage erhoben. Die Übereinstimmung der Beschwerde mit der Klage, von der die Zulässigkeit der Klage abhängt, ist jedoch eine Frage zwingenden Rechts, die das Gericht von Amts wegen zu prüfen hat (vgl. Urteil des Gerichts vom 11. Juli 2007, B/Kommission, F‑7/06, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Dieser Grundsatz kommt nur dann zum Tragen, wenn die Klage den Gegenstand der Beschwerde oder ihren Grund ändert, wobei der Begriff „Grund“ weit auszulegen ist. Bei einem Aufhebungsantrag ist unter „Grund des Rechtsstreits“ das Bestreiten entweder der materiellen oder der formellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Handlung durch den Kläger zu verstehen; diese Unterscheidung ist in der Rechtsprechung wiederholt anerkannt worden (Urteil des Gerichts vom 1. Juli 2010, Časta/Kommission, F‑40/09, Randnr. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Hier hat die Klägerin in ihrer Beschwerde mehrere Argumente vorgebracht, die sich sowohl auf die formelle als auch auf die materielle Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidung beziehen. So hat sie geltend gemacht, bei dem Verfahren, das zum Erlass dieser Entscheidung geführt habe, habe es Unregelmäßigkeiten gegeben, und die gegen sie erhobenen Anschuldigungen seien unbegründet; zudem seien die Begründungspflicht und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt worden. Die Klägerin hat also dadurch, dass sie in ihrer Klageschrift die Verletzung des Art. 25 des Anhangs IX des Statuts gerügt hat, den Grundsatz der Übereinstimmung nicht verletzt. Der vorliegende Klagegrund ist somit zulässig.

60      In der Sache selbst ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 25 des Anhangs IX des Statuts vorgeschriebene Aussetzung des Disziplinarverfahrens bis zum Abschluss des Strafverfahrens zwei Zwecke verfolgt.

61      Zum einen soll sie vermeiden helfen, die Stellung des betreffenden Beamten in einem Strafverfahren zu beeinträchtigen, das aufgrund von Handlungen eingeleitet wurde, die auch Gegenstand eines gegen ihn gerichteten Disziplinarverfahrens innerhalb seines Gemeinschaftsorgans sind (Urteil des Gerichts erster Instanz vom 19. März 1998, Tzoanos/Kommission, T‑74/96, Randnr. 34).

62      Zum anderen ermöglicht sie es, die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts im rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren im Disziplinarverfahren zu berücksichtigen. Art. 25 des Anhangs IX des Statuts enthält nämlich den Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, was insbesondere deshalb gerechtfertigt ist, weil die nationalen Strafgerichte über weiter gehende Untersuchungsbefugnisse verfügen als die Anstellungsbehörde. Daher ist die Verwaltung in Fällen, in denen dieselbe Tat sowohl einen Straftatbestand verwirklichen als auch eine Verletzung der Dienstpflichten des Beamten darstellen kann, an die vom Strafgericht im Strafverfahren getroffenen Feststellungen gebunden. Hat das Strafgericht die Tatsachen festgestellt, so kann die Verwaltung sie anschließend unter den Begriff der disziplinarrechtlich zu ahndenden Pflichtverletzung subsumieren und dabei insbesondere prüfen, ob sie den Tatbestand einer Verletzung von Dienstpflichten verwirklichen (Urteil des Gerichts erster Instanz vom 10. Juni 2004, François/Kommission, T‑307/01, Randnr. 75; Urteil des Gerichts vom 13. Januar 2010, A und G/Kommission, F‑124/05 und F‑96/06, Randnr. 323).

63      Ferner ergibt sich aus der einschlägigen Rechtsprechung, dass der betroffene Beamte der Anstellungsbehörde die Angaben machen muss, die es ermöglichen festzustellen, ob die ihm im Disziplinarverfahren zur Last gelegten Handlungen gleichzeitig Gegenstand eines gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren sind. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, muss der Beamte grundsätzlich dartun, dass gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet wurde, während gegen ihn ein Disziplinarverfahren anhängig war. Denn nur dann, wenn ein Strafverfahren eingeleitet wurde, können die Handlungen, die seinen Gegenstand bilden, identifiziert und mit den Handlungen verglichen werden, wegen deren das Disziplinarverfahren eröffnet wurde, damit festgestellt werden kann, ob sie identisch sind (vgl. Urteil des Gerichts erster Instanz vom 30. Mai 2002, Onidi/Kommission, T‑197/00, Randnr. 81).

64      Das Gericht muss also zunächst entscheiden, ob die Klägerin dargetan hat, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung „ein Strafverfahren wegen derselben Handlungen“ anhängig war.

65      Nach ständiger Rechtsprechung ist den Begriffen einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die nähere Bestimmung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel eine autonome Auslegung zu geben, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels zu ermitteln ist (Urteil des Gerichts erster Instanz vom 5. Oktober 2009, Kommission/Roodhuijzen, T‑58/08, Randnr. 70, und des Gerichts der Europäischen Union vom 13. September 2011, Zangerl-Posselt/Kommission, T‑62/10 P, Randnr. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nur wenn der Unionsrichter dem Unionsrecht oder dessen allgemeinen Grundsätzen keine Anhaltspunkte entnehmen kann, die es ihm erlauben, Inhalt und Tragweite einer Bestimmung durch eine autonome Auslegung zu ermitteln, kann er auch bei Fehlen einer ausdrückliche Verweisung bei der Anwendung des Unionsrechts auf das Recht der Mitgliedstaaten Bezug nehmen.

66      Dieser Rechtsprechung zufolge sind zunächst die einschlägigen Statutsbestimmungen zu prüfen (vgl. das vorgenannte Urteil Kommission/Roodhuijzen, Randnr. 71). Die einzigen Hinweise auf den Begriff „Strafverfahren“ finden sich in den Art. 24 f. des Anhangs IX des Statuts im Zusammenhang mit dem Disziplinarverfahren; diese enthalten jedoch keinen zweckdienlichen Hinweis auf den Inhalt dieses Begriffs. Deshalb ist festzustellen, dass das Statut den Inhalt des Begriffs „Strafverfahren“ nicht verdeutlicht, anders als dies z. B. bei dem Begriff „fester Partner [eines Beamten] in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft“ der Fall war, der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c des Anhangs VII des Statuts definiert war und in der Rechtssache Kommission/Roodhuizen eine Rolle für die Gewährung der Haushaltszulage spielte.

67      Zum Unionsrecht ist festzustellen, dass der Gesetzgeber mehrere Rechtsakte erlassen hat, die für die Definition des Begriffs des „Strafverfahrens“ oder genauer der „strafrechtlichen Verfolgung“ ausdrücklich oder stillschweigend auf das einzelstaatliche Recht verweisen. So wird in Art. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1) das „Strafverfahren“ als „strafrechtliche[s] Verfahren im Sinne des geltenden einzelstaatlichen Rechts“ definiert. Desgleichen verleiht Art. 2 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren „verdächtigen oder … beschuldigten Personen“ Rechte, ohne diese Begriffe autonom zu definieren (ABl. L 142, S. 1).

68      Das Gericht leitet daraus her, dass dem Unionsrecht keine Anhaltspunkte zu entnehmen sind, die es ihm erlauben, Inhalt und Tragweite des in Art. 25 des Anhangs IX des Statuts enthaltenen Begriffs des Strafverfahrens im Wege einer autonomen Auslegung zu ermitteln. Unter diesen Umständen kann das Gericht bei der Anwendung dieser Bestimmung nur auf das Recht der Mitgliedstaaten Bezug nehmen, im vorliegenden Fall auf das Recht der Französischen Republik, deren Strafverfolgungsbehörden ihre Zuständigkeit für die der Klägerin zur Last gelegten Handlungen bejaht haben.

69      Insoweit ergibt sich aus den Akten, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung eine Voruntersuchung wegen Handlungen eingeleitet worden war, die als „Fälschung amtlicher Dokumente des Bürgerbeauftragten … und Benutzung gegenüber Dritten mit dem Ziel der Erlangung eines persönlichen Vorteils“ qualifiziert wurden; es waren jedoch keine Ermittlungen eingeleitet und einem Untersuchungsrichter übertragen worden.

70      Zweitens stellt das Gericht fest, dass der Begriff „Strafverfahren“ im französischen Recht nicht das Vorliegen einer einfachen Voruntersuchung umfassen kann, da er die Einleitung einer auf die Verhängung von Strafen gerichteten öffentlichen Aktion impliziert. Folglich war nach französischem Recht zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung kein Strafverfahren anhängig.

71      Gleichwohl muss es einem Beamten, gegen den wie hier eine Voruntersuchung eingeleitet wurde, die zu einem Strafverfahren führen kann, auch dann, wenn kein Strafverfahren im Sinne des nationalen Rechts vorliegt, angesichts des doppelten Zwecks des Art. 25 des Anhangs IX des Statuts ermöglicht werden, genau darzutun, dass die Entscheidung im Disziplinarverfahren geeignet ist, seine Stellung in einem eventuellen späteren Strafverfahren, zu dem die Voruntersuchung führen kann, zu beeinträchtigen (vgl. Urteil Tzoanos/Kommission, Randnr. 38), und dass die Verwaltung im Disziplinarverfahren vom Kläger bestrittene Handlungen berücksichtigt hat, bevor das Strafgericht sie rechtskräftig festgestellt hat.

72      Dies ist in der vorliegenden Rechtssache nicht der Fall.

73      Denn zum einen hat die Klägerin in ihrer Klageschrift lediglich ausgeführt, dass die in Art. 25 des Anhangs IX des Statuts aufgestellte Voraussetzung nicht erfüllt gewesen sei, ohne dass sie versucht hätte darzutun, dass eine ihre Rechtsstellung endgültig regelnde Entscheidung geeignet sei, ihre Stellung in einem eventuellen späteren dieselben Handlungen betreffenden Strafverfahren, zu dem die zur Zeit des Disziplinarverfahrens eingeleitete Untersuchung führen könne, zu beeinträchtigen.

74      Zum anderen muss der Grundsatz, dass das Strafverfahren das Disziplinarverfahren hemmt, in dem Fall, dass er auf bloße Untersuchungen vor Einleitung eines Strafverfahrens anzuwenden ist, eng ausgelegt werden, da Disziplinarverfahren sonst ihre praktische Wirksamkeit verlieren würden. Insbesondere darf dieser Grundsatz die Verwaltung nicht daran hindern, eine Disziplinarstrafe wegen Handlungen zu verhängen, die der betroffene Beamte zur Zeit des Erlasses ihrer Entscheidung nicht bestritten hat.

75      In der vorliegenden Rechtssache ergibt sich aus den Akten, dass alle mit der streitigen Entscheidung gerügten Handlungen – die Änderung von vier Gehaltsabrechnungen und einer Einkommensbescheinigung und die Vorlage dieser geänderten Dokumente bei Dritten im Rahmen eines Antrags auf Gewährung eines zinsgünstigen Darlehens – von der Klägerin zugegeben und während des gesamten Verfahrens, das zu der streitigen Entscheidung führte, mehrfach bestätigt wurden. Zudem versucht die Klägerin nicht, darzutun, dass ein französisches Strafgericht, das nach Abschluss der gegen sie gerichteten Voruntersuchung angerufen werden könnte, möglicherweise Tatsachenfeststellungen treffen würde, die die tatsächliche Begehung dieser Handlungen in irgendeiner Weise in Frage stellten könnten.

76      Die Klägerin hat dazu auf Befragen in der mündlichen Verhandlung lediglich erklärt, dass ein eventuelles strafrechtliches Ermittlungsverfahren gewisse Unklarheiten beseitigen könnte, etwa hinsichtlich der Umstände, unter denen die Änderung der Gehaltsbescheinigung von 2008 vorgenommen wurde, ihres Interesses an der Änderung der Gehaltsabrechnungen und der Bescheinigung sowie der Frage, ob sie sich durch die ihr vorgeworfenen Machenschaften tatsächlich einen persönlichen Vorteil verschafft hätte.

77      Ausweislich der Akten spielten jedoch die Fragen nach ihrem eventuellen Interesse an der Änderung der Gehaltsabrechnungen und der Einkommensbescheinigung und nach dem persönlichen Vorteil, den sie sich durch diese Änderung hätte verschaffen können, für die Entscheidung des Bürgerbeauftragten keine entscheidende Rolle. Er beschränkte sich vielmehr darauf, die von der Klägerin unbestritten verfolgte Absicht, diese Dokumente „im Rahmen eines Antrags auf Gewährung eines für Familien mit geringem Einkommen bestimmten zinsgünstigen Darlehens“ zu verwenden, als erschwerenden Umstand anzusehen und die anderweitigen Erklärungen der Klägerin zurückzuweisen.

