Language of document : ECLI:EU:C:2013:70

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 7. Februar 2013(1)

Rechtssache C‑20/12

Elodie Giersch,

Benjamin Marco Stemper,

Julien Taminiaux,

Xavier Renaud Hodin,

Joëlle Hodin

gegen

Großherzogtum Luxemburg

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal administratif [Luxemburg])

„Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Gleichbehandlung – Soziale Vergünstigungen – Studienbeihilfe – Wohnorterfordernis – Mittelbare Diskriminierung – Ziel, den Anteil von Personen mit Hochschulabschluss zu erhöhen – Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit des Wohnorterfordernisses“






1.        Der Gerichtshof wird gebeten, sich zur Vereinbarkeit eines Wohnorterfordernisses mit dem Unionsrecht zu äußern, das in Luxemburg u. a. die Kinder von Grenzgängern für den Bezug einer Studienbeihilfe erfüllen müssen, unabhängig davon, wo sie zu studieren beabsichtigen.

2.        Das Thema dieses Vorabentscheidungsersuchens bildet zwar bereits den Gegenstand mehrerer Urteile, die Besonderheit der vorliegenden Rechtssache liegt jedoch darin, dass sich zum einen der Ausgangsrechtsstreit in einem Mitgliedstaat abspielt, dessen Arbeitsmarkt durch eine große Zahl von Grenzgängern gekennzeichnet ist, und zum anderen die Frage eines Rechts auf Studienfinanzierung gerade im Hinblick auf die diesen Arbeitnehmern – und nicht den Studierenden als solchen – aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gestellt wird.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

3.        Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft(2), die auf den Sachverhalt anwendbar ist(3), lautet wie folgt:

„(1)      Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

(2)      Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“

B –    Luxemburgisches Recht

1.      Das Studienbeihilfesystem in Luxemburg

4.        Das Gesetz vom 26. Juli 2010(4), auf dem das derzeitige luxemburgische Studienbeihilfesystem beruht, hat das vorherige System in einigen Punkten geändert. Die Studienbeihilfe kann unabhängig davon beantragt werden, in welchem Staat der Antragsteller zu studieren beabsichtigt.

5.        Es ist darauf hinzuweisen, dass bereits nach dem Gesetz vom 22. Juni 2000(5) nur luxemburgische Staatsangehörige und in Luxemburg wohnende Personen die Beihilfe erhalten konnten. Ursprünglich mussten nach dem Gesetz von 2000 luxemburgische Staatsangehörige ihre Staatsangehörigkeit nachweisen(6), während nichtluxemburgische Unionsbürger ihren Wohnsitz in Luxemburg haben und in den Anwendungsbereich von Art. 7 oder 12 der Verordnung Nr. 1612/68 fallen mussten. Mit einem Gesetz aus dem Jahr 2005(7), wonach luxemburgische Staatsangehörige ihren Wohnsitz in Luxemburg haben mussten, um die Beihilfe erhalten zu können, wurde diese Diskriminierung beseitigt. Grenzgänger, die definitionsgemäß nicht in Luxemburg wohnten, waren vom Anwendungsbereich des Gesetzes vom 22. Juni 2000 ausgeschlossen.

6.        Nach dem Gesetz vom 22. Juni 2000 wurde die Beihilfe in Form von Stipendien und Darlehen gewährt, und das Verhältnis, in dem sie als das eine oder als das andere gewährt wurde, hing „von der finanziellen und sozialen Lage des Studierenden und seiner Eltern sowie nach den vom Studierenden zu entrichtenden Studiengebühren“ ab(8). Die Modalitäten, nach denen die finanzielle und soziale Lage der Eltern berücksichtigt wurde, waren in der Großherzoglichen Verordnung vom 5. Oktober 2000(9) festgelegt, deren Art. 5 vorsah, dass der Grundbetrag der Beihilfe erhöht werden konnte, wenn zwei oder mehr Kinder im selben Haushalt ein Studium absolvierten(10), oder dass die Beihilfe um einen dem jährlichen Kindergeld entsprechenden Betrag gekürzt werden konnte, wenn dieses für den Studierenden bezogen wurde(11). Nach dem Gesetz vom 22. Juni 2000 betrug die höchstmögliche Gesamtbeihilfe 16 350 Euro pro Studienjahr(12), und dieser Betrag wurde jährlich an die gleitende Lohnskala angepasst(13).

7.        Das Gesetz vom 26. Juli 2010 bildet die Rechtsgrundlage des derzeitigen Beihilfesystems. Es sieht vor, dass Unionsbürger, die sich gemäß Kapitel 2 des geänderten Gesetzes vom 29. August 2008 über die Freizügigkeit und die Einwanderung(14) – das die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG(15) in luxemburgisches Recht umgesetzt hat – im Großherzogtum Luxemburg aufhalten, Studienbeihilfe beantragen können(16). Art. 6 Abs. 1 des geänderten Gesetzes vom 29. August 2008 bestimmt, dass ein Unionsbürger das Recht hat, sich für mehr als drei Monate im luxemburgischen Hoheitsgebiet aufzuhalten, wenn er entweder als Arbeitnehmer oder Selbständiger einer beruflichen Tätigkeit nachgeht oder bei einer in Luxemburg anerkannten öffentlichen oder privaten Einrichtung zur Absolvierung einer Ausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und dabei gewährleistet ist, dass er über Krankenversicherungsschutz sowie für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen(17).

8.        Nach dem Erlass des Gesetzes vom 26. Juli 2010 hing das Verhältnis, in dem die Beihilfe als Stipendium oder als Darlehen gewährt wurde, nur von der finanziellen und sozialen Lage des Studierenden und den von ihm zu entrichtenden Studiengebühren ab(18). Aufgrund dessen wurde die Großherzogliche Verordnung vom 5. Oktober 2000 durch die gemäß dem Gesetz vom 26. Juli 2010 erlassene Großherzogliche Verordnung vom 12. November 2010(19) geändert, indem jede Bezugnahme auf die Lage der Eltern des die Beihilfe beantragenden Studierenden gestrichen wurde. Der Höchstbetrag der Beihilfe beläuft sich auf 17 700 Euro pro Studienjahr(20). Dieser Betrag wird nicht mehr an den Index angepasst(21).

2.      Die Lage der Grenzgänger in Bezug auf die Studienfinanzierung nach dem luxemburgischen System

9.        Es steht fest, dass die Kinder von Grenzgängern auch nach dem Gesetz vom 22. Juni 2000 die Voraussetzungen für den Erhalt der Studienbeihilfe nicht erfüllten, da nach diesem Gesetz das Kriterium eines Wohnsitzes in Luxemburg erfüllt sein musste. Grenzgänger, die in das luxemburgische Sozialversicherungssystem einbezogen waren, erhielten jedoch Kindergeld für jedes Kind im Alter von 18 Jahren und darüber, das in Luxemburg oder im Ausland ein Studium absolvierte(22). Darüber hinaus hatten die Empfänger des Kindergelds auch Anspruch auf einen Kinderbonus (76,88 Euro pro Monat zum 1. Januar 2009). Das Kindergeld für Studienzwecke, d. h. das nach Vollendung des 18. Lebensjahrs des Kindes weiter gezahlte Kindergeld, konnte auf Antrag des Kindes unmittelbar an dieses gezahlt werden.

10.      Das Gesetz vom 26. Juli 2010 änderte jedoch die Rechtslage und Art. 271 Abs. 3 des Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) dahin, dass Anspruch auf Kindergeld für Kinder im Alter von 18 Jahren und darüber nur noch für Kinder besteht, die an einem Sekundarunterricht oder technischen Sekundarunterricht teilnehmen (und nicht mehr im Fall der Absolvierung einer Hochschulausbildung)(23), und zwar unabhängig vom gewählten Ausbildungsort. Der Kinderbonus wiederum wird nur noch an Studierende gezahlt, die Studienbeihilfe empfangen – als deren Bestandteil der Bonus angesehen wird –, vorausgesetzt, dass diese Studierenden noch im Haushalt ihrer Eltern leben(24). Es scheint jedoch ein Anspruch auf Steuerermäßigung für Kinder anerkannt zu werden, die weder einen Kinderbonus noch eine Studienbeihilfe empfangen.

II – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11.      Frau Giersch, Frau Hodin und Herr Taminiaux sind belgische Staatsangehörige. Sie wohnen in Belgien, und zumindest ein Elternteil ist jeweils Grenzgänger in Luxemburg. Herr Stemper ist deutscher Staatsangehöriger und wohnt in Deutschland. Sein Vater arbeitet in Luxemburg, jedoch ohne dort zu wohnen.

12.      Frau Giersch, Frau Hodin und Herr Taminiaux wollen in Belgien, d. h. in ihrem Wohnsitzstaat, studieren, während Herr Stemper im Vereinigten Königreich studieren will. Jedes dieser vier Kinder von Grenzgängern in Luxemburg beantragte im September und im Oktober 2010 Studienbeihilfe.

13.      Der luxemburgische Ministre de l’Enseignement supérieur et de la Recherche (Minister für Hochschulbildung und Forschung) lehnte ihre Anträge mit der Begründung ab, dass sich diese Kinder nicht in Luxemburg aufhielten, was aber Voraussetzung für den Anspruch auf die Beihilfe nach dem Gesetz vom 26. Juli 2010 sei.

14.      Alle Kinder erhoben beim Tribunal administratif des Großherzogtums Luxemburg Klage mit dem Haupt- oder Hilfsantrag, diese ablehnenden Bescheide des Ministers aufzuheben. Das Tribunal administratif weist darauf hin, dass neben diesen vier exemplarischen Klagen derzeit etwa 600 weitere vergleichbare Klagen anhängig sind.

15.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens vertreten vor dem vorlegenden Gericht die Auffassung, es liege eine unmittelbare Diskriminierung vor, da die luxemburgische Regelung von luxemburgischen Staatsangehörigen verlange, ihren Wohnsitz im Großherzogtum Luxemburg zu haben, während Angehörige eines anderen Staates dort wohnen müssten. Hilfsweise machen sie geltend, es liege eine ungerechtfertigte mittelbare Diskriminierung vor, die insbesondere gegen Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 verstoße, da das Wohnorterfordernis von luxemburgischen Staatsangehörigen leichter erfüllt werde und nur deshalb eingeführt worden sei, um Grenzgänger von der Beihilfe auszuschließen.

16.      Das Großherzogtum Luxemburg verneint jegliche Diskriminierung und trägt vor, dass nach luxemburgischem Recht die Begriffe Wohnsitz und Wohnort letztlich gleichbedeutend seien. Es stellt außerdem in Abrede, dass die Studienbeihilfe eine „soziale Vergünstigung“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 sei, da sie nur Studierenden als selbständigen Erwachsenen und ohne Berücksichtigung der persönlichen Lage ihrer Eltern gewährt werde. Jedenfalls rechtfertige das mit dem luxemburgischen System der Studienbeihilfe verfolgte Ziel, den Anteil der Personen mit Hochschulabschluss an der Wohnbevölkerung Luxemburgs – der hinter dem europäischen Durchschnitt zurückbleibe – wesentlich zu erhöhen, den Umstand, dass nur Personen, die im Inland wohnten, diese Beihilfe in Anspruch nehmen könnten. Wenn das Wohnorterfordernis entfiele, hätte dies zur Folge, dass jeder Studierende ohne Anbindung an die Gesellschaft Luxemburgs die Beihilfe für ein Studium in einem beliebigen Land erhalten könnte. Dies würde einen wahren Stipendientourismus fördern und wäre eine nicht tragbare Belastung für das Großherzogtum Luxemburg, das in diesem Fall die Mitnehmbarkeit der Beihilfe dem Grunde nach in Frage stellen müsste.

17.      Das vorlegende Gericht stellt hingegen fest, dass die Studienbeihilfe eine soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 sei. Es handle sich um eine Unterhaltsbeihilfe, die unmittelbar den Studierenden, die gegenüber ihren Eltern unterhaltsberechtigt seien, gewährt werde. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ziele der in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung auch auf die Verwandten in absteigender Linie, denen ein Wanderarbeitnehmer oder Grenzgänger Unterhalt gewähre, ab(25).

18.      Das vorlegende Gericht folgt der Argumentation des Großherzogtums Luxemburg und verneint das Vorliegen einer direkten Diskriminierung, da im nationalen Recht die Begriffe „Wohnsitz“ und „Wohnort“ gleichbedeutend seien, kommt aber zu dem Schluss, dass das Beihilfesystem auf einer unionsrechtlich verbotenen mittelbaren Diskriminierung beruhe, da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Wohnorterfordernis leichter von Inländern erfüllt werden könne. Nach dieser Rechtsprechung könne eine solche Ungleichbehandlung allerdings gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhe und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht rechtmäßigerweise verfolgten Zweck stehe. Das vorlegende Gericht hat jedoch gerade in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der vom Großherzogtum Luxemburg angeführten Rechtfertigungsgründe Zweifel.

19.      Da das Tribunal administratif somit auf eine Schwierigkeit bei der Auslegung des Unionsrechts gestoßen ist, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof mit am 16. Januar 2011 bei dessen Kanzlei eingegangener Vorlageentscheidung gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Handelt es sich unter Berücksichtigung des in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 verankerten gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes bei den vom Großherzogtum Luxemburg angestellten bildungs- und haushaltspolitischen Erwägungen – nämlich dem Bemühen, den derzeit bei der Wohnbevölkerung Luxemburgs im internationalen Vergleich unzureichenden Anteil von Personen mit Hochschulabschluss zu erhöhen –, die ernsthaft in Frage gestellt wären, wenn das Großherzogtum Luxemburg die Studienbeihilfen allen Studierenden auch ohne jede Anbindung an die Gesellschaft des Großherzogtums für die Durchführung eines Hochschulstudiums in jedem beliebigen Land gewähren müsste, was eine übermäßige Belastung des Haushalts des Großherzogtums Luxemburg zur Folge hätte, um Erwägungen im Sinne der Gemeinschaftsrechtsprechung, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen können, die aus der sowohl luxemburgischen Staatsangehörigen als auch Angehörigen anderer Mitgliedstaaten für den Bezug einer Studienbeihilfe auferlegten Wohnortpflicht folgt?

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

20.      Frau Giersch, Frau Hodin, Herr Taminiaux, die luxemburgische, die dänische, die griechische, die österreichische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

21.      In der Sitzung vom 28. November 2012 haben Frau Giersch, Frau Hodin, Herr Stemper, Herr Taminiaux, die luxemburgische, die dänische, die griechische, die österreichische und die schwedische Regierung sowie die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben.

IV – Rechtliche Würdigung

22.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, schlage ich vor, kurz auf die Einstufung der Studienbeihilfe als „soziale Vergünstigung“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 sowie darauf einzugehen, dass das für die Kinder von Grenzgängern vorgesehene Wohnorterfordernis eine mittelbare Diskriminierung darstellt. Sodann werde ich den klassischen Test durchführen, den der Gerichtshof bei Ungleichbehandlungen anwendet, und werde bei meiner Antwort auf die Frage des vorlegenden Gerichts nicht nur auf die Vereinbarkeit der von der luxemburgischen Regierung geltend gemachten Rechtfertigungsgründe mit dem Unionsrecht eingehen, sondern auch auf die Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der Wohnortklausel.

A –    Zum Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 und zum Vorliegen einer Diskriminierung

23.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Frage des vorlegenden Gerichts auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 bezieht. Diese Bestimmung ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „eine besondere Ausprägung des in Art. [45 Abs. 2 AEUV] enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf dem spezifischen Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen und daher ebenso auszulegen wie Art. [45 Abs. 2 AEUV]“(26). Das vorlegende Gericht bittet somit den Gerichtshof, den Fall des Ausgangsverfahrens unter dem Blickwinkel der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu analysieren(27).

1.      Die Studienbeihilfe, die Kinder von Grenzgängern erhalten, stellt eine soziale Vergünstigung dar

24.      Vor dem vorlegenden Gericht und im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens hat die luxemburgische Regierung in Frage gestellt, dass eine nach den Modalitäten des Gesetzes vom 26. Juli 2010 gewährte Studienbeihilfe unter den Begriff der sozialen Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 fällt.

25.      Das vorlegende Gericht ist davon ausgegangen, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens angesichts von Art. 203 des luxemburgischen Code civil als gegenüber dem Elternteil unterhaltsberechtigt anzusehen sind, der Grenzgänger ist. Es hat dies offensichtlich aus zwei Umständen geschlossen, nämlich dass a) nach Art. 203 des Code civil „[d]ie Ehegatten … gemeinsam, durch die Eheschließung, die Verpflichtung [eingehen], ihre Kinder zu ernähren, zu unterhalten und aufzuziehen“, und dass b) nach der innerstaatlichen Rechtsprechung die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung und zur Erziehung zwar grundsätzlich mit dem Erreichen der Volljährigkeit der Kinder ende, die Eltern aber über die Volljährigkeit hinaus verpflichtet blieben, den Kindern die Mittel für ein Studium zur Verfügung zu stellen, das sie auf den Beruf vorbereiten solle, den sie ergreifen wollten, jedoch unter der Bedingung, dass sie für dieses Studium geeignet seien(28).

26.      Für die Zwecke der folgenden Analyse kann dieser Annahme des vorlegenden Gerichts nicht ohne Weiteres gefolgt werden, da nach den Grundsätzen des internationalen Privatrechts eine solche Frage unter Berücksichtigung des Rechts zu klären ist, nach dem sich das Personalstatut der betreffenden Person bestimmt. Folglich kann Art. 203 des luxemburgischen Code civil in seiner Auslegung durch die luxemburgische Rechtsprechung auf Bürger oder Einwohner Luxemburgs in Abhängigkeit davon angewandt werden, ob sich nach der Rechtsordnung dieses Landes das Personalstatut nach der Staatsangehörigkeit, dem Wohnsitz oder dem Aufenthalt bestimmt.

27.      Im Einklang mit den vorstehenden Ausführungen kann man umgekehrt auch nicht den Schluss ziehen, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens gegenüber dem Elternteil, der Grenzgänger ist, nicht unterhaltsberechtigt sind, weil das Gesetz vom 26. Juli 2010 vorsieht, dass die Beihilfe unmittelbar an die Studierenden ausbezahlt wird, die Einkünfte der Eltern bei der Festsetzung der Höhe der Beihilfe nicht relevant sind und der damit verfolgte Zweck die Verselbständigung des jungen Erwachsenen gegenüber seinen Eltern ist, damit er allein über seine Ausrichtung entscheiden kann.

28.      Daraus folgt, dass sich das vorlegende Gericht mit dem Problem, zu dem es den Gerichtshof befragt, nur dann konkret wird auseinandersetzen können, wenn es nicht nur feststellt, dass die Studierenden, um die es im Ausgangsverfahren geht, im Haushalt der betreffenden Grenzgänger leben, sondern auch, dass Letztere ihnen weiterhin Unterhalt schulden und leisten, wobei es zudem überprüfen muss, ob die Studierenden in dem Land, in dem sie wohnen, tatsächlich oder potenziell in den Genuss einer Maßnahme kommen, die mit der durch das Gesetz vom 26. Juli 2010 umgesetzten vergleichbar ist.

29.      Für den Fall, dass das vorlegende Gericht im Rahmen dieser Beurteilung zu der Auffassung gelangt, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens tatsächlich gegenüber ihren Elternteilen, die Grenzgänger sind, unterhaltsberechtigt sind, ist erstens – in aller Kürze, so beständig ist die Haltung des Gerichtshofs in dieser Frage – darauf hinzuweisen, dass „eine Förderung, die für den Lebensunterhalt und für die Ausbildung zur Durchführung eines mit einer beruflichen Qualifikation abgeschlossenen Hochschulstudiums gewährt wird, eine soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 dar[stellt]“(29) und „eine Studienfinanzierung, die ein Mitgliedstaat den Kindern von Arbeitnehmern gewährt, für einen Wanderarbeitnehmer eine soziale Vergünstigung im Sinne des Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 darstellt, wenn Letzterer weiter für den Unterhalt des Kindes aufkommt“(30).

30.      Zweitens ist zu berücksichtigen, dass nach Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 ein Arbeitnehmer, der Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats als dem ist, in dem er berufstätig ist, die gleichen sozialen Vergünstigungen wie inländische Arbeitnehmer genießt, der Begriff „Arbeitnehmer“ in dieser Bestimmung aber auch Grenzgänger erfasst, die sich darauf ebenso wie die anderen von dieser Bestimmung erfassten Arbeitnehmer berufen können(31). Bei der Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 hat der Gerichtshof die Begriffe „Wanderarbeitnehmer“ und „Grenzgänger“ unterschiedslos verwendet, weil diese Verordnung im Gegensatz zu anderen Bestimmungen des abgeleiteten Rechts(32) diese beiden Kategorien von Arbeitnehmern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, nicht unterschiedlich behandelt.

31.      Drittens hat der Umstand, dass die Beihilfe unmittelbar dem studierenden Kind des Grenzgängers gewährt wird, keinen Einfluss auf die Einstufung als soziale Vergünstigung, da der Gerichtshof entschieden hat, dass die Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers oder Grenzgängers „mittelbare Nutznießer der diesem zuerkannten Gleichbehandlung sind“, sofern sie ihm gegenüber unterhaltsberechtigt sind(33), und dass, „[d]a die Gewährung der Finanzierung an ein Kind eines Wanderarbeitnehmers für diesen eine soziale Vergünstigung darstellt, … sich das Kind … selbst auf Artikel 7 Absatz 2 [der Verordnung Nr. 1612/68] berufen [kann], um diese Finanzierung zu erhalten, wenn sie nach nationalem Recht unmittelbar dem Studenten gewährt wird“(34).

32.      Daher ist das vorlegende Gericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Studienbeihilfe eine „soziale Vergünstigung“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 darstellt und dass die gegenüber den Grenzgängern unterhaltsberechtigten Kinder das Recht haben, sich vor ihm auf das darin verankerte Diskriminierungsverbot zu berufen.

