Language of document : ECLI:EU:C:2019:10

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 10. Januar 2019(1)

Rechtssache C631/17

SF

gegen

Inspecteur van de Belastingdienst

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Oberster Gerichtshof der Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 11 Abs. 3 Buchst. e – Angehöriger eines Mitgliedstaats, der als Seemann an Bord eines unter der Flagge eines Drittstaats fahrenden Schiffes beschäftigt ist – Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Staat als dem Wohnsitzstaat des Arbeitnehmers – Persönlicher Geltungsbereich der Verordnung – Bestimmung des anwendbaren Rechts“






1.        Ist Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit(2) als Auffangbestimmung im System der Normen anzusehen, die das anwendbare Recht (Kollisionsrecht) im Bereich der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Verordnung abschließend regeln, die für alle von dieser Verordnung nicht ausdrücklich geregelten Fälle gilt, oder hat sie eine insoweit beschränkte Tragweite, als sie ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen Anwendung findet?

2.        Das ist im Wesentlichen die Frage, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu beantworten hat, die auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem lettischen Staatsbürger mit Wohnsitz in Lettland, der kurzzeitig bei einem Unternehmen mit Sitz in den Niederlanden auf einem unter der Flagge eines Drittstaats fahrenden Schiff, das sich im maßgeblichen Zeitraum außerhalb des Unionsgebiets befand, beschäftigt war, auf der einen und den niederländischen Finanzbehörden, die für die Zeit seiner Beschäftigung die Zahlung von Sozialbeträgen fordern, auf der anderen Seite zurückgeht.

3.        Diese Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, erstmals die Bestimmung des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 auszulegen, eine neue Bestimmung, die in der alten Verordnung Nr. 1408/71 nicht enthalten war(3). Die Entscheidung des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache wird für die Definition der allgemeinen Systematik der in der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Kollisionsnormen eine gewisse Bedeutung haben.

I.      Rechtsrahmen

4.        Art. 11 („Allgemeine Regelung“), der erste Artikel in Titel II der Verordnung Nr. 883/2004, bestimmt:

„(1)      Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3)      Vorbehaltlich der Art. 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)      [E]ine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

b)      ein Beamter unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, dem die ihn beschäftigende Verwaltungseinheit angehört;

c)      eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Artikel 65 erhält, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

d)      eine zum Wehr- oder Zivildienst eines Mitgliedstaats einberufene oder wiedereinberufene Person unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

e)      jede andere Person, die nicht unter die Buchstaben a) bis d) fällt, unterliegt unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihr Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats.

(4)      Für die Zwecke dieses Titels gilt eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit, die gewöhnlich an Bord eines unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahrenden Schiffes auf See ausgeübt wird, als in diesem Mitgliedstaat ausgeübt. Eine Person, die einer Beschäftigung an Bord eines unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahrenden Schiffes nachgeht und ihr Entgelt für diese Tätigkeit von einem Unternehmen oder einer Person mit Sitz oder Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat erhält, unterliegt jedoch den Rechtsvorschriften des letzteren Mitgliedstaats, sofern sie in diesem Staat wohnt. Das Unternehmen oder die Person, das bzw. die das Entgelt zahlt, gilt für die Zwecke dieser Rechtsvorschriften als Arbeitgeber.

…“

II.    Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

5.        In der Zeit vom 13. August 2013 bis zum 31. Dezember 2013 war SF, ein lettischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Lettland, bei der Oceanwide Offshore Services BV mit Sitz in den Niederlanden beschäftigt.

6.        Während dieser Zeit übte SF als Steward an Bord eines unter der Flagge der Bahamas fahrenden Seeschiffs, das sich zur fraglichen Zeit über dem deutschen Teil des Nordsee-Festlandssockels befand, die Tätigkeit eines Seemanns aus.

7.        Für die Zeit der Beschäftigung von SF bei der Oceanwide Offshore Services BV erteilten die niederländischen Finanzbehörden, konkret der Inspecteur van de Belastingdienst (Inspektor der Finanzverwaltung), SF einen Abgabenbescheid über die Zahlung von Sozialbeiträgen.

8.        Da SF der Auffassung war, dass er nicht dem niederländischen Sozialversicherungssystem unterliege, erhob er gegen den Bescheid der niederländischen Finanzbehörden Klage vor der Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Gericht Zeeland-West-Brabant, Niederlande).

9.        Dieses Gericht beschloss, dem Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) einige Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um die gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 auf die Situation von SF anwendbaren Rechtsvorschriften bestimmen zu lassen.

10.      Der Hoge Raad (Oberster Gerichtshof), das vorlegende Gericht, geht davon aus, dass sowohl SF als auch sein Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen und dass die von ihm in der fraglichen Zeit ausgeübte Erwerbstätigkeit nicht Tätigkeiten gleichgestellt werden könne, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ausgeübt würden.

11.      Da keine andere Vorschrift der Verordnung Nr. 883/2004 auf eine Situation wie die von SF anwendbar sei, falle diese Situation in den Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e dieser Verordnung und seien deshalb die Vorschriften des Wohnmitgliedstaats des Betroffenen, d. h. das lettische Recht, im vorliegenden Fall maßgeblich.

12.      Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass vor ihm vorgebracht worden sei, dass auf die Situation von SF Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit dessen Abs. 4 anwendbar sei. Träfe diese rechtliche Einordnung zu, wäre das auf die Situation von SF anwendbare Recht das Recht des Staates, in dem der Arbeitgeber ansässig sei, also das niederländische Recht.

13.      In diesem Zusammenhang hat der Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) aufgrund von Zweifeln hinsichtlich der Richtigkeit seiner Auffassung dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Auf die Rechtsvorschriften welches Mitgliedstaats verweist die Verordnung Nr. 883/2004, wenn es um einen Abgabenschuldner geht, der a) in Lettland wohnt, b) die lettische Staatsangehörigkeit besitzt, c) bei einem in den Niederlanden ansässigen Arbeitgeber beschäftigt ist, d) als Seemann tätig ist, e) seine Arbeit an Bord eines unter der Flagge der Bahamas fahrenden Seeschiffs verrichtet und f) diese Tätigkeit außerhalb des Gebiets der Europäischen Union ausübt?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

14.      Die Vorlageentscheidung ist am 9. November 2017 bei der Kanzlei eingegangen. SF, die hellenische und die polnische Regierung, die Regierung der Niederlande sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. An der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2018 haben SF, die hellenische Regierung, die Regierung der Niederlande sowie die Kommission teilgenommen.

IV.    Rechtliche Würdigung

A.      Vorbemerkungen

15.      Mit seiner Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um Klärung, welches Recht gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 auf eine Situation wie die des Betroffenen im Ausgangsverfahren anzuwenden ist, der seinen Wohnsitz in seinem Herkunftsmitgliedstaat hat und für einen Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt war, wobei er eine Tätigkeit als Seemann an Bord eines unter der Flagge eines Drittstaats fahrenden Seeschiffs verrichtete, das sich im maßgeblichen Zeitraum außerhalb des Gebiets der Union befand.

16.      Insoweit werden zwei einander entgegenstehende Auffassungen vertreten.

17.      Nach der einen, vom vorlegenden Gericht selbst, von der hellenischen und der polnischen Regierung sowie von SF vertretenen Ansicht kommt, da keine andere Vorschrift der Verordnung Nr. 883/2004 auf die Situation von SF anwendbar ist, die Auffangvorschrift von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 auf sie zur Anwendung. Infolgedessen sei der Betroffene den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterworfen.

18.      Nach der anderen, von der Kommission und der Regierung der Niederlande vertretenen Auffassung ist die Bestimmung des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 hingegen ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen anwendbar, so dass sie für eine Situation wie jene von SF nicht gilt, der im maßgeblichen Zeitraum berufstätig war. Auf eine Situation wie die von SF seien vielmehr gemäß den im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs(4) ausgelegten Bestimmungen von Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitgeber des Betroffenen seinen Sitz habe.

19.      Bei seiner Antwort auf die Frage des vorlegenden Gerichts wird der Gerichtshof daher die Tragweite von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmen müssen. Dabei ist diese Bestimmung nach meiner Ansicht zunächst im Rahmen des Systems der Verordnung Nr. 883/2004 im Licht der vom Gerichtshof in diesem Bereich entwickelten Grundsätze zu analysieren, um dann auf der Grundlage dieser Analyse den Anwendungsbereich zu bestimmen.

B.      Die Bestimmung des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e im System der Verordnung Nr. 883/2004

20.      Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, soll die Verordnung Nr. 883/2004, die die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 unter Beibehaltung der Zielsetzung dieser Verordnung modernisiert und vereinfacht hat, die Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten koordinieren, um zu gewährleisten, dass das Recht auf Freizügigkeit wirksam ausgeübt werden kann(5).

21.      Diese Verordnung schafft nämlich kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen(6), indem sie eine Reihe von gemeinsamen Grundsätzen festlegt, denen die Rechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten im Bereich der sozialen Sicherheit gerecht werden müssen und die zusammen mit dem System der in der Verordnung enthaltenen Kollisionsnormen sicherstellen, dass Personen, die ihr Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht innerhalb der Union ausüben, durch die unterschiedlichen nationalen Systeme nicht benachteiligt werden, wenn sie von dieser Freiheit Gebrauch machten(7).

22.      Insoweit enthält Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 die Kollisionsnormen, anhand deren das auf in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallende Personen anwendbare Recht bestimmt werden kann. Fällt eine Person in den in Art. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 definierten „persönlichen Geltungsbereich“ dieser Verordnung, ist somit grundsätzlich die in deren Art. 11 Abs. 1 aufgestellte Regel der Einheitlichkeit anwendbar, und die anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften bestimmen sich nach den Vorschriften von Titel II dieser Verordnung(8).

23.      Der Gerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Vorschriften dieses Titels ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen bilden und dass mit diesen Vorschriften nicht nur die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten verhindert werden, sondern auch dem entgegengewirkt werden soll, dass Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen, der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind(9).

24.      Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 stellt den „Eckpfeiler“ von Titel II dieser Verordnung dar und ermöglicht es, zu bestimmen, welche nationalen Rechtsvorschriften für jede Person gelten, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt(10).

25.      Was insbesondere die Bestimmung des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e dieser Verordnung betrifft, hatte der Gerichtshof bereits Gelegenheit, festzustellen, dass diese Vorschrift eine Kollisionsnorm formuliert, die bestimmen soll, welches nationale Recht für den Bezug der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 genannten Leistungen der sozialen Sicherheit gilt, die andere als die in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bis d dieser Verordnung genannten Personen, d. h. insbesondere nicht erwerbstätige Personen, beanspruchen können(11).

26.      Der Gerichtshof hatte außerdem bereits Gelegenheit, die spezifischen Ziele von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004, die genau den oben in Nr. 23 genannten Zielen entsprechen, zu bestimmen. Denn nach seinen Feststellungen sollen mit diesen Bestimmungen nicht nur die gleichzeitige Anwendung verschiedener nationaler Rechte auf eine konkrete Situation und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden, sondern auch verhindert werden, dass Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen, der Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind(12). Dagegen soll diese Bestimmung als solche nicht die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit festlegen, wobei es grundsätzlich Sache der Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats ist, diese Voraussetzungen festzulegen(13).

27.      Im Hinblick auf Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 ist ferner anzumerken, dass, wie das vorlegende Gericht und mehrere Regierungen, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, ausgeführt haben, diese Vorschrift eine Neuerung in dieser Verordnung darstellt. Die vorhergehende Verordnung Nr. 1408/71 enthielt nämlich keine vergleichbare Regelung.

28.      Die Verordnung Nr. 1408/71 enthielt lediglich – wie die Kommission ausgeführt hat – eine nach dem Urteil des Gerichtshofs vom 12. Juni 1986, Ten Holder (302/84, EU:C:1986:242), eingefügte(14) Vorschrift mit teilweisem Auffangcharakter. Diese Bestimmung ermöglichte jedoch nur die Bestimmung des Rechts, das auf Personen anwendbar ist, auf die die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht mehr anwendbar sind, ohne dass das Recht eines anderen Mitgliedstaats zur Anwendung kommt(15).

29.      Daher gab es entsprechend der Systematik der Verordnung Nr. 1408/71, wenn auch Titel II dieser Verordnung, wie der Gerichtshof anerkannt hat(16), ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen vorsah, keine ausdrückliche Auffangnorm, die die Vollständigkeit eines solchen Systems gewährleistete und die von solcher allgemeiner Tragweite gewesen wäre, dass sie die Bestimmung des Rechts ermöglicht hätte, das in allen von den Vorschriften dieses Titels II nicht ausdrücklich erfassten Fällen anwendbar gewesen wäre.

30.      Insoweit war der Gerichtshof wiederholt veranlasst, die Lücken dieses Systems zu schließen, indem er entweder durch eine extensive Auslegung oder einen allgemeinen Verweis auf die Bestimmungen von Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 das Recht festlegte, das in den besonderen, von den Kollisionsnormen von Titel II dieser Verordnung nicht ausdrücklich geregelten Fällen anwendbar ist(17).

C.      Zum Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004

31.      Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 ist im Licht der in den vorstehenden Nummern angestellten Erwägungen auszulegen, um den Anwendungsbereich zu bestimmen und konkret zu prüfen, ob diese Bestimmung – wie die Kommission und die Regierung der Niederlande vortragen – ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen Anwendung findet.

32.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden(18).

33.      Was erstens den Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 betrifft, ist festzustellen, dass dieser sehr allgemein formuliert ist. Er gilt für „jede andere Person, die nicht unter [Abs. 3] Buchstaben a) bis d) fällt“, vorbehaltlich zum einen „der Art. 12 bis 16“ und zum anderen „unbeschadet anders lautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen [dieser Person] Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zustehen“.

34.      Die Prüfung des Wortlauts dieser Bestimmung zeigt nicht nur, dass sie durch die Wendung „jede andere Person“ allgemein formuliert ist, sondern auch, dass sie unter einem doppelten Vorbehalt steht, der ebenfalls jeweils von allgemeiner Tragweite ist: Der erste Vorbehalt betrifft alle Bestimmungen von Titel II der Verordnung Nr. 883/2004, d. h. alle Kollisionsnormen, anhand deren sich das auf dieser Verordnung unterliegende Personen anwendbare Recht bestimmen lässt; der zweite bezieht sich hingegen auf die sonstigen Bestimmungen der Verordnung.

35.      Die Entscheidung für diese Formulierung spricht meines Erachtens für eine Auslegung, durch die dieser Bestimmung Auffangcharakter im System der Kollisionsnormen beizumessen ist, wonach alle Fälle in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 einbezogen werden sollen, in denen diese das auf die Situation eines Betroffenen anwendbare Recht nicht ausdrücklich bestimmt.

36.      Die Prüfung des Wortlauts der Bestimmung lässt hingegen keinen Anhaltspunkt erkennen, der eine Beschränkung ihres Geltungsbereichs ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen rechtfertigen könnte. Dem Wortlaut dieser Bestimmung ist nämlich keineswegs zu entnehmen, dass sie ausschließlich auf bestimmte Personengruppen Anwendung finden soll.

37.      Was zweitens den Zusammenhang angeht, in den sich die in Rede stehende Bestimmung einfügt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass weder eine andere Bestimmung der Verordnung Nr. 883/2004 noch deren Erwägungsgründe Anhaltspunkte für die Auffassung bieten, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen beschränkt sei.

38.      In ihren schriftlichen Erklärungen hat die Kommission diese Auffassung mit dem eher versteckten Hinweis auf Art. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 begründet. Dieser Artikel bestimmt den „persönlichen Geltungsbereich“ dieser Verordnung. Unklar ist jedoch, und die Kommission war weder in ihren schriftlichen Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung imstande, dies zu erläutern, wie dieser Artikel als solcher eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e dieser Verordnung ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen rechtfertigen kann.

39.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass vor ihm der 42. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 zur Begründung der Auffassung herangezogen worden sei, dass die Tragweite von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e dieser Verordnung auf nicht erwerbstätige Personen beschränkt sei. Dem Wortlaut dieses Erwägungsgrundes(19) – der im Übrigen auf die besondere Lage im Königreich Dänemark Bezug nimmt – ist ohne Weiteres zu entnehmen, dass die Verordnung Nr. 883/2004 auf die neue Kategorie von nicht erwerbstätigen Personen ausgeweitet wurde. Allerdings ist nicht ersichtlich, wie die ausdrückliche Anerkennung dieser Ausweitung in diesem Erwägungsgrund als solche geeignet sein kann, eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 ausschließlich auf diese Personengruppe zu rechtfertigen.

40.      Der Struktur dieses Art. 11 lässt sich meines Erachtens kein Anhaltspunkt entnehmen, der für die Auffassung von einer Beschränkung des Anwendungsbereichs der fraglichen Bestimmung spräche. Der Umstand, dass Art. 11 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 einen von den in deren Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bis d vorgesehenen Fällen abweichenden Sonderfall vorsieht, ist nach meiner Ansicht keineswegs geeignet, die Auffassung zu stützen, dass der Anwendungsbereich der in Rede stehenden Bestimmung auf nicht erwerbstätige Personen beschränkt sei. Diese Fallgestaltung zählt zu den oben in Nr. 34 erwähnten Vorbehalten.

41.      Im Gegenteil halte ich aus systematischer Sicht das Vorliegen dieser beiden Vorbehalte, die alle anderen Bestimmungen der Verordnung Nr. 883/2004 abdecken, für ein stichhaltiges Argument für die Auffassung, dass Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 Auffangcharakter im System beizumessen ist.

42.      Für diese Auffassung spricht auch – weiterhin aus systematischer Sicht – die Tatsache, dass der die in Rede stehende Bestimmung enthaltende Art. 11 unter „Allgemeine Regelung“ eingereiht und der erste Artikel in Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 ist, was eindeutig zeigt, dass die darin enthaltenen Bestimmungen allgemeine Geltung haben sollen.

43.      Was drittens die Ziele betrifft, die mit der in Rede stehenden Bestimmung verfolgt werden, hat der Gerichtshof diese – wie oben in Nr. 26 ausgeführt – bereits eindeutig benannt.

44.      Hierzu weise ich darauf hin, dass die Auslegung von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 dahin, dass er eine Bestimmung mit allgemeiner Geltung und Auffangcharakter im System darstellt, die die Bestimmung eines anwendbaren Rechts in allen in dieser Verordnung nicht ausdrücklich vorgesehenen Fällen gewährleistet, eher geeignet, die Verwirklichung der Ziele der Vorschrift und dieser Verordnung sicherzustellen sowie die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten in einer bestimmten Situation zu vermeiden und zu verhindern, dass den in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallenden Personen mangels auf sie anwendbarer Rechtsvorschriften der Schutz im Bereich der sozialen Sicherheit vorenthalten wird.

45.      Eine enge Auslegung, die den Anwendungsbereich der in Rede stehenden Bestimmung ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen beschränkte, würde nämlich die Gefahr bergen, dass auch in den Vorschriften des durch das mit der Verordnung Nr. 883/2004 geschaffenen Systems der Kollisionsnormen weiterhin Lücken bestünden, mit der Folge, dass es weiterhin Fälle von Rechtsunsicherheit gäbe, die, wie unter der Geltung der alten Verordnung Nr. 1408/71, nachträglich vom Gerichtshof entschieden werden müssten.

46.      Zu den Zielen der in Rede stehenden Bestimmung weise ich noch darauf hin, dass das von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Argument, dass sich aus dem von ihr im Jahr 1998 vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung(20) – auf dessen Grundlage anschließend die Verordnung Nr. 883/2004 erlassen worden sei – die Absicht des Gesetzgebers ergebe, die Tragweite der Bestimmung auf nicht erwerbstätige Personen zu beschränken, im Wortlaut dieses Vorschlags keinen Ausdruck gefunden hat.

47.      Den Erläuterungen zu Art. 8 des Vorschlags, der später im endgültigen Text der Verordnung zu Art. 11 wurde, ist nämlich keineswegs zu entnehmen, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf diese (in der endgültigen Fassung der Verordnung weitgehend unverändert gebliebene) Bestimmung die Absicht gehabt hätte, deren Anwendungsbereich ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen zu beschränken(21).

48.      Im Ergebnis ergibt sich aus sämtlichen vorstehenden Erwägungen meines Erachtens, dass Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 im Einklang mit den Zielen der Verordnung und dieser Bestimmung, wie sie der Gerichtshof benannt hat, weit auszulegen ist. Daher findet sie als Auffangvorschrift in dem durch das mit dieser Verordnung geschaffenen System der Kollisionsnormen nach meiner Ansicht auf alle Personen Anwendung, die nicht unter die Kategorien von Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bis d dieser Verordnung fallen oder für die keine andere Vorschrift dieser Verordnung das anwendbare Recht bestimmt, gleichgültig aus welchem Grund und deshalb nicht nur, weil die betreffende Person nicht erwerbstätig ist.

49.      Hinzu kommt, dass die in der vorstehenden Nummer vorgeschlagene weite Auslegung von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 mit der Auslegung in Einklang steht, die der Gerichtshof der durch diese Bestimmung ersetzten Vorschrift gegeben hat, nämlich Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 1408/71. In seiner Rechtsprechung zur letztgenannten Vorschrift hat der Gerichtshof diese, gestützt auf deren allgemeine Formulierung, nämlich weit ausgelegt, so dass sie „jeden Fall“ erfasste, in dem eine Person, „gleichgültig aus welchem Grund“, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht mehr unterlag(22). Vor diesem Hintergrund kann die von mir in der vorstehenden Nr. 48 vorgeschlagene Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung durch die sonstigen, von der Kommission und der Regierung der Niederlande vor dem Gerichtshof vorgebrachten Argumente meines Erachtens nicht in Frage gestellt werden.

50.      Erstens ist, was die Bezugnahmen der Kommission auf zum einen den von der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit erarbeiteten und gebilligten Praktischen Leitfaden zum anwendbaren Recht in der Europäischen Union (EU), im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und in der Schweiz(23) und zum anderen auf das Dokument „Erläuterungen zur modernisierten Koordination der sozialen Sicherheit“(24) der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration angeht, festzustellen, dass diese Dokumente der Auslegung der Verordnung Nr. 883/2004 zwar dienlich sein können, aber keine verpflichtende Wirkung haben und weder den Gerichtshof noch die nationalen Gerichte bei der Auslegung dieser Verordnung in irgendeiner Weise binden können(25).

51.      Zweitens weise ich in Bezug auf die verschiedenen Hinweise der Beteiligten, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, auf die Rechtsprechung zunächst darauf hin, dass Rn. 63 des Urteils vom 14. Juni 2016, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑308/14, EU:C:2016:436), auf die die Regierung der Niederlande Bezug genommen hat, um ihre Auffassung zu stützen und auf die oben in Nr. 25 eingegangen worden ist, eher für eine Auslegung der in Rede stehenden Bestimmung dahin spricht, dass sie nicht ausschließlich auf nicht erwerbstätige Personen Anwendung findet. In dieser Randnummer hat der Gerichtshof vor der Bezugnahme auf diese Personengruppe nämlich das Wort „insbesondere“(26) verwendet, was die Absicht erkennen lässt, die Anwendung dieser Bestimmung nicht ausschließlich auf derartige Personen zu beschränken.

52.      Die angeführten Urteile Aldewereld und Kik können zwar ohne Weiteres sachdienliche Auslegungshinweise liefern, doch ist festzustellen, dass der Gerichtshof sie vor dem Inkrafttreten von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 und damit in einem rechtlichen Rahmen verkündet hat, der sich von dem vorliegenden dadurch unterscheidet, dass es noch keine Auffangnorm im System gab. Die vom Gerichtshof in diesem anderen Kontext gefundenen Lösungen lassen sich daher nicht auf den neuen Kontext der Verordnung Nr. 883/2004 übertragen, in dem es keines Rückgriffs des Gerichtshofs auf Auslegungsansätze mehr bedarf, um Lücken zu schließen, die der Rechtsrahmen gelassen hat.

53.      Was drittens das von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Argument betrifft, dass nämlich im System der Verordnung Nr. 883/2004 zwischen der lex loci labori und der lex domicilii eine Hierarchie bestehe, bin ich der Ansicht, dass die Existenz einer solchen Hierarchie bei den Kriterien an sich nicht geeignet ist, eine Beschränkung des Anwendungsbereichs einer Bestimmung der Verordnung zu rechtfertigen, die diese Beschränkung nicht ausdrücklich vorsieht.

54.      Viertens sehe ich auch in den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung, auf die die Kommission und die Regierung der Niederlande abgestellt haben, keinen Widerspruch zu der von mir vorgeschlagenen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004. Im System dieser Verordnung soll dieser Grundsatz nämlich, wie sich ihren Erwägungsgründen 5, 8 und 17 entnehmen lässt, die Gleichbehandlung aller innerhalb der Union im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Personen gewährleisten, auf die daher Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar ist.

55.      In einem Fall jedoch, in dem der Betroffene seine Erwerbstätigkeit nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ausübt und somit die Anknüpfung der Erwerbstätigkeit an das Unionsgebiet schwächer ist, ist es nicht absolut ausgemacht, dass die Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung, der seinerseits mit dem allgemeineren Ziel der Verordnung Nr. 883/2004 in Zusammenhang steht, die Freizügigkeit zu erleichtern(27), durch die Verwendung des Kriteriums der Anknüpfung an den Ort, an dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, wirksamer garantiert sind als bei der Anknüpfung an den Wohnsitz des Betroffenen. Wie die hellenische und die polnische Regierung hervorgehoben haben, bildet der Fall der Seeleute, wie der des Betroffenen des Ausgangsverfahrens, in dem die Beschäftigung durch eine große internationale Mobilität und durch befristete Verträge mit häufig kurzer Laufzeit sowie dadurch gekennzeichnet ist, dass diese oft aus der Ferne geschlossen werden, ein eindeutiges Beispiel hierfür.

56.      Fünftens schließlich steht der von mir oben in Nr. 48 vorgeschlagenen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 auch die in der mündlichen Verhandlung angesprochene etwaige Gefahr nicht entgegen, dass die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats des Betroffenen keine Bestimmungen vorsehen, die seinen Anschluss an das Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats ermöglichen, und der Betroffene daher schutzlos bleibt.

57.      Hierzu weise ich darauf hin, dass, wie aus der oben in den Nrn. 20 ff. angeführten Rechtsprechung hervorgeht, die Vorschriften von Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 zwar nur festlegen sollen, welche nationalen Rechtsvorschriften für Personen gelten, die unter diese Verordnung fallen, und als solche nicht die Voraussetzungen festlegen sollen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems beitreten kann oder muss, da diese Voraussetzungen in den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats festzulegen sind(28).

58.      Der Gerichtshof hat jedoch bereits geklärt, dass die mit Titel II dieser Verordnung eingeführte Regelung ein geschlossenes System von Kollisionsnormen bildet, das den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten die Befugnis nimmt, den Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf nach ihrem Belieben zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet die nationalen Bestimmungen ihre Wirkung entfalten sollen(29).

59.      Die Mitgliedstaaten sind nämlich bei der Festlegung der Voraussetzungen dafür, dass ein Recht auf Beitritt zu einem System der sozialen Sicherheit besteht, verpflichtet, das geltende Unionsrecht zu beachten. Insbesondere sind die Kollisionsnormen der Verordnung Nr. 883/2004 für die Mitgliedstaaten zwingend, d. h., sie können nicht bestimmen, inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften oder die eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sind(30).

60.      Im Licht des Zieles der Vorschriften von Titel II der Verordnung Nr. 883/2004, die, wie oben in den Nrn. 23 und 26 ausgeführt worden ist, insbesondere verhindern sollen, dass die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallenden Personen mangels auf sie anwendbarer Rechtsvorschriften der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, folgt daraus, dass die Voraussetzungen dafür, dass ein Recht auf Beitritt zu einem System der sozialen Sicherheit besteht, nicht zur Folge haben dürfen, dass vom Anwendungsbereich der fraglichen Rechtsvorschriften Personen ausgeschlossen werden, auf die diese Rechtsvorschriften nach der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar sind(31).

D.      Zur Vorlagefrage

61.      Die Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts ist meines Erachtens im Licht sämtlicher vorstehender Erwägungen und der von mir oben in Nr. 48 vorgeschlagenen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 zu beantworten.

62.      Hierzu halte ich es für angebracht, vorab zu bestätigen, dass die drei Annahmen, auf die das vorlegende Gericht seine Frage stützt, zutreffen(32).

63.      Als Erstes steht außer Zweifel, dass SF gemäß Art. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 in deren Geltungsbereich fällt. Er ist nämlich lettischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Lettland, und es ist unstreitig, dass er im maßgeblichen Zeitraum dem Recht eines Mitgliedstaats, entweder Lettlands oder der Niederlande, unterworfen sein musste(33).

64.      Als Zweites hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Arbeit, die an Bord eines unter der Flagge eines Drittstaats fahrenden Schiffes verrichtet wird, das sich über dem Festlandsockel eines Mitgliedstaats befindet, nicht einer Arbeit im Gebiet eines Mitgliedstaats gleichgestellt werden kann(34).

65.      Als Drittes steht ferner außer Zweifel, dass das Arbeitsverhältnis von SF eine hinreichend enge Anknüpfung an das Gebiet der Europäischen Union aufweist. Der Rechtsprechung ist nämlich zu entnehmen, dass ein solcher enger Bezug gegeben ist, wenn ein Unionsbürger, der in einem Mitgliedstaat wohnt, von einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat angestellt worden ist, für das er seine Tätigkeiten ausübt(35).

66.      Dies vorausgeschickt, weise ich darauf hin, dass sowohl das vorlegende Gericht als auch die Beteiligten, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, übereinstimmend der Ansicht sind, dass auf die Situation des Betroffenen des Ausgangsverfahrens keine andere Bestimmung der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar sei als deren Art. 11 Abs. 3 Buchst. e.

67.      Als Erstes ist auf diese Situation nämlich keine der Bestimmungen von Art. 11 Abs. 3 Buchst. a bis d der Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar, insbesondere nicht Buchst. a, da die Tätigkeit des Seemanns nicht im Gebiet eines Mitgliedstaats ausgeübt wurde.

68.      Als Zweites ist auch Art. 11 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht anwendbar, da er nur für Tätigkeiten gilt, die an Bord von unter der Flagge eines Mitgliedstaats fahrenden Schiffen ausgeübt wird, wohingegen im vorliegenden Fall die Tätigkeit an Bord eines unter der Flagge eines Drittstaats fahrenden Schiffes ausgeübt wurde.

69.      Als Drittes ist auf diese Situation auch keine andere Vorschrift von Titel II der Verordnung Nr. 883/2004, die für Fallgestaltungen gelten, die sich von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unterscheiden(36), sowie keine sonstige Bestimmung dieser Verordnung anwendbar.

70.      Unter diesen Umständen bin ich im Licht der von mir oben in Nr. 48 vorgeschlagenen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 der Meinung, dass diese Bestimmung auf eine Situation wie die von SF anwendbar ist und daher eine Person, die sich in einer solchen Situation befindet, den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats unterliegt.

V.      Ergebnis

71.      Auf der Grundlage dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz in seinem Herkunftsmitgliedstaat hat und für einen Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt war, wobei er eine Tätigkeit als Seemann an Bord eines unter der Flagge eines Drittstaats fahrenden Seeschiffs verrichtete, das sich im maßgeblichen Zeitraum außerhalb des Gebiets der Union befand, für diesen Zeitraum den Rechtsvorschriften seines Wohnmitgliedstaats unterliegt.


1      Originalsprache: Italienisch.


2      Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).


3      Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71). Diese Verordnung wurde durch die Verordnung Nr. 883/2004 mit Wirkung vom 1. Mai 2010 aufgehoben.


4      Insbesondere sei auf die Urteile vom 29. Juni 1994, Aldewereld (C‑60/93, EU:C:1994:271), und vom 19. März 2015, Kik (C‑266/13, EU:C:2015:188), verwiesen.


5      Vgl. Erwägungsgründe 1, 3, 4 und 45 der Verordnung Nr. 883/2004. Vgl. auch Urteile vom 14. Juni 2016, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑308/14, EU:C:2016:436, Rn. 67), und vom 21. März 2018, Klein Schiphorst (C‑551/16, EU:C:2018:200, Rn. 31).


6      Urteile vom 14. Juni 2016, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑308/14, EU:C:2016:436, Rn. 67), und vom 21. März 2018, Klein Schiphorst (C‑551/16, EU:C:2018:200, Rn. 44).


7      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der Rechtssache Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑308/14, EU:C:2015:666, Nr. 49).


8      Urteil vom 25. Oktober 2018, Walltopia (C‑451/17, EU:C:2018:861, Rn. 42).


9      Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Walltopia (C‑451/17, EU:C:2018:861, Rn. 41), und Fn. 6 der Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Bogatu (C‑322/17, EU:C:2018:818) mit Verweisen auf die Rechtsprechung zur Verordnung Nr. 1408/71, die in systematischer Hinsicht der Verordnung Nr. 883/2004 entsprach. Vgl. insbesondere Urteile vom 12. Juni 1986, Ten Holder (302/84, EU:C:1986:242, Rn. 21), vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi (C‑275/96, EU:C:1998:279, Rn. 28), vom 13. September 2017, X (C‑570/15, EU:C:2017:674, Rn. 14), und vom 6. Februar 2018, Altun u a. (C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 29).


10      Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Bogatu (C‑322/17, EU:C:2018:818, Nr. 34).


11      Urteil vom 14. Juni 2016, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑308/14, EU:C:2016:436, Rn. 63). Hervorhebung nur hier.


12      Ebd. (Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Ebd. (Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. Verordnung Nr. 2195/91 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (ABl. 1991, L 206, S. 2) und insbesondere dritter Erwägungsgrund und Art. 1 Nr. 2 dieser Verordnung.


15      Vgl. insoweit Rn. 40 des Urteils vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi (C‑275/96, EU:C:1998:279).


16      Vgl. die oben in Fn. 9 angeführte Rechtsprechung.


17      Vgl. Urteile vom 12. Januar 1983, Coppola (150/82, EU:C:1983:4, Rn. 11), vom 12. Juni 1986, Ten Holder (302/84, EU:C:1986:242, Rn. 13 und 14), vom 29. Juni 1994, Aldewereld (C‑60/93, EU:C:1994:271, Rn. 11), und Nr. 11 der Schlussanträge des Generalanwalts Lenz in dieser Rechtssache Aldewereld (C‑60/93, EU:C:1994:56) sowie Urteil vom 19. März 2015, Kik (C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 48 und 49).


18      Vgl. u. a. Urteil vom 21. März 2018, Klein Schiphorst (C‑551/16, EU:C:2018:200, Rn. 34).


19      Dieser Erwägungsgrund lautet: „Im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und der Absicht, diese Verordnung auf alle Unionsbürger auszudehnen, und mit dem Ziel, eine Lösung zu erreichen, die allen Zwängen Rechnung trägt, die mit den besonderen Merkmalen von auf dem Wohnortkriterium basierenden Systemen verknüpft sein könnten, wurde eine besondere Ausnahmeregelung in Form eines Eintrags für Dänemark in Anhang XI für zweckdienlich erachtet, die ausschließlich auf Sozialrentenansprüche für die neue Kategorie von nicht erwerbstätigen Personen, auf die diese Verordnung ausgeweitet wurde, beschränkt ist; damit wird den besonderen Merkmalen des dänischen Systems sowie der Tatsache Rechnung getragen, dass diese Renten nach dem geltenden dänischen Recht (Rentengesetz) nach einer Wohnzeit von zehn Jahren ‚exportiert‘ werden können.“


20      Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 21. Dezember 1998 (KOM[1998] 779 endg.).


21      Vgl. S. 7 der Erläuterungen zu dem in der vorstehenden Fußnote angeführten Vorschlag.


22      Vgl. im Einzelnen Urteil vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi (C‑275/96, EU:C:1998:279, Rn. 40).


23      Siehe ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId= 11366&langId=it.


24      Das Dokument liegt nur in französischer, in englischer und in deutscher Sprache vor. https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId= 6481&langId=fr.


25      Vgl. in diesem Sinne Fn. 12 der Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Bogatu (C‑322/17, EU:C:2018:818).


26      „Notamment“ in französischer, „in particular“ in englischer, „insbesondere“ in deutscher Sprache.


27      Siehe oben, Nr. 20.


28      Vgl. u. a. die in den Nrn. 21 und 26 angeführte Rechtsprechung sowie Urteil vom 25. Oktober 2018, Walltopia (C‑451/17, EU:C:2018:861, Rn. 47).


29      Urteil vom 26. Oktober 2016, Hoogstad (C‑269/15, EU:C:2016:802, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30      Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Walltopia (C‑451/17, EU:C:2018:861, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Walltopia (C 451/17, EU:C:2018:861, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32      Siehe oben, Nr. 10.


33      Vgl. entsprechend Urteil vom 19. März 2015, Kik (C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 38 und 39).


34      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2015, Kik (C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 40). Anders wäre jedoch, wie die hellenische Regierung zutreffend ausgeführt hat, der Fall zu beurteilen, in dem die auf dem Schiff, auf dem der Betroffene seiner Beschäftigung nachging, verrichteten Arbeiten im Zusammenhang mit der Erforschung und/oder der Ausbeutung der Ressourcen des zu einem Mitgliedstaat gehörenden Teil des Festlandsockels standen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Vgl. Urteil vom 17. Januar 2012, Salemink (C‑347/10, EU:C:2012:17, Rn. 35 ff.), und Urteil Kik, a. a. O., Rn. 41 letzter Satz.


35      Vgl. Urteile vom 29. Juni 1994, Aldewereld (C‑60/93, EU:C:1994:271, Rn. 14), vom 28. Februar 2013, Petersen und Petersen (C‑544/11, EU:C:2013:124, Rn. 42), und vom 19. März 2015, Kik (C‑266/13, EU:C:2015:188, Rn. 43).


36      Diese Vorschriften sehen nämlich Sonderregelungen für entsandte Personen (Art. 12), Personen, die in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausüben (Art. 13), Personen, die sich für die freiwillige Versicherung oder die freiwillige Weiterversicherung entschieden haben (Art. 14), für Hilfskräfte der Europäischen Gemeinschaften (Art. 15) sowie einige Ausnahmen von den Art. 11 bis 15 (Art. 16) vor.