78      Nach alledem hat die Klägerin, während zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung noch kein Strafverfahren gegen sie eingeleitet worden war, keinen spezifischen Beweis dafür erbracht, dass die Entscheidung im Disziplinarverfahren für den Fall, dass die zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung schwebenden Ermittlungen zu einem Strafverfahren wegen derselben Handlungen führen würden, ihre Stellung in einem eventuellen Strafverfahren beeinträchtigen könnte oder dass die Verwaltung andere als die von der Klägerin eingeräumte Handlungen berücksichtigt hat.

79      Der erste Teil des ersten Klagegrundes ist somit als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: Verfahrensfehler beim Erlass der Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung

–       Vorbringen der Parteien

80      Die Klägerin macht geltend, dass die Entscheidung über ihre vorläufige Dienstenthebung unter Verletzung des Art. 23 des Anhangs IX des Statuts ergangen sei, da sie vor ihrem Erlass nicht angehört worden sei.

81      Der Bürgerbeauftragte entgegnet erstens, die Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung der Klägerin sei ohne ihre Anhörung, aber unter Beachtung des Art. 23 des Anhangs IX des Statuts ergangen, der diese Möglichkeit in Ausnahmefällen vorsehe. Zweitens hätte ein eventueller Verfahrensfehler beim Erlass der Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung keinen Einfluss auf die streitige Entscheidung.

–       Würdigung durch das Gericht

82      Nach ständiger Rechtsprechung bildet eine Entscheidung, durch die die vorläufige Dienstenthebung eines Beamten angeordnet wird, einen beschwerenden Rechtsakt, gegen den unter den in den Art. 90 und 91 des Statuts aufgestellten Voraussetzungen die Aufhebungsklage gegeben ist (Urteil des Gerichts erster Instanz vom 19. Mai 1999, Connolly/Kommission, T‑203/95, Randnr. 33).

83      Bei dieser Entscheidung handelt es sich jedoch nicht um eine unerlässliche Verfahrenshandlung, die die endgültige Entscheidung über die zu verhängende Strafe vorbereitet, sondern um eine autonome Entscheidung, die die Anstellungsbehörde erlassen kann und die nur anwendbar ist, wenn dem Beamten ein schwereres Dienstvergehen zur Last gelegt wird (vgl. das vorgenannte Urteil Connolly/Kommission, Randnr. 36, und Urteil des Gerichts erster Instanz vom 16. Dezember 2004, De Nicola/EIB, T‑120/01 und T‑300/01, Randnr. 113). Folglich hätte eine eventuelle Rechtswidrigkeit der Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung keinen Einfluss auf die Gültigkeit der streitigen Entscheidung.

84      Der zweite Teil des ersten Klagegrundes ist daher nicht schlüssig und somit zurückzuweisen.

 Zum dritten Teil des ersten Klagegrundes: rechtswidrige Zusammensetzung des Disziplinarrats

–       Vorbringen der Parteien

85      Die Klägerin macht geltend, die Zusammensetzung des vom Bürgerbeauftragten befassten Disziplinarrats, der ausschließlich aus dem Organ nicht angehörenden Mitgliedern bestehe, verstoße gegen die Art. 5 und 6 des Anhangs IX des Statuts.

86      Der Bürgerbeauftragte beantragt, den dritten Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.

–       Würdigung durch das Gericht

87      Art. 5 Abs. 1 des Anhangs IX des Statuts, der lediglich vorschreibt, dass mindestens eines der Mitglieder des Disziplinarrats eine Person sein muss, die dem Organ nicht angehört, untersagt es keineswegs, dass die meisten oder sogar alle Mitglieder des Disziplinarrats Personen sind, die dem Organ nicht angehören.

88      Eine Auslegung dieser Bestimmung, die dazu führen würde, die Einrichtung von Disziplinarräten zu verbieten, die ausschließlich aus dem betreffenden Organ nicht angehörenden Mitgliedern bestünden, fände nicht nur keine Stütze in irgendeinem Text, sondern hätte, wie der Bürgerbeauftragte in seiner Klagebeantwortung zu Recht ausgeführt hat, zur Folge, dass bei Organen oder Stellen, die nicht über genug Beamte der nach den Art. 5 und 6 des Anhangs IX des Statuts für die Mitgliedschaft in einem Disziplinarrat erforderlichen Besoldungsgruppe verfügen, kein ordnungsgemäß zusammengesetzter Disziplinarrat eingerichtet werden könnte.

89      Der dritte Teil des ersten Klagegrundes greift daher nicht durch.

90      Folglich ist der erste Rechtsmittelgrund insgesamt zurückzuweisen.

 Zum zweiten Klagegrund: Verletzung der Begründungspflicht

 Vorbringen der Parteien

91      Die Klägerin trägt vor, weder die Stellungnahme des Disziplinarrats noch die Entscheidung über ihre Entfernung aus dem Dienst erfüllten die Begründungspflicht.

92      Sie rügt erstens, dass die Stellungnahme des Disziplinarrats sehr knapp gefasst sei und keine Erklärung dazu enthalte, auf welche Weise und aus welchem Grund die ihr zur Last gelegten Handlungen dem Ansehen ihres Amtes abträglich seien. Ferner wendet sich die Klägerin gegen die Feststellung des Disziplinarrats, dass sie Tätigkeiten verrichtet habe, die mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden gewesen seien, und erinnert daran, dass sie eine Beamtin der niedrigsten Besoldungsgruppe der AD‑Funktionsgruppe gewesen sei.

93      Zweitens führt die Klägerin aus, dass die Entscheidung über ihre Entfernung aus dem Dienst angesichts des Umstands, dass sie von der Stellungnahme des Disziplinarrats abweiche, nicht ausreichend begründet sei.

94      In der streitigen Entscheidung prüfe der Bürgerbeauftragte nicht, ob die gegen sie erhobenen Beschuldigungen begründet seien, sondern stelle eine Liste der erschwerenden oder mildernden Umstände auf, die einer „Stilfigur“ ähnele und aus der keineswegs hervorgehe, weshalb die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst angemessener sei als die vom Disziplinarrat vorgeschlagene Einstufung in eine niedrigere Besoldungsgruppe.