2.      Das Wohnorterfordernis ist mittelbar diskriminierend

33.      Nach ständiger Rechtsprechung verbietet Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 ebenso wie Art. 45 AEUV nicht nur offensichtliche Diskriminierungen unmittelbar aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien de facto zum gleichen Ergebnis führen(35).

34.      Das Wohnorterfordernis gilt laut dem vorlegenden Gericht sowohl für luxemburgische Staatsangehörige als auch für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, wobei dieses Gericht sein innerstaatliches Recht dahin ausgelegt hat, dass das Wohnsitzerfordernis und das Erfordernis des Aufenthalts gleichbedeutend seien. Unter diesen Umständen ist ein Wohnorterfordernis für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten nicht unmittelbar diskriminierend.

35.      Dennoch ist dieses Wohnorterfordernis geeignet, „sich hauptsächlich zum Nachteil der Wander- und Grenzarbeitnehmer [auszuwirken], die Angehörige anderer Mitgliedstaaten sind, da Gebietsfremde meist Ausländer sind“(36). Es „spielt … keine Rolle, dass die fragliche Maßnahme gegebenenfalls sowohl die Inländer, die ein solches Kriterium nicht erfüllen können, als auch die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten betrifft“(37). Schließlich hat der Gerichtshof anerkannt, dass für die Zwecke des Zugangs zur mitnehmbaren Studienfinanzierung die Situation eines Grenzarbeitnehmers, der in dem Staat arbeitet, der die Finanzierung gewährt, aber in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, mit der Situation eines Arbeitnehmers, der Staatsangehöriger des Staates ist, der die Finanzierung gewährt, und in diesem Staat sowohl wohnt als auch arbeitet, verglichen werden kann(38).

36.      Die Ungleichbehandlung, die darin besteht, dass für studierende Kinder von Grenzgängern ein Wohnorterfordernis vorgesehen wird, stellt somit eine mittelbare Diskriminierung dar, die grundsätzlich verboten ist, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt und geeignet ist, die Verwirklichung des fraglichen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zu seiner Erreichung erforderlich ist(39).

B –    Zur Rechtmäßigkeit des verfolgten Ziels

37.      Die luxemburgische Regierung führt zum einen zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Grenzgängern bei der Gewährung von Studienbeihilfen eine von ihr als „politisch“ oder „sozial“ eingestufte Zielsetzung an, die darin bestehe, den Anteil der Personen mit Hochschulabschluss an der Wohnbevölkerung Luxemburgs wesentlich zu erhöhen. Dieser Anteil liege derzeit bei 28 %(40), d. h. deutlich unter dem Prozentsatz der Personen mit einem solchen Abschluss in vergleichbaren Staaten. Die luxemburgische Regierung sieht es als notwendig an, einen Anteil von 66 % der Personen mit Hochschulabschluss an der Wohnbevölkerung im Alter zwischen 30 und 34 Jahren zu erreichen, da dadurch der immer dringender erforderliche Übergang der luxemburgischen Wirtschaft zu einer wissensbasierten Wirtschaft gewährleistet werden könne.

38.      Der Empfängerkreis der Beihilfe beschränke sich auf die Einwohner Luxemburgs, da diese mit der luxemburgischen Gesellschaft verbunden seien, so dass man annehmen könne, dass sie, nachdem sie durch das luxemburgische Beihilfesystem die Möglichkeit erhalten hätten, ihr Studium – gegebenenfalls im Ausland – zu finanzieren, nach Luxemburg zurückkehrten und ihre so erworbenen Kenntnisse zugunsten einer Entwicklung der luxemburgischen Wirtschaft im dargestellten Sinn einsetzten.

39.      Zum anderen kann nach Ansicht der luxemburgischen Regierung diese mit der nationalen Bildungspolitik verbundene Zielsetzung nicht getrennt von der wirtschaftlichen Zielsetzung betrachtet werden. Die Beschränkung der Gewährung von Studienbeihilfen auf Einwohner Luxemburgs sei notwendig, um die Finanzierung des Systems zu gewährleisten. Der Gerichtshof habe bereits die Möglichkeit der Mitgliedstaaten anerkannt, darauf zu achten, dass die Gewährung von Beihilfen zur Deckung des Unterhalts von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten nicht zu einer übermäßigen Belastung werde, die Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben könnte, die dieser Staat gewähren könne. Die luxemburgische Regierung stützt sich auf das Urteil Bidar(41), das sie im vorliegenden Fall für einschlägig hält, und trägt vor, dass sie, wenn das Wohnsitzerfordernis entfiele, verpflichtet wäre, die Beihilfe an jeden Studierenden ohne jede persönliche Verbindung zur luxemburgischen Gesellschaft zu zahlen, was für sie zu einer übermäßigen Belastung würde.

40.      Ich bin davon überzeugt, dass die beiden Zielsetzungen voneinander getrennt betrachtet werden können. Die Bestimmung der Empfänger einer sozialen Vergünstigung hat zwar logischerweise Auswirkungen auf die wirtschaftliche Belastung des Staates, der diese Vergünstigung gewährt. Bildungspolitik – denn darum scheint es sich hier zu handeln – erfolgt notwendigerweise durch die Umsetzung verschiedener Maßnahmen, die zwangsläufig Kosten verursachen. Es genügt jedoch nicht, sich auf beträchtliche Kosten zu berufen, um eine Politik umzusetzen, die sich als diskriminierend herausstellt. Es muss nachgewiesen werden, dass diese Politik dringend notwendig ist und die Kosten so hoch wären, dass die Umsetzung dieser Politik unmöglich wäre.

1.      Zum Ziel, den Anteil der Einwohner Luxemburgs mit Hochschulabschluss auf 66 % zu erhöhen

41.      Ich weise darauf hin, dass dieses Ziel als solches von den Verfahrensbeteiligten nicht in Frage gestellt wird.

42.      Das Ziel, die Anzahl der Personen mit Hochschulabschluss zu erhöhen, liegt offensichtlich im Allgemeininteresse. Die Unionsorgane haben selbst eine Reihe entsprechender Maßnahmen getroffen und das Zusammenspiel zwischen dem Ausbildungsniveau des Einzelnen, dem Zugang zur Beschäftigung und dem Wirtschaftswachstum der Union hervorgehoben. In ihrer Mitteilung „Europa 2020: Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“(42) setzte die Kommission als Ziel, dass bis 2020 der Anteil der Schulabbrecher auf 10 % gesenkt werden und mindestens 40 % der jüngeren Generation einen Hochschulabschluss haben sollten(43). Sie schlug insbesondere die Umsetzung dieser Ziele in nationale Ziele durch die Mitgliedstaaten vor(44). Die Verwirklichung dieser Ziele solle zur Modernisierung der Arbeitsmärkte, zur Erhöhung der Erwerbsquote und zur besseren Abstimmung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt beitragen; dabei handelt es sich um Themen, die die Kommission als vorrangig ansieht, um einen schnellen und wirksamen Ausweg aus der Krise zu finden, in der sich die Union befindet(45).

43.      Der Rat der Europäischen Union hatte sich dieses Ziel schon im Rahmen seiner Schlussfolgerungen vom 12. Mai 2009 zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung („ET 2020“)(46) zu eigen gemacht, indem er als europäischen Durchschnittsbezugswert festlegte, dass mindestens 40 % der 30- bis 34‑Jährigen einen Hochschulabschluss besitzen sollten(47).

44.      Seither hat der Rat immer wieder auf die Bedeutung dieses Ziels hingewiesen. 2010 stellte er fest, dass, „[u]m die Motivation zur Aufnahme eines Studiums und den Zugang zur Hochschulbildung für Schüler aus benachteiligten Verhältnissen zu verbessern, … die Programme zur finanziellen Unterstützung und andere Anreize ausgebaut und besser konzipiert werden [müssen, da d]urch bezahlbare, zugängliche, angemessene und übertragbare Studentendarlehen sowie an Bedürftigkeitsprüfungen gekoppelte Beihilfen … die Beteiligung derjenigen, die sich Hochschulbildung nicht leisten können, erfolgreich erhöht werden [kann]“(48). Im Hinblick auf die zu erwartende Entwicklung des Arbeitsmarkts auf EU-Ebene betonte der Rat außerdem, dass „[i]n den kommenden Jahren … bei immer mehr Arbeitsstellen eine hohe Qualifikation vorausgesetzt werden [wird]; dennoch ist der Prozentsatz der Menschen mit einem Hochschulabschluss … in der EU geringer als in den konkurrierenden Wirtschaftsräumen“(49). Diese Feststellung traf er in Bezug auf alle Mitgliedstaaten, d. h. sowohl im Hinblick auf die Mitgliedstaaten, deren Arbeitsmarkt durch einen hohen Grenzgängeranteil gekennzeichnet ist, als auch hinsichtlich der anderen. Schließlich bestimmte der Rat in seiner europäischen Agenda für die Erwachsenenbildung, in der die prioritären Bereiche für den Zeitraum 2012−2014 festgelegt wurden, welche Anstrengungen die Mitgliedstaaten unternehmen sollten, um speziell zu erreichen, „dass der Anteil junger Erwachsener mit Hochschulabschluss oder gleichwertigem Abschluss auf 40 % ansteigt“(50).

45.      Die soeben von mir beschriebenen Maßnahmen für einen allgemeineren Zugang zur Hochschulbildung fallen jedenfalls nur in die ergänzende Zuständigkeit der Union, über die sie im Bereich der allgemeinen und der beruflichen Bildung verfügt(51). Anders gesagt ist den Mitgliedstaaten mangels einer Harmonisierung auf europäischer Ebene ein erheblicher Spielraum bei der Festlegung ihrer bildungspolitischen Ziele und der Anspruchsvoraussetzungen für eine Studienfinanzierung zuzuerkennen(52).

46.      Meines Erachtens stellt der von der luxemburgischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen(53) angeführte Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft eines dieser im Ermessen der Mitgliedstaaten stehenden Ziele dar. Die wirtschaftliche Situation Luxemburgs ist aus historischer Sicht atypisch. Von einer auf den Bergbau und die Stahlindustrie gestützten Wirtschaft hat Luxemburg nach dem Wegfall dieser Industrien einen Wandel hin zum Ausbau der Beschäftigung im Bank- und Finanzsektor vollzogen. Dieser Sektor war in der Folge schon vor der Finanzkrise durch die auf Unionsebene getroffenen Maßnahmen zur drastischen Einschränkung der für das luxemburgische Bankensystem im Vergleich zu den Bankensystemen der anderen Mitgliedstaaten bestehenden Vorteile ernsthaft bedroht und ist es weiterhin. Es ist völlig verständlich, dass ein Mitgliedstaat eine Bildungspolitik mit dem Ziel der Erhöhung des Qualifikationsniveaus der verfügbaren Arbeitskräfte betreibt, bei denen hinreichend wahrscheinlich ist, dass sie zum Umbau der nationalen Wirtschaft beitragen werden, der darauf abzielt, das Inland für eine größere Vielfalt von Dienstleistungen attraktiv zu machen und diese dort anzubieten.

47.      Eine Maßnahme, die ein Mitgliedstaat trifft, um ein hohes Ausbildungsniveau seiner Wohnbevölkerung zu gewährleisten, verfolgt daher zweifellos ein legitimes Ziel, das als zwingender Grund des Allgemeininteresses angesehen werden kann.

2.      Zum Ziel, eine übermäßige Belastung zu verhindern, die Folgen für das Gesamtniveau der Studienbeihilfen hat

48.      Was das wirtschaftliche Ziel anbelangt, d. h. den parallel geltend gemachten Rechtfertigungsgrund, dass die Möglichkeiten der Finanzierung des Systems gefährdet seien, handelt es sich um ein von den Mitgliedstaaten vor dem Gerichtshof immer wieder angeführtes Argument. Auch die Berufung auf das Urteil Bidar vermag nicht zu überzeugen.

49.      Hierzu sei lediglich bemerkt, dass die Lage im Ausgangsverfahren hier im Licht der Freizügigkeit der Arbeitnehmer geprüft wird und dass es um die Frage geht, ob die nationalen Vorschriften die den Grenzgängern aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte verletzen. In der Rechtssache Bidar wurde der Gerichtshof ersucht, zur Vereinbarkeit eines Wohnsitzerfordernisses Stellung zu nehmen, das nicht wirtschaftlich tätige Unionsbürger für den Erhalt einer Studienbeihilfe zu erfüllen hatten. Das ist ein wesentliches Detail, auf das der Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Niederlande hingewiesen hat(54).

50.      Der Gerichtshof hat im Rahmen der Prüfung der vom Königreich der Niederlande angeführten Rechtfertigungsgründe zunächst festgestellt, „dass zwar Haushaltserwägungen den sozialpolitischen Entscheidungen eines Mitgliedstaats zugrunde liegen und die Art oder das Ausmaß der von ihm zu treffenden sozialen Schutzmaßnahmen beeinflussen können, dass sie aber als solche kein mit dieser Politik verfolgtes Ziel darstellen und daher keine Diskriminierung … rechtfertigen können“(55). Dennoch hat er auch das Ziel geprüft, eine übermäßige Belastung zu vermeiden (wirtschaftliches Ziel). Auch die Beklagte in diesem Verfahren war der Ansicht, den Urteilen Bidar und Förster lasse sich entnehmen, dass die Mitgliedstaaten von den Empfängern einer Studienbeihilfe rechtmäßig den Nachweis eines „gewissen Grades der Integration“ verlangen könnten. Der Gerichtshof hat jedoch auf den grundlegenden Unterschied zwischen den Rechtssachen Bidar und Förster sowie der Rechtssache Kommission/Niederlande hingewiesen, der darin besteht, dass es sich im ersten Fall um wirtschaftlich nicht tätige Unionsbürger handelte, die keine Familienangehörigen von Arbeitnehmern im unionsrechtlichen Sinn waren, während im zweiten Fall die Lage im Hinblick auf einen Wanderarbeitnehmer oder Grenzgänger geprüft wurde, der gegenüber einem Kind unterhaltspflichtig ist, das ein Studium absolvieren möchte und eine Studienbeihilfe beantragt hat, die der Mitgliedstaat zahlt, in dem der betreffende Elternteil beschäftigt ist.

51.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass „[z]war … die den Mitgliedstaaten vom Gerichtshof unter dem Vorbehalt … bestimmter Voraussetzungen zuerkannte Befugnis, von den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten einen gewissen Grad der Integration in ihre Gesellschaften zu verlangen, um soziale Vergünstigungen wie finanzielle Beihilfen für den Unterricht erhalten zu können, nicht auf Situationen beschränkt [ist], in denen diejenigen, die die betreffende Beihilfe beantragen, wirtschaftlich nicht tätige Unionsbürger sind, [dass] es [aber] in Bezug auf Wander- und Grenzarbeitnehmer grundsätzlich unangemessen [wäre], die Erfüllung einer Wohnsitzvoraussetzung [während drei der sechs dem Antrag auf Studienbeihilfe vorangegangenen Jahre] als Nachweis für die erforderliche Integration zu verlangen“(56). Hinsichtlich dieser Wander- und Grenzarbeitnehmer „schafft der Umstand, dass sie Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats gefunden haben, grundsätzlich ein hinreichendes Band der Integration in die Gesellschaft dieses Staates, das es ihnen erlaubt, hinsichtlich sozialer Vergünstigungen in den Genuss des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Verhältnis zu inländischen Arbeitnehmern zu kommen“(57). Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass das im Zusammenhang mit der Gewährung einer sozialen Vergünstigung an Grenzgänger angeführte Ziel, eine übermäßige Belastung zu verhindern, kein legitimes Ziel darstellen kann.

52.      Aus diesem Grund kann das vom Großherzogtum Luxemburg angeführte Haushaltsziel für sich genommen keinen legitimen Grund darstellen, der eine Ungleichbehandlung von luxemburgischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten rechtfertigen kann. Jedenfalls geht es, wie in Nr. 38 dieser Schlussanträge aufgezeigt, nicht darum, die von den Klägern des Ausgangsverfahrens geltend gemachte Ungleichbehandlung mit den erheblichen Kosten zu rechtfertigen, die die Streichung der diskriminierenden Bedingung mit sich bringen würde, sondern darum, zu prüfen, ob das wirtschaftliche Ziel – der Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft –, zu dessen Erreichung das Großherzogtum Luxemburg diese diskriminierende Praxis eingeführt hat, nicht nur ernsthaft, sondern auch effektiv verfolgt wird und die Kosten zur Verhinderung dieser Praxis so hoch wären, dass sie die Erreichung dieses Ziels unmöglich machen würden. Es ist natürlich Sache des vorlegenden Gerichts, das eine wie das andere zu prüfen, um gegebenenfalls das Vorliegen eines Umstands festzustellen, der den im verfolgten sozialen Ziel bestehenden Rechtfertigungsgrund zusätzlich stützt.

C –    Zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit des Wohnorterfordernisses

53.      Eine Maßnahme, die die in Art. 45 AEUV verankerte und in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 durchgeführte Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschränkt, kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das für seine Erreichung Erforderliche hinausgeht(58), was zu prüfen ist.

54.      Die Prüfung der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit des von der luxemburgischen Regierung zur Erreichung des legitimen Ziels verwendeten Kriteriums ist äußerst heikel. Insoweit bestehen in der vorliegenden Rechtssache zwei Problemkreise. Zum einen haben die verschiedenen Beteiligten des vorliegenden Verfahrens gegensätzliche Schlüsse aus dem Urteil Kommission/Niederlande gezogen, insbesondere zum Umfang der Integration, die die Mitgliedstaaten von den Studienbeihilfeempfängern verlangen oder nicht verlangen können. Ich möchte daher das Urteil in diesem Punkt klarstellen. Zum anderen fehlen im vorliegenden Fall einige meiner Ansicht nach wesentliche Informationen, so dass der Gerichtshof meines Erachtens schwer endgültig über die Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der nationalen Rechtsvorschriften wird entscheiden können. Einige Umstände verdienen im Kontext der vorliegenden Rechtssache nähere Betrachtung, insbesondere um den Besonderheiten des luxemburgischen Systems – und vor allem des Arbeitsmarkts – Rechnung zu tragen. Es ist daher von Bedeutung, das vorlegende Gericht auf diesen Punkt hinzuweisen.

1.      Zum Urteil Kommission/Niederlande

55.      Der Gerichtshof hat im oben angeführten Urteil Kommission/Niederlande den auf das Ziel der Erhöhung der Mobilität der Studierenden gestützten sogenannten „sozialen“ Rechtfertigungsgrund geprüft und dabei in der Tat als einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses angesehen(59). Die Beklagte hat sodann versucht, die Geeignetheit und die Verhältnismäßigkeit des von ihr vorgesehenen Erfordernisses eines Wohnsitzes während drei der letzten sechs Jahre vor der Antragstellung darzutun, indem sie vorbrachte, dass es darum gehe, zu gewährleisten, dass die Studienfinanzierung nur den Studierenden zugutekomme, deren Mobilität gefördert werden müsse: Der Staat, der die Beihilfe gewähre, erwarte, dass die Studierenden, die diese Beihilfe erhielten, nach Abschluss ihres Studiums dorthin zurückkehrten, um dort zu wohnen und zu arbeiten(60). Der Gerichtshof hat eingeräumt, dass diese Umstände „die Situation der Mehrzahl der Studierenden widerspiegeln dürften“(61) und daher festgestellt, dass das Erfordernis eines Wohnsitzes während drei der letzten sechs Jahre vor der Antragstellung zur Verwirklichung des Ziels der Förderung der Mobilität der Studierenden geeignet ist(62). Jedoch hat dieses Erfordernis für den Erhalt der von den Niederlanden gewährten mitnehmbaren Studienbeihilfe nach Ansicht des Gerichtshofs „eine zu starke Ausschlusswirkung“, und er hat festgestellt, dass, „[das Erfordernis eines Wohnsitzes während drei der letzten sechs Jahre vor der Antragstellung, indem es] konkrete Zeiträume des Wohnens im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats vorschreibt, … einem Umstand den Vorzug [gibt], der nicht zwangsläufig der einzige für den tatsächlichen Grad der Verbundenheit zwischen dem Betreffenden und dem Mitgliedstaat repräsentative Umstand ist“(63). Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass nicht erwiesen ist, dass die fragliche Regel nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit dieser Regelung verfolgten Ziels erforderlich ist.

56.      Eine aufmerksame Lektüre dieses Urteils zeigt somit, dass der Gerichtshof das Kriterium „gewisser Grad der Integration“ unterschiedlich versteht, je nachdem, ob es sich auf ein legitimes wirtschaftliches Ziel(64) oder ein legitimes soziales Ziel bezieht.

57.      Werden den Empfängern einer Studienbeihilfe aus wirtschaftlichen Gründen unter Berufung auf die Tragbarkeit der Finanzierung dieser Beihilfe Beschränkungen auferlegt, stellt der Gerichtshof bei seiner Prüfung nämlich auf den Begriff „Wanderarbeitnehmer“ oder „Grenzgänger“ ab und stellt fest, dass sie naturgemäß, allein aufgrund der Tatsache, dass sie Zugang zum Arbeitsmarkt des Staates gefunden haben, der die Beihilfe gewährt, wirtschaftlich in die Gesellschaft dieses Staates integriert sind, dass sie an der Finanzierung seiner Sozialpolitik teilnehmen und dass folglich das Erfordernis eines Wohnsitzes während der Dauer von drei Jahren für den Empfang einer Vergünstigung sozialer Art unangemessen ist.

58.      Wenn hingegen die Beschränkung des Empfängerkreises der Studienbeihilfe aus eher sozialen Gründen in Rede steht, geht der Gerichtshof bei seiner Prüfung des Falles nicht mehr vom Arbeitnehmer aus, dem Gleichbehandlung für sich selbst und seine Familienangehörigen bei der Gewährung sozialer Vergünstigungen zuerkannt wird, sondern vom Studierenden selbst. Mit anderen Worten gilt die wirtschaftliche Integration desjenigen Elternteils, der Grenzgänger ist, nicht notwendigerweise und automatisch als soziale Integration seiner Familienangehörigen. Im Übrigen ist die vom Gerichtshof verwendete Terminologie nicht dieselbe, er spricht nicht mehr von einem „gewissen Grad der Integration“(65), sondern von einem „tatsächlichen Grad der Verbundenheit“(66). Die Prüfung erfolgt nicht mehr unter dem Blickwinkel des Arbeitnehmers und seiner Verbindungen zur Gesellschaft des Beschäftigungsstaats, sondern unter dem des Studierenden selbst. Während somit das Erfordernis eines Wohnsitzes während der Dauer von drei Jahren im Rahmen der Prüfung der wirtschaftlichen Integration eines Grenzgängers als ungeeignet beurteilt wurde, wurde dasselbe Erfordernis als geeignet angesehen, die gesellschaftliche Anbindung des Studierenden zu gewährleisten. Der Gerichtshof scheint auch zugelassen zu haben, dass eine Beihilfe auf Studierende beschränkt wird, die voraussichtlich in den die Beihilfe gewährenden Mitgliedstaat zurückkehren, und hat somit den Zusammenhang zwischen dem Wohnsitz des Studierenden zum Zeitpunkt der Beantragung der Beihilfe und der dadurch eröffneten Aussicht auf „Rückkehr“ eingeräumt. Letztlich hat er jedoch entschieden, dass das Erfordernis eines Wohnsitzes während der Dauer von drei Jahren gegen das Unionsrecht verstößt, da es unverhältnismäßig ist, weil ein Wohnsitz während drei der letzten sechs Jahre vor der Antragstellung, wenn allein darauf abgestellt wird, ein zu strenges Erfordernis ist, um einen tatsächlichen Grad der Verbundenheit nachzuweisen.

2.      Zur Geeignetheit des Wohnorterfordernisses

59.      Angesichts der vorstehenden Ausführungen stellt sich somit die Frage, ob das Wohnorterfordernis, dessen Erfüllung das Großherzogtum Luxemburg von den Kindern von Grenzgängern verlangt, damit sie in den Genuss der Studienbeihilfe kommen können, geeignet ist, eine hinreichende Rückkehrwahrscheinlichkeit zu begründen, die dieser Staat als notwendig für die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels ansieht.

60.      Die Antwort liegt bereits in der Formulierung des Ziels. Wenn der Gerichtshof – wie von mir vorgeschlagen – entscheidet, dass der luxemburgische Staat rechtmäßig Maßnahmen ergreifen kann, um den Zugang seiner Wohnbevölkerung zum Hochschulstudium zu fördern, und zwar im Hinblick darauf, dass diese Personen mit größerer Wahrscheinlichkeit als alle anderen nach Abschluss ihres Studiums dem luxemburgischen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und ihn so bereichern werden, muss er folglich auch feststellen, dass ein Wohnorterfordernis geeignet ist, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten, da es den Empfang der Beihilfe auf die Einwohner Luxemburgs beschränkt.

3.      Zur Verhältnismäßigkeit des Wohnorterfordernisses

61.      Das in der Rechtssache Kommission/Niederlande fragliche Wohnsitzerfordernis, das nur im Hinblick auf die Finanzierung von Studien gefordert wurde, die außerhalb der Niederlande absolviert wurden(67), galt als erfüllt, wenn derjenige, der die Beihilfe beantragte, nachweisen konnte, dass er seinen Wohnsitz während drei der letzten sechs Jahre vor der Antragstellung in den Niederlanden hatte. Wie ich ausgeführt habe, geht aus dem Urteil Kommission/Niederlande hervor, dass der Gerichtshof die Kinder von Grenzgängern nicht von der Verpflichtung ausnehmen wollte, eine Verbundenheit mit der Gesellschaft des Beschäftigungsstaats ihres betreffenden Elternteils nachzuweisen, wenn diese Kinder in diesem Staat eine mitnehmbare Studienbeihilfe beantragten. Er hat jedoch klargestellt, dass die Mitgliedstaaten das Erfordernis eines Wohnsitzes während der Dauer von drei Jahren nicht als einzigen repräsentativen Umstand für diese Verbundenheit ansehen dürfen.

62.      Daher ist das vom Großherzogtum Luxemburg vorgesehene Wohnorterfordernis im Licht dieser Beurteilung zu prüfen. Die zentrale Frage ist, ob nur das Erfordernis, dass die Betreffenden bereits in Luxemburg wohnen, diesem Staat ein Mindestmaß an „Rendite“ gewährleisten kann, wenn ich es so sagen darf, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Empfänger der Beihilfe nach Luxemburg zurückkehren, sich dort niederlassen und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werden, um zur neuen wirtschaftlichen Dynamik des Landes beizutragen. Für die Zwecke dieser Beurteilung erscheint es mir als sachdienlich, das vorlegende Gericht auf zwei Prüfungsschritte hinzuweisen.

63.      Die erste Prüfung, die das vorlegende Gericht durchführen müsste, besteht darin, zu untersuchen, ob die von den nationalen Behörden bei ihrer Entscheidung über einen Antrag auf Eintragung eines Wohnsitzes vorgenommene Prüfung angesichts des Fehlens einer erforderlichen Mindestdauer nicht bloß formaler Art ist, sondern gewährleistet, dass der Antragsteller mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bereit ist, sich in das wirtschaftliche und soziale Leben Luxemburgs einzugliedern.

64.      Der zweite Prüfungsschritt, den ich dem vorlegenden Gericht vorschlage, hängt damit zusammen, dass die in der luxemburgischen Regelung vorgesehene Studienbeihilfe eine mitnehmbare Beihilfe ist und als solche außerhalb des Landes, das sie gewährt, verwendet werden kann, so dass die Studierenden, die sie erhalten, vom Arbeitsmarkt des Landes, in dem sie ihr Studium absolvieren, angezogen werden können. Dass die Studierenden zum Zeitpunkt der Beantragung der Studienbeihilfe im Inland wohnen, bewirkt deshalb für sich genommen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit ihrer Rückkehr in den Staat, der die Beihilfe gewährt hat. Um die Anwendung des fraglichen Kriteriums im Hinblick auf das verfolgte Ziel als verhältnismäßig ansehen zu können, ist zu prüfen, ob die Umwandlung der luxemburgischen Wirtschaft in eine wissensbasierte Wirtschaft – und damit in eine Wirtschaft, in der Dienstleistungen im weitesten Sinne angeboten werden – tatsächlich durch öffentliche Maßnahmen zur konkreten Entwicklung entsprechender neuer Beschäftigungsperspektiven begleitet wurde, und zwar nicht nur in den Branchen, in denen das Großherzogtum Luxemburg Hochschulstudien anbietet, sondern auch in den anderen Branchen. Für die Feststellung der Erfüllung des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit genügt es nämlich nicht, die Merkmale der spezifischen Maßnahme und des verfolgten Ziels zu untersuchen, sondern ist auch zu prüfen, auf welche Weise konkret auf die Verwirklichung dieses Ziels hingearbeitet wird.

65.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass es Sache des vorlegenden Gerichts sein wird, nach einer Würdigung aller relevanten Umstände, die dem Gerichtshof derzeit nicht zur Verfügung stehen, die Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit des Wohnorterfordernisses zu beurteilen, das das Gesetz vom 26. Juli 2010 für die Kinder von Grenzgängern vorsieht, die eine Studienbeihilfe beantragen.

V –    Ergebnis

66.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Tribunal administratif des Großherzogtums Luxemburg wie folgt zu antworten:

Das Ziel, den Anteil der Personen mit Hochschulabschluss an der Wohnbevölkerung zu erhöhen, stellt ein legitimes Ziel dar, das geeignet ist, im Hinblick auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft und Art. 45 AEUV eine mittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen. Es wird Sache des vorlegenden Gerichts sein, nach einer Würdigung aller dafür relevanten Umstände und insbesondere der Umstände, auf die es oben hingewiesen wurde, zu prüfen, ob das Wohnorterfordernis, das das Gesetz vom 26. Juli 2010 für die Kinder von Grenzgängern vorsieht, die eine Studienbeihilfe beantragen, für die Erreichung des verfolgten legitimen Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dafür erforderlich ist.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 –      ABl. L 257, S. 2.


3 –      Die Verordnung Nr. 1612/68 wurde durch die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141, S. 1) aufgehoben. Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 492/2011 hat den Inhalt von Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1612/68 als geltendes Recht übernommen.


4 –      Mémorial A 2010, S. 2040.


5 –      Mémorial A 2000, S. 1106.


6 – Art. 2 Buchst. a des Gesetzes vom 22. Juni 2000.


7 – Vgl. den einzigen Artikel des Gesetzes vom 4. April 2005 zur Änderung des Gesetzes vom 22. Juni 2000 über die staatliche finanzielle Studienförderung (Mémorial A 2005).


8 –      Art. 4 des Gesetzes vom 22. Juni 2000.


9 –      Mémorial A 2000, S. 2548.


10 –      Art. 5 Abs. 4 erster Gedankenstrich der Großherzoglichen Verordnung vom 5. Oktober 2000.


11 –      Art. 5 Abs. 4 zweiter Gedankenstrich der Großherzoglichen Verordnung vom 5. Oktober 2000.


12 –      Art. 3 des Gesetzes vom 22. Juni 2000. Dieser Betrag umfasst die Beihilfe in Form eines Darlehens.


13 –      Art. 5 Abs. 3 der Großherzoglichen Verordnung vom 5. Oktober 2000.


14 – Mémorial A 2008, S. 2024 (für den konsolidierten Text vgl. Mémorial A 2012, S. 874).


15 –      ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. L 229, S. 35.


16 –      Art. 2 des Gesetzes vom 26. Juli 2010.


17 – Vgl. Art. 6 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 des Gesetzes vom 29. August 2008.


18 –      Art. 4 des Gesetzes vom 26. Juli 2010.


19 –      Mémorial A 2010, S. 3430.


20 –      Art. 3 des Gesetzes vom 22. Juni 2000 in der durch das Gesetz vom 26. Juli 2010 geänderten Fassung. Dieser Betrag umfasst die Beihilfe in Form eines Darlehens. 


21 – Durch Art. 4 der Großherzoglichen Verordnung vom 12. November 2010 wurde Art. 5 der Großherzoglichen Verordnung vom 5. Oktober 2000 aufgehoben.


22 – Vgl. Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 19. Juni 1985 über das Kindergeld und zur Errichtung der Nationalen Kasse für Familienleistungen (Mémorial A 1985, S. 680).


23 – Vgl. Art. V Abs. 2 des Gesetzes vom 26. Juli 2010. Die Höhe des Kindergelds beträgt 234,12 Euro pro Monat, d. h. 2 809,44 Euro pro Jahr (vgl. Art. 272 Abs. 1 Buchst. a und Art. 272 Abs. 2 des Code de la sécurité sociale).


24 – Art. II Abs. 1 des Gesetzes vom 26. Juli 2010.


25 –      Das vorlegende Gericht führt insbesondere das Urteil vom 26. Februar 1992, Bernini (C‑3/90, Slg. 1992, I‑1071), an.


26 –      Vgl. Urteil vom 11. September 2007, Hendrix (C‑287/05, Slg. 2007, I‑6909, Randnr. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27 – Aus diesem Grund unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache klar vom Sachverhalt in den Rechtssachen Bidar (Urteil vom 15. März 2005, C‑209/03, Slg. 2005, I‑2119) und Förster (Urteil vom 18. November 2008, C‑158/07, Slg. 2008, I‑8507), da es dort darum ging, die Rechte von Bürgern zu bestimmen, die nicht wirtschaftlich tätig waren.


28 – Vgl. Nr. 3 der Anmerkung unter Art. 203 des luxemburgischen Code civil.


29 –      Urteil vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande (C‑542/09, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30 –      Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31 –      Urteil Hendrix (Randnr. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch den vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1612/68.


32 –      Vgl. insbesondere Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1).


33 –      Urteil Bernini (Randnr. 26).


34 – Urteile Bernini (Randnr. 26), vom 8. Juni 1999, Meeusen (C‑337/97, Slg. 1999, I‑3289, Randnr. 22), und vom 5. Mai 2011, Kommission/Deutschland (C‑206/10, Slg. 2011, I‑3573, Randnr. 36).


35 –      Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36 –      Ebd. (Randnr. 38).


37 –      Ebd.


38 –      Ebd. (Randnr. 44).       


39 –      Ebd. (Randnr. 55).


40 – In ihren schriftlichen Erklärungen nennt die luxemburgische Regierung einen Anteil von 39,5 % bei den Personen im Alter zwischen 24 und 29 Jahren (der Anteil der Personen mit Hochschulabschluss unter den luxemburgischen Staatsbürgern in allen Altersstufen liegt bei rund 22 %).


41 –      Urteil vom 15. März 2005 (C‑209/03, Slg. 2005, I‑2119, Randnr. 56).


42 –      KOM(2010) 2020 endgültig vom 3. März 2010.


43 –      Ebd. (S. 5 und 12).


44 –      Ebd. (S. 5).


45 –      Ebd. (S. 5). Vgl. auch Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Eine Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten: Europas Beitrag zur Vollbeschäftigung“ (KOM[2010] 682 endgültig vom 23. November 2010).


46 – ABl. C 119, S. 2.


47 – Ebd. (Anlage).


48 –      Schlussfolgerungen des Rates vom 11. Mai 2010 zur sozialen Dimension der allgemeinen und beruflichen Bildung (ABl. C 135, S. 2).


49 –      Schlussfolgerungen des Rates vom 19. November 2010 zur Initiative „Jugend in Bewegung“ – Ein integriertes Konzept für die Bewältigung der Herausforderungen, mit denen sich junge Menschen konfrontiert sehen (ABl. C 326, S. 9).


50 – Vgl. Anhang der Entschließung des Rates über eine erneuerte europäische Agenda für die Erwachsenenbildung (ABl. 2011, C 372, S. 1).


51 –      Art. 6 AEUV und 165 AEUV.


52 –      Vgl. in diesem Sinne Nr. 139 des Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Niederlande ergangen ist.       


53 –      Nr. 28 dieser Erklärungen.


54 –      Urteil Kommission/Niederlande (Randnrn. 60 ff.).


55 –      Ebd. (Randnr. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).


56 –      Ebd. (Randnr. 63). Hervorhebung nur hier.


57 –      Ebd. (Randnr. 65). Hervorhebung nur hier.


58 –      Ebd. (Randnr. 73).


59 –      Ebd. (Randnrn. 70 ff).


60 –      Ebd. (Randnrn. 76 und 77).


61 –      Ebd. (Randnr. 78).


62 –      Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 79).


63 –      Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 86) (Hervorhebung nur hier).


64 –      Siehe die Nrn. 50 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


65 – Vgl. Randnrn. 61 und 63 des Urteils Kommission/Niederlande.


66 –      Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 86).


67 –      Vgl. Nr. 14 der Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Niederlande ergangen ist.