Language of document : ECLI:EU:C:2013:677

Verbundene Rechtssachen C‑105/12 bis C‑107/12

Staat der Nederlanden

gegen

Essent NV (C‑105/12),

Essent Nederland BV (C‑105/12),

Eneco Holding NV (C‑106/12)

und

Delta NV (C‑107/12)

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)

„Vorabentscheidungsersuchen – Freier Kapitalverkehr – Art. 63 AEUV – Eigentumsordnungen – Art. 345 AEUV – Elektrizitäts- und Gasverteilernetzbetreiber – Privatisierungsverbot – Verbot von Verbindungen zu Unternehmen, die Elektrizität oder Gas erzeugen, liefern oder vertreiben – Verbot von Tätigkeiten, die dem Interesse des Netzbetriebs zuwiderlaufen könnten“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Oktober 2013

1.        Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Beschränkungen – Nationale Regelung, die die Privatisierung von Netzbetreibern und Verbindungen zu Unternehmen, die Elektrizität oder Gas erzeugen, liefern oder vertreiben, verbietet – Unzulässigkeit – Eigentumsordnungen – Grundsatz der Neutralität – Keine Auswirkung

(Art. 63 AEUV und 345 AEUV)

2.        Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Beschränkungen – Nationale Regelung, die die Privatisierung von Netzbetreibern und Verbindungen zu Unternehmen, die Elektrizität oder Gas erzeugen, liefern oder vertreiben, verbietet – Rechtfertigung mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses – Wettbewerb, Transparenz und Nichtdiskriminierung – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Verhältnismäßigkeit – Beurteilung durch das nationale Gericht

(Art. 65 AEUV und 345 AEUV)

1.        Art. 345 AEUV ist dahin auszulegen, dass er sich auf ein Privatisierungsverbot eines Mitgliedstaats erstreckt, wonach die Anteile an einem im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber unmittelbar oder mittelbar von öffentlichen Stellen, die in den nationalen Rechtsvorschriften festgelegt sind, gehalten werden müssen. Diese Auslegung hat jedoch nicht zur Folge, dass Art. 63 AEUV nicht auf nationale Bestimmungen anwendbar ist, nach denen die Privatisierung von Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreibern verboten ist oder zum einen Beteiligungen oder Beherrschungsverhältnisse zwischen Gesellschaften eines Konzerns, dem ein im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats tätiger Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber angehört, und Gesellschaften eines Konzerns, dem ein im gleichen Hoheitsgebiet Elektrizität oder Gas erzeugendes, lieferndes oder vertreibendes Unternehmen angehört, verboten sind sowie zum anderen die Vornahme von Handlungen und Tätigkeiten, die dem Interesse des betreffenden Netzbetriebs zuwiderlaufen könnten, durch einen solchen Betreiber oder den Konzern, dem er angehört, verboten ist.

Art. 345 AEUV bringt nämlich zum einen den Grundsatz der Neutralität der Verträge gegenüber der Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten zum Ausdruck. Die Verträge stehen insoweit grundsätzlich weder einer Verstaatlichung von Unternehmen noch deren Privatisierung entgegen. Ein Privatisierungsverbot, das es jeder Person des Privatrechts verwehrt, Anteile an einem im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber zu halten, fällt folglich unter Art. 345 AEUV. Diese Bestimmung führt jedoch nicht dazu, dass die in den Mitgliedstaaten bestehenden Eigentumsordnungen den Grundprinzipien des AEU-Vertrags, u. a. denen der Nichtdiskriminierung, der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit, entzogen sind

Zum anderen stellen Privatisierungsverbote, die bedeuten, dass kein privater Investor Anteile an einem im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber erwerben oder sich an dessen Kapital beteiligen kann, und die darüber hinaus ein Konzernverbot sowie ein Verbot von dem Interesse des Netzbetriebs potenziell zuwiderlaufenden Tätigkeiten einschließen, die grenzüberschreitende Investitionen verhindern oder qualitativen Beschränkungen unterwerfen, Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 AEUV dar.

(vgl. Randnrn. 29, 30, 33, 34, 36-38, 43-48, Tenor 1)

2.        Hinsichtlich eines unter Art. 345 AEUV fallenden Privatisierungsverbots, wonach die Anteile an einem im niederländischen Hoheitsgebiet tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber unmittelbar oder mittelbar von öffentlichen Stellen, die in den nationalen Rechtsvorschriften festgelegt sind, gehalten werden müssen, können die Ziele, die der Entscheidung des nationalen Gesetzgebers bezüglich der Eigentumsordnung zugrunde liegen, als zwingende Gründe des Allgemeininteresses berücksichtigt werden, um die Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zu rechtfertigen. Denn Art. 345 AEUV kann zwar eine Beschränkung der Vorschriften über den freien Kapitalverkehr nicht rechtfertigen; das bedeutet aber nicht, dass das Interesse, das der Entscheidung des Gesetzgebers hinsichtlich der Zuordnung des Eigentums am Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber in öffentliche oder private Trägerschaft zugrunde liegt, nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses berücksichtigt werden darf. Insbesondere die Gründe, die der Entscheidung hinsichtlich des Eigentumssystems in den unter Art. 345 AEUV fallenden nationalen Rechtsvorschriften zugrunde liegen, sind Faktoren, die als Gesichtspunkte berücksichtigt werden können, die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen können.

Hinsichtlich einer nationalen Regelung, die Elektrizitäts- und Gasverteilernetzbetreiber Verbindungen zu Unternehmen, die Elektrizität oder Gas erzeugen, liefern oder vertreiben, sowie Tätigkeiten, die dem Interesse des Netzbetriebs potenziell zuwiderlaufen, verbietet, können die Ziele, Quersubventionierungen im weiten Sinne einschließlich des Austauschs strategischer Informationen zu unterbinden, Transparenz auf den Märkten für Elektrizität und Gas zu schaffen und Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, als zwingende Gründe des Allgemeininteresses die durch die nationale Regelung hervorgerufenen Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen. Die betreffenden Beschränkungen müssen jedoch den verfolgten Zielen angemessen sein und dürfen nicht über das zu deren Erreichung Erforderliche hinausgehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

(vgl. Randnrn. 52, 53, 55, 66-68, Tenor 2)