95      Der Bürgerbeauftragte ist der Meinung, dass der Disziplinarrat und die Anstellungsbehörde die Begründungspflicht erfüllt hätten, indem sie die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte dargelegt hätten, und beantragt, diesen Klagegrund zurückzuweisen.

 Würdigung durch das Gericht

96      Nach ständiger Rechtsprechung soll es die Begründung einer beschwerenden Entscheidung dem Richter ermöglichen, deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen, und dem Betroffenen die erforderlichen Anhaltspunkte für die Feststellung geben, ob die Entscheidung sachlich richtig ist (vgl. Urteil des Gerichts erster Instanz vom 19. Mai 1999, Connolly/Kommission, T‑34/96 und T‑163/96, Randnr. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97      Die Frage, ob eine Entscheidung der Anstellungsbehörde, mit der eine Disziplinarstrafe verhängt wird, diese Voraussetzungen erfüllt, ist nicht nur anhand ihres Wortlauts zu prüfen, sondern auch anhand ihres Zusammenhangs und aller einschlägigen Rechtsvorschriften. Zwar haben der Disziplinarrat und die Anstellungsbehörde alle sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidungen abhängt, sowie die Erwägungen anzugeben, die sie zu ihrem Erlass veranlasst haben; sie brauchen jedoch nicht auf alle sachlichen und rechtlichen Fragen einzugehen, die der Betroffene im Verfahren aufgeworfen hat (Urteil des Gerichts erster Instanz vom 5. Dezember 2002, Stevens/Kommission, T‑277/01, Randnr. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

98      Wenn wie hier die von der Anstellungsbehörde verhängte Strafe schwerer ist als die vom Disziplinarrat vorgeschlagene, muss die Anstellungsbehörde in ihrer Entscheidung auch genau angeben, warum sie von der Stellungnahme des Disziplinarrats abgewichen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 29. Januar 1985, F./Kommission, 228/83, Randnr. 35).

99      Anhand dieser Grundsätze ist zu prüfen, ob die Stellungnahme des Disziplinarrats und die streitige Entscheidung ausreichend begründet sind.

100    Was zunächst die Rüge angeht, die Stellungnahme des Disziplinarrats sei sehr knapp gehalten, ist festzustellen, dass sie in der Tat sehr kurz gefasst ist. Der Disziplinarrat stellte jedoch fest, dass die Klägerin zugegeben habe, die ihr vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen zu haben, und führte in seiner Stellungnahme die verschiedenen erschwerenden und mildernden Umstände an, auf die er den Vorschlag der Einstufung der Klägerin in eine niedrigere Besoldungsgruppe stützte, so dass sie die Überprüfung durch den Richter ermöglichte und der Betroffenen die erforderlichen Anhaltspunkte für die Feststellung gab, ob die Entscheidung sachlich richtig war. Folglich ist diese Rüge zurückzuweisen.

101    Zu dem Einwand der Klägerin gegen die Ausführungen des Disziplinarrats zu dem hohen Grad der mit ihren Aufgaben verbundenen Verantwortung ist festzustellen, dass es sich dabei um eine Frage handelt, die nicht die ausreichende Begründung der Stellungnahme betrifft, sondern im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen ist. Diese Frage wird deshalb im Rahmen des dritten Klagegrundes, mit dem die Klägerin einen offensichtlichen Beurteilungsfehler rügt, untersucht werden.

102    In der Begründung der streitigen Entscheidung wird zunächst auf die berufliche Stellung der Klägerin hingewiesen sowie auf die „Fälschung von vier Gehaltsabrechnungen“ und einer Bescheinigung sowie auf die „Benutzung dieser gefälschten Dokumente gegenüber Dritten“ im Rahmen eines Antrags auf ein zinsgünstiges Bankdarlehen. Zweitens wird in der Entscheidung berücksichtigt, dass die Klägerin schon bei ihrer ersten Anhörung durch den Disziplinarrat zugab, diese Handlungen tatsächlich begangen zu haben, und dies im gesamten Verfahren nicht leugnete. Drittens führt der Bürgerbeauftragte aus, dass die der Klägerin zur Last gelegten Handlungen und ihr späteres Verhalten „es unmöglich machen, das institutionelle, berufliche und persönliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürgerbeauftragten und [der Klägerin] aufrechtzuerhalten oder auch nur wiederherzustellen“, und dass angesichts der Schwere ihres Fehlverhaltens und ihrer rechtswidrigen Handlungen ihre Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst dessen Ansehen schwer schädigen würde und sehr negative Auswirkungen auf die moralische Autorität des Bürgerbeauftragten hätte.

103    In dieser Begründung, bei der es sich keineswegs nur um eine Stilübung handelt, werden die der Klägerin konkret zur Last gelegten Handlungen und die Erwägungen, die die Anstellungsbehörde veranlassten, die Strafe der Entfernung aus dem Dienst und nicht nur die der Einstufung in eine niedrige Besoldungsgruppe zu verhängen, genau angegeben. Die Begründung ist geeignet, der Klägerin die erforderlichen Anhaltspunkte für die Feststellung der sachlichen Richtigkeit der streitigen Entscheidung zu geben, und ermöglicht dem Gericht die Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit.

104    Aufgrund dieser Umstände lässt sich nicht feststellen, dass die Begründungen der Stellungnahme des Disziplinarrats und der streitigen Entscheidung unzureichend wären.

105    Deshalb ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum dritten Klagegrund: offensichtlicher Beurteilungsfehler

106    Der dritte Klagegrund gliedert sich in zwei Teile: Unbegründetheit der Anschuldigungen und offensichtliche Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

 Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes: Unbegründetheit der Anschuldigungen

–       Vorbringen der Parteien

107    Die Klägerin führt aus, dem Bürgerbeauftragten sei ein offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen, als er in der streitigen Entscheidung ausgeführt habe, dass sie die Absicht gehabt habe, sich „durch ihre Machenschaften einen persönlichen Vorteil sozialer Art“ zu verschaffen. Außerdem liege nach der französischen Rechtsprechung eine nach Art. 441‑1 des französischen Strafgesetzbuchs strafbare Urkundenfälschung nur dann vor, wenn das gefälschte oder geänderte Schriftstück geeignet sei, einem anderen einen tatsächlichen oder potenziellen Schaden zuzufügen. Ihr Verhalten habe aber gar keinen Schaden verursacht.

108    Der Bürgerbeauftragte beantragt, den ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes zurückzuweisen.

–       Würdigung durch das Gericht

109    Die Verhängung der Strafe der Entfernung aus dem Dienst ist die Folge der von der Klägerin nicht bestrittenen Tatsache, dass sie mehrere amtliche Dokumente geändert und Dritten gegenüber benutzt hat. Sie leugnet also nicht, die fraglichen Handlungen tatsächlich begangen zu haben.

110    Zwar wird der Klägerin in der streitigen Entscheidung vorgeworfen, sie habe „die gefälschten Dokumente gegenüber einem Dritten benutzt, um sich einen persönlichen Vorteil sozialer Art zu verschaffen“. Die Entscheidung wurde aber darauf gestützt, dass amtliche Dokumente gefälscht und Dritten gegenüber benutzt wurden. Tatsächlich wird in der streitigen Entscheidung die Absicht der Klägerin, diese Dokumente „im Rahmen eines Antrags auf Gewährung eines für Familien mit geringem Einkommen bestimmten zinsgünstigen Darlehens“ zu benutzen, als erschwerender Umstand angesehen. Die Klägerin bestreitet diesen Umstand nicht, sondern führt lediglich aus, dass sie durch ihre Handlungen keinen Vorteil sozialer Art erlangt habe, ohne irgendetwas dafür vorzutragen, dass die streitige Entscheidung auf diese letztgenannte Absicht gestützt worden sei. Zudem wurden die verschiedenen Erklärungen der Klägerin in dieser Entscheidung im Einzelnen geprüft und zurückgewiesen, und die Klägerin hat keine andere überzeugende Erklärung für ihre Handlungen gegeben.

111    Zweitens liegt die rechtliche Qualifizierung der Handlungen der Klägerin nach französischem Recht neben der Sache, denn der Bürgerbeauftragte hat die streitigen Handlungen unter dem Gesichtspunkt eines Disziplinarvergehens und nicht einer strafbaren Handlung geprüft.

112    Aus diesen Gründen ist festzustellen, dass die Klägerin nichts dafür vorgetragen hat, dass die streitige Entscheidung einen Beurteilungsfehler enthält, soweit sie die Begründetheit der gegen sie erhobenen Anschuldigungen betrifft. Der erste Teil des dritten Klagegrundes ist deshalb zurückzuweisen.

 Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes: offensichtliche Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

–       Vorbringen der Parteien

113    Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Endgültigkeit und Unabänderlichkeit der verhängten Strafe gegenüber dem Dienstvergehen und angesichts der gegebenen Umstände unverhältnismäßig sei und dass der Bürgerbeauftragte die erschwerenden und die mildernden Umstände unrichtig gewertet habe.

114    Der Bürgerbeauftragte beantragt, diesen Teil des dritten Klagegrundes zurückzuweisen.

–       Würdigung durch das Gericht

115    Nach Art. 10 des Anhangs IX des Statuts muss die verhängte Disziplinarstrafe der Schwere des Dienstvergehens entsprechen. In demselben Artikel werden auch die Kriterien genannt, die die Anstellungsbehörde bei der Festsetzung der Disziplinarstrafe namentlich berücksichtigen muss.

116    Die Festsetzung der Strafe beruht auf einer Gesamtwürdigung aller konkreten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls durch die Anstellungsbehörde, denn das Statut sieht kein festes Verhältnis zwischen den dort aufgeführten Disziplinarstrafen und den verschiedenen Verfehlungen der Beamten vor und bestimmt nicht, in welchem Umfang erschwerende oder mildernde Umstände bei der Festsetzung der Strafe zu berücksichtigen sind.

117    Auch schließt die Beachtung des in Art. 47 der Charta der Grundrechte aufgestellten Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, nicht aus, dass zunächst eine Strafe von einer Verwaltungsbehörde in einem Verwaltungsverfahren verhängt wird. Er setzt jedoch voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die wie hier die Anstellungsbehörde nicht selbst die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen erfüllt, später von einem „Rechtsprechungsorgan mit der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“ kontrolliert wird (vgl. in diesem Sinne entsprechend Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Albert und Le Compte/Belgien vom 10. Februar 1983, Band A Nr. 58, § 29; Urteile Schmautzer, Umlauft, Gradinger, Pramstaller, Palaoro und Pfarrmeier/Österreich vom 23. Oktober 1995, Band A Nr. 328 A‑C und 329 A‑C, §§ 34, 37, 42, 39, 41 bzw. 38, und Urteil Mérigaud/Frankreich, Nr. 32976/04, vom 24. September 2009, § 68). Ein Rechtsprechungsorgan kann nur dann als „Rechtsprechungsorgan mit der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“ angesehen werden, wenn es u. a. befugt ist, alle für die Entscheidung des ihm vorliegenden Rechtsstreits erheblichen Tatsachen- und Rechtsfragen zu untersuchen (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Chevrol/Frankreich, Nr. 49636/99, vom 3. Februar 2003, § 77 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil Silvester’s Horeca Service/Belgien, Nr. 47650/99, vom 4. März 2004, § 27). Dies bedeutet bei Disziplinarstrafen, dass es u. a. befugt sein muss, die Verhältnismäßigkeit der Strafe gegenüber dem Dienstvergehen zu beurteilen, ohne sich auf die Suche nach offensichtlichen Beurteilungsfehlern oder einem Ermessensmissbrauch zu beschränken (Urteil des Gerichts vom 15. Mai 2012, Nijs/Rechnungshof, T‑184/11 P, Randnrn. 85 und 86).

118    Das Gericht muss das Vorbringen der Klägerin, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt worden sei, in dem oben in den Randnrn. 115 bis 117 dargelegten rechtlichen Rahmen untersuchen und dabei prüfen, ob die Anstellungsbehörde bei der Abwägung der erschwerenden und der mildernden Umstände den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt hat.

119    In der vorliegenden Rechtssache ist die angefochtene Disziplinarstrafe offensichtlich nicht unverhältnismäßig, denn die Klägerin hat dadurch, dass sie amtliche Dokumente verändert hat, das Ansehen ihres Amtes schwer beeinträchtigt und das Vertrauensverhältnis zum Bürgerbeauftragten endgültig zerstört. Im Übrigen gestattet kein von der Klägerin vorgebrachtes Argument den Schluss, dass die verhängte Strafe nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem ihr vorgeworfenen Verhalten steht.

120    Die Klägerin wirft dem Bürgerbeauftragten insbesondere vor, zu Unrecht die wichtigen Aufgaben, die sie als für die Kommunikation verantwortliche AD-Beamtin ausgeübt habe, die besondere Rechtswidrigkeit der ihr zur Last gelegten Handlungen, ihre Unfähigkeit und ihre Weigerung, die Tatsachen zuzugeben, die schwere Schädigung des Rufes des Bürgerbeauftragten und den Vorsatz als erschwerende Umstände gewertet zu haben.

121    Was die Zuständigkeiten der Klägerin angeht, war diese, wie der Bürgerbeauftragte zu Recht ausgeführt hat, die einzige AD-Beamtin im Referat Kommunikation. Ferner ergibt sich aus den der Klageschrift beigefügten Beurteilungen, dass ihr tatsächlich wichtige Aufgaben im Zusammenhang mit öffentlichen Ausschreibungen und der Verwaltung öffentlicher Gelder übertragen worden waren. Die Erfahrung, die die Klägerin im Dienst des Bürgerbeauftragten erwarb, und die wichtigen Aufgaben, die ihr übertragen wurden, zeugen von dem Vertrauen, das der Bürgerbeauftragte zu ihr hatte, und rechtfertigen die Berücksichtigung dieser Gegebenheiten als erschwerende Umstände (vgl. in diesem Sinne Urteil Onidi/Kommission, Randnr. 146).

122    Zu der Charakterisierung der Handlungen und der Schwere des Dienstvergehens bemerkt die Klägerin lediglich, sie habe ihre Rolle als Beamtin hierdurch nicht verleugnet; sie bringt jedoch kein Argument vor, das geeignet wäre, die Beurteilung des Bürgerbeauftragten in Frage zu stellen, dass die Änderung amtlicher Dokumente und ihre Benutzung gegenüber Dritten ein sehr schweres Dienstvergehen darstelle.

123    Zu der Rüge bezüglich der „Unfähigkeit und der Weigerung [der Klägerin], die Handlungen zuzugeben“, und des Umstands, dass sie sich nie für ihr Verhalten entschuldigt habe, ist festzustellen, dass der Bürgerbeauftragte nie bestritten hat, dass die Klägerin die Handlungen zugegeben hat, sondern in der streitigen Entscheidung in Wirklichkeit die „Unfähigkeit und die Weigerung [der Klägerin], die Schwere der begangenen Handlungen zuzugeben“, als erschwerenden Umstand angesehen hat. Zudem bestätigte die Klägerin zwar in dem Gespräch mit den ermittelnden Beamten sofort, sich über die „Schwere der Handlungen“ im Klaren zu sein; ausweislich der Akten versuchte sie dann aber wiederholt, diese herunterzuspielen. So führte sie in der Anhörung durch den Bürgerbeauftragten aus, dass die Genossenschaft und die Staatsanwaltschaft die Akten nicht so wichtig nähmen, und beanstandete in ihren zusätzlichen Erklärungen vom 3. November 2009, dass der Bürgerbeauftragte „übertreibe, um sich letztlich über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinwegzusetzen“. Schließlich entschuldigte sich die Klägerin gegenüber den ermittelnden Beamten „für diesen durch diese Situation und [ihre] Handlungen bedingten scheußlichen und unangenehmen Augenblick“, entschuldigte sich jedoch zu keinem Zeitpunkt für ihre Machenschaften. Folglich kann dem Bürgerbeauftragten nicht vorgeworfen werden, im Rahmen der erschwerenden Umstände darauf hingewiesen zu haben, dass die Klägerin die Schwere der ihr vorgeworfenen Handlungen nicht begriffen habe.

124    Die Klägerin macht geltend, der Bürgerbeauftragte habe zu Unrecht den Schaden, den ihre Handlungen seinem Ruf zugefügt hätten, als erschwerenden Umstand gewertet, denn die Vorgänge seien vertraulich geblieben. Sie hat sich jedoch selbst über die Bekanntmachung dieser Angelegenheit beklagt, und der Vorgang ist, wie der Bürgerbeauftragte ausgeführt hat, mit Sicherheit der Genossenschaft und den französischen Behörden bekannt, da er diese Stellen gemäß Art. 4 Abs. 2 des Beschlusses 94/262/EGKS, EG, Euratom des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994 über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten (ABl. L 113, S. 15) über die der Klägerin vorgeworfenen Handlungen unterrichtet hat. Dieser Rüge kann somit nicht stattgegeben werden.

125    Schließlich wendet sich die Klägerin gegen den Vorwurf des Bürgerbeauftragten, dass sie vorsätzlich gehandelt habe. Unstreitig haben sich jedoch die Machenschaften der Klägerin über einen Zeitraum von ungefähr zwei Monaten ab Anfang Juli bis zum 26. August 2009 hingezogen, dem Datum, an dem sie der Genossenschaft die von ihr selbst hergestellte Einkommensbescheinigung übersandte. Zudem erfordern die von ihr zugegebenen Handlungen eindeutig eine so gründliche Vorbereitung, dass sich das Vorliegen einer, wie die Klägerin es nennt, „unbedachten Handlung“ ausschließen lässt. Diese Rüge ist deshalb zurückzuweisen.

126    Was zweitens die Berücksichtigung der mildernden Umstände betrifft, wirft die Klägerin dem Bürgerbeauftragten vor, ihrer persönlichen und familiären verzweifelten Lage nicht Rechnung getragen zu haben. Dass der Bürgerbeauftragte dieses Vorbringen zurückgewiesen hat, bedeutet jedoch nicht, dass er es unberücksichtigt gelassen hat.

127    Weiter rügt die Klägerin, dass der Bürgerbeauftragte keine Folgerungen daraus gezogen habe, dass sie ihre Handlungen nicht wiederholt begangen habe. Insoweit bestimmt Art. 10 Buchst. h des Anhangs IX des Statuts, dass die Anstellungsbehörde bei der Feststellung, wie schwer das Dienstvergehen wiegt, der Frage Rechnung trägt, ob das Dienstvergehen mit wiederholten Handlungen oder wiederholtem Verhalten verbunden ist, so dass eine wiederholte Begehung eine Strafverschärfung rechtfertigen kann. Umgekehrt kann aber die Tatsache, dass die Handlungen nicht wiederholt begangen wurden, keinen mildernden Umstand darstellen, denn der Beamte muss sich grundsätzlich jeder Handlung und jedes Verhaltens enthalten, die dem Ansehen seines Amtes abträglich sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 30. November 2011, Quinn Barlo u. a./Kommission, T‑208/06, Randnrn. 255 und 264, wonach in Wettbewerbssachen das Unterbleiben eines erneuten Verstoßes keinen mildernden Umstand darstellen kann; gegen dieses Urteil wurde Rechtsmittel beim Gerichtshof eingelegt, Rechtssache C‑70/12 P).

128    Die Klägerin wirft dem Bürgerbeauftragten vor, ihr privates Verhalten und ihre berufliche Tätigkeit über einen Kamm geschoren zu haben; das Dienstvergehen habe mit ihrer beruflichen Tätigkeit nichts zu tun. Diese Rüge ist jedoch zurückzuweisen, denn der Beamte muss dem Ansehen seines Amtes nicht nur für die Zeit der Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe, sondern unter allen Umständen gerecht werden (Urteil des Gerichtshofs vom 6. März 2001, Connolly/Kommission, C‑274/99 P, Randnrn. 79 bis 93 und 130, und Urteil des Gerichts erster Instanz vom 7. März 1996, Williams/Rechnungshof T‑146/94, Randnr. 68).

129    Schließlich rügt die Klägerin, der Bürgerbeauftragte habe ihre Beurteilungen, in denen er ihr ausgezeichnete Leistungen bescheinigt habe, nicht als mildernde Umstände bewertet. Die Anstellungsbehörde durfte jedoch unabhängig von den Beurteilungen und trotz der vom Bürgerbeauftragten in der streitigen Entscheidung zum Ausdruck gebrachten Anerkennung der unbestreitbaren Tüchtigkeit und Befähigung der Klägerin zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Umstand angesichts der Schwere der begangenen Verfehlungen, der Besoldungsgruppe und der Zuständigkeiten der Klägerin nicht geeignet war, die zu verhängende Disziplinarstrafe zu mildern (vgl. das vorgenannte Urteil Connolly/Kommission, T‑34/96 und T‑163/96, Randnr. 167).

130    Nach alledem ist der vorliegende Klagegrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum vierten Klagegrund: Gleichbehandlung von Männern und Frauen und Anspruch auf Mutterschaftsurlaub

 Vorbringen der Parteien

131    Die Klägerin trägt vor, die streitige Entscheidung verstoße gegen Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 76/207 und Art. 10 der Richtlinie 92/85, da sie in Kraft getreten sei, während sie sich im Mutterschaftsurlaub befunden habe.

132    Der Bürgerbeauftragte räumt ein, dass die Richtlinie 92/85 grundsätzlich anwendbar sei, entgegnet jedoch, dass Art. 10 dieser Richtlinie die Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin nur insoweit verbiete, als sie mit deren Zustand zusammenhänge, und beantragt die Zurückweisung dieses Klagegrundes.

 Würdigung durch das Gericht

133    Zur angeblichen Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen ist vorab festzustellen, dass Art. 23 der Charta der Grundrechte seine Beachtung in allen Bereichen einschließlich der Beschäftigung vorschreibt und dass das Verbot der Diskriminierung schwangerer Arbeitnehmerinnen in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 und Art. 10 der Richtlinie 92/85 niedergelegt ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass sich die Schriftsätze der Klägerin auf diese Bestimmungen beziehen.

134    Die Rechtsprechung hat bestätigt, dass die Gleichheit von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern, die bei den Organen der Union beschäftigt sind, gewährleistet werden muss (Urteil des Gerichts erster Instanz vom 28. Januar 1992, Speybrouck/Parlament, T‑45/90, Randnr. 48).

135    In der vorliegenden Rechtssache hat die Klägerin keine Tatsachen vorgetragen, die auf das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung schließen lassen. Eine solche Diskriminierung kann auch nicht allein daraus hergeleitet werden, dass die Schwangerschaft der Klägerin dem Bürgerbeauftragten bekannt war.

136    Da keine Tatsachen dargetan worden sind, die geeignet sind, eine Vermutung für das Bestehen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung der Klägerin zu begründen, braucht der Bürgerbeauftragte nicht den Nachweis dafür zu erbringen, dass kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen vorliegt.

137    Was die angebliche Verletzung des Art. 10 der Richtlinie 92/85 angeht, bestimmt Art. 1e Abs. 2 des Statuts, dass für Beamte im aktiven Dienst Arbeitsbedingungen gelten, bei denen angemessene Gesundheits- und Sicherheitsnormen eingehalten werden, die zumindest den Mindestvorschriften aufgrund von Maßnahmen entsprechen, die in diesen Bereichen nach den Verträgen erlassen wurden.

138    Die Richtlinie 92/85 bezweckt die Verbesserung der Arbeitsumwelt durch eine Verstärkung des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der schwangeren Arbeitnehmerinnen. Somit verpflichtet diese Richtlinie die Organe, den schwangeren Arbeitnehmerinnen im Rahmen ihrer organisatorischen Autonomie und innerhalb der Grenzen des Statuts einen Schutz zu gewähren, der dem in der Richtlinie vorgesehenen Mindestschutz entspricht (vgl. Urteil des Gerichts vom 30. April 2009, Aayhan u. a./Parlament, F‑65/07, Randnr. 116).

139    Art. 10 der Richtlinie 92/85 kann jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass er jede Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin verbietet. Denn eine Kündigung während der Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs aus Gründen, die nichts mit der Schwangerschaft zu tun haben, verstößt nicht gegen Art. 10, vorausgesetzt, der Arbeitgeber führt schriftlich berechtigte Kündigungsgründe an und die Kündigung der Betroffenen ist nach den betreffenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zulässig, wie es in Art. 10 Nrn. 1 und 2 dieser Richtlinie geregelt ist (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 11. November 2010, Danosa, C‑232/09, Randnr. 63).

140    Erstens geht jedoch aus den Akten eindeutig hervor, dass die Entfernung der Klägerin aus dem Dienst nichts mit ihrer Schwangerschaft zu tun hat. Die Klägerin hat auch zu keiner Zeit, weder in ihren Schriftsätzen noch in ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, behauptet, dass die Entscheidung über ihre Entfernung aus dem Dienst auf ihrer Schwangerschaft beruht habe.

141    Zweitens führte der Bürgerbeauftragte in der streitigen Entscheidung schriftlich berechtigte Kündigungsgründe an.

142    Drittens findet sich im Statut zwar keine besondere Bestimmung, die ausdrücklich eine Ausnahme von dem in Art. 10 der Richtlinie enthaltenen Verbot vorsieht; das Statut ist jedoch dahin auszulegen, dass sein Art. 47 Buchst. e, der ausnahmsweise die Möglichkeit vorsieht, dass ein Beamter durch seine Entfernung aus dem Dienst aufgrund eines Disziplinarverfahrens endgültig aus dem Dienst ausscheidet, eine solche Ausnahme enthält.

143    Aufgrund dieser Erwägungen ist der vorliegende Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.

 Zum fünften Klagegrund: Verletzung der Fürsorgepflicht und des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung

 Vorbringen der Parteien

144    Die Klägerin rügt, dass der Bürgerbeauftragte mit der Einleitung des Disziplinarverfahrens bis zum 19. Mai 2010 gewartet habe, obwohl sie doch schriftlich unter Vorlage eines Attests ihres Hausarztes darum ersucht habe, das Verfahren, das wegen ihrer Schwangerschaft mit Stress für sie verbunden gewesen sei, so schnell wie möglich abzuschließen. Zudem sei das Verfahren während und kurz nach ihrer Schwangerschaft durchgeführt worden, worin eine Verletzung der Fürsorgepflicht des Bürgerbeauftragten zu sehen sei.

145    Der Bürgerbeauftragte beantragt, diesen Klagegrund zurückzuweisen.

 Würdigung durch das Gericht

146    Ausweislich der Akten informierte die Klägerin den Bürgerbeauftragten am 25. November 2009 von dem mit dem laufenden Verfahren für sie verbundenen Stress und machte geltend, dass dieser negative Auswirkungen auf ihre Schwangerschaft haben könne. Der Bürgerbeauftragte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 27. November 2009 mit, dass er beabsichtige, den Vertrauensarzt zu ersuchen, sich vom Gesundheitszustand der Klägerin zu überzeugen, um ihr eventuelle Maßnahmen zur Abmilderung der Wirkung des Disziplinarverfahrens auf ihre Gesundheit und die ihres ungeborenen Kindes anzuraten. Aufgrund des Gutachtens des Vertrauensarztes des Organs, in dem es hieß, dass der Gesundheitszustand der Klägerin instabil sei und ein Disziplinarverfahren verheerende Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben könne, beschloss der Bürgerbeauftragte mit Verfügung vom 18. Januar 2010, die mit dem Disziplinarverfahren verbundenen Handlungen auf einen Zeitpunkt nach der Entbindung der Klägerin aufzuschieben.

147    Der Bürgerbeauftragte hat also die Einleitung des Disziplinarverfahrens gerade aus Fürsorgeerwägungen aufgeschoben.

148    Folglich ist der fünfte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.

3.     Zum Antrag auf Schadensersatz

 Vorbringen der Parteien

149    Die Klägerin beantragt festzustellen, dass die Aufhebung der streitigen Entscheidung die Begleichung der finanziellen Ansprüche zur Folge hat, die ihr für den Zeitraum zwischen dem Wirksamwerden der Entfernung aus dem Dienst und der diese aufhebenden Entscheidung des Gerichts zustehen, zuzüglich Verzugszinsen ab dem Zeitpunkt dieser Entscheidung.

150    Hilfsweise beantragt sie, den Bürgerbeauftragten zum Ersatz des ihr durch den Erlass der streitigen Entscheidung entstandenen materiellen und immateriellen Schadens zu verurteilen.

151    Jedenfalls beantragt sie, den Bürgerbeauftragten zur Zahlung von 65 000 Euro als Ersatz des immateriellen Schadens zu verurteilen.

152    Der Bürgerbeauftragte beantragt, diese Anträge zurückzuweisen.

 Würdigung durch das Gericht

153    Nach ständiger Rechtsprechung im Bereich des öffentlichen Dienstes sind Schadensersatzanträge zurückzuweisen, soweit sie in einem engen Zusammenhang mit Aufhebungsanträgen stehen, die ihrerseits als unbegründet zurückgewiesen wurden (Urteil des Gerichts vom 8. November 2007, Andreasen/Kommission, F‑40/05, Randnr. 277).

154    In der vorliegenden Rechtssache besteht ein enger Zusammenhang zwischen allen Schadensersatzanträgen und dem Aufhebungsantrag, der als unbegründet zurückgewiesen worden ist. Da die Prüfung des Aufhebungsantrags keine Rechtswidrigkeit ergeben hat, die zu einer Haftung des Bürgerbeauftragten führen könnte, sind die Schadensersatzanträge zurückzuweisen.

155    Nach alledem ist die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

 Kosten

156    Nach Art. 87 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei vorbehaltlich der übrigen Bestimmungen des achten Kapitels des zweiten Titels der Verfahrensordnung auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 87 Abs. 2 kann das Gericht aus Gründen der Billigkeit entscheiden, dass eine unterliegende Partei zur Tragung nur eines Teils der Kosten oder gar nicht zur Tragung der Kosten zu verurteilen ist.

157    Die Klägerin ist aus den dargelegten Gründen mit ihrer Klage unterlegen. Der Bürgerbeauftragte hat auch ausdrücklich beantragt, die Klägerin zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Umstände des vorliegenden Falles nicht die Anwendung von Art. 87 Abs. 2 der Verfahrensordnung rechtfertigen, hat die Klägerin ihre eigenen Kosen zu tragen und wird zur Tragung der Kosten des Bürgerbeauftragten verurteilt.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST

(Zweite Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage von BG wird abgewiesen.

2.      BG trägt ihre eigenen Kosten und wird zur Tragung der Kosten des Europäischen Bürgerbeauftragten verurteilt.

Rofes i Pujol

Boruta

Bradley

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Juli 2012.

Die Kanzlerin

 

       Der Präsident

W. Hakenberg

 

       H. Kreppel


* Verfahrenssprache: Französisch.