Language of document : ECLI:EU:C:2011:335

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

24. Mai 2011(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 43 EG – Niederlassungsfreiheit – Notare – Staatsangehörigkeitsvoraussetzung – Art. 45 EG – Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt“

In der Rechtssache C‑50/08

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 12. Februar 2008,

Europäische Kommission, vertreten durch J.‑P. Keppenne und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

unterstützt durch

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch E. Jenkinson und S. Ossowski als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Französische Republik, vertreten durch E. Belliard, G. de Bergues und B. Messmer als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Republik Bulgarien, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova als Bevollmächtigte,

Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

Republik Lettland, vertreten durch L. Ostrovska, K. Drēviņa und J. Barbale als Bevollmächtigte,

Republik Litauen, vertreten durch D. Kriaučiūnas und E. Matulionytė als Bevollmächtigte,

Republik Ungarn, vertreten durch R. Somssich, K. Veres und M. Fehér als Bevollmächtigte,

Rumänien, vertreten durch C. Osman, A. Gheorghiu, A. Stoia und A. Popescu als Bevollmächtigte,

Slowakische Republik, vertreten durch J. Čorba und B. Ricziová als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und J.‑J. Kasel sowie der Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter E. Juhász, G. Arestis und M. Ilešič, der Richterin C. Toader und des Richters M. Safjan,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2010,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2010

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 45 EG verstoßen hat, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Allgemeine Ausgestaltung des Notarberufs in Frankreich

2        Die Notare üben ihre Tätigkeiten nach der französischen Rechtsordnung freiberuflich aus. Dieser Berufsstand ist in der Ordonnance Nr. 45‑2590 vom 2. November 1945 über die Stellung des Notariats (JORF vom 3. November 1945, S. 7160) in der durch das Gesetz Nr. 2004‑130 vom 11. Februar 2004 (JORF vom 12. Februar 2004, S. 2847) geänderten Fassung geregelt.

3        Nach Art. 1 dieser Ordonnance sind Notare „öffentliche Amtsträger, die eingesetzt sind, um alle Urkunden und Verträge aufzunehmen, denen die Parteien den mit behördlichen Urkunden verbundenen authentischen Charakter verschaffen müssen oder wollen, und um das Datum dieser Urkunden und Verträge festzuhalten, für ihre Aufbewahrung zu sorgen sowie Abschriften und Zweitschriften von ihnen auszustellen“.

4        Nach Art. 1 der Ordonnance kann der Notar seinen Beruf allein, im Rahmen einer bürgerlich-rechtlichen Berufsausübungsgesellschaft oder einer Gesellschaft für Freiberufler oder als Angestellter einer im Notariatswesen tätigen natürlichen oder juristischen Person ausüben.

5        Nach Art. 6‑1 Abs. 1 der Ordonnance wird die zivilrechtliche Berufshaftpflicht der Notare durch einen Versicherungsvertrag mit dem Conseil supérieur du notariat abgedeckt.

6        Die örtliche Zuständigkeit der Notare, ihre Zahl und ihr Amtssitz werden im Einklang mit den Bestimmungen des Dekrets Nr. 71‑942 vom 26. November 1971 über die Errichtung, Übertragung und Aufhebung des Notariatsamts, die Beurkundungszuständigkeit und den Amtssitz der Notare, die Überwachung und die Übermittlung der Protokolle und Berufsregister der Notare (JORF vom 3. Dezember 1971, S. 11796) in der durch das Dekret Nr. 2005‑311 vom 25. März 2005 (JORF vom 3. April 2005, S. 6062) geänderten Fassung bestimmt.

7        Nach Art. 1 des Dekrets Nr. 78‑262 vom 8. März 1978 zur Festlegung des Tarifs der Notare (JORF vom 10. März 1978, S. 995) in der durch das Dekret Nr. 2006‑558 vom 16. Mai 2006 (JORF vom 18. Mai 2006, S. 7327) geänderten Fassung werden die den Notaren für ihre Leistungen geschuldeten Beträge anhand der Bestimmungen dieses Dekrets ermittelt. Nach Art. 4 des Dekrets werden die Notare für die Dienste, die sie in Ausübung der nicht in Titel II dieses Dekrets vorgesehenen und mit der Funktion des Notars vereinbaren Tätigkeiten erbringen, mittels Honoraren entgolten, die im Einvernehmen mit den Parteien oder, mangels einer Einigung, durch das mit der Festsetzung betraute Gericht festgelegt werden.

8        Art. 4 der nationalen Notarsverordnung, die vom Conseil supérieur du notariat in Anwendung von Art. 26 des Dekrets Nr. 71‑942 erstellt und durch Erlass des Siegelbewahrers und Ministers der Justiz vom 24. Dezember 1979 (JORF vom 3. Januar 1980, N.C., S. 45) genehmigt wurde, sieht vor, dass jede juristische oder natürliche Person des Zivilrechts oder des öffentlichen Rechts den Notar frei wählen kann. Weiter heißt es darin, die Klienten eines Notars bestünden aus „Personen, die aus freien Stücken seinen Rat, seine Stellungnahme oder seine Dienste in Anspruch nehmen oder ihn mit der Erstellung ihrer Verträge betrauen“.

9        In Bezug auf die Voraussetzungen für den Zugang zu den Tätigkeiten des Notars heißt es in Art. 3 des Dekrets Nr. 73‑609 vom 5. Juli 1973 über die Berufsausbildung im Notariat und die Voraussetzungen für den Zugang zu den Tätigkeiten des Notars (JORF vom 7. Juli 1973, S. 7341) in der durch das Dekret Nr. 2006‑1299 vom 24. Oktober 2006 über angestellte Notare (JORF vom 25. Oktober 2006, S. 15781) geänderten Fassung, dass niemand Notar sein kann, der nicht u. a. die französische Staatsangehörigkeit besitzt.

 Die Notartätigkeiten in Frankreich

10      Im Rahmen der verschiedenen Tätigkeiten des Notars nach der französischen Rechtsordnung besteht seine Hauptaufgabe darin, authentische Urkunden zu erstellen. Dabei kann das Tätigwerden des Notars je nach Art des von ihm zu beurkundenden Akts obligatorisch oder fakultativ sein. Durch sein Tätigwerden stellt der Notar das Vorliegen aller gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen für das Zustandekommen des Akts sowie die Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Beteiligten fest.

11      Die authentische Urkunde wird in Art. 1317 des Zivilgesetzbuchs, der sich in Kapitel VI („Nachweis der Verbindlichkeiten und der Zahlung“) von Titel III des Buchs III befindet, definiert. Nach diesem Artikel ist eine solche Urkunde „diejenige, die in der erforderlichen Form von dazu befugten öffentlichen Amtsträgern an dem Ort aufgenommen worden ist, an dem die Urkunde abgefasst worden ist“.

12      Nach Art. 19 des Gesetzes vom 25. Ventôse des Jahres XI zur Organisierung des Notariats haben notarielle Urkunden vor Gericht Beweiskraft und sind in der gesamten Französischen Republik vollstreckbar.

13      In Art. 1319 des Zivilgesetzbuchs heißt es: „Die authentische Urkunde hat unter den Vertragsparteien und ihren Erben oder Rechtsnachfolgern volle Beweiskraft für die darin enthaltene Vereinbarung.“

14      Art. 1322 des Zivilgesetzbuchs bestimmt: „Eine privatschriftliche Urkunde, die von demjenigen anerkannt wird, dem sie entgegengehalten wird, oder die rechtlich als anerkannt gilt, hat unter denjenigen, die sie unterzeichnet haben, und unter deren Erben und Rechtsnachfolgern dieselbe Beweiskraft wie eine authentische Urkunde.“

15      Nach Art. 1 der Ordonnance Nr. 45‑2592 vom 2. November 1945 über die Stellung der Gerichtsvollzieher (JORF vom 3. November 1945, S. 7163) in der durch das Gesetz Nr. 73‑546 vom 25. Juni 1973 über die Fachrichtung und die Stellung der Notare und bestimmter Ministerialbeamter (JORF vom 26. Juni 1973, S. 6731) geänderten Fassung sind nur die Gerichtsvollzieher befugt, u. a. gerichtliche Entscheidungen sowie vollstreckbare Urkunden oder Titel zu vollstrecken. Art. 18 des Gesetzes Nr. 91‑650 vom 9. Juli 1991 über die Reform der zivilrechtlichen Vollstreckungsverfahren (JORF vom 14. Juli 1991, S. 9228) bestimmt, dass nur die mit der Vollstreckung betrauten Gerichtsvollzieher Zwangsvollstreckungen und Sicherungspfändungen vornehmen dürfen.

16      Nach Art. L 213‑6 der Gerichtsorganisationsordnung entscheidet ausschließlich das Vollstreckungsgericht über Schwierigkeiten in Bezug auf Vollstreckungstitel und Einwände gegen die Zwangsvollstreckung, auch wenn sie inhaltlicher Art sind, es sei denn, dass sie nicht in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fallen. Unter den gleichen Voraussetzungen genehmigt dieses Gericht Sicherungsmaßnahmen und entscheidet über Einwände gegen ihre Umsetzung.

 Vorverfahren

17      Die Kommission wurde mit einer Beschwerde befasst, die die Staatsangehörigkeitsvoraussetzung für den Zugang zum Beruf des Notars in Frankreich betraf. Nach Prüfung dieser Beschwerde forderte die Kommission die Französische Republik mit Schreiben vom 8. November 2000 auf, sich binnen zwei Monaten zur Vereinbarkeit der Staatsangehörigkeitsvoraussetzung mit Art. 45 Abs. 1 EG zu äußern.

18      Mit Schreiben vom 13. März 2001 antwortete die Französische Republik auf dieses Aufforderungsschreiben.

19      Am 12. Juli 2002 übersandte die Kommission diesem Mitgliedstaat ein ergänzendes Aufforderungsschreiben, in dem sie ihm vorwarf, gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG verstoßen zu haben.

20      Die Französische Republik antwortete auf dieses ergänzende Aufforderungsschreiben mit Schreiben vom 11. Oktober 2002.

21      Da die von der Französischen Republik vorgebrachten Argumente die Kommission nicht überzeugten, richtete sie an diesen Mitgliedstaat am 18. Oktober 2006 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie zu dem Ergebnis kam, dass der Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG verstoßen habe. Sie forderte ihn auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Monaten nach ihrem Erhalt nachzukommen.

22      Mit Schreiben vom 12. Dezember 2006 legte die Französische Republik dar, aus welchen Gründen sie den von der Kommission vertretenen Standpunkt für unbegründet hielt.

23      Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Klage

 Zur Zulässigkeit der Streithilfe des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland

24      Die Französische Republik hält den Streithilfeschriftsatz des Vereinigten Königreichs für unzulässig, da er entgegen Art. 40 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 93 § 5 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs keine zur Stützung der Anträge der Kommission dienenden Anträge enthalte. Hilfsweise macht die Französische Republik geltend, die genannte Streithilfe sei teilweise unzulässig, da die Anträge des Vereinigten Königreichs über die Anträge der Kommission hinausgingen; das Vereinigte Königreich komme nämlich zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. L 255, S. 22) auf den Beruf des Notars anwendbar sei und dass die nicht unter Art. 45 Abs. 1 EG fallenden notariellen Tätigkeiten vom Beruf des Notars trennbar seien.

25      Nach Art. 40 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs können mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen nur die Anträge einer Partei unterstützt werden.

26      In gleicher Weise bestimmt Art. 93 § 5 Abs. 2 der Verfahrensordnung u. a., dass der Streithilfeschriftsatz die Anträge des Streithelfers, die der vollständigen oder teilweisen Unterstützung oder Bekämpfung der Anträge einer Partei zu dienen bestimmt sind, die Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie die Argumente des Streithelfers enthalten muss.

27      Das Vereinigte Königreich kommt in seinem Streithilfeschriftsatz zu folgendem Ergebnis:

„[D]er Beruf des Notars [fällt] in den Anwendungsbereich der … Richtlinie [2005/36]. Bestimmte Tätigkeiten der Notare können nur dann vom Anwendungsbereich [dieser] Richtlinie ausgenommen werden, wenn der Gerichtshof zu dem Schluss kommt, dass diese Tätigkeiten unter die im 41. Erwägungsgrund [der] Richtlinie angesprochene Ausnahme nach den Art. 39 Abs. 4 EG und/oder 45 EG fallen.“

28      Die Kommission beantragt in ihrer Klageschrift nicht die Feststellung, dass die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2005/36 verstoßen hat. Soweit das Vereinigte Königreich zu dem Ergebnis kommt, dass diese Richtlinie auf den Beruf des Notars anwendbar sei, ist seine Streithilfe folglich unzulässig.

29      Im Übrigen geht, auch wenn der geschilderte Gegenstand der Streithilfe des Vereinigten Königreichs seinem Wortlaut nach vom zulässigen Gegenstand eines Streithilfeschriftsatzes abzuweichen scheint, aus einer Gesamtbetrachtung des fraglichen Schriftsatzes und seines Kontextes hervor, dass mit dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, genau wie mit den Ausführungen der Kommission in ihrer Klageschrift, dargetan werden soll, dass der Beruf des Notars nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG verbunden ist.

30      Speziell zu dem von der Französischen Republik erhobenen Einwand gegen das Vorbringen des Vereinigten Königreichs, dass die Anwendung von Art. 45 Abs. 1 EG entgegen der von der Kommission in ihrer Klageschrift vertretenen Auffassung nicht auf die gesamte Tätigkeit der Notare erstreckt werden könne, ist festzustellen, dass diesem Mitgliedstaat nicht vorgeworfen werden kann, die Anträge der Kommission um neue Anträge ergänzt zu haben. Bei diesem Vorbringen handelt es sich nämlich nur um eine Bezugnahme auf Randnr. 47 des Urteils vom 21. Juni 1974, Reyners (2/74, Slg. 1974, 631), wobei das Vereinigte Königreich nicht zur Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung auf die konkreten Tätigkeiten der Notare in Frankreich Stellung genommen hat.

31      Der Streithilfeschriftsatz des Vereinigten Königreichs ist daher nur insoweit unzulässig, als darin die Anwendbarkeit der Richtlinie 2005/36 auf den Beruf des Notars bejaht wird.

 Zur Begründetheit

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

32      Vorab hebt die Kommission hervor, dass der Zugang zum Beruf des Notars in einigen Mitgliedstaaten nicht an ein Staatsangehörigkeitserfordernis geknüpft sei und dass andere Mitgliedstaaten – wie das Königreich Spanien, die Italienische Republik und die Portugiesische Republik – dieses Erfordernis fallen gelassen hätten.

33      Sie weist an erster Stelle darauf hin, dass Art. 43 EG eine der grundlegenden Vorschriften des Unionsrechts darstelle und die Vergünstigung der Inländerbehandlung jedem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats garantieren solle, der sich, sei es auch nur mit einer Sekundärniederlassung, in einem anderen Mitgliedstaat niederlasse, um dort eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben, und dass er jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbiete.

34      Die Kommission und das Vereinigte Königreich machen geltend, Art. 45 Abs. 1 EG müsse autonom und einheitlich ausgelegt werden (Urteil vom 15. März 1988, Kommission/Griechenland, 147/86, Slg. 1988, 1637, Randnr. 8). Da dieser Artikel für Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien, eine Ausnahme von der Niederlassungsfreiheit vorsehe, sei er zudem eng auszulegen (Urteil Reyners, Randnr. 43).

35      Die in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehene Ausnahme müsse daher auf Tätigkeiten beschränkt werden, die für sich genommen eine unmittelbare und spezifische Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt umfassten (Urteil Reyners, Randnrn. 44 und 45). Der Begriff der öffentlichen Gewalt setze die Ausübung einer vom allgemeinen Recht abweichenden Entscheidungsbefugnis voraus, die in der Fähigkeit zum Ausdruck komme, unabhängig vom Willen anderer Rechtssubjekte oder sogar gegen deren Willen zu handeln. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs manifestiere sich die öffentliche Gewalt insbesondere in der Ausübung von Zwangsbefugnissen (Urteil vom 29. Oktober 1998, Kommission/Spanien, C‑114/97, Slg. 1998, I‑6717, Randnr. 37).

36      Die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbundenen Tätigkeiten seien von den im Allgemeininteresse ausgeübten Tätigkeiten zu unterscheiden. Verschiedenen Berufsgruppen seien nämlich im Allgemeininteresse besondere Kompetenzen eingeräumt worden, ohne dass ihre Tätigkeiten mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien.

37      Vom Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 1 EG seien auch Tätigkeiten ausgenommen, mit denen die Ausübung öffentlicher Gewalt unterstützt oder an ihr mitgewirkt werde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 1993, Thijssen, C‑42/92, Slg. 1993, I‑4047, Randnr. 22).

38      Überdies beziehe sich Art. 45 Abs. 1 EG grundsätzlich auf bestimmte Tätigkeiten und nicht auf eine ganze Berufsgruppe, es sei denn, dass die betreffenden Tätigkeiten von den gesamten Tätigkeiten der Berufsgruppe nicht trennbar seien.

39      An zweiter Stelle nimmt die Kommission eine Prüfung der verschiedenen von Notaren in der französischen Rechtsordnung ausgeübten Tätigkeiten vor.

40      Soweit es erstens darum geht, Akte und Verträge zu beurkunden, macht sie geltend, der Notar beschränke sich darauf, den Willen der Parteien zu bezeugen, nachdem er sie beraten habe, und diesem Willen Rechtswirkungen zu verleihen. Bei der Ausübung dieser Tätigkeit verfüge der Notar nicht über eine Entscheidungsbefugnis gegenüber den Parteien. Die Beurkundung sei somit nur die Bestätigung einer vorausgegangenen Vereinbarung zwischen den Parteien. Dass bestimmte Akte beurkundet werden müssten, spiele keine Rolle, da zahlreiche Verfahren zwingenden Charakter hätten, ohne Ausdruck der Ausübung öffentlicher Gewalt zu sein.

41      Dass der Notar für die von ihm erstellten Urkunden hafte, teile er mit den meisten freien Berufen wie Rechtsanwälten, Architekten oder Ärzten, die ebenfalls im Rahmen der von ihnen ausgeübten Tätigkeiten haftbar seien.

42      Was die Vollstreckbarkeit authentischer Urkunden angehe, erfolge die Anbringung der Vollstreckungsklausel vor der eigentlichen Vollstreckung und sei kein Teil von ihr. Die Vollstreckbarkeit verleihe den Notaren daher keine Zwangsbefugnis. Im Übrigen entscheide über etwaige Einwände nicht der Notar, sondern das Gericht.

43      Zweitens führe die Rolle des Notars bei der Vereinnahmung von Steuern nicht zu einer Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt, da im steuerlichen Bereich eine derartige Verantwortung häufig Privatpersonen auferlegt werde. So handelten private Unternehmen für Rechnung Dritter, wenn sie einen Abzug von den Bezügen ihrer Mitarbeiter vornähmen. Gleiches gelte für Kreditinstitute, wenn sie bei ihren Kunden, die über Einkünfte aus beweglichem Vermögen verfügten, den Mobiliensteuervorabzug vornähmen.

44      Drittens sei die besondere Stellung der Notare nach französischem Recht für die Beurteilung der Art der fraglichen Tätigkeiten nicht unmittelbar relevant.

45      An dritter Stelle sind die Kommission und das Vereinigte Königreich der Ansicht, dass die Vorschriften des Unionsrechts, die Bezugnahmen auf die notarielle Tätigkeit enthielten, die Anwendung der Art. 43 EG und 45 Abs. 1 EG auf diese Tätigkeit nicht ausschlössen.

46      Sowohl Art. 1 Abs. 5 Buchst. d der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (ABl. L 178, S. 1) als auch der 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/36 nähmen von ihrem Anwendungsbereich die Tätigkeiten von Notaren nur insoweit aus, als sie eine unmittelbare und besondere Verbindung zur Ausübung öffentlicher Befugnisse aufwiesen. Es handele sich somit um einen bloßen Vorbehalt, der keine Auswirkungen auf die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 EG habe. Was Art. 2 Abs. 2 Buchst. l der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376, S. 36) anbelange, wonach die Tätigkeiten von Notaren vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen seien, so bedeute die Tatsache, dass der Richtliniengeber entschieden habe, eine bestimmte Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, nicht, dass Art. 45 Abs. 1 EG auf diese Tätigkeit anwendbar sei.

47      Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1) und die Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. L 143, S. 15) sähen lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten Urkunden, die in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommen worden und vollstreckbar seien, anerkennen und für vollstreckbar erklären müssten.

48      Auch die Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) (ABl. L 294, S. 1) und die Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten (ABl. L 310, S. 1) seien für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits irrelevant, da sie sich darauf beschränkten, den Notaren und anderen vom Staat festgelegten zuständigen Stellen die Aufgabe zu übertragen, die Vornahme bestimmter Rechtshandlungen und Formalitäten vor der Sitzverlegung, der Errichtung und der Verschmelzung von Gesellschaften zu bescheinigen.

49      Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. März 2006 zu den Rechtsberufen und dem allgemeinen Interesse an der Funktionsweise der Rechtssysteme (ABl. C 292E, S. 105, im Folgenden: Entschließung von 2006) sei eine rein politische Handlung mit mehrdeutigem Inhalt, denn zum einen habe das Europäische Parlament in Nr. 17 dieser Entschließung ausgeführt, dass Art. 45 EG auf den Beruf des Notars anwendbar sei, und zum anderen habe es in Nr. 2 der Entschließung den in seiner Entschließung vom 18. Januar 1994 zur Lage und Organisation des Notarstands in den zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (ABl. C 44, S. 36, im Folgenden: Entschließung von 1994) vertretenen Standpunkt bekräftigt, dass das im Recht mehrerer Mitgliedstaaten vorgesehene Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zum Notarberuf gestrichen werden sollte.

50      Die Kommission und das Vereinigte Königreich fügen hinzu, in der Rechtssache, in der das Urteil vom 30. September 2003, Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española (C‑405/01, Slg. 2003, I‑10391), ergangen sei, auf das mehrere Mitgliedstaaten in ihren schriftlichen Erklärungen Bezug genommen hätten, sei es um die Wahrnehmung einer breiten Palette von Aufgaben zur Aufrechterhaltung der Sicherheit, von polizeilichen Befugnissen sowie von notariellen und personenstandsrechtlichen Zuständigkeiten durch die Kapitäne und Ersten Offiziere von Handelsschiffen gegangen. Der Gerichtshof habe daher keine Gelegenheit gehabt, die verschiedenen von den Notaren ausgeübten Tätigkeiten im Detail an Art. 45 Abs. 1 EG zu messen. Aus diesem Urteil lasse sich folglich nicht schließen, dass die genannte Vorschrift auf Notare anwendbar sei.

51      Entgegen dem Vorbringen der Französischen Republik werde im Übrigen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwischen Notaren und Behörden unterschieden, indem anerkannt werde, dass eine öffentliche Urkunde von einer Behörde oder einer anderen hierzu ermächtigten Stelle ausgestellt werden könne (Urteil vom 17. Juni 1999, Unibank, C‑260/97, Slg. 1999, I‑3715, Randnrn. 15 und 21).

52      Die Französische Republik macht mit Unterstützung der Republik Bulgarien, der Tschechischen Republik, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, Rumäniens und der Slowakischen Republik an erster Stelle geltend, die Kommission verkenne die Rechtsprechung des Gerichtshofs. Nach dieser Rechtsprechung sei die Anwendung von Art. 45 Abs. 1 EG nämlich nicht auf Tätigkeiten beschränkt, die mit einer Befugnis zur Ausübung von Zwang verbunden seien; eine solche Befugnis sei nur einer der Bestandteile der Ausübung öffentlicher Gewalt.

53      Hierzu habe der Gerichtshof im Urteil Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española anerkannt, dass die notariellen Aufgaben eine Teilhabe an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse darstellten.

54      Die Teilhabe der Notare an der Ausübung öffentlicher Gewalt werde an zweiter Stelle durch die Aufgaben belegt, mit denen sie im Bereich der Vereinnahmung von Steuern betraut seien. Diese Aufgaben beschränkten sich nicht nur auf die Einbehaltung öffentlicher Gelder, sondern erstreckten sich auch auf die Festlegung der Grundlagen für die Besteuerung der Einkünfte im Bereich des Wertzuwachses bei Immobilien sowie die Erhebung der Eintragungsgebühren und der Einkommensteuer in Nachlasssachen, wobei die Notare für die Zahlung der Eintragungsgebühren hafteten. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben rechneten die Notare die Steuer für Dritte, und zwar ihre Klienten, ab.

55      An dritter Stelle heben die Französische Republik, die Republik Lettland, die Republik Litauen, die Republik Ungarn, Rumänien und die Slowakische Republik hervor, dass die von den Notaren ausgeübten Tätigkeiten die Erstellung authentischer, mit Beweiskraft ausgestatteter und vollstreckbarer Urkunden umfassten; dies stelle eine konkrete Manifestierung der öffentlichen Gewalt dar. Bei bestimmten Akten wie unentgeltlichen letztwilligen Zuwendungen, Eheverträgen, der Bestellung von Hypotheken, Verkäufen auf Teilzahlungsbasis nach Baufortschritt und übertragbaren Landpachtverträgen sei das Tätigwerden des Notars Voraussetzung ihrer Gültigkeit.

56      Im Rahmen der Ausübung seiner Tätigkeit habe der Notar die Aufgabe, den Parteien die Tragweite ihres Akts zu erläutern, sich ihres freiwilligen Einverständnisses zu vergewissern und die Fragen zu stellen, die zur Erlangung der für die Einhaltung der Rechtsvorschriften unerlässlichen Gesichtspunkte angebracht seien. Der Notar müsse auch, je nach Sachverhalt, jede zur Gewährleistung der rechtlichen Gültigkeit des Akts geeignete Prüfung vornehmen. Im Übrigen müsse der Notar sich weigern, gegen die öffentliche Ordnung verstoßende oder rechtswidrige Urkunden aufzunehmen.

57      Zudem habe die notarielle Urkunde die stärkste in der Hierarchie der Beweismittel nach französischem Recht vorgesehene Beweiskraft. Sie erstrecke sich auf das Datum der Urkunde, die Unterschriften, die sie trage, und die Tatsachen, von denen der Notar bestätige, dass er sie selbst geschaffen habe oder dass sie in seiner Anwesenheit geschehen seien. Die Richtigkeit dieser Gesichtspunkte könne nur im Wege des in den Art. 303 bis 316 der Zivilprozessordnung vorgesehenen Bestreitens der Echtheit in Frage gestellt werden.

58      Überdies gehe aus dem Urteil Unibank hervor, dass das Tätigwerden einer Behörde oder einer anderen vom Staat ermächtigten Stelle erforderlich sei, um einer bestimmten Urkunde die Eigenschaft einer authentischen Urkunde zu verleihen.

59      Notarielle Urkunden seien auch vollstreckbar, ohne dass zuvor eine gerichtliche Entscheidung eingeholt werden müsse. Selbst wenn man annähme, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs die Anwendung von Art. 45 Abs. 1 EG allein auf die mit der Ausübung von Zwang verbundenen Tätigkeiten beschränke, würde der Beruf des Notars daher aufgrund der Vollstreckbarkeit der notariellen Urkunde unter diese Bestimmung fallen.

60      An vierter Stelle macht die Französische Republik geltend, die Stellung des Notars in der französischen Rechtsordnung belege seine unmittelbare Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt. Die Notare würden vom Minister der Justiz ernannt und von der Staatsanwaltschaft beaufsichtigt. Außerdem leisteten sie einen Eid und unterlägen strengen Unvereinbarkeitsregeln.

61      An fünfter Stelle trägt die Französische Republik vor, der Unionsgesetzgeber habe bestätigt, dass die Notare an der Ausübung öffentlicher Gewalt teilhätten. Nach den in Randnr. 46 des vorliegenden Urteils erwähnten Rechtsakten der Union seien entweder die Tätigkeiten der Notare von ihrem jeweiligen Geltungsbereich ausgenommen, weil die Notare an der Ausübung öffentlicher Gewalt teilhätten, oder es werde anerkannt, dass authentische Urkunden von einer Behörde oder einer anderen vom Staat hierzu ermächtigten Stelle ausgestellt würden. Überdies ergebe sich aus den in den Randnrn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsakten, dass notarielle Urkunden gerichtlichen Entscheidungen gleichgestellt seien.

62      Darüber hinaus habe das Parlament in seinen Entschließungen von 1994 und 2006 deutlich gemacht, dass der Beruf des Notars mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sei.

 Würdigung durch den Gerichtshof

–       Vorbemerkungen

63      Die Kommission wirft der Französischen Republik vor, Angehörige anderer Mitgliedstaaten dadurch daran zu hindern, sich in ihrem Hoheitsgebiet zur Ausübung des Notarberufs niederzulassen, dass sie den Zugang zu diesem Beruf unter Verstoß gegen Art. 43 EG ihren eigenen Staatsangehörigen vorbehalte.

64      Die vorliegende Klage betrifft somit allein das nach der einschlägigen französischen Regelung für den Zugang zu diesem Beruf aufgestellte Staatsangehörigkeitserfordernis unter dem Aspekt von Art. 43 EG.

65      Folglich ist klarzustellen, dass die Klage weder den Status und die Organisation des Notariats in der französischen Rechtsordnung betrifft noch die Voraussetzungen, die neben der Staatsangehörigkeit für den Zugang zum Beruf des Notars in diesem Mitgliedstaat bestehen.

66      Ferner ist hervorzuheben, dass die Klage, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, auch nicht die Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr betrifft. Ebenso wenig betrifft sie die Anwendung der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

–       Zur geltend gemachten Vertragsverletzung

67      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 43 EG eine der grundlegenden Vorschriften des Unionsrechts darstellt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Reyners, Randnr. 43).

68      Der Begriff der Niederlassung im Sinne dieser Vorschrift ist ein sehr weiter Begriff, der die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsmitgliedstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Europäischen Union im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird (vgl. u. a. Urteil vom 22. Dezember 2008, Kommission/Österreich, C‑161/07, Slg. 2008, I‑10671, Randnr. 24).

69      Die Niederlassungsfreiheit, die den Angehörigen eines Mitgliedstaats im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zuerkannt wird, umfasst u. a. das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten nach den Rechtsvorschriften, die im Mitgliedstaat der Niederlassung für dessen eigene Angehörigen gelten (vgl. u. a. Urteil vom 28. Januar 1986, Kommission/Frankreich, 270/83, Slg. 1986, 273, Randnr. 13, und in diesem Sinne Urteil Kommission/Österreich, Randnr. 27). Mit anderen Worten verbietet Art. 43 EG jedem Mitgliedstaat, in seinen Rechtsvorschriften in Bezug auf Personen, die von der Freiheit, sich in diesem Staat niederzulassen, Gebrauch machen, für die Ausübung ihrer Tätigkeit andere als die für seine eigenen Staatsangehörigen festgelegten Bedingungen vorzusehen (Urteil Kommission/Österreich, Randnr. 28).

70      Art. 43 EG soll also die Vergünstigung der Inländerbehandlung jedem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats garantieren, der sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlässt, um dort eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben, und untersagt jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ergibt (Urteil Kommission/Frankreich, Randnr. 14).

71      Im vorliegenden Fall wird aber durch die streitigen nationalen Rechtsvorschriften der Zugang zum Beruf des Notars den französischen Staatsangehörigen vorbehalten; sie schaffen damit eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit, die grundsätzlich nach Art. 43 EG verboten ist.

72      Die Französische Republik macht jedoch geltend, die notariellen Tätigkeiten seien vom Anwendungsbereich des Art. 43 EG ausgenommen, da sie im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden seien. Daher ist zunächst die Tragweite des Begriffs der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne der letztgenannten Vorschrift zu prüfen und dann zu klären, ob die den Notaren nach der französischen Rechtsordnung übertragenen Tätigkeiten unter diesen Begriff fallen.

73      Was den Begriff „Ausübung öffentlicher Gewalt“ im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG angeht, ist bei seiner Würdigung nach ständiger Rechtsprechung zu berücksichtigen, dass den anerkannten Ausnahmen vom Grundsatz der Niederlassungsfreiheit durch die genannte Bestimmung dem Unionsrecht eigene Grenzen gesetzt werden, um zu verhindern, dass der Vertrag durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten seiner praktischen Wirksamkeit in diesem Bereich beraubt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Reyners, Randnr. 50, Kommission/Griechenland, Randnr. 8, und vom 22. Oktober 2009, Kommission/Portugal, C‑438/08, Slg. 2009, I‑10219, Randnr. 35).

74      Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung stellt Art. 45 Abs. 1 EG eine Ausnahme von der Grundregel der Niederlassungsfreiheit dar. Als solche ist er so auszulegen, dass sich seine Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, deren Schutz diese Bestimmung den Mitgliedstaaten erlaubt, unbedingt erforderlich ist (Urteile Kommission/Griechenland, Randnr. 7, Kommission/Spanien, Randnr. 34, vom 30. März 2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, Slg. 2006, I‑2941, Randnr. 45, vom 29. November 2007, Kommission/Österreich, C‑393/05, Slg. 2007, I‑10195, Randnr. 35, und Kommission/Deutschland, C‑404/05, Slg. 2007, I‑10239, Randnrn. 37 und 46, sowie Kommission/Portugal, Randnr. 34).

75      Ferner hat der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben, dass die in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehene Ausnahmeregelung auf Tätigkeiten beschränkt werden muss, die als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (Urteile Reyners, Randnr. 45, Thijssen, Randnr. 8, Kommission/Spanien, Randnr. 35, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Randnr. 46, Kommission/Deutschland, Randnr. 38, und Kommission/Portugal, Randnr. 36).

76      Dabei hat der Gerichtshof ausgeführt, dass von der in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehenen Ausnahmeregelung bestimmte Hilfs- oder Vorbereitungstätigkeiten für die Ausübung öffentlicher Gewalt ausgenommen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Thijssen, Randnr. 22, Kommission/Spanien, Randnr. 38, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Randnr. 47, Kommission/Deutschland, Randnr. 38, und Kommission/Portugal, Randnr. 36) sowie bestimmte Tätigkeiten, deren Ausübung – auch wenn sie Kontakte, die regelmäßig oder organisch in das Verfahren eingebettet sein können, mit Verwaltungsbehörden oder Gerichten oder sogar einen, möglicherweise obligatorischen, Beitrag zur Erfüllung ihrer Aufgaben umfasst – die Beurteilungs- oder Entscheidungsbefugnisse dieser Behörden oder Gerichte unberührt lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil Reyners, Randnrn. 51 und 53), oder auch bestimmte Tätigkeiten, die nicht die Ausübung von Entscheidungsbefugnissen (vgl. in diesem Sinne Urteile Thijssen, Randnrn. 21 und 22, vom 29. November 2007, Kommission/Österreich, Randnrn. 36 und 42, Kommission/Deutschland, Randnrn. 38 und 44, sowie Kommission/Portugal, Randnrn. 36 und 41) oder Zwangsbefugnissen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 37) oder den Einsatz von Zwangsmitteln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. September 2003, Anker u. a., C‑47/02, Slg. 2003, I‑10447, Randnr. 61, sowie Urteil Kommission/Portugal, Randnr. 44) umfassen.

77      Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist zu prüfen, ob die den Notaren in der französischen Rechtsordnung übertragenen Tätigkeiten unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

78      Dabei ist die Art der von den Angehörigen dieses Berufs ausgeübten Tätigkeiten zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Thijssen, Randnr. 9).

79      Die Französische Republik und die Kommission sind sich darüber einig, dass die Haupttätigkeit der Notare nach der französischen Rechtsordnung darin besteht, authentische Urkunden in der gesetzlichen Form zu erstellen. Dabei müsse der Notar u. a. prüfen, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Erstellung der Urkunde erfüllt seien. Die authentische Urkunde besitze zudem Beweiskraft und sei vollstreckbar.

80      Hierzu ist erstens hervorzuheben, dass nach den französischen Rechtsvorschriften Akte oder Verträge, denen sich die Parteien freiwillig unterworfen haben, beurkundet werden. Die Parteien entscheiden nämlich, innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Grenzen, selbst über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten und können die Bestimmungen, denen sie sich unterwerfen wollen, frei wählen, wenn sie dem Notar einen Akt oder einen Vertrag zur Beurkundung unterbreiten. Dessen Tätigwerden setzt daher voraus, dass zuvor eine Einigung oder Willensübereinstimmung der Parteien zustande gekommen ist.

81      Außerdem darf der Notar den von ihm zu beurkundenden Vertrag nicht ohne vorherige Einholung der Zustimmung der Parteien einseitig ändern.

82      Die Beurkundungstätigkeit der Notare ist somit als solche nicht im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG mit einer unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

83      Dass bei bestimmten Akten oder Verträgen eine Beurkundung zwingende Voraussetzung ihrer Wirksamkeit ist, kann dieses Ergebnis nicht in Frage stellen. Es ist nämlich nicht ungewöhnlich, dass die Gültigkeit verschiedener Akte nach den nationalen Rechtsordnungen und unter den vorgesehenen Modalitäten Formerfordernissen oder zwingenden Validierungsverfahren unterliegt. Dieser Umstand reicht daher nicht aus, um die von der Französischen Republik vertretene These zu untermauern.

84      Auch die Pflicht der Notare, vor der Beurkundung eines Akts oder eines Vertrags zu prüfen, ob alle gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen für das Zustandekommen dieses Akts oder Vertrags erfüllt sind, und, wenn dies nicht der Fall ist, die Beurkundung zu verweigern, ist nicht geeignet, das vorstehende Ergebnis in Frage zu stellen.

85      Zwar verfolgt der Notar, wie die Französische Republik hervorhebt, bei dieser Prüfung das im Allgemeininteresse liegende Ziel, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten. Die bloße Verfolgung dieses Ziels kann es jedoch nicht rechtfertigen, die dafür erforderlichen Vorrechte Notaren mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats vorzubehalten.

86      Dass in Verfolgung eines im Allgemeininteresse liegenden Ziels gehandelt wird, genügt für sich genommen nicht, um eine bestimmte Tätigkeit als unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden einzustufen. Es steht nämlich fest, dass die im Rahmen verschiedener reglementierter Berufe ausgeübten Tätigkeiten nach den nationalen Rechtsordnungen häufig die Pflicht der sie ausübenden Personen einschließen, ein solches Ziel zu verfolgen, ohne dass diese Tätigkeiten deshalb mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.

87      Dass mit den notariellen Tätigkeiten im Allgemeininteresse liegende Ziele verfolgt werden, die insbesondere dazu dienen, die Rechtmäßigkeit und die Rechtssicherheit von Akten zwischen Privatpersonen zu gewährleisten, stellt allerdings einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der etwaige Beschränkungen von Art. 43 EG rechtfertigen kann, die sich aus den Besonderheiten der notariellen Tätigkeit ergeben, wie etwa den für die Notare aufgrund der Verfahren zu ihrer Bestellung geltenden Vorgaben, der Beschränkung ihrer Zahl und ihrer örtlichen Zuständigkeit oder auch der Regelung ihrer Bezüge, ihrer Unabhängigkeit, der Unvereinbarkeit von Ämtern und ihrer Unabsetzbarkeit, soweit diese Beschränkungen zur Erreichung der genannten Ziele geeignet und erforderlich sind.

88      Es trifft auch zu, dass der Notar die Beurkundung eines Akts oder eines Vertrags, der nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt, unabhängig vom Willen der Parteien verweigern muss. Nach einer solchen Weigerung steht es den Parteien jedoch frei, die festgestellte Regelwidrigkeit abzustellen, die Bestimmungen des fraglichen Akts oder Vertrags zu ändern oder auf diesen Akt oder Vertrag zu verzichten.

89      Zudem können die Rechtsberatung und der Rechtsbeistand durch den Notar bei der Beurkundung eines Akts oder Vertrags nicht als Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt angesehen werden, selbst wenn der Notar gesetzlich zu einer solchen Beratung oder einem solchen Beistand verpflichtet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Reyners, Randnr. 52).

90      Was die Beweiskraft und die Vollstreckbarkeit notarieller Urkunden anbelangt, so verleihen sie diesen Urkunden unbestreitbar bedeutsame Rechtswirkungen. Dass eine bestimmte Tätigkeit die Erstellung von Urkunden umfasst, die mit solchen Wirkungen ausgestattet sind, reicht jedoch nicht aus, um diese Tätigkeit als im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden einzustufen.

91      Insbesondere in Bezug auf die Beweiskraft einer notariellen Urkunde ist nämlich festzustellen, dass sie Teil der in der fraglichen Rechtsordnung gesetzlich verankerten Beweisregelung ist. So gehört Art. 1319 des Zivilgesetzbuchs, der die Beweiskraft authentischer Urkunden regelt, zu dem mit „Nachweis der Verbindlichkeiten und der Zahlung“ überschriebenen Kapitel VI dieses Gesetzbuchs. Die einer bestimmten Urkunde durch Gesetz verliehene Beweiskraft hat daher keine unmittelbare Auswirkung auf die Frage, ob die mit der Erstellung dieser Urkunde verbundene Tätigkeit als solche unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist, wie es die Rechtsprechung verlangt (vgl. in diesem Sinne Urteile Thijssen, Randnr. 8, und Kommission/Spanien, Randnr. 35).

92      Zudem hat gemäß Art. 1322 des Zivilgesetzbuchs „[e]ine privatschriftliche Urkunde, die von demjenigen anerkannt wird, dem sie entgegengehalten wird, oder die rechtlich als anerkannt gilt, … unter denjenigen, die sie unterzeichnet haben, und unter deren Erben und Rechtsnachfolgern dieselbe Beweiskraft wie eine authentische Urkunde“.

93      Zur Vollstreckbarkeit der authentischen Urkunde hat die Französische Republik zutreffend ausgeführt, dass sie die Vollstreckung der in ihr enthaltenen Verpflichtung ermöglicht, ohne dass zuvor das Gericht tätig werden muss.

94      Die Vollstreckbarkeit der authentischen Urkunde verschafft dem Notar aber keine Befugnisse, die mit einer unmittelbaren und spezifischen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind. Zwar verleiht die Anbringung der Vollstreckungsklausel durch den Notar der authentischen Urkunde die Vollstreckbarkeit, doch beruht diese auf dem Willen der Parteien, eine Urkunde zu schaffen oder einen Vertrag zu schließen, nachdem der Notar ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsordnung geprüft hat, und ihnen Vollstreckbarkeit zu verleihen.

95      Folglich ist mit der Erstellung authentischer, mit Rechtswirkungen der in den Randnrn. 90 bis 94 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art ausgestatteten Urkunden keine unmittelbare und spezifische Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG verbunden.

96      Zweitens können die Aufgaben der Vereinnahmung von Steuern, mit denen der Notar betraut ist, als solche nicht als unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden angesehen werden. Hierzu ist klarzustellen, dass die Vereinnahmung durch den Notar für Rechnung des Schuldners erfolgt und dass sich ihr die Übergabe entsprechender Beträge an die zuständige staatliche Stelle anschließt, so dass sie sich nicht grundlegend von der Vereinnahmung der Mehrwertsteuer unterscheidet.

97      Drittens ist in Bezug auf Akte wie unentgeltliche letztwillige Zuwendungen, Eheverträge, die Bestellung von Hypotheken, Verkäufe auf Teilzahlungsbasis nach Baufortschritt und übertragbare Landpachtverträge, bei denen die Erstellung einer notariellen Urkunde Voraussetzung ihrer Gültigkeit ist, auf die Erwägungen in den Randnrn. 80 bis 95 des vorliegenden Urteils zu verweisen.

98      Viertens genügt zum speziellen Status der Notare nach französischem Recht der Hinweis, dass nach den Ausführungen in den Randnrn. 75 und 78 des vorliegenden Urteils anhand der Art der fraglichen Tätigkeiten für sich genommen und nicht anhand dieses Status als solchen zu prüfen ist, ob die Tätigkeiten unter die in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehene Ausnahme fallen.

99      Hierzu bedarf es jedoch zweier Erläuterungen. Zum einen steht fest, dass – außer in den Fällen, in denen die Bestimmung des Notars durch das Gericht vorgesehen ist – nach Art. 4 der in Randnr. 8 des vorliegenden Urteils erwähnten nationalen Notarsverordnung jede Partei den Notar frei wählen kann. Es trifft zwar zu, dass ein Teil des Honorars der Notare gesetzlich festgelegt ist; gleichwohl kann die Qualität der erbrachten Leistungen von Notar zu Notar u. a. aufgrund der beruflichen Fähigkeiten der Betreffenden schwanken. Folglich üben die Notare, wie der Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ihren Beruf in den Grenzen ihrer jeweiligen örtlichen Zuständigkeiten unter Wettbewerbsbedingungen aus, was für die Ausübung öffentlicher Gewalt untypisch ist.

100    Zum anderen sind die Notare, wie die Kommission geltend macht, ohne dass die Französische Republik ihr insoweit widersprochen hätte, ihren Klienten gegenüber unmittelbar und persönlich verantwortlich für alle Schäden, die aus einem Fehlverhalten bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten resultieren.

101    Überdies vermag auch das von der Französischen Republik aus einigen Rechtsakten der Union abgeleitete Argument nicht zu überzeugen. Zu den in Randnr. 46 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsakten ist festzustellen, dass der Ausschluss der notariellen Tätigkeiten vom Anwendungsbereich eines Rechtsakts durch den Gesetzgeber nicht bedeutet, dass diese Tätigkeiten zwangsläufig unter die in Art. 45 Abs. 1 EG vorgesehene Ausnahme fallen. Speziell im Fall der Richtlinie 2005/36 geht schon aus dem Wortlaut ihres 41. Erwägungsgrundes, wonach sie „nicht die Anwendung … des Artikels 45 [EG], insbesondere auf Notare“, berührt, hervor, dass der Unionsgesetzgeber gerade nicht zur Anwendbarkeit von Art. 45 Abs. 1 EG auf den Beruf des Notars Stellung genommen hat.

102    Auch die Argumentation, die sich auf die in den Randnrn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsakte der Union stützt, greift nicht durch. Die in Randnr. 47 erwähnten Verordnungen betreffen die Anerkennung und Vollstreckung öffentlicher Urkunden, die in einem Mitgliedstaat aufgenommen werden und vollstreckbar sind, und wirken sich folglich nicht auf die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 EG aus. Gleiches gilt für die in Randnr. 48 angeführten Rechtsakte der Union, denn sie beschränken sich, wie die Kommission zu Recht geltend macht, darauf, den Notaren und anderen vom Staat festgelegten zuständigen Stellen die Aufgabe zu übertragen, die Vornahme bestimmter Rechtshandlungen und Formalitäten vor der Sitzverlegung, der Errichtung und der Verschmelzung von Gesellschaften zu bescheinigen.

103    Die in Randnr. 49 des vorliegenden Urteils erwähnten Entschließungen von 1994 und 2006 besitzen keine Rechtswirkungen, da solche Entschließungen ihrem Wesen nach keine verbindlichen Rechtsakte sind. Überdies heißt es darin zwar, dass der Notarberuf unter Art. 45 EG falle, doch hat das Parlament in der erstgenannten Entschließung ausdrücklich seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass Maßnahmen getroffen werden, damit das Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zum Notarberuf gestrichen wird; dieser Standpunkt wurde in der Entschließung von 2006 nochmals implizit bekräftigt.

104    Zu dem von der Französischen Republik aus dem Urteil Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española abgeleiteten Argument ist festzustellen, dass es in der Rechtssache, die Gegenstand dieses Urteils war, um die Auslegung von Art. 39 Abs. 4 EG und nicht von Art. 45 Abs. 1 EG ging. Außerdem geht aus Randnr. 42 des Urteils hervor, dass der Gerichtshof bei der Entscheidung, dass die den Kapitänen und Ersten Offizieren von Schiffen übertragenen Aufgaben eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse darstellen, auf die Gesamtheit ihrer Aufgaben abgestellt hat. Der Gerichtshof hat also nicht allein die den Kapitänen und Ersten Offizieren übertragenen notariellen Befugnisse der Entgegennahme, Aufbewahrung und Weiterleitung von Testamenten gesondert von ihren übrigen Befugnissen, etwa der Zwangsanwendung oder der Verhängung von Sanktionen, geprüft.

105    Zum Urteil Unibank, auf das die Französische Republik ebenfalls verweist, ist festzustellen, dass die Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, nicht die Auslegung von Art. 45 Abs. 1 EG betraf. Außerdem hat der Gerichtshof in Randnr. 15 dieses Urteils entschieden, dass eine Urkunde erst durch die Beteiligung einer Behörde oder einer anderen vom Ursprungsstaat ermächtigten Stelle zu einer öffentlichen Urkunde im Sinne von Art. 50 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) werden kann.

106    Unter diesen Umständen sind die notariellen Tätigkeiten nach ihrer gegenwärtigen Definition in der französischen Rechtsordnung nicht im Sinne von Art. 45 Abs. 1 EG mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

107    Folglich ist festzustellen, dass das in der französischen Regelung aufgestellte Staatsangehörigkeitserfordernis für den Zugang zum Notarberuf eine nach Art. 43 EG verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellt.

108    Nach alledem ist die Klage der Kommission begründet.

109    Somit ist festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen hat, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat.

 Kosten

110    Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Französischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

111    Gemäß Art. 69 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Republik Bulgarien, die Tschechische Republik, die Republik Lettland, die Republik Litauen, die Republik Ungarn, Rumänien, die Slowakische Republik und das Vereinigte Königreich tragen daher ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen, dass sie für den Zugang zum Beruf des Notars eine Staatsangehörigkeitsvoraussetzung aufgestellt hat.

2.      Die Französische Republik trägt die Kosten.

3.      Die Republik Bulgarien, die Tschechische Republik, die Republik Lettland, die Republik Litauen, die Republik Ungarn, Rumänien, die Slowakische Republik und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland tragen ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.