Language of document : ECLI:EU:C:2013:500

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 18. Juli 2013(1)

Rechtssache C‑285/12

Aboubacar Diakité

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Belgien])

„Asylrecht – Richtlinie 2004/83/EG – Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus – Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz – Ernsthafter Schaden – Art. 15 Buchst. c – Begriff des ‚innerstaatlichen bewaffneten Konflikts‘ – Auslegung im Hinblick auf das humanitäre Völkerrecht – Beurteilungskriterien“





1.        Die vorliegende Rechtssache betrifft ein Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État (Belgien) zur Auslegung von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie)(2). Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen Herrn Diakité, einem guineischen Staatsangehörigen, und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (im Folgenden: Commissaire général) wegen dessen Entscheidung, Herrn Diakité keinen subsidiären Schutz zu gewähren.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Völkerrecht

2.        Der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949(3) (im Folgenden: gemeinsamer Art. 3 der Genfer Abkommen) bestimmt:

„Im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht, ist jede der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten, wenigstens die folgenden Bestimmungen anzuwenden:

1.      Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache außer Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden …

Zu diesem Zwecke sind und bleiben in Bezug auf die oben erwähnten Personen … verboten:

a)      Angriffe auf Leib und Leben …

c)      Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung;

d)      Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmäßig bestellten Gerichtes …

…“

3.        Art. 1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977 (im Folgenden: Protokoll II) sieht Folgendes vor:

„1.      Dieses Protokoll, das den den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 gemeinsamen Art. 3 weiterentwickelt und ergänzt, ohne die bestehenden Voraussetzungen für seine Anwendung zu ändern, findet auf alle bewaffneten Konflikte Anwendung, die von Art. 1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) nicht erfasst sind und die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen.

2.      Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten.“

B –    Unionsrecht

4.        Nach Art. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie bezeichnet der Ausdruck

„‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen …, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland[(4)] … tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel[s] 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will“.

5.        Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) in Kapitel 5 („Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz“) der Anerkennungsrichtlinie bestimmt:

„Als ernsthafter Schaden gilt:

a)      die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)      Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)      eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ (5).

6.        Die Anerkennungsrichtlinie wurde durch die Richtlinie 2011/95/EU(6) (im Folgenden: neue Anerkennungsrichtlinie) neu gefasst. Letztere Richtlinie ändert weder Art. 2 Buchst. e (jetzt Art. 2 Buchst. f) noch Art. 15 der Anerkennungsrichtlinie wesentlich.

C –    Belgisches Recht

7.        Art. 48/4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern(7) (loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers, im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980), das Art. 2 Buchst. e und Art. 15 der Anerkennungsrichtlinie umsetzt, lautet:

„§ 1  Der subsidiäre Schutzstatus wird einem Ausländer zuerkannt, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt und nicht in den Anwendungsbereich von Art. 9ter fällt, für den aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 2 zu erleiden, und der unter Berücksichtigung der Gefahr den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will …

§ 2      Als ernsthafter Schaden gilt:

c)      eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“.

II – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8.        Herr Diakité stellte am 21. Februar 2008 in Belgien einen ersten Asylantrag und berief sich darauf, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner Teilnahme an nationalen Kundgebungen und Protestbewegungen gegen das bestehende Regime der Repression und Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei. Mit seiner ersten Entscheidung vom 25. April 2008 lehnte der Commissaire général die Anerkennung als Flüchtling sowie die Gewährung subsidiären Schutzes ab. Am 17. November 2009 wurde diese Entscheidung aufgehoben, und der Commissaire général erließ am 10. März 2010 eine neue Entscheidung, mit der er die Anerkennung als Flüchtling und die Gewährung subsidiären Schutzes ablehnte. Diese Entscheidung wurde vom Conseil du contentieux des étrangers mit Urteil vom 23. Juni 2010(8) bestätigt, in dem dieser feststellte, dass die geltend gemachten Tatsachen nicht glaubwürdig und damit die Furcht unbegründet sei und keine tatsächliche Gefahr bestehe, den behaupteten ernsthaften Schaden zu erleiden.

9.        Ohne in der Zwischenzeit in sein Herkunftsland zurückgekehrt zu sein, stellte Herr Diakité am 15. Juli 2010 bei den belgischen Behörden einen zweiten Asylantrag.

10.      Am 22. Oktober 2010 erließ der Commissaire général erneut eine Entscheidung, mit der die Anerkennung als Flüchtling und die Gewährung subsidiären Schutzes abgelehnt wurden. Die im Ausgangsverfahren allein angefochtene Nichtgewährung subsidiären Schutzes wurde mit der Feststellung begründet, dass zum damaligen Zeitpunkt in Guinea keine Situation willkürlicher Gewalt oder eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 48/4 § 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestand. Diese Entscheidung war Gegenstand eines Rechtsmittels beim Conseil du contentieux des étrangers, der mit Urteil vom 6. Mai 2011(9) die zweifache Ablehnung des Commissaire général bestätigte.

11.      In seiner beim Conseil d’État gegen dieses Urteil vom 6. Mai 2011 eingelegten Verwaltungskassationsbeschwerde macht Herr Diakité als einzigen Beschwerdegrund einen Verstoß gegen Art. 48/4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980, insbesondere gegen § 2 Buchst. c dieser Bestimmung, sowie gegen Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie geltend.

12.      Vor dem vorlegenden Gericht rügt Herr Diakité, dass im Urteil des Conseil du contentieux des étrangers, nachdem darin festgestellt worden sei, dass weder die Anerkennungsrichtlinie noch das belgische Gesetz zu ihrer Umsetzung eine Definition des „bewaffneten Konflikts“ enthielten, entschieden worden sei, dass „die vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien [(ICTY)] in der Rechtssache Tadic(10) … entwickelte Definition …“ anzuwenden sei. Er macht geltend, dass diese Definition zu eng sei, und fordert ein autonomes und weiteres Verständnis des Begriffs des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“.

13.      Der Conseil d’État weist darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji(11), zum Begriff „willkürliche Gewalt“ entschieden habe, dass Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie, anders als Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)(12), autonom auszulegen sei. Nach diesem Urteil „kann, wie von [Herrn Diakité] vorgebracht, nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Begriff im Sinne von Art. 15 Buchst. c der [Anerkennungs-]Richtlinie … ebenfalls autonom auszulegen ist und eine andere Bedeutung als die nach der Rechtsprechung des [ICTY], insbesondere in der Rechtssache Tadic, hat“, obwohl sich der Gerichtshof nicht speziell zum Begriff „bewaffneter Konflikt“ geäußert habe.

14.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 15 Buchst. c der [Anerkennungs-]Richtlinie dahin auszulegen, dass diese Bestimmung nur dann einen Schutz gewährt, wenn eine Situation eines „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ im Sinne der Auslegung, die im humanitären Völkerrecht insbesondere in Anlehnung an den gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen entwickelt wurde, gegeben ist?

Wenn der Begriff „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ nach Art. 15 Buchst. c der [Anerkennungs-]Richtlinie gegenüber dem gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen … autonom auszulegen ist, nach welchen Kriterien ist dann zu beurteilen, ob ein solcher „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ vorliegt?

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

15.      Herr Diakité, die belgische und die deutsche Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Ihre Vertreter sowie der Vertreter der französischen Regierung haben in der Sitzung vom 29. Mai 2013 vor dem Gerichtshof mündliche Ausführungen gemacht.

IV – Würdigung

16.      Die Vorlagefrage besteht aus zwei Teilen, die im Folgenden getrennt geprüft werden.

A –    Zum ersten Teil der Vorlagefrage

17.      Mit dem ersten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ nach Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist oder ob er im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht auszulegen ist.

18.      Mit Ausnahme von Herrn Diakité und der Regierung des Vereinigten Königreichs, die sich vorbehaltlos für eine autonome und weite Auslegung dieses Begriffs aussprechen(13), bleiben die Standpunkte der Beteiligten, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, fließend. Die französische Regierung und die Kommission bestätigen zwar, dass dieser Begriff autonom auszulegen sei, seine Umrisse seien jedoch von der Definition des humanitären Völkerrechts ausgehend zu bestimmen, u. a. um eine Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Schutzsystemen auf internationaler und Unionsebene zu gewährleisten. Hingegen sind die belgische und die deutsche Regierung der Auffassung, dass die Hauptquelle für die Auslegung dieses Begriffs das humanitäre Völkerrecht sein müsse, stellen jedoch klar, dass das Schutzziel der Anerkennungsrichtlinie es ausnahmsweise erforderlich machen könne, das Bestehen eines „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ nach Art. 15 Buchst. c anzuerkennen, selbst wenn nicht alle Voraussetzungen nach dem humanitären Völkerrecht erfüllt seien. Diese Beteiligten, obwohl sie von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, gelangen praktisch zu weitgehend übereinstimmenden Auffassungen.

19.      Die Begriffe „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“, „bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist“ und „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“, jeweils nach Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie, dem gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen und dem Protokoll II, stimmen semantisch nahezu überein. Diese Feststellung allein lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass diese Begriffe gleich auszulegen sind.

20.      Insoweit weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof in Bezug auf die Auslegung der Bestimmungen der Anerkennungsrichtlinie bereits vor Mechanismen gewarnt hat, die dazu führen, dass in ihrem Rahmen Begriffe oder Definitionen verwendet werden, die aus anderen, wenn auch unionsrechtlichen, Kontexten stammen(14). Im vorliegenden Fall würde für die Auslegung einer Bestimmung dieser Richtlinie ein Begriff herangezogen, der nicht nur, wie sich zeigen wird, in ein Gebiet fällt, das sich deutlich vom vorliegenden unterscheidet, sondern der auch einer anderen Rechtsordnung angehört.

21.      Die französische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hingewiesen, nach der die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss(15). Nach Ansicht dieser Regierung ist dasselbe Kriterium im vorliegenden Fall anzuwenden.

22.      Diese Auffassung scheint mir unzutreffend. Zum einen entspricht nämlich, wie die deutsche Regierung zu Recht geltend macht, eine Auslegung, die mit derjenigen im Einklang steht, die im Rahmen eines alle Mitgliedstaaten bindenden internationalen Abkommens Anwendung findet, dem Hauptbestreben dieser Rechtsprechung, das in der Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung des Unionsrechts liegt. Zum anderen wäre, selbst wenn man dieser Rechtsprechung einen über das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und dem Recht der Mitgliedstaaten hinausreichenden allgemeinen Grundsatz entnehmen könnte, ein solcher Grundsatz jedenfalls nicht geeignet, das Verhältnis zwischen der Unionsrechtsordnung und der Völkerrechtsordnung zu bestimmen.

23.      Nach Art. 3 Abs. 5 EUV „leistet [die Union] einen Beitrag … zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, sind die Befugnisse der Union unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben(16). Die Auslegung eines aufgrund dieser Befugnisse erlassenen Rechtsakts und die Festlegung seines Anwendungsbereichs haben daher im Licht des einschlägigen Völkerrechts zu erfolgen(17), wozu neben den von der Union geschlossenen internationalen Übereinkünften(18) die Regeln des Völkergewohnheitsrechts gehören, die die Organe der Union binden und Teil ihrer Rechtsordnung sind(19). Der Vorrang dieser Regeln gegenüber dem sekundären Unionsrecht verlangt es, dieses soweit wie möglich im Einklang mit diesen Regeln auszulegen(20).

24.      Daher ist der Gerichtshof durch den Grundsatz der konformen Auslegung gebunden, wenn er die Beziehungen zwischen dem Völkerrecht und dem Unionsrecht untersucht(21).

25.      Die Anwendung dieses Grundsatzes kann zwar nicht von der Frage abhängen, ob der auszulegende Rechtsakt der Organe einen ausdrücklichen Verweis auf die Regeln des Völkerrechts umfasst, jedoch sind zwei Klarstellungen vorzunehmen.

26.      Zum einen besteht die Verpflichtung zur konformen Auslegung grundsätzlich nur im Verhältnis zu den internationalen Verpflichtungen, die die Union binden(22). Im vorliegenden Fall steht zwar fest, dass die Union nicht Vertragspartei der Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und ihrer Zusatzprotokolle ist, der Internationale Gerichtshof (IGH) hat jedoch entschieden, dass diese Rechtsakte „unveräußerliche Grundsätze des Völkergewohnheitsrechts“(23) zum Ausdruck bringen. Als solche binden sie die Organe einschließlich des Gerichtshofs, der eine Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten hat, die mit diesen Grundsätzen im Einklang steht.

27.      Zum anderen ist es nur dann geboten, das Unionsrecht im Auslegungsweg mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen, wenn ein hermeneutischer Zusammenhang zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Rechtsakten erweislich ist.

28.      Dies ist meines Erachtens hier, insbesondere unter Berücksichtigung der Unterschiede hinsichtlich des Gegenstands, der Ziele und der Mittel, die zwischen dem humanitären Völkerrecht und dem von der Anerkennungsrichtlinie eingeführten Mechanismus des subsidiären Schutzes bestehen, nicht der Fall, wie im Folgenden dargelegt werden wird.

1.      Gegenstand, Ziele und Mittel des humanitären Völkerrechts

29.      In seinem Gutachten „Zulässigkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen oder seiner Androhung“ definiert der IGH das humanitäre Völkerrecht als einheitliches und „komplexes System“, in dem die zwei Zweige des auf bewaffnete Konflikte anwendbaren Rechts zusammenfließen, nämlich das „Haager Recht“(24), das „die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs [kodifiziert], die Rechte und Pflichten der Kriegführenden bei der Durchführung von Operationen festlegt und die Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes in internationalen bewaffneten Konflikten beschränkt“, und das „Genfer Recht“, insbesondere die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und die Zusatzprotokolle aus 1977(25), „das die Opfer des Krieges, die außer Gefecht befindlichen Angehörigen der Streitkräfte und die Personen, die nicht an den Feindseligkeiten teilnehmen, schützt“(26).

30.      Nach einem oft zu seiner Bezeichnung verwendeten Ausdruck ist das humanitäre Völkerrecht also ein „Recht im Krieg“ (ius in bello), das aus humanitären Gründen die Auswirkungen bewaffneter Konflikte begrenzen will, indem es sowohl Beschränkungen in Bezug auf die Kriegsmittel und ‑methoden vorsieht als auch bestimmte Kategorien von Personen und Gütern schützt.

31.      So sehen die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949, die aus einer Überarbeitung der drei im Jahr 1929 unterzeichneten Abkommen hervorgegangen sind, vor, dass Personen, die nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen, wie Zivilpersonen, ärztliches oder geistliches Personal, und Personen, die nicht mehr daran teilnehmen, wie verwundete oder kranke Kombattanten, Schiffbrüchige und Kriegsgefangene, das Recht auf Achtung ihres Lebens und ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit haben, über Rechtsgarantien verfügen und unter allen Umständen geschützt und mit Menschlichkeit, ohne jede Benachteiligung, behandelt werden müssen. Jedes dieser Abkommen enthält eine Bestimmung über „schwere Verletzungen“ und legt die Verletzungen der Abkommen fest, für die unter den Vertragsstaaten eine verpflichtende allgemeine Zuständigkeit zur Ahndung besteht(27).

32.      Die Grundsätze nach den vier Genfer Abkommen aus 1949, die zunächst nur zur Anwendung im Fall internationaler Konflikte bestimmt waren, wurden anschließend auf Bürgerkriegssituationen ausgedehnt.

a)      Gemeinsamer Art. 3 der Genfer Abkommen und Ausdehnung ihrer Grundsätze auf nicht internationale bewaffnete Konflikte

33.      Im Jahr 1949 wurden die drei damals geltenden Genfer Abkommen von 1929 auf Initiative des IKRK überarbeitet, und ein viertes Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen wurde unterzeichnet. Eine der wichtigsten Änderungen war die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der vier Abkommen auf Fälle bewaffneter Konflikte, „[die] keinen internationalen Charakter aufweis[en]“(28).

34.      Der Diskussion über den Wortlaut des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen, der diese Ausdehnung kodifiziert, wurden 25 Sitzungen der Diplomatischen Konferenz gewidmet, die sich schließlich auf einen Kompromisstext einigte. Anders als der bei der XVII. Internationalen Rotkreuz-Konferenz in Stockholm vorgelegte Entwurf, der den Ausgangspunkt der Diskussionen darstellte, sah der schließlich angenommene Text im Fall eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nur die Anwendung der in dem Artikel ausdrücklich aufgeführten Grundsätze vor. Da diese Bestimmung nur auf innerstaatliche bewaffnete Konflikte anwendbar ist und sämtliche auf diese Konflikte anwendbaren Grundsätze festlegt, wurde sie als ein „Miniaturübereinkommen“(29) bezeichnet.

35.      Bei den Diskussionen zu diesem Art. 3 war die Hauptsorge der an der Diplomatischen Konferenz teilnehmenden Staaten, dass die Genfer Abkommen vom 12. August 1949 „auf alle Arten von Aufständen, Rebellionen, Anarchie, Zerfall des Staates oder schlichten Banditenwesens“ angewandt werden könnten, was den dafür Verantwortlichen erlaubt hätte, sich auf ihre Eigenschaft als Kriegführende zu berufen, um rechtliche Anerkennung zu fordern und um sich den Folgen ihrer Machenschaften zu entziehen. Diese Befürchtung spiegelte sich an den im Laufe der Konferenz erstatteten Vorschlägen wider, die die Anwendung der Abkommen auf innerstaatliche Konflikte von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen wollten, wie die Anerkennung der Kriegführendeneigenschaft der Gegenpartei durch den Vertragsstaat, der Umstand, dass diese über organisierte Streitkräfte und eine für ihre Taten verantwortliche Macht verfüge, dass diese mit einer Zivilbehörde ausgestattet sei, die de facto die Macht über die Bevölkerung auf einem bestimmten Teil des Staatsgebiets ausübe, oder dass diese über ein System verfüge, das die Merkmale eines Staates aufweise, und schließlich der Umstand, dass die Regierung des Vertragsstaats gezwungen sei, die ordentliche Armee einzusetzen, um die Aufständischen zu bekämpfen(30).

36.      Keine dieser Voraussetzungen wurde in den endgültigen Text übernommen, und der Wortlaut des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen beschränkt sich auf die Klarstellung, dass er „im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht“, anzuwenden ist. Das Ziel der Abgrenzung der Tragweite dieser Bestimmung wurde dadurch verfolgt, dass die Anwendung dieser Abkommen allein auf die darin ausdrücklich aufgeführten Grundsätze beschränkt wurde, und nicht durch die Definition der Fälle, auf die sie anwendbar ist.

37.      Das Fehlen einer Definition des Begriffs des bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist, im gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen macht ihn potenziell auf jede Art innerstaatlicher bewaffneter Konflikte anwendbar. Aus diesem Grund stieß die Umsetzung dieses Artikels in der Praxis auf Probleme, die oft zu seiner Nichtanwendung führten.

i)      Die Definition des Begriffs innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im humanitären Völkerrecht

38.      Eine Definition des Begriffs „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“ wurde erst im Jahr 1977 mit dem Protokoll II in das System der Genfer Abkommen eingeführt, das vereinbart wurde, um den gemeinsamen Art. 3 dieser Abkommen weiterzuentwickeln und zu ergänzen, „ohne die bestehenden Voraussetzungen für seine Anwendung zu ändern“.

39.      Wie sich aus seinem Art. 1(31) ergibt, ist der sachliche Anwendungsbereich des Protokolls II enger als der des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen. Da der in dieser Bestimmung verkörperte Besitzstand jedoch ausdrücklich beibehalten wurde, ist diese weiterhin auf Konflikte anzuwenden, die nicht die Merkmale nach Art. 1 des Protokolls II aufweisen und daher von diesem nicht abgedeckt sind. Das ist z. B. bei Konflikten zwischen mehreren rivalisierenden Gruppen ohne Einschreiten der Regierungsstreitkräfte der Fall, die, wie sich aus Art. 1 Abs. 1 des Protokolls II ergibt, nicht in dessen sachlichen Anwendungsbereich fallen, da er nur auf Auseinandersetzungen zwischen Streitkräften der Regierung und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen anzuwenden ist.

40.      Im Protokoll II ist der Begriff „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“ zunächst negativ definiert. Nach seinem Art. 1 sind zum einen Konflikte, die von Art. 1 des Protokolls I – der internationale bewaffnete Konflikte definiert – erfasst sind, und zum anderen „Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen“ (vgl. jeweils Abs. 1 und Abs. 2 von Art. 1 des Protokolls II) keine solchen Konflikte.

41.      Derselbe Artikel nennt sodann in seinem Abs. 1 gewisse objektive Kriterien zur Feststellung von Fällen nicht internationaler bewaffneter Konflikte. Nach diesen – drei – Kriterien müssen die Aufständischen erstens über eine verantwortliche Führung verfügen, zweitens eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen können, und drittens das Protokoll anzuwenden vermögen.

42.      Sowohl nach Art. 1 des Protokolls II als auch nach dem gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen kann ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt nur vorliegen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich ein gewisses Ausmaß an Intensität des Konflikts und ein gewisses Ausmaß an Organisation der Teilnehmer an den Kämpfen(32). Zur Feststellung, ob diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, wird gewöhnlich, im Rahmen einer umfassenden Beurteilung von Fall zu Fall, eine Reihe von Indikatoren berücksichtigt.

43.      Für die Voraussetzung in Bezug auf die Intensität können der kollektive Charakter des Konflikts und die Mittel, die die Regierung zur Wiederherstellung der Ordnung einsetzt, eine Rolle spielen, insbesondere die Tatsache, dass sie gegen die Aufständischen die Streitkräfte anstelle der Polizei einsetzen muss(33). Die Dauer des Konflikts, die Häufigkeit und Intensität der Gewalthandlungen, die Ausdehnung des betroffenen Gebiets, die Art der verwendeten Waffen, die Stärke der entsandten Truppen und die angewandte Strategie, die freiwillige oder erzwungene Umsiedlung der Zivilbevölkerung, die Kontrolle über das Gebiet durch die involvierten bewaffneten Gruppen, die Unsicherheit, die Anzahl der Opfer und das Ausmaß des Schadens sind ebenso Kriterien, die verwendet wurden, um das Ausmaß der Intensität des Konflikts zu beurteilen(34). Das Erfordernis der Berücksichtigung der Besonderheiten jedes Falles bringt es mit sich, dass diese Kriterien weder abschließend aufgezählt werden können noch kumulativ angewandt werden müssen(35).

44.      Die zweite Voraussetzung betreffend das Ausmaß an Organisation der Konfliktparteien wird gewöhnlich hinsichtlich der Regierungsstreitkräfte als erfüllt angesehen. Hingegen gelten für die Anwendung des Protokolls II und des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen in Bezug auf das Ausmaß an Organisation der Aufständischen zwei verschiedene Standards. Ersteres verlangt ein besonders hohes Organisationsniveau und führt die Voraussetzung der Kontrolle des Gebiets ein(36), während es für die Anwendung des Letzteren genügt, dass die Konfliktparteien über eine „gewisse Führungsstruktur“(37) verfügen und die Fähigkeit haben, dauerhafte militärische Operationen zu führen(38).

45.      Abgesehen von den zwei oben angeführten Voraussetzungen enthält die Definition des „nicht internationalen bewaffneten Konflikts“ des ICTY eine dritte Voraussetzung zeitlicher Art. Im Urteil Tadic, auf das sich der Conseil du contentieux des étrangers im Ausgangsverfahren stützt, hat der ICTY entschieden, dass „ein bewaffneter Konflikt vorliegt, wenn zwischen Staaten die Streitkräfte eingesetzt werden oder ein anhaltender bewaffneter Konflikt zwischen den Regierungsbehörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen innerhalb eines Staates besteht“(39). Dieselbe Voraussetzung wird in Art. 8 Abs. 2 Buchst. f des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)(40) genannt. Nach dieser Bestimmung, die sich an die Rechtsprechung des ICTY anlehnt, sind für die Anwendung von Art. 8 Abs. 2 Buchst. e(41) dieses Statuts unter „bewaffnete[n] Konflikten, die keinen internationalen Charakter haben“ „bewaffnete Konflikte, die im Hoheitsgebiet eines Staates stattfinden, wenn zwischen den staatlichen Behörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt besteht“(42), zu verstehen.

46.      Es ist hervorzuheben, dass die Anwendung eines solchen Kriteriums der Dauer in einem klaren Kontext vorgesehen wurde, nämlich für die Definition der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die in die Zuständigkeit des IStGH und der anderen internationalen Strafgerichte fallen, und dass selbst in diesem Kontext dieses Kriterium, zumindest im Rahmen des Statuts des IStGH, nur in Bezug auf die Strafbarkeit der Verstöße, die nicht unter den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen fallen, einschlägig erscheint(43).

47.      Ferner wird auch in der im Jahr 2008 angenommenen Stellungnahme des IKRK zur Darstellung der „herrschenden Meinung“ betreffend die Definition des Begriffs des nicht internationalen bewaffneten Konflikts im humanitären Völkerrecht Bezug auf die Dauer des Konflikts genommen(44). Ein solcher Konflikt wird darin definiert als ein „lang anhaltender Zusammenstoß zwischen Streitkräften der Regierung und den Streitkräften einer oder mehrerer bewaffneter Gruppen, oder solcher bewaffneter Gruppen untereinander, die im Hoheitsgebiet eines Staates stattfinden … Diese bewaffneten Zusammenstöße müssen ein Mindestmaß an Intensität erreichen, und die am Konflikt beteiligten Parteien müssen ein Mindestmaß an Organisation aufweisen“.

48.      Wie oben ausgeführt sind die Voraussetzungen für einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt in Fällen „innerer Unruhen“ und „innerer Spannungen“ nicht erfüllt. Diese beiden Begriffe werden in Art. 1 Abs. 2 des Protokolls II genannt, ohne definiert zu werden. Ihr Inhalt wurde in den zur Vorbereitung der Diplomatischen Konferenz 1971 ausgearbeiteten Dokumenten vom IKRK dargelegt(45). Die „inneren Unruhen“ werden darin definiert als „Fälle, in denen ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt als solcher nicht vorliegt, es jedoch innerhalb des Landes zu Zusammenstößen kommt, die ein gewisses Ausmaß an Schwere oder Dauer aufweisen und Gewalttaten mit sich bringen. Letztere können verschiedene Formen annehmen, vom spontanen Entstehen von Revolten bis zum Kampf zwischen mehr oder weniger organisierten Gruppen und der Regierung. In diesen Fällen, die nicht notwendigerweise in einen offenen Kampf ausarten, setzt die Regierung große Polizeiaufgebote oder sogar die Streitkräfte ein, um die innere Ordnung wiederherzustellen. Die große Zahl der Opfer machte die Anwendung eines Minimums an humanitären Regeln erforderlich“. Die „inneren Spannungen“ umfassen „Fälle schwerer (politischer, religiöser, rassischer, sozialer, wirtschaftlicher usw.) Spannungen, aber auch Folgen eines bewaffneten Konflikts oder innerer Unruhen. Diese Fälle weisen eine oder mehrere oder sogar alle der folgenden Eigenschaften auf: Verhaftungen in großem Umfang, eine große Zahl ‚politischer‘ Gefangener, die Wahrscheinlichkeit von Misshandlungen und unmenschlichen Haftbedingungen, die Aussetzung der grundlegenden rechtsstaatlichen Garantien, aufgrund der Ausrufung eines Ausnahmezustands oder aus faktischen Gründen, Behauptungen über das Verschwinden von Personen“.

49.      Die Begriffe „innere Unruhen“ und „innere Spannungen“ bilden in Bezug auf den Begriff des nicht internationalen bewaffneten Konflikts die Untergrenze für die Anwendung des Protokolls II und des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen(46). Bisher wurden diese Fälle nicht in den Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts einbezogen.

ii)    Die Funktion des Begriffs des nicht internationalen bewaffneten Konflikts im humanitären Völkerrecht

50.      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass der Begriff des nicht internationalen bewaffneten Konflikts im humanitären Völkerrecht mehrere Funktionen erfüllt und seine Definition in diesem Zusammenhang den besonderen Zielen dieses Bereichs des Völkerrechts und des internationalen Strafrechts entspricht.

51.      Er hat vor allem die Funktion, eine Kategorie von Konflikten zu bezeichnen, für die das humanitäre Völkerrecht gilt. Im Hinblick auf diese Abgrenzungsfunktion in Bezug auf den Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts verfolgt die Definition des Begriffs des nicht internationalen bewaffneten Konflikts das grundlegende Ziel, sicherzustellen, dass der Schutz der Opfer dieser Konflikte nicht von einer willkürlichen Entscheidung der betreffenden Behörden abhängt. Sie bringt daher die Aufstellung einiger objektiver materiell-rechtlicher Kriterien mit sich, deren Funktion es hauptsächlich ist, subjektive Ermessensspielräume möglichst zu beseitigen und die Berechenbarkeit des humanitären Völkerrechts zu verbessern. Die organisatorischen Kriterien verfolgen außerdem das Ziel, die Fälle zu bestimmen, in denen die Anwendung des humanitären Völkerrechts konkret möglich ist, da die Konfliktparteien über eine Mindestinfrastruktur verfügen, die es ihnen ermöglicht, seine Einhaltung zu gewährleisten.

52.      Abgesehen von der Abgrenzung des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts dient der in Rede stehende Begriff auch dazu, die auf den Konflikt anwendbare rechtliche Regelung zu bestimmen. Wie oben ausgeführt unterscheidet sich diese Regelung nicht nur danach, ob der Konflikt eine internationale oder innerstaatliche Dimension annimmt(47), sondern auch danach, ob er die engere Definition nach dem Protokoll II oder die weitere nach dem gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen erfüllt. Außer einem gemeinsamen Kern bezüglich der Mindestvoraussetzungen zur Intensität und zur Organisation der Konfliktparteien scheint kein einheitlicher Begriff des „nicht internationalen bewaffneten Konflikts“ im humanitären Völkerrecht zu existieren, da die Kriterien zur Bestimmung seines Inhalts in Abhängigkeit vom anzuwendenden Abkommen unterschiedlich sind.

53.      Wie ich oben erwähnt habe, stellen schließlich unter bestimmten Voraussetzungen während eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht begangene Handlungen „Kriegsverbrechen“ dar, die nach internationalem Strafrecht(48) verfolgt werden können. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit, die sich aus der Begehung dieser Handlungen ergeben kann, verlangt, dass der Inhalt der Begriffe, die gemeinsam den Straftatbestand bilden, hinreichend substantiiert wird. Die im humanitären Völkerrecht für die Definition des Begriffs des nicht internationalen bewaffneten Konflikts verwendeten organisatorischen Kriterien sind in diesem Zusammenhang, in dem es darum geht, die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Personen auf den verschiedenen Ebenen der Befehlskette der betreffenden Gruppe festzustellen, von besonderer Bedeutung.

54.      Abschließend weise ich allgemeiner darauf hin, dass der Prozess der Erarbeitung des Begriffs des nicht internationalen bewaffneten Konflikts im humanitären Völkerrecht in Etappen erfolgt, die den gegenwärtigen Stand der Anwendung und der Entwicklung dieses Bereichs des Völkerrechts widerspiegeln. Dabei ist in jeder Etappe das Erfordernis, zu einer Übereinkunft zu gelangen, um die Wirksamkeit des Systems zu wahren, vorrangig, was unvermeidlich, wie es die Arbeiten der Diplomatischen Konferenzen zeigen, die zum Erlass des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen und des Protokolls II geführt haben, zu Kompromisslösungen führt.

55.      Im Ergebnis entspricht der Begriff des nicht internationalen bewaffneten Konflikts im humanitären Völkerrecht besonderen Zielen, die diesem Bereich des Völkerrechts eigen und, wie im Folgenden dargelegt werden wird, der Regelung für die Gewährung subsidiären Schutzes nach dem Unionsrecht fremd sind.

2.      Gegenstand, Ziele und Mittel des Mechanismus subsidiären Schutzes

56.      Die Anerkennungsrichtlinie stellt den ersten Schritt des Prozesses der Harmonisierung der Asylpolitik der Union dar. Dieser Prozess soll zur Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems als „wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offensteht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der [Union] um Schutz ersuchen“, führen (erster Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie)(49).

57.      Das wesentliche Ziel dieses ersten Schritts war es insbesondere, „ein Mindestmaß an Schutz in allen Mitgliedstaaten für Personen zu gewährleisten, die tatsächlich Schutz benötigen“(50), und Unterschiede zwischen den Rechtsvorschriften und Praktiken der Mitgliedstaaten in diesem Bereich abzubauen(51).

58.      Die Schlussfolgerung 14 des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, die durch die Anerkennungsrichtlinie umgesetzt werden soll, empfahl u. a. den Erlass von „Maßnahmen über die Formen des subsidiären Schutzes“, die die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft ergänzen und einer Person, die zwar nicht die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, die aber dennoch des internationalen Schutzes bedarf, einen „angemessenen Status“ verleihen sollten.

59.      Im Einklang mit dieser Schlussfolgerung weist die Anerkennungsrichtlinie darauf hin, dass die Maßnahmen zur Gewährung subsidiären Schutzes als Ergänzung der Schutzregelung anzusehen sind, die durch das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951(52) in der durch das New Yorker Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 ergänzten Fassung geschaffen wurde(53).

60.      Konkret werden nach dem System der Anerkennungsrichtlinie die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus als zwei separate, aber eng miteinander verknüpfte Komponenten des Begriffs des internationalen Schutzes angesehen(54). Aufgrund dieses integrierten Ansatzes können die Bestimmungen dieser Richtlinie, ergänzt durch das System der Richtlinie 2001/55/EG(55), die für den Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen einen vorübergehenden Schutz vorsieht (im Folgenden: Richtlinie über den vorübergehenden Schutz), als ein tendenziell vollständiges Regelungssystem ausgelegt werden, das jeden Fall abdecken kann, in dem ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der in seinem Herkunftsland keinen Schutz erhalten kann, sich im Unionsgebiet auf internationalen Schutz beruft.

61.      Dafür spricht im Übrigen der Wortlaut von Art. 78 Abs. 1 AEUV, der Art. 63 Abs. 1 EG ersetzt hat und die Rechtsgrundlage der neuen Anerkennungsrichtlinie darstellt. Danach „[entwickelt d]ie Union … eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll“.

62.      Im Rahmen dieses Regelungssystems soll der Mechanismus des subsidiären Schutzes nach Art. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie jeder Person internationalen Schutz gewähren, die den Flüchtlingsstatus nicht in Anspruch nehmen kann, die jedoch, würde sie zurückgeführt, tatsächlich Gefahr liefe, dass eines ihrer fundamentalsten Grundrechte verletzt wird(56).

63.      Aus den Materialien zur Anerkennungsrichtlinie ergibt sich, dass der Begriff des subsidiären Schutzes im Wesentlichen auf den völkerrechtlichen Verträgen im Bereich der Menschenrechte mit dem größten Bezug zu diesem Bereich beruht, insbesondere Art. 3 der EMRK, Art. 3 des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1984 angenommenen Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und Art. 7 des am 16. Dezember 1966 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte(57). Die Wahl der Kategorien der Begünstigten dieses Schutzes orientiert sich seinerseits, neben der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „als einem rechtlich bindenden Rahmen“, an den „subsidiären“ oder „komplementären“ Schutzsystemen, die die Mitgliedstaaten entwickelt haben(58).

64.      Aus den Materialien zur Anerkennungsrichtlinie ergibt sich auch, dass es stets darum ging, Personen in die Kategorien der Begünstigten subsidiären Schutzes einzubeziehen, die aufgrund der in ihrem Herkunftsland vorherrschenden allgemeinen Gewalt und Unsicherheit nicht mehr dorthin zurückkehren können.

65.      Diese Einbeziehung sollte zum einen das System der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz ergänzen und eine Aufnahme dieser Personen auch außerhalb eines Massenzustroms sicherstellen(59) und entsprach zum anderen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach der die Ausweisung in ein Land, in dem ein hohes Gefahren- und Unsicherheits- und/oder Gewaltniveau vorherrscht, als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne der EMRK angesehen werden könnte(60).

3.      Zwischenergebnis

66.      Aus alledem ergibt sich, dass zwar sowohl das humanitäre Völkerrecht als auch der Mechanismus des subsidiären Schutzes nach der Anerkennungsrichtlinie auf humanitären Erwägungen beruhen, dass sie jedoch unterschiedliche Zwecke und Ziele verfolgen.

67.      Während das humanitäre Völkerrecht vor allem die Auswirkung bewaffneter Konflikte auf die betroffene Bevölkerung verringern soll, richtet sich der subsidiäre Schutz an Personen, die den Konfliktort – wegen des Konflikts oder aus anderen Gründen(61) – verlassen haben und wegen der vorherrschenden allgemeinen Gewaltsituation nicht dorthin zurückkehren können.

68.      Das humanitäre Völkerrecht richtet sich im Wesentlichen an den oder die unmittelbar am Konflikt beteiligten Staaten, während der subsidiäre Schutz eine Form des „Ersatzschutzes“ darstellt, den ein am Konflikt nicht beteiligter Staat dann gewährt, wenn keine realistische Möglichkeit besteht, dass die betreffende Person in ihrem Herkunftsland Schutz erhält.

69.      Das humanitäre Völkerrecht wirkt auf zwei Ebenen, nämlich indem es das Verhalten in einer kriegerischen Auseinandersetzung regelt und den kriegführenden Parteien einen gewissen Verhaltenskodex in Bezug auf die Opfer des Konflikts vorschreibt. Es handelt sich um ein Kriegsrecht, das als solches neben den Schutzbedürfnissen der Konfliktopfer die Erfordernisse militärischer Art der einander gegenüberstehenden Parteien berücksichtigt. Der subsidiäre Schutz ist hingegen vor allem ein auf dem Grundsatz der Nichtzurückweisung beruhender Schutz, dessen entscheidendes Tatbestandsmerkmal der tatsächliche Bedarf des Antragstellers an internationalem Schutz ist.

70.      Schließlich sind Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht auf internationaler Ebene strafbar und begründen eine individuelle strafrechtliche Verantwortung. Daher ist das humanitäre Völkerrecht sehr eng mit dem internationalen Strafrecht verknüpft, und diese beiden Bereiche des Völkerrechts beeinflussen einander gegenseitig. Eine solche Beziehung besteht hingegen beim Mechanismus subsidiären Schutzes nicht.

71.      Wegen dieser Unterschiede ist eine hermeneutische Kohärenz zwischen den Begriffen „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ nach Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie und „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“ des humanitären Völkerrechts nicht gerechtfertigt. Daraus folgt, dass aus dem Zusammenspiel zwischen der Unionsrechtsordnung und der Völkerrechtsordnung keine Verpflichtung abgeleitet werden kann, ersteren Begriff so auszulegen, dass seine Vereinbarkeit mit dem letzteren gewährleistet ist.

72.      Eine solche Verpflichtung ergibt sich auch nicht aus einem Verweis in der Anerkennungsrichtlinie auf das humanitäre Völkerrecht.

4.      Fehlender Verweis in der Anerkennungsrichtlinie auf das humanitäre Völkerrecht

73.      Im Einklang mit den von ihr verfolgten Zielen enthält die Anerkennungsrichtlinie mehrere Verweise auf völkerrechtliche Verträge, denen die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien angehören und die ihre Verpflichtungen gegenüber Personen bestimmen, die internationalen Schutz beantragen. Wie der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, liefern diese Verweise Hinweise darauf, wie die Bestimmungen dieser Richtlinie auszulegen sind(62).

74.      Neben der Genfer Konvention von 1951 und dem Protokoll von 1967, die nach dem dritten Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie „einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar[stellen]“, erwähnt die Richtlinie allgemein die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aufgrund der „völkerrechtlichen Instrumente[,] … nach denen eine Diskriminierung verboten ist“ (elfter Erwägungsgrund), und „Rechtsakte … im Bereich der Menschenrechte“ (25. Erwägungsgrund) sowie ihre Verpflichtungen im Bereich der Nichtzurückweisung (36. Erwägungsgrund und Art. 21 Abs. 1). Der 22. Erwägungsgrund bezieht sich auch auf die Präambel sowie die Art. 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen und auf die Resolutionen der Vereinten Nationen zu Antiterrormaßnahmen.

75.      Hingegen enthält diese Richtlinie keinen ausdrücklichen Verweis auf das humanitäre Völkerrecht. Weder in ihren Erwägungsgründen noch in einem ihrer Artikel werden Verträge aus diesem Gebiet des Völkerrechts angeführt(63).

76.      Zwar hatte die Kommission in der Begründung ihres Vorschlags für eine Richtlinie auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach humanitärem Völkerrecht als Grundlage für auf nationaler Ebene erlassene „subsidiäre“ oder „komplementäre“ Schutzsysteme Bezug genommen, doch wurde diese – im Übrigen mittelbare und sehr allgemeine – Bezugnahme schließlich nicht beibehalten(64). Auch der Vorschlag des Vorsitzes des Rates der Europäischen Union, in Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie einen Verweis auf das Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten sowie, auf die Stellungnahme des Juristischen Dienstes des Rates hin, auf dessen Anhänge und Protokolle einzufügen, wurde nicht angenommen.

77.      Daraus folgt, dass der Anerkennungsrichtlinie kein Hinweis auf eine Anlehnung des Begriffs des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ nach ihrem Art. 15 Buchst. c an den des „nicht internationalen bewaffneten Konflikts“ im humanitären Völkerrecht zu entnehmen ist. Das Fehlen jedes ausdrücklichen Verweises in dieser Richtlinie auf das humanitäre Völkerrecht sowie das Verfahren zu ihrer Annahme sind hingegen Anhaltspunkte, die gegen eine Auslegung dieser Bestimmung strikt im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht sprechen.

5.      Ergebnis zum ersten Teil der Vorlagefrage

78.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass der Begriff des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ nach Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie gegenüber dem entsprechenden Begriff im humanitären Völkerrecht autonom auszulegen ist.

79.      Die Autonomie von Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie gegenüber Art. 3 EMRK hat der Gerichtshof im Urteil Elgafaji bereits festgestellt. Er hat sich dabei auf den unterschiedlichen Inhalt der beiden Bestimmungen und auf systematische Erwägungen gestützt.

80.      Im vorliegenden Fall schlage ich dem Gerichtshof vor, diese Autonomie auch gegenüber dem humanitären Völkerrecht, insbesondere dem gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen, zu bestätigen und sich dafür auf die Verschiedenheit der Bereiche zu stützen, zu denen die Anerkennungsrichtlinie bzw. das humanitäre Völkerrecht gehören.

B –    Zum zweiten Teil der Vorlagefrage

81.      Mit dem zweiten Teil der Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass der Gerichtshof auf den ersten Teil dieser Frage antwortet, dass der Begriff „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ nach Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie gegenüber dem humanitären Völkerrecht autonom auszulegen ist, wissen, nach welchen Kriterien dann beurteilt wird, ob ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt.

82.      Den bisherigen Überlegungen können einige nützliche Anhaltspunkte für die Beantwortung dieses Teils der Frage entnommen werden.

83.      Erstens fügen sich die Unionsbestimmungen auf dem Gebiet des internationalen Schutzes, einschließlich der Bestimmungen der Anerkennungsrichtlinie über den subsidiären Schutz, in das Grundrechtsschutzsystem der Union ein. Sie orientieren sich an den wichtigsten, sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene ausgearbeiteten, Menschenrechtsinstrumenten und sind unter Berücksichtigung der ihnen zugrunde liegenden Werte auszulegen und anzuwenden.

84.      Zweitens bilden diese Bestimmungen ein tendenziell vollständiges System, dessen Ziel es ist, einen „gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität“(65) für alle diejenigen zu schaffen, die rechtmäßig in der Union um internationalen Schutz ersuchen. Sie sind so auszulegen und anzuwenden, dass die Flexibilität dieses Systems gewahrt wird.

85.      Drittens ist es das Ziel des Mechanismus des subsidiären Schutzes, jedem Drittstaatsangehörigen, der keinen europäischen Asylstatus erhält, aber internationalen Schutz benötigt, einen angemessenen Status anzubieten. Das Schutzbedürfnis des Antragstellers ist daher das wesentliche Kriterium, das die zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf Gewährung subsidiären Schutzes befasst sind, oder die Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, leiten soll.

86.      Um das Bestehen eines Schutzbedürfnisses festzustellen, das mit der Gefahr, die in Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie definierten Schäden zu erleiden, denen die um subsidiären Schutz ersuchende Person bei der Rückkehr in ihr Herkunftsland ausgesetzt wäre, verbunden ist, müssen die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte nach den Regeln des Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie die relevanten Umstände, die sowohl das Herkunftsland des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag als auch seine persönlichen Umstände kennzeichnen, insgesamt berücksichtigen.

87.      Ein solcher einzelfallbezogenen Ansatz, der es allein ermöglicht, das Bestehen eines tatsächlichen Schutzbedürfnisses zu beurteilen, steht der Festlegung von Kriterien entgegen, die die Situation im Herkunftsland des Antragstellers zwingend erfüllen muss, um als „innerstaatlicher bewaffneter Konflikt“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie definiert zu werden.

88.      Um auf den zweiten Teil der Vorlagefrage sachdienlich zu antworten, werde ich mich daher auf einige allgemeine methodische Hinweise beschränken.

89.      Im Kontext des Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie sind die Begriffe „willkürliche Gewalt“ und „bewaffneter Konflikt“ eng miteinander verbunden, wobei der Letztere im Wesentlichen zur Definition des Rahmens für den Ersteren dient.

90.      Außerdem ist, anders als im humanitären Völkerrecht, bei dem das Bestehen eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts allein den Ausschlag für die Anwendung des Schutzsystems gibt, der entscheidende Umstand für die Auslösung des Mechanismus des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. e die Gefahr für den Antragsteller aufgrund der allgemeinen Gewaltsituation in seinem Herkunftsland.

91.      Daraus folgt, dass im Kontext dieser Bestimmungen die Prüfung der Intensität der Gewalt und der sich daraus für den Antragsteller ergebenden Gefahr eine zentrale Rolle spielt, während die Feststellung und Beurteilung der Tatsachen, die dieser Gewalt zugrunde liegen, geringere Bedeutung haben.

92.      Daher kann die Anwendung von Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. e nicht allein deshalb von vornherein ausgeschlossen werden, weil die Situation im Herkunftsland des Antragstellers nicht alle im humanitären Völkerrecht oder im betreffenden Mitgliedstaat für die Definition des Begriffs des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verwendeten Kriterien erfüllt. Somit können Situationen, in denen z. B. die bewaffnete Gewalt einseitig ausgeübt wird, die Krieg führenden Parteien nicht über das vom humanitären Völkerrecht verlangte Ausmaß an Organisation verfügen oder nicht die Kontrolle über ein Gebiet ausüben, die Regierungsstreitkräfte nicht in den Konflikt eingreifen, es keine „lang anhaltenden Zusammenstöße“ im Sinne des humanitären Völkerrechts gibt, der Konflikt sich in seiner Endphase befindet oder die Situation im humanitären Völkerrecht unter die Begriffe „innere Unruhen und Spannungen“ fällt(66), nicht als automatisch vom Anwendungsbereich dieser Bestimmungen ausgeschlossen angesehen werden.

93.      Alle diese Situationen können von Art. 5 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie erfasst sein, wenn der Grad der willkürlichen Gewalt im betroffenen Drittstaat zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf subsidiären Schutz ein solches Niveau erreicht, dass eine tatsächliche Gefahr für das Leben oder die Unversehrtheit des Antragstellers im Fall der Rückführung besteht. Diese Beurteilung hat unter Berücksichtigung der Klarstellung des Gerichtshofs in Randnr. 39 des Urteils Elgafaji zu erfolgen, nach der nämlich „der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist“.

94.      Die vorgeschlagene Auslegung spiegelt den Ansatz wider, der anscheinend dem Urteil Elgafaji zu entnehmen ist, in dem der Gerichtshof, der im Hinblick auf die Klarstellung des Begriffs der „individuellen Bedrohung“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie angerufen worden war, eine ausdrückliche und unmittelbare Verknüpfung zwischen der Gefahr, die der den subsidiären Schutz Beantragende läuft, einen in diesem Artikel definierten Schaden zu erleiden, und dem Grad willkürlicher Gewalt, der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnet, festgestellt hat(67). Dieselbe Auslegung wird von den zuständigen Behörden und Gerichten einiger Mitgliedstaaten – insbesondere der Niederlande und des Vereinigten Königreichs, die im Anschluss an das Urteil Elgafaji ihre frühere Praxis geändert haben(68) – vertreten und scheint von der Kommission in der Begründung ihres Vorschlags zur Neufassung der Anerkennungsrichtlinie übernommen worden zu sein(69).

95.      Abschließend möchte ich anmerken, dass der in der mündlichen Verhandlung erfolgte Hinweis darauf, dass die Anerkennungsrichtlinie das Ziel einer Mindestharmonisierung verfolge, den Gerichtshof nicht veranlassen soll, einer einschränkenden Auslegung ihrer Bestimmungen den Vorzug zu geben, insbesondere wenn es darum geht, die Tragweite der Begriffe zu bestimmen, die für die Definition des Anwendungsbereichs der Regelung betreffend den subsidiären Schutz verwendet werden.

96.      Hingegen sind diese Begriffe unter Berücksichtigung der humanitären Erwägungen auszulegen, die diesem System zugrunde liegen und die Ausdruck der Werte der Achtung der Menschenwürde und der Wahrung der Menschenrechte sind, auf die sich nach Art. 2 EUV die Union gründet.

V –    Ergebnis

97.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Frage des Conseil d’État wie folgt zu antworten:

Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. e ist dahin auszulegen, dass

–        das Vorliegen ernsthafter und individueller Bedrohungen für das Leben oder die Unversehrtheit desjenigen, der den subsidiären Schutz beantragt, nicht von der Voraussetzung abhängig ist, dass die Situation in seinem Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, im Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts und insbesondere des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949, nämlich des Abkommens (I) zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, des Abkommens (II) zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, des Abkommens (III) über die Behandlung der Kriegsgefangenen und des Abkommens (IV) über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, eingestuft werden kann;

–        das Vorliegen dieser Bedrohungen anhand des Grades willkürlicher Gewalt zu beurteilen ist, der die Situation im Herkunftsland des Antragstellers oder, bei einem Staatenlosen, im Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf subsidiären Schutz kennzeichnet.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, und Berichtigung im ABl. 2005, L 204, S. 24).


3 – Nämlich das Abkommen (I) zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, das Abkommen (II) zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, das Abkommen (III) über die Behandlung der Kriegsgefangenen und das Abkommen (IV) über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten.


4 –      Nach Art. 2 Buchst. k der Anerkennungsrichtlinie bezeichnet der Ausdruck „Herkunftsland“ das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des früheren gewöhnlichen Aufenthalts. Diese Definition wird auch für die vorliegenden Schlussanträge verwendet.


5 –      Betrifft nicht die deutsche Fassung.


6 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9).


7Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584. Art. 48/4 wurde durch das Änderungsgesetz vom 15. September 2006 (Moniteur belge vom 6. Oktober 2006, S. 53533) eingefügt.


8 – Urteil Nr. 45.299.


9 – Urteil Nr. 61.019.


10 – Vgl. Urteil vom 2. Oktober 1995, Tadic, betreffend das Rechtsmittel der Verteidigung im Zwischenstreit über die Unzuständigkeitseinrede. Der ICTY wurde durch den UN-Sicherheitsrat gemäß Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen geschaffen und ist nach Art. 1 seines Statuts befugt, seine Gerichtsbarkeit über Personen auszuüben, die mutmaßlich für die seit 1991 im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawiens begangenen schweren Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht verantwortlich sind.


11 –      C‑465/07, Slg. 2009, I‑921.


12 – Nach diesem Artikel („Verbot der Folter“) „… darf [niemand] der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“.


13 – In diesem Sinne hat sich auch das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) in dem Dokument Safe at Last? Law and Practice in Selected EU Member States with Respect to Asylum-Seekers Fleeing Indiscriminate Violence, Juli 2001, S. 103 f., abrufbar auf der Internetseite des UNHCR unter der Adresse www.unhcr.org/refworld/docid/4e2ee0022.html, sowie in den Erläuterungen zu diesem Verfahren, die Herr Diakité den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen beigefügt hat, geäußert.


14 – Vgl. Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, Slg. 2010, I‑10979, Randnrn. 89 bis 94).


15 – Vgl. u. a. Urteile vom 18. Januar 1984, Ekro (327/82, Slg. 1984, 107, Randnr. 11), vom 19. September 2000, Linster (C‑287/98, Slg. 2000, I‑6917, Randnr. 43), vom 21. Oktober 2010, Padawan (C‑467/08, Slg. 2010, I‑10055, Randnr. 32), und vom 1. März 2012, González Alonso (C‑166/11, Randnr. 25). Vgl. auch Urteile vom 1. Februar 1977, Verbond van Nederlandse Ondernemingen (51/76, Slg. 1977, 113, Randnrn. 10 f.), vom 14. Januar 1982, Corman (64/81, Slg. 1982, 13, Randnr. 8), vom 2. April 1998, EMU Tabac u. a. (C‑296/95, Slg. 1998, I‑1605, Randnr. 30), vom 22. Mai 2003, Kommission/Deutschland (C‑103/01, Slg. 2003, I‑5369, Randnr. 33), sowie vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée et Rhône (C‑314/06, Slg. 2007, I‑12273, Randnr. 21).


16 – Vgl. Urteile vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation (C‑286/90, Slg. 1992, I‑6019, Randnr. 9), vom 16. Juni 1998, Racke (C‑162/96, Slg. 1998, I‑3655, Randnr. 45), vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, Slg. 2008, I‑6351, Randnr. 291), sowie, ebenfalls in diesem Sinne, vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a. (C‑366/10, Randnr. 101).


17 – Urteile Poulsen und Diva Navigation (Randnr. 9), Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (Randnr. 291), sowie Air Transport Association of America u. a. (Randnr. 123).


18 – Nach Art. 216 Abs. 2 AEUV binden die von der Union geschlossenen Übereinkünfte die Organe der Union und die Mitgliedstaaten.


19 – Vgl. Urteile Poulsen und Diva Navigation (Randnr. 10), zu den Regeln des Seevölkergewohnheitsrechts, und Racke (Randnr. 46), in dem es um die Regeln für die Beendigung vertraglicher Beziehungen wegen einer Änderung der Umstände gemäß Art. 62 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge ging. Dieselbe Aussage findet sich mit allgemeinerer Tragweite im Urteil Air Transport Association of America u. a. (Randnr. 101).


20 – Vgl. zu den von der Union geschlossenen Übereinkünften Urteile vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland (C‑61/94, Slg. 1996, I‑3989, Randnr. 52), vom 9. Januar 2003, Petrotub und Republica (C‑76/00 P, Slg. 2003, I‑79, Randnr. 57), vom 1. April 2004, Bellio F.lli (C‑286/02, Slg. 2004, I‑3465, Randnr. 33), vom 12. Januar 2006, Algemene Scheeps Agentuur Dordrecht (C‑311/04, Slg. 2006, I‑609, Randnr. 25), vom 8. März 2007, Thomson und Vestel France (C‑447/05 und C‑448/05, Slg. 2007, I‑2049, Randnr. 30), vom 7. Juni 2007, Řízení Letového Provozu (C‑335/05, Slg. 2007, I‑4307, Randnr. 16), sowie vom 6. Juli 2010, Monsanto Technology (C‑428/08, Slg. 2010, I‑6765, Randnr. 72).


21 – Vgl. in diesem Sinne zuletzt Simon, D., „La panacée de l’interprétation conforme: injection homéopathique ou thérapie palliative?“, De Rome à Lisbonne: les juridictions de l’Union européenne à la croisée des chemins, Mélanges en l’honneur de P. Mengozzi, Bruylant, 2013, S. 279, 285.


22 – Im Urteil vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a. (C‑308/06, Slg. 2008, I‑4057), hat der Gerichtshof jedoch den Grundsatz aufgestellt, dass er in Anbetracht des gewohnheitsrechtlichen Grundsatzes von Treu und Glauben, der Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts ist, und dem der loyalen Zusammenarbeit ein Übereinkommen, das die Union nicht bindet, dem jedoch alle Mitgliedstaaten als Vertragsparteien angehören, bei der Auslegung der Bestimmungen einer Richtlinie „berücksichtigen“ muss.


23 – Gutachten des IGH vom 8. Juli 1996, „Zulässigkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen oder seiner Androhung“ (ICJ Reports 1996, S. 226, Randnr. 79; vgl. auch Randnr. 80).


24 – Insbesondere die Abkommen vom 29. Juli 1899 und vom 18. Oktober 1907.


25 – Dieser Zweig des humanitären Völkerrechts geht auf den Aufruf von Henry Dunant in seinem Werk Eine Erinnerung an Solferino zurück, ein Zeugnis der Grausamkeiten, die er während der Schlacht von Solferino erlebt hatte. Nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1862 wurde das Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege gegründet, das zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) wurde, und im Jahr 1864 die erste Genfer Konvention unterzeichnet.


26 – Vgl. das in Fn. 23 angeführte Gutachten des IGH (Randnr. 75). Der vom IGH festgestellte Kern des humanitären Völkerrechts wird durch andere internationale Verträge vervollständigt, die den Gebrauch bestimmter Waffen und militärischer Taktiken verbieten oder bestimmte Kategorien von Personen und Gütern schützen, wie die Haager Konvention vom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten und ihre zwei Protokolle, die Biowaffenkonvention vom 10. April 1972, das Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1980 über konventionelle Waffen und seine fünf Protokolle, das Chemiewaffenübereinkommen vom 13. Januar 1993, das Übereinkommen von Ottawa von 1997 über das Verbot von Personenminen sowie das Zusatzprotokoll aus dem Jahr 2000 zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten.


27 – Konvention (I), Art. 50; Konvention (II), Art. 51; Konvention (III), Art. 130; Konvention (IV), Art. 147; vgl. auch Protokoll I, Art. 11 Abs. 4, Art. 85 und 86.


28 – Für eine Darstellung der verschiedenen Etappen, die zu dieser Ausdehnung führten, und der Diskussionen, die dazu bei der Diplomatischen Konferenz von 1949 stattfanden, vgl. den Kommentar zum gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen, abrufbar auf der Internetseite des IKRK unter http://www.icrc.org/applic/ihl/dih.nsf/vwTreaties1949.xsp.


29 – Ebd.


30 – Ebd.


31 – Vgl. Nr. 4 der vorliegenden Schlussanträge. Dieser Artikel ist „das Ergebnis eines heiklen, lange verhandelten Kompromisses, mit dem das Schicksal des gesamten Protokolls bis zum Zeitpunkt seiner endgültigen Annahme in der Vollversammlung der Konferenz verknüpft war“, vgl. Sandoz, Y., u. a., Commentaire des Protocoles additionnels du 8 juin 1977 aux Conventions de Genève, IKRK, Genf, 1986, abrufbar auf der Internetseite des IKRK unter http://www.icrc.org/applic/ihl/dih.nsf/vwTreaties1949.xsp.


32 – Die Relevanz der von den Krieg führenden Parteien verfolgten Ziele wurde im Urteil des ICTY vom 30. November 2005, The Prosecutor v. Fatmir Limaij (Ankläger gegen Fatmir Limaij; IT‑03-66-T, Randnr. 170), ausdrücklich ausgeschlossen.


33 – Vgl. IKRK, Comment le terme ‘conflit armé’ est-il défini en droit international humanitaire?, Stellungnahme, März 2008, abrufbar auf der Internetseite des IKRK unter http://www.icrc.org/fre/resources/documents/article/other/armed-conflict-article-170308.htm.


34 – ICTY, Urteil The Prosecutor v. Fatmir Limaij (insbesondere Randnrn. 136 bis 168).


35 – Vgl. Vité, S., „Typology of armed conflicts in international humanitarian law: legal concepts and actual situation“, International Review of the Red Cross, Bd. 91, Nr. 873, März 2009, S. 69 bis 94.


36 – Nach Sandoz, Y., u. a., Randnr. 4467, ist für diese Voraussetzung „eine gewisse Stabilität der Kontrolle eines, wenn auch bescheidenen, Teils des Gebiets“ erforderlich.


37 – In seinem Urteil The Prosecutor v. Fatmir Limaij betont der ICTY neben der hierarchischen Struktur der Befreiungsarmee des Kosovo ihre Organe und Methoden für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit, den Umstand, dass sie Regelungen zur Schaffung einer militärischen Befehlskette zwischen den verschiedenen Kommandoebenen eingeführt und eine u. a. für die Disziplin der Soldaten verantwortliche Militärpolizei eingesetzt hatte, ihre Fähigkeit, neue Soldaten zu rekrutieren und sie zu trainieren, das Tragen einer Uniform sowie ihre Rolle in den Verhandlungen mit Vertretern der Europäischen Gemeinschaften und der in Belgrad stationierten ausländischen Missionen (vgl. Randnrn. 94 bis 134).


38 – Vgl. IKRK, Comment le terme ‘conflit armé’ est-il défini en droit international humanitaire (Punkt II, 1, a).


39 – Randnr. 70, Hervorhebung nur hier. Diese Definition entspricht der ständigen Rechtsprechung des ICTY, vgl. z. B. Urteil The Prosecutor v. Fatmir Limaij (insbesondere Randnr. 84).


40 – Unterzeichnet am 17. Juli 1998 in Rom und am 1. Juli 2002 in Kraft getreten, Vereinte Nationen, United Nations Treaty Series, Bd. 2187, Nr. 38544.


41 – Diese Bestimmung führt die schweren Verstöße gegen die anwendbaren Gesetze und Gebräuche im bewaffneten Konflikt, der keinen internationalen Charakter hat, auf, die nicht unter die schweren Verletzungen gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen nach Art. 8 Abs. 2 Buchst. c fallen.


42 – Hervorhebung nur hier.


43 – In diesem Sinne, vgl. Vité, S., S. 81 bis 83.


44 – Das IKRK handelte auf der Grundlage des ihm von den Vertragsstaaten der Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über die Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung erteilten Mandats.


45 – Es handelt sich um die vom IKRK bei der ersten Sitzung der Konferenz der Regierungsexperten im Jahr 1971 vorgelegten Dokumente (vgl. Sandoz, Y., u. a.).


46 – Vgl. auch Art. 8 Abs. 2 Buchst. d und f des Statuts des IStGH.


47 – Im ersten Fall sind die gesamten Vorschriften der vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 sowie das Protokoll I anwendbar, während im zweiten Fall nur der diesen Abkommen gemeinsame Art. 3 und das Protokoll II anzuwenden sind. Die Grenze zwischen diesen beiden Konfliktarten verschwimmt jedoch bis zu ihrer Auflösung in der jüngeren Rechtsprechung des ICTY, vgl. dazu Sassoli, M., und Olson, L. M., „The judgment of the ICTY Appeals Chamber on the merits in the Tadic case“, International Review of the Red Cross, 2000, Nr. 839, abrufbar auf der Internetseite des IKRK unter der Adresse http://www.icrc.org/eng/resources/documents/misc/57jqqc.htm.


48 – Weder der gemeinsame Art. 3 der Genfer Abkommen noch das Protokoll II enthalten Bestimmungen, die Verstöße gegen diese Abkommen unter Strafe stellen. Im Übrigen ist das oben in Nr. 31 beschriebene System, das die vier Genfer Abkommen für die Verfolgung schwerer Verstöße vorsehen, nur auf internationale bewaffnete Konflikte anwendbar. Der ICTY ging jedoch in seinem in Fn. 10 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Urteil Tadic, betreffend das Rechtsmittel der Verteidigung im Zwischenstreit über die Unzuständigkeitseinrede, vom Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für einen Verstoß gegen das auf nicht internationale bewaffnete Konflikte anwendbare Recht aus (insbesondere Randnr. 134). Im Gegensatz zum Statut des ICTY sieht das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, der mit der Resolution 955 (1994) des UN-Sicherheitsrates vom 8. November 1994 geschaffen wurde, ausdrücklich die Zuständigkeit dieses Gerichts für schwere Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen und das Protokoll II (Art. 4) vor. Dasselbe gilt, wie oben ausgeführt, für das Statut des IStGH (siehe oben, Nr. 45).


49 – Zu den wesentlichen Schritten dieses Prozesses der Harmonisierung der Asylpolitik der Mitgliedstaaten der Union gehören die Programme, die beim Europäischen Rat von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, Den Haag vom 4. und 5. November 2004 und Stockholm vom 10. und 11. Dezember 2009 angenommen wurden, wobei Letzterem der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl vom 24. September 2008 vorausging.


50 – Vgl. den sechsten Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie (Hervorhebung nur hier).


51 – Vgl. den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen (KOM[2001] 510 endg., ABl. 2002, C 51E, S. 325, Abschnitt 2).


52United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 (1954).


53 – Vgl. insbesondere den 24. Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie.


54 – Vgl. in diesem Sinne die Erwägungsgründe 1, 5, 6 und 24 der Anerkennungsrichtlinie und Art. 1 sowie Art. 2 Buchst. a und e dieser Richtlinie.


55 – Richtlinie des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. L 212, S. 12).


56 – Vgl. in diesem Sinne Nr. 33 der Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro vom 9. September 2008 in der Rechtssache Elgafaji.


57 – Vgl. den Richtlinienvorschlag KOM(2001) 510 endg. (Abschnitt 3).


58 – Ebd. Vgl. auch den 25. Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie.


59 – Der Wortlaut des ursprünglich von der Kommission vorgeschlagenen Art. 15 Buchst. c ging in die Richtung, die Definition dieser Kategorie von Begünstigten subsidiären Schutzes an die des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz anzupassen, und erfasste jede Person, die „eine Bedrohung des Lebens, der Sicherheit oder der Freiheit infolge willkürlicher Gewalt aufgrund eines bewaffneten Konflikts oder infolge systematischer oder allgemeiner Menschenrechtsverletzungen“ befürchtete. Dieser Wortlaut wurde im Laufe des Verfahrens zur Annahme der Richtlinie lange diskutiert und war Gegenstand zahlreicher Änderungen, die schließlich dazu geführt haben, nur die Bezugnahme auf Situationen „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ beizubehalten.


60 – Vgl. u. a. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 30. Oktober 1991, Vilvarajah/Vereinigtes Königreich. Vgl. auch Note des Vorsitzes des Rates der Europäischen Union an den Strategischen Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen vom 25. September 2002, 12148/02, der den Erklärungen der Kommission beigefügt ist.


61 – Vgl. Art. 5 der Anerkennungsrichtlinie zum aus Nachfluchtgründen entstehenden Bedarf an Schutz.


62 – Urteile vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, Slg. 2010, I‑1493, Randnrn. 52 bis 54), vom 17. Juni 2010, Bolbol (C‑31/09, Slg. 2010, I‑5539, Randnrn. 37 f.), sowie B und D (Randnr. 78).


63 – Art. 12 Abs. 2 Buchst. a und Art. 17 Abs. 1 Buchst. a der Anerkennungsrichtlinie über Gründe für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling oder vom subsidiären Schutzstatus verweisen für die Bestimmung derjenigen Handlungen, die als Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden, auf die „internationalen Vertragswerke …, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen“.


64 – Vgl. den Richtlinienvorschlag KOM(2001) 510 endg. (Abschnitt 3).


65 – Vgl. Punkt 6.2 des Stockholmer Programms.


66 – Dazu weise ich darauf hin, dass die Anerkennungsrichtlinie in ihrem 26. Erwägungsgrund selbst eine Untergrenze für die Anwendung von Art. 15 Buchst. c festlegt, wonach „Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, … für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar[stellen], die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre“.


67 – Vgl. insbesondere die Randnrn. 33 bis 38 und den Tenor des Urteils.


68 – Vgl. UNHCR, Safe at Last? Law and Practice in Selected EU Member States with Respect to Asylum-Seekers Fleeing Indiscriminate Violence, S. 65 bis 71.


69 – Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, KOM(2009) 551 endg. In Abschnitt 2 dieses Vorschlags verweist die Kommission auf die Auslegung des Gerichtshofs im Urteil Elgafaji, um das Fehlen von Vorschlägen in Bezug auf die Klarstellung der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 15 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie, trotz zahlreicher Ersuchen in diesem Sinne, zu rechtfertigen.