Language of document : ECLI:EU:C:2017:561

Vorläufige Fassung

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTSHOFS

14. Juli 2017(*)

„Beschleunigtes Verfahren“

In den verbundenen Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 23. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2017 (C‑297/17) und am 30. Mai 2017 (C‑318/17 und C‑319/17), in den Verfahren

Bashar Ibrahim (C‑297/17),

Mahmud Ibrahim,

Fadwa Ibrahim,

Bushra Ibrahim,

Mohammad Ibrahim,

Ahmad Ibrahim (C‑318/17),

Nisreen Sharqawi,

Yazan Fattayrji,

Hosam Fattayrji (C‑319/17)

gegen

Bundesrepublik Deutschland


erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTSHOFS

nach Anhörung des Berichterstatters M. Ilešič und des Ersten Generalanwalts M. Wathelet

folgenden

Beschluss

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen u. a. die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a und Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten, die Herr Bashar Ibrahim (Rechtssache C‑297/17), Herr Mahmud Ibrahim, Frau Fadwa Ibrahim, Herr Bushra Ibrahim, die minderjährigen Kinder Mohammad und Ahmad Ibrahim (Rechtssache C‑318/17) sowie Frau Nisreen Sharqawi und ihre minderjährigen Kinder Yazan und Hosam Fattayrji (Rechtssache C‑319/17), staatenlose palästinensische Asylantragsteller aus Syrien, gegen die Bundesrepublik Deutschland führen, wegen Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt), mit denen ihnen ein Asylrecht mit der Begründung versagt wurde, dass sie aus einem sicheren Drittstaat eingereist seien.

3        Der Kläger in der Rechtssache C‑297/17, Herr Bashar Ibrahim, ist der Sohn von Herrn Mahmud Ibrahim und Frau Ibrahim sowie der Bruder der drei anderen Kinder der Letztgenannten, die zusammen mit ihren Eltern die Kläger in der Rechtssache C‑318/17 sind.

4        Die Kläger der Ausgangsverfahren verließen Syrien im Jahr 2012 und reisten nach Bulgarien ein, wo ihnen mit Entscheidungen vom 26. Februar 2013 und vom 7. Mai 2013 subsidiärer Schutz gewährt wurde. Im November 2013 reisten sie über Rumänien, Ungarn und Österreich nach Deutschland weiter, wo sie am 29. November 2013 erneut Asylanträge stellten.

5        Am 22. Januar 2014 richtete das Bundesamt Wiederaufnahmegesuche an die bulgarische staatliche Flüchtlingsverwaltung, die diese mit Schreiben vom 28. Januar 2014 und vom 10. Februar 2014 ablehnte. Die staatliche Flüchtlingsverwaltung war der Auffassung, dass aufgrund des den Klägern in Bulgarien bereits gewähren subsidiären Schutzes die Wiederaufnahmeregelung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, berichtigt im ABl. 2017, L 49, S. 50), in ihrem Fall nicht anwendbar sei. Außerdem sei die örtliche Grenzpolizei die zuständige bulgarische Behörde.

6        Mit Bescheiden vom 27. Februar 2014 und vom 19. März 2014 verneinte das Bundesamt ein Asylrecht der Kläger ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge, da sie aus einem sicheren Drittstaat eingereist seien, und ordnete ihre Abschiebung nach Bulgarien an.

7        Mit Urteilen vom 20. Mai 2014 und vom 22. Juli 2014 wies das Verwaltungsgericht (Deutschland) die Klagen gegen diese Bescheide ab.

8        Mit Urteilen vom 18. Februar 2016 hob das Oberverwaltungsgericht (Deutschland) die Abschiebungsanordnungen nach Bulgarien auf, wies die Berufungen im Übrigen aber zurück. Es führte aus, ein Asylrecht der Kläger in Deutschland sei zu Recht verneint worden, da sie aus einem sicheren Drittstaat eingereist seien. Die Abschiebungsanordnungen nach Bulgarien seien jedoch rechtswidrig, weil nicht feststehe, ob die Bereitschaft der Republik Bulgarien zur Übernahme der Kläger fortbestehe.

9        Die Kläger der Ausgangsverfahren legten beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) Revision gegen diese teilweise Ablehnung ihres Klagebegehrens ein. Sie machen insbesondere geltend, dass die durch die Verordnung Nr. 604/2013 eingeführte Regelung auch nach Gewährung subsidiären Schutzes weiterhin anwendbar sei. Dagegen ist die Bundesrepublik Deutschland der Ansicht, dass die Asylanträge nunmehr nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 des Asylgesetzes in der Fassung des am 6. August 2016 in Kraft getretenen Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. 2016 I S. 1939) unzulässig seien. Der Inhalt der Vorschrift entspreche dem von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32.

10      Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und den Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung zu befassen.

11      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. Juni 2017 sind die Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden, da die in diesen drei Rechtssachen vom vorlegenden Gericht gestellten Vorlagefragen identisch sind.

12      Das vorlegende Gericht hat beantragt, diese Rechtssachen gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

13      Nach dieser Bestimmung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen der Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

14      Zur Begründung seines Antrags führt das vorlegende Gericht an, dass das Bundesamt und die deutschen Verwaltungsgerichte derzeit mit mehreren Tausend Verfahren befasst seien, in denen sich, zumindest teilweise, dieselben Fragen wie die im Rahmen der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen stellten und die aufgrund dieser Ersuchen nicht abschließend entschieden werden könnten. Das Gericht weist insbesondere darauf hin, dass die nationalen Gerichte in zunehmender Zahl mit Fällen befasst würden, in denen die Antragsteller bereits internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat der Union genössen und nun einen neuen Antrag in Deutschland stellten. Es bedürfe rascher Klärung, ob diese Anträge in Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift, mit der Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 umgesetzt werde, auch dann abgelehnt werden könnten, wenn in dem Mitgliedstaat, der den Schutz gewährt habe, systemische Mängel oder unzumutbare Lebensbedingungen für Schutzberechtigte bestünden.

15      Das vorlegende Gericht fügt hinzu, die Kläger der Ausgangsverfahren hätten ein Interesse daran, dass die vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren beschleunigt durchgeführt würden. Auch wenn auf sie die Regeln der Verordnung Nr. 604/2013 zur schnellen Bestimmung des für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats nicht mehr anwendbar sein sollten, hätten sie nämlich ein vergleichbares Interesse wie die diesen Regeln unterfallenden Personen, rasch zu erfahren, ob sie bei nachträglichen Änderungen der Sachlage erreichen könnten, dass in Deutschland ihre Anträge auf „Aufstockung“ des zuvor in Bulgarien gewährten subsidiären Schutzes geprüft würden. Hierauf warteten sie nunmehr seit über drei Jahren.

16      Insoweit ist festzustellen, dass die vom vorlegenden Gericht angeführten Gründe nicht den Schluss zulassen, dass die in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung festgelegten Voraussetzungen in den vorliegenden Rechtssachen erfüllt sind.

17      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Tatsache, dass von der Entscheidung, die ein vorlegendes Gericht zu treffen hat, nachdem es den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, potenziell eine große Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen betroffen ist, als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen kann, der geeignet wäre, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens zu rechtfertigen (vgl. u. a. Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 5. Oktober 2012, Abdullahi, C‑394/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:623, Rn. 11, vom 5. Juni 2014, Sánchez Morcillo und Abril García, C‑169/14, EU:C:2014:1388, Rn. 10, und vom 27. Juni 2016, S., C‑283/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:482, Rn. 12).

18      Zwar hat der Gerichtshof auch entschieden, dass diese Erwägung dann nicht ausschlaggebend sein kann, wenn die Zahl der von den Vorlagefragen eines vorlegenden Gerichts betroffenen Rechtssachen so groß ist, dass die Ungewissheit über ihren Ausgang die Gefahr birgt, das Funktionieren des durch die Verordnung Nr. 604/2013 eingeführten Systems zu beeinträchtigen und infolgedessen das vom Unionsgesetzgeber in Anwendung von Art. 78 AEUV geschaffene gemeinsame europäische Asylsystem zu schwächen (vgl. Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. Februar 2017, Mengesteab, C‑670/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:120, Rn. 11, und Jafari, C‑646/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:138, Rn. 11).

19      Der Gerichtshof hat dies als gegeben angesehen, wenn zum einen die fragliche Rechtssache in einem noch nie dagewesenen Kontext steht, in dem im betreffenden Mitgliedstaat und in der Union unter Umständen, die denen dieser Rechtssache entsprechen, eine außergewöhnlich hohe Zahl von Asylanträgen gestellt wurde, und wenn die Rechtssache zum anderen Auslegungsschwierigkeiten aufwirft, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem genannten Kontext stehen und zentrale Aspekte des durch die Verordnung Nr. 604/2013 eingeführten Systems betreffen, zu denen sich der Gerichtshof erstmals äußern soll, so dass seine Antwort allgemeine Auswirkungen für die zur Zusammenarbeit bei der Anwendung der Verordnung aufgerufenen nationalen Behörden haben kann (vgl. Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. Februar 2017, Mengesteab, C‑670/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:120, Rn. 12 und 13, sowie Jafari, C‑646/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:138, Rn. 12 und 13).

20      So hat der Gerichtshof die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens in einer außergewöhnlichen Krisensituation zugelassen, in der die Ungewissheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Prüfung von Asylanträgen zuständigen Mitgliedstaats es den zuständigen nationalen Behörden nicht ermöglichte, die erforderlichen Verwaltungs- und Haushaltsmaßnahmen zu treffen, um im Einklang mit den Anforderungen, die sich sowohl aus dem Unionsrecht als auch aus den internationalen Verpflichtungen der betreffenden Mitgliedstaaten ergeben, die Prüfung dieser Anträge und die Aufnahme der gegebenenfalls in ihre Zuständigkeit fallenden Asylbewerber zu gewährