Language of document : ECLI:EU:C:2010:371

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 24. Juni 20101(1)

Rechtssache C‑168/09

Flos SpA

gegen

Semeraro Casa e Famiglia SpA

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Milano [Italien])

„Richtlinie 98/71/EG – Gewerbliches und kommerzielles Eigentum – Rechtlicher Schutz von Mustern und Modellen – Anwendung des Urheberrechts auf gemeinfrei gewordene Muster oder Modelle – Richtlinie 93/98/EWG – Erworbene Rechte – Übergangszeitraum“





1.        Den rechtlichen Rahmen für das vorliegende Verfahren bildet die Richtlinie 98/71/EG(2), in deren Art. 17 der Grundsatz der Kumulation des Schutzes nach dem einschlägigen Recht für den Schutz eingetragener Muster oder Modelle und nach dem Urheberrecht festgelegt ist. Diese Vorschrift sieht daher vor, dass ein Muster oder Modell nach dem Urheberrecht von dem Zeitpunkt an schutzfähig ist, an dem das Muster oder Modell geschaffen oder in irgendeiner Form festgelegt wurde.

2.        Wegen der Reproduktion der berühmten Lampe Arco, Ergebnis der schöpferischen Tätigkeit der Brüder Castiglioni, ist zwischen der Flos SpA (im Folgenden: Flos), die geltend macht, Inhaberin aller Rechte vermögensrechtlicher Art an dieser Lampe zu sein, und der Semeraro Casa e Famiglia SpA (im Folgenden: Semeraro) ein Rechtsstreit entstanden.

3.        Nach den zum damaligen Zeitpunkt geltenden nationalen Rechtsvorschriften war das Lampenmodell Arco gemeinfrei geworden, so dass Semeraro die Lampe Fluida, die die Form des Modells Arco nachahmt, herstellen, aus China importieren und vertreiben konnte.

4.        Flos ist der Ansicht, dass mit dem Inkrafttreten der Richtlinie 98/71 und deren Umsetzung in das italienische Recht das Lampenmodell Arco urheberrechtlich geschützt sei. Daher warf sie Semeraro die Herstellung und den Vertrieb der Lampe Fluida vor und beantragte bei dem italienischen Gericht, den Vertrieb der Lampe zu untersagen.

5.        Die Frage, die sich im vorliegenden Verfahren stellt, ist daher erstens, ob ein Muster oder Modell, das vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 98/71 gemeinfrei geworden ist, nach dem Urheberrecht schutzfähig ist.

6.        Für den Fall der Bejahung der ersten Frage fragt sich das vorlegende Gericht zweitens, ob sich der Umstand, dass ein Dritter ein Produkt rechtmäßig hergestellt und vertrieben hat, das die Form eines gemeinfrei gewordenen Modells nachahmt, auf den urheberrechtlichen Schutz dieses Modells auswirkt und ob gegebenenfalls ein Übergangszeitraum festgelegt werden kann, in dem dieser Schutz ausgeschlossen ist.

7.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, festzustellen, dass Art. 17 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen Muster und Modelle, die vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden sind, nicht nach dem Urheberrecht schutzfähig sind.

8.        Sodann werde ich ausführen, weshalb Art. 17 der Richtlinie 98/71 meines Erachtens der Festlegung eines angemessenen Übergangszeitraums, in dem Personen, die ein Produkt, das die Form eines Modells nachahmt, das vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden ist, rechtmäßig herstellen und vertreiben konnten, dieses Produkt weiterhin vertreiben können, nicht entgegensteht.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Die Richtlinie 93/98/EWG

9.        Die Richtlinie 93/98/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 zur Harmonisierung der Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte(3) ist am 1. Juli 1995 in Kraft getreten(4).

10.      Nach dieser Richtlinie sind Werke der Literatur und Kunst während des Lebens des Urhebers dieser Werke und 70 Jahre nach seinem Tod urheberrechtlich geschützt(5).

11.      Laut Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 93/98 findet die „in dieser Richtlinie vorgesehene Schutzfrist … auf alle Werke oder Gegenstände Anwendung, die [zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie] zumindest in einem der Mitgliedstaaten aufgrund der Anwendung nationaler Bestimmungen im Bereich des Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte geschützt werden oder die zu diesem Zeitpunkt die Schutzkriterien der Richtlinie 92/100/EWG[(6)] erfüllen“.

12.      Gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 93/98 bleiben Nutzungshandlungen, die vor deren Inkrafttreten erfolgt sind, von dieser Richtlinie unberührt. Außerdem treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Bestimmungen, um insbesondere die erworbenen Rechte Dritter zu schützen.

2.      Die Richtlinie 98/71

13.      Zweck der Richtlinie 98/71 ist die Angleichung der Gesetze der Mitgliedstaaten zum rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen.

14.      In dieser Richtlinie wird insbesondere der Grundsatz der Kumulation des Schutzes nach dem einschlägigen Recht für den Schutz eingetragener Muster und nach dem Urheberrecht festgelegt.

15.      Art. 17 dieser Richtlinie sieht vor: „Das nach Maßgabe dieser Richtlinie durch ein in einem oder mit Wirkung für einen Mitgliedstaat eingetragenes Recht an einem Muster geschützte Muster ist auch nach dem Urheberrecht dieses Staates von dem Zeitpunkt an schutzfähig, an dem das Muster geschaffen oder in irgendeiner Form festgelegt wurde. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ein solcher Schutz gewährt wird, wird einschließlich der erforderlichen Gestaltungshöhe von dem einzelnen Mitgliedstaat festgelegt.“

16.      Gemäß Art. 19 der Richtlinie 98/71 hatten die Mitgliedstaaten dieser Richtlinie bis zum 28. Oktober 2001 nachzukommen.

B –    Nationales Recht

17.      Vor der Umsetzung der Richtlinie 98/71 in das italienische Recht sah das Gesetz Nr. 633 vom 22. April 1941 über den Schutz des Urheberrechts und weitere mit seiner Ausübung verbundene Rechte(7) in seinem Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 vor, dass vom Urheberrechtsschutz Werke der Bildhauerei, der Malerei, der Zeichenkunst und vergleichbarer bildender Kunst, einschließlich der Bühnenbildgestaltung, erfasst sind, auch wenn sie gewerblich verwendet werden, sofern ihr künstlerischer Wert von dem gewerblichen Charakter des Produkts, in das sie eingeflossen sind, trennbar ist.

18.      Nach der Umsetzung dieser Richtlinie in das italienische Recht änderte das Decreto legislativo 95 vom 2. Februar 2001 über die Umsetzung der Richtlinie 98/71(8) diese Bestimmung durch Abschaffung des Trennbarkeitserfordernisses ab. So wurde mit dieser Änderung Nr. 4 des Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 633/41 gestrichen und eine neue Nr. 10 hinzugefügt. Nach dieser Nr. 10 sind Werke des Industriedesigns, die selbst schöpferischen Charakter und künstlerischen Wert haben, urheberrechtlich geschützt. Das Decreto legislativo Nr. 95/2001 ist am 19. April 2001 in Kraft getreten.

19.      Mit dem Decreto legislativo Nr. 164 vom 12. April 2001 zur Durchführung der Richtlinie 98/71(9) wurde in das Decreto legislativo Nr. 95/2001 ein Art. 25a eingefügt, der vorsah, dass der Schutz von Mustern und Modellen gemäß Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 des Gesetzes Nr. 633/41 für eine Dauer von 10 Jahren ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des letztgenannten Decreto legislativo nicht gegenüber denjenigen gilt, die vor diesem Zeitpunkt mit der Herstellung, dem Anbieten oder dem Verkauf von nach gemeinfreien oder gemeinfrei gewordenen Mustern oder Modellen hergestellten Produkten begonnen haben.

20.      Die Gesamtheit dieser Bestimmungen wurde in den italienischen Codice delle Proprietà Industriale (Gesetzbuch über gewerbliches Eigentum) überführt. In Art. 239 dieses Gesetzbuchs wurde insbesondere die Zehnjahresfrist des Art. 25a des Decreto legislativo Nr. 95/2001 übernommen. Außerdem wurde der Urheberrechtsschutz in Art. 44 dieses Gesetzbuchs auf eine Dauer von 25 Jahren – anstelle der vorgeschriebenen 70 Jahre – ab dem Tod des Urhebers beschränkt.

21.      Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften leitete gegen die Italienische Republik ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen die Art. 17 und 18 der Richtlinie 98/71 ein, da die Übergangsfrist von 10 Jahren und die Beschränkung des Urheberrechtsschutzes auf 25 Jahre ab dem Tod des Urhebers ihrer Ansicht nach im Widerspruch zu diesen Artikeln stehen.

22.      Zur Umsetzung des Unionsrechts hat die Italienische Republik Art. 4 Abs. 4 des Decreto Legge Nr. 10 vom 15. Februar 2007 über die Anwendung der gemeinschaftlichen und internationalen Verpflichtungen(10) erlassen. Diese Bestimmung sieht eine Anhebung des urheberrechtlichen Schutzzeitraums für Werke des Industriedesigns auf 70 Jahre und eine Änderung von Art. 239 des Codice delle Proprietà Industriale vor. Die letztgenannte Vorschrift legt nunmehr fest, dass der Schutz gewerblicher Muster und Modelle gemäß Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 des Gesetzes Nr. 633/41 in der geänderten Fassung nicht für Produkte gilt, die nach Mustern oder Modellen hergestellt wurden, die vor dem Inkrafttreten des Decreto legislativo Nr. 95/2001 gemeinfrei waren oder geworden sind.

II – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

23.      Flos ist ein italienisches Unternehmen, das seit Beginn der 60er Jahre im Bereich hochwertiger Beleuchtungskörper tätig ist. Es erklärte, Inhaber aller Rechte vermögensrechtlicher Art an dem berühmten Lampenmodell Arco zu sein, das von den italienischen Designern Achille und Pier Giacomo Castiglioni entworfen wurde.

24.      Flos warf Semeraro vor, das Lampenmodell Fluida, das die Lampe Arco in sämtlichen stilistischen und ästhetischen Merkmalen nachahme, aus China importiert und in Italien vertrieben und damit die von ihr geltend gemachten Urheberrechte an dieser Lampe verletzt zu haben. Damit habe Semeraro ihre Vermögensrechte an dem Werk des Industriedesigns, das die Lampe Arco darstelle, verletzt und gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen.

25.      Semeraro bestritt, dass dem Lampenmodell Arco ein künstlerischer Wert zukomme, was gemäß Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 des Gesetzes Nr. 633/41 Voraussetzung für einen urheberrechtlichen Schutz sei. Außerdem seien die Formen der beiden Lampenmodelle nicht identisch.

26.      Es ist darauf hinzuweisen, dass Semeraro, da das Lampenmodell Arco nach den zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechtsvorschriften gemeinfrei geworden war, dieses Modell rechtmäßig nachahmen konnte.

27.      Assoluce (Associazione Nazionale delle Imprese degli Apparecchi di Illuminazione, Italienischer Verband der Leuchtenhersteller) trat dem Verfahren als Streithelferin zur Unterstützung von Flos bei.

28.      Dem Verfahren in der Hauptsache ging ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes voraus, in dem Flos beantragt hatte, die Lampe Fluida zu beschlagnahmen und Semeraro Einfuhr und Vertrieb dieser Lampe zu untersagen.

29.      Mit Verfügung vom 29. Dezember 2006 bejahte das italienische Gericht die Anwendbarkeit des Urheberrechtsschutzes für Werke des Industriedesigns auf die Lampe Arco und stellte fest, dass das Lampenmodell Fluida die Form dieses Produkts exakt nachahme. Das Gericht ordnete daher die Beschlagnahme der Lampe Fluida an und untersagte Semeraro deren weiteren Vertrieb. Diese Verfügung wurde vom Rechtmittelgericht bestätigt.

30.      Das Tribunale di Milano (Italien) hat Zweifel, ob die verschiedenen Gesetzesänderungen, zu denen es im Laufe des Verfahrens gekommen ist, mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

III – Vorlagefragen

31.      Das Tribunale di Milano hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Art. 17 und 19 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen, dass in Anwendung eines nationalen Gesetzes eines Mitgliedstaats, der den urheberrechtlichen Schutz für Muster und Modelle in Umsetzung dieser Richtlinie in seine Rechtsordnung aufgenommen hat, die diesem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, den Umfang des urheberrechtlichen Schutzes und die Voraussetzungen, unter denen dieser Schutz gewährt wird, autonom festzulegen, auch den Ausschluss dieses Schutzes in Bezug auf Muster und Modelle umfassen kann, die, obwohl sie die für einen urheberrechtlichen Schutz geltenden Voraussetzungen erfüllen, als vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen, durch die der urheberrechtliche Schutz für Muster und Modelle in das nationale Recht aufgenommen wurde, gemeinfrei geworden gelten, weil sie nie als Modelle oder Muster eingetragen waren oder die betreffende Eintragung zu diesem Zeitpunkt bereits erloschen war?

2.      Falls die erste Frage verneint wird: Sind die Art. 17 und 19 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen, dass in Anwendung eines nationalen Gesetzes eines Mitgliedstaats, der den urheberrechtlichen Schutz für Muster und Modelle in Umsetzung dieser Richtlinie in seine Rechtsordnung aufgenommen hat, die diesem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, den Umfang des urheberrechtlichen Schutzes und die Voraussetzungen, unter denen dieser Schutz gewährt wird, autonom festzulegen, auch den Ausschluss dieses Schutzes in Bezug auf Muster und Modelle umfassen kann, die, obwohl sie die für einen urheberrechtlichen Schutz geltenden Voraussetzungen erfüllen, als vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen, durch die der urheberrechtliche Schutz für Muster und Modelle in das nationale Recht aufgenommen wurde, gemeinfrei geworden gelten, wenn ein – nicht vom Inhaber des Urheberrechts an diesen Mustern und Modellen ermächtigter – Dritter in dem betreffenden Staat bereits nach diesen Mustern und Modellen hergestellte Produkte hergestellt und vertrieben hat?

3.      Falls die erste und die zweite Frage verneint werden: Sind die Art. 17 und 19 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen, dass in Anwendung eines nationalen Gesetzes eines Mitgliedstaats, der den urheberrechtlichen Schutz für Muster und Modelle in Umsetzung dieser Richtlinie in seine Rechtsordnung aufgenommen hat, die diesem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, den Umfang des urheberrechtlichen Schutzes und die Voraussetzungen, unter denen dieser Schutz gewährt wird, autonom festzulegen, auch den Ausschluss dieses Schutzes in Bezug auf Muster und Modelle umfassen kann, die, obwohl sie die für einen urheberrechtlichen Schutz geltenden Voraussetzungen erfüllen, als vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen, durch die der urheberrechtliche Schutz für Muster und Modelle in das nationale Recht aufgenommen wurde, gemeinfrei geworden gelten, wenn ein – nicht durch den Inhaber des Urheberrechts an diesen Mustern und Modellen ermächtigter – Dritter in dem betreffenden Staat bereits nach diesen Mustern und Modellen hergestellte Produkte hergestellt und vertrieben hat und dieser Ausschluss für einen erheblichen Zeitraum (10 Jahre) vorgesehen ist?

IV – Untersuchung

32.      Mit der Kommission bin ich der Ansicht, dass Art. 19 der Richtlinie 98/71 im vorliegenden Verfahren nicht einschlägig ist. In diesem Artikel wird lediglich der Zeitpunkt festgelegt, zu dem die Mitgliedstaaten den Bestimmungen dieser Richtlinie nachzukommen hatten, nämlich zum 28. Oktober 2001. Im vorliegenden Verfahren geht es jedoch nicht darum, ob die Italienische Republik die Richtlinie fristgerecht umgesetzt hat.

33.      Der Rechtsstreit im Ausgangsverfahren betrifft die Frage, ob Semeraro, die damals rechtmäßig das Recht erworben hatte, das Lampenmodell Fluida herzustellen und zu vertreiben, nun gezwungen ist, Herstellung und Vertrieb einzustellen, weil die nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 98/71 die Urheberrechte an dem Lampenmodell Arco, dessen Form das Modell Fluida nachahmt, wieder haben aufleben lassen.

34.      Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob Art. 17 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen Muster und Modelle, die vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden sind, nicht nach dem Urheberrecht schutzfähig sind.

35.      Für den Fall, dass die Frage zu bejahen ist, fragt sich das vorlegende Gericht, ob sich der Umstand, dass ein Dritter rechtmäßig das Recht erworben hat, ein Produkt herzustellen und zu vertreiben, das die Form eines gemeinfrei gewordenen Modells nachahmt, auf den urheberrechtlichen Schutz dieses Modells auswirkt und ob gegebenenfalls ein Übergangszeitraum festgelegt werden kann, in dem dieser Schutz ausgeschlossen ist.

A –    Zur Anwendung des Urheberrechts auf Muster oder Modelle, die vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 98/71 gemeinfrei geworden sind

36.      Art. 17 der Richtlinie 98/71 sieht vor, dass das durch in einem oder mit Wirkung für einen Mitgliedstaat eingetragenes Recht an einem Muster oder Modell geschützte Muster oder Modell auch nach dem Urheberrecht dieses Staates von dem Zeitpunkt an schutzfähig ist, an dem das Muster oder Modell geschaffen oder in irgendeiner Form festgelegt wurde(11).

37.      In der Richtlinie ist nicht geregelt, ob ein vor ihrem Inkrafttreten gemeinfrei gewordenes Muster oder Modell schutzfähig ist.

38.      Da Art. 17 Satz 2 der Richtlinie vorsieht, dass von dem einzelnen Mitgliedstaat festgelegt wird, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ein solcher Schutz gewährt wird, fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Mitgliedstaaten nicht über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen, der es ihnen ermöglicht, für Muster oder Modelle, die vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 98/71 gemeinfrei geworden sind, den urheberrechtlichen Schutz auszuschließen.

39.      Der Ansicht bin ich nicht, und zwar aus folgenden Gründen.

40.      Aus den Vorarbeiten für die Richtlinie 98/71 ist ersichtlich, dass mit dieser Richtlinie das Musterrecht der Mitgliedstaaten harmonisiert werden soll, damit die nationalen Vorschriften in ihren wesentlichen Merkmalen übereinstimmen und mit dem künftigen Gemeinschaftsmusterrecht vereinbar sind(12).

41.      Außerdem wird darauf hingewiesen, dass sich die Angleichung nicht auf sämtliche Aspekte der einzelstaatlichen Musterschutzvorschriften zu erstrecken braucht, sondern dass es ausreicht, jene Merkmale anzugleichen, die für die Koexistenz des einzelstaatlichen und des gemeinschaftlichen Musterschutzes notwendig sind, wobei es insbesondere um Umfang und Dauer des Schutzes geht(13).

42.      In den Vorarbeiten heißt es weiter: „Ein Eingriff in die geltenden nationalen Verfahrensvorschriften – z. B. in Bezug auf die Prüfung der Schutzvoraussetzungen – ist nicht erforderlich.“(14) Deshalb sieht Art. 17 Satz 2 der Richtlinie 98/71 meines Erachtens vor, dass von dem einzelnen Mitgliedstaat festgelegt wird, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, einschließlich der erforderlichen Gestaltungshöhe, ein urheberrechtlicher Schutz gewährt wird.

43.      Dagegen wurden die Dauer des urheberrechtlichen Schutzes und dessen zeitliche Anwendbarkeit auf Ebene der Europäischen Union in der zum Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens geltenden Richtlinie 93/98(15) harmonisiert.

44.      Nach der Richtlinie 93/98 umfasst die Schutzdauer das Leben des Urhebers und 70 Jahre nach dessen Tod(16). Gemäß Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie findet diese Schutzfrist auf alle Werke oder Gegenstände Anwendung, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie zumindest in einem der Mitgliedstaaten geschützt waren.

45.      Ich bin daher der Ansicht, dass Art. 17 der Richtlinie 98/71 in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 93/98, insbesondere mit deren Art. 10 Abs. 2, zu sehen ist.

46.      Diese Bestimmung war bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof in einer Rechtssache, bei der es um das Wiederaufleben von Urheberrechten an einem Musikstück ging.

47.      So hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 29. Juni 1999, Butterfly Music(17), festgestellt, dass sich aus dieser Bestimmung eindeutig ergibt, dass die Anwendung der in der Richtlinie 93/98 festgelegten Schutzfristen in den Mitgliedstaaten, deren Recht eine kürzere Schutzdauer vorsieht, dazu führen kann, dass Werke oder Gegenstände, die gemeinfrei geworden sind, wieder geschützt sind(18).

48.      Diese Lösung, so der Gerichtshof, wurde gewählt, um das Ziel der Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Schutzdauer des Urheberrechts so schnell wie möglich zu erreichen und um zu vermeiden, dass bestimmte Rechte in einigen Mitgliedstaaten erloschen, in anderen dagegen geschützt sind(19).

49.      Meines Erachtens ist diese Rechtsprechung auf das vorliegende Verfahren übertragbar.

50.      Eine der wesentlichen Errungenschaften der Richtlinie 98/71 ist, den Grundsatz der Kumulation des Schutzes nach dem einschlägigen Recht für den Schutz eingetragener Muster und nach dem Urheberrecht zu verankern, um die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Vorschriften in diesem Bereich zu beseitigen. In ihren Vorarbeiten hatte die Kommission erklärt, dass diese kumulative Anwendung hinsichtlich des Schutzes von Mustern und Modellen zwingend sei, was bedeute, dass das einzelstaatliche Recht geändert werden müsse, wo es vorsehe, dass der Urheberrechtsschutz nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen mit dem Schutz gemäß dem besonderen Musterschutzrecht kumuliert werden könne(20).

51.      Bei der Kumulation des Schutzes nach dem einschlägigen Recht für den Schutz eingetragener Muster und nach dem Urheberrecht handelt es sich daher nicht um eine den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, sondern um ein Ziel, das zu erreichen ist, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsvorschriften zu beseitigen.

52.      Meines Erachtens würde dieses Ziel nicht erreicht, wenn es im Ermessen der Mitgliedstaaten stünde, den urheberrechtlichen Schutz auf gemeinfrei gewordene Muster und Modelle anzuwenden. Dies hätte nämlich zur Folge, dass ein vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 98/71 gefertigtes Muster oder Modell in manchen Mitgliedstaaten geschützt wäre und in anderen nicht. Die Unterschiede, die mit dieser Richtlinie beseitigt werden sollen, würden bestehen bleiben, und der Handel zwischen den Mitgliedstaaten würde beeinträchtigt. Außerdem liefe dies auch dem Hauptziel der Richtlinie 93/98, die Dauer und die zeitliche Anwendbarkeit des urheberrechtlichen Schutzes zu harmonisieren, zuwider(21).

53.      Die im Urteil Butterfly Music entwickelte Lösung ist meines Erachtens die einzige Möglichkeit, um eine einheitliche Anwendung der Richtlinie 98/71 in der gesamten Union sicherzustellen.

54.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Art. 17 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen Muster und Modelle, die vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden sind, nicht nach dem Urheberrecht schutzfähig sind.

55.      Mithin stellt sich die Frage, ob sich der Umstand, dass Dritte ein Produkt, das die Form eines gemeinfrei gewordenen Musters oder Modells nachahmt, rechtmäßig hergestellt und vertrieben haben, auf die Anwendung des urheberrechtlichen Schutzes auf dieses Muster oder Modell auswirkt.

B –    Auswirkung von rechtmäßig erworbenen Rechten Dritter auf die Anwendung des urheberrechtlichen Schutzes auf Muster oder Modelle, die vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 98/71 gemeinfrei geworden sind

56.      Wie dargelegt bin ich der Ansicht, dass der urheberrechtliche Schutz von Mustern oder Modellen ab dem Zeitpunkt gilt, zu dem diese geschaffen worden sind, und zwar auch dann, wenn sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie 98/71 gemeinfrei sind.

57.      Mit der zweiten und der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob etwas anderes gälte oder zumindest ein Übergangszeitraum festzulegen wäre, in dem dieser Schutz ausgeschlossen ist, wenn ein Dritter, wie Semeraro, ein Modell, das die Form eines anderen, gemeinfrei gewordenen Modells nachahmt, rechtmäßig hergestellt und vertrieben hat.

58.      In der Richtlinie 98/71 wird nichts dazu gesagt, wie sich die Anwendung des Urheberrechts auf Rechte Dritter, die diese vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie erworben haben, auswirken könnte.

59.      Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort geben zu können, sind meines Erachtens erneut die Bestimmungen der Richtlinie 93/98 heranzuziehen, die die zeitliche Anwendbarkeit des urheberrechtlichen Schutzes regeln, und zwar insbesondere Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie.

60.      Diese Bestimmung sieht vor, dass Nutzungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 93/98 erfolgt sind, von dieser unberührt bleiben und die Mitgliedstaaten die notwendigen Bestimmungen treffen, um insbesondere die erworbenen Rechte Dritter zu schützen.

61.      Der Gerichtshof hat im Urteil Butterfly Music entschieden, dass die Anwendung der in der Richtlinie festgelegten Schutzfristen dazu führen kann, dass Werke oder Gegenstände, die gemeinfrei geworden sind, wieder geschützt sind, und weiter ausgeführt, dass nach dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/98 „die Wahrung erworbener Rechte und die Berücksichtigung berechtigter Erwartungen … Bestandteil der gemeinschaftlichen Rechtsordnung [sind und die] Mitgliedstaaten … insbesondere vorsehen können [sollten], dass das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte, die in Anwendung dieser Richtlinie wiederaufleben, unter bestimmten Umständen diejenigen Personen nicht zu Zahlungen verpflichten, die die Werke zu einer Zeit gutgläubig verwertet haben, als diese gemeinfrei waren“(22).

62.      Außerdem, so der Gerichtshof, hat die Richtlinie die Möglichkeit eines Wiederauflebens des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte, die erloschen waren, unbeschadet der vor dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens abgeschlossenen Verwertungshandlungen vorgesehen, es dabei aber den Mitgliedstaaten überlassen, Maßnahmen zum Schutz der erworbenen Rechte Dritter zu erlassen(23).

63.      Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Gesetze zur Änderung einer gesetzlichen Bestimmung, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts Anwendung finden, der unter der Geltung des alten Rechts entstanden ist. Wenn sich das Wiederaufleben des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte nicht auf Verwertungshandlungen auswirkt, die ein Dritter vor dem Zeitpunkt des Wiederauflebens abgeschlossen hat, kann es nicht als rückwirkend angesehen werden. Die Anwendung des Grundsatzes des Wiederauflebens der Rechte auf die künftigen Folgen von nicht endgültig abgeschlossenen Sachverhalten bedeutet dagegen, das dies sich auf die Rechte eines Dritten auswirkt, einen Tonträger weiter zu verwerten, der zu diesem Zeitpunkt zwar vervielfältigt, dessen Exemplare aber noch nicht in den Verkehr gebracht und verkauft worden sind(24).

64.      Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht so weit ausgedehnt werden darf, dass er die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der früheren Regelung entstanden ist, schlechthin ausschließt(25).

65.      Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass die Festlegung eines begrenzten Zeitraums, in dem Dritte, die Tonträger rechtmäßig vervielfältigt und in den Verkehr gebracht haben, nachdem die Verwertungsrechte für diese Tonträger nach dem früheren Recht erloschen waren, die Tonträger vertreiben können, den Vorschriften der Richtlinie 93/98 entspricht(26). Zum einen genügt ein solcher Zeitraum der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zum Schutz erworbener Rechte Dritter zu erlassen, und zum anderen entspricht er dem Erfordernis der Anwendung der neuen Schutzdauer des Urheberrechts und verwandter Rechte zu dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Zeitpunkt, was deren Hauptziel ist(27).

66.      Die gleichen Überlegungen müssen meines Erachtens im vorliegenden Verfahren gelten.

67.      Es kommt nämlich darauf an, ein angemessenes Gleichgewicht zu finden zwischen der Erreichung eines der wichtigsten Ziele der Richtlinie 98/71, nämlich der Anwendung des urheberrechtlichen Schutzes auf Muster und Modelle, und der Notwendigkeit, die Rechte zu wahren, die Dritte vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie gutgläubig erworben haben. Denn das geistige Eigentum ist ein Bereich, in dem Interessen, die mitunter sehr gegensätzlich sein können, nebeneinander bestehen müssen. Es ist wichtig, schöpferische Tätigkeiten zu fördern, indem gewährleistet wird, dass Werke, Modelle und auch Muster gegen jede Art von Nachahmung geschützt werden. Ebenso ist es von Bedeutung, auf diesem Markt einen hinreichenden Wettbewerb zu ermöglichen, damit die Unionsbürger von den Ergebnissen des kreativen Schaffens, sei es im Bereich Technologie, Information oder sogar Design, profitieren können.

68.      Gemäß der in Nr. 63 dieser Schlussanträge angeführten Rechtsprechung kann sich die Anwendung des Urheberrechts auf Muster und Modelle, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 98/71 gemeinfrei geworden sind, nicht auf vor diesem Zeitpunkt endgültig abgeschlossene Sachverhalte auswirken. Dies bedeutet meines Erachtens, dass der urheberrechtliche Schutz, der dem Lampenmodell Arco zukommt, den Lampen Fluida, die bereits vor diesem Zeitpunkt hergestellt und verkauft worden waren, nicht entgegengehalten werden kann.

69.      Dagegen können die zuständigen nationalen Behörden, da die Mitgliedstaaten beim Schutz der erworbenen Rechte Dritter über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen(28), einen mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 98/71 beginnenden Übergangszeitraum festlegen, in dem Dritte, die das Recht zum Vertrieb eines Produkts, das die Form eines vor diesem Zeitpunkt gemeinfrei gewordenen Modells nachahmt, rechtmäßig erworben haben, dieses Produkt weiterhin vertreiben können.

70.      Flos hat in ihren Erklärungen ausgeführt, es könne „zulässig sein, eine Übergangsregelung vorzusehen, die den abrupten Übergang zu dem sich aus der Umsetzung der Richtlinie 98/71 ergebenden urheberrechtlichen Schutz abfängt“.

71.      Der Gerichtshof hat im Urteil Butterfly Music ausgeführt, dass die Frist des Übergangszeitraums angemessen sein muss(29). Dabei ist nicht nur den berechtigten Interessen der gutgläubigen Dritten, sondern auch den Interessen der Inhaber der Urheberrechte Rechnung zu tragen und das mit den betreffenden Rechtsvorschriften verfolgte Ziel zu berücksichtigen.

72.      Das vorlegende Gericht wird meines Erachtens bei der konkreten Prüfung des Ausgangssachverhalts verschiedene Gesichtspunkte beachten müssen, um gegebenenfalls beurteilen zu können, ob die Festlegung eines Übergangszeitraums, in dem die Lampe Arco nicht nach dem Urheberrecht schutzfähig ist, erforderlich ist.

73.      Wie bereits dargelegt, ist in Art. 17 der Richtlinie 98/71 nicht geregelt, ob der urheberrechtliche Schutz auch auf Muster oder Modelle anwendbar ist, die vor ihrem Inkrafttreten gemeinfrei geworden sind.

74.      Ich erinnere daran, dass das italienische Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 98/71 in einem ersten Schritt einen Übergangszeitraum von 10 Jahren vorsah, während dem gemeinfrei gewordene Muster oder Modelle nicht urheberrechtlich geschützt waren. Nach dem von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren änderte der italienische Gesetzgeber in einem zweiten Schritt dieses Gesetz erneut, so dass dieses nun vorsieht, dass der urheberrechtliche Schutz nicht für Muster oder Modelle gilt, die vor dem Inkrafttreten des Decreto legislativo Nr. 95/2001 zur Umsetzung der Richtlinie 98/71 gemeinfrei geworden sind.

75.      In Anbetracht dieser Umstände und des Schweigens der Richtlinie zur Anwendung des Urheberrechts auf gemeinfrei gewordene Muster oder Modelle bin ich der Ansicht, dass die Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht bei Semeraro ein berechtigtes Vertrauen in die Beibehaltung des zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechts hervorgerufen haben kann, d. h. darauf, dass sämtliche Rechte an der Lampe Arco erloschen waren und Semeraro die Lampe Fluida somit weiterhin herstellen und vertreiben konnte.

76.      Die Wirtschaftsbeteiligten durften daher meines Erachtens Zweifel an einer Auslegung von Art. 17 der Richtlinie 98/71 haben, wie ich sie dem Gerichtshof vorschlage, der zufolge Muster oder Modelle, die vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden sind, nach dem Urheberrecht schutzfähig sind.

77.      Hinsichtlich der Dauer des Übergangszeitraums fragt das vorlegende Gericht, ob die Festsetzung eines Zehnjahreszeitraums, wie vom italienischen Gesetzgeber ursprünglich vorgesehen, zweckmäßig ist.

78.      Meines Erachtens muss der Übergangszeitraum lang genug sein, um die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen zu wahren, die gutgläubig in die Herstellung von Mustern oder Modellen investiert haben, die vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 98/71 gemeinfrei geworden sind. Diese Unternehmen, deren wirtschaftliche Tätigkeit wegen der Umsetzung dieser Richtlinie fast auf einen Schlag illegal wäre, sind zu schützen.

79.      Ich erinnere jedoch daran, dass dieser Übergangszeitraum auch nicht dazu führen darf, dass die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der früheren Regelung entstanden ist, ausgeschlossen wird(30).

80.      Der Gerichtshof hat in der Rechtssache, in der das Urteil Butterfly Music ergangen ist, festgestellt, dass ein Zeitraum von drei Monaten, in dem Dritte, die diese Rechte rechtmäßig erworben hatten, die Tonträger verbreiten konnten, im Hinblick auf das verfolgte Ziel und angesichts der Umstände, unter denen die Richtlinie 93/98 umgesetzt wurde, als eine angemessene Frist angesehen werden kann. Diese Frist mag sehr kurz und starr erscheinen, tatsächlich aber war es, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, im Zusammenhang mit der Umsetzung dieser Richtlinie möglich, die Tonträger nach deren Inkrafttreten fast ein Jahr lang weiter zu vertreiben(31).

81.      Was das vorliegende Verfahren anbelangt, halte ich eine Zehnjahresfrist bei einem urheberrechtlichen Schutz, der ab dem Tod des Urhebers 70 Jahre beträgt, für zu lang. Die Kommission hatte im Übrigen das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Italienische Republik insbesondere deshalb eingeleitet, weil das nationale Recht einen Übergangszeitraum von 10 Jahren vorsah.

82.      Ich neige jedoch zu der Auffassung, dass die Zeit, über die Semeraro zwischen dem 28. Oktober 2001 – dem Zeitpunkt, zu dem die Mitgliedstaaten der Richtlinie 98/71(32) nachzukommen hatten – und dem 29. Dezember 2006 – dem Zeitpunkt, zu dem das italienische Gericht die Beschlagnahme der Lampe Fluida anordnete und Semeraro deren Vertrieb untersagte – verfügt hat, angemessen war.

83.      In diesem Zeitraum von etwas mehr als fünf Jahren konnte Semeraro ihre Lampen herstellen und auf dem Markt absetzen.

84.      Mit dieser Frist wird meines Erachtens ein ausgewogenes Gleichgewicht gefunden zwischen der Wahrung von rechtmäßig erworbenen Rechten Dritter und der Notwendigkeit, eines der Ziele der Richtlinie 98/71 zu erreichen, nämlich die Anwendung des urheberrechtlichen Schutzes auf Muster und Modelle.

85.      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der Umstände des vorliegenden Verfahrens und unter Berücksichtigung der Ziele der fraglichen Rechtsvorschriften zu beurteilen, inwieweit die Festlegung eines angemessenen Übergangszeitraums notwendig ist, um die erworbenen Rechte Dritter zu schützen.

86.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass Art. 17 der Richtlinie 98/71 der Festlegung eines angemessenen Übergangszeitraums nicht entgegensteht, in dem Personen, die ein Produkt, das die Form eines Modells nachahmt, das vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden ist, rechtmäßig herstellen und vertreiben konnten, dieses Produkt weiterhin vertreiben können.

V –    Ergebnis

87.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Tribunale di Milano gestellten Fragen wie folgt zu antworten:

1.      Art. 17 der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen Muster und Modelle, die vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden sind, nicht nach dem Urheberrecht schutzfähig sind.

2.      Art. 17 der Richtlinie 98/71 steht der Festlegung eines angemessenen Übergangszeitraums nicht entgegen, in dem Personen, die ein Produkt, das die Form eines Modells nachahmt, das vor dem Inkrafttreten der nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie gemeinfrei geworden ist, rechtmäßig herstellen und vertreiben konnten, dieses Produkt weiterhin vertreiben können.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (ABl. L 289, S. 28).


3 – ABl. L 290, S. 9.


4 – Vgl. Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 93/98.


5 – Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie.


6 – Richtlinie des Rates vom 19. November 1992 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums (ABl. L 346, S. 61).


7 – GURI Nr. 166 vom 16. Juli 1941, im Folgenden: Gesetz Nr. 633/41.


8 – GURI Nr. 79 vom 4. April 2001, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 95/2001.


9 – GURI Nr. 125 vom 31. Mai 2001.


10 – GURI Nr. 38 vom 15. Februar 2007.


11 – Hervorhebung nur hier.


12 – Vgl. Nr. 1.4 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsschutz von Mustern (KOM[93] 344 endg.).


13 – Vgl. Nr. 1.5 des Vorschlags.


14 – Ebd.


15 – Die Richtlinie 93/98 wurde durch die Richtlinie 2006/116/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte (ABl. L 372, S. 12) kodifiziert.


16 – Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie.


17 – C‑60/98, Slg. 1999, I‑3939.


18 – Ebd. (Randnr. 18).


19 – Ebd. (Randnr. 20).


20 – Vgl. Erläuterung zu Art. 18 des in Fn. 12 genannten Richtlinienvorschlags.


21 – Vgl. zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie.


22 – Urteil Butterfly Music (Randnr. 22).


23 – Ebd. (Randnr. 23).


24 – Ebd. (Randnr. 24).


25 – Ebd. (Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


26 – Ebd. (Randnr. 26).


27 – Ebd. (Randnrn. 27 und 28).


28 – Ebd. (Randnr. 23).


29 – Ebd. (Randnr. 27).


30 – Ebd. (Randnrn. 25 und 28).


31 – Ebd. (Randnrn. 27 und 28).


32 – Vgl. Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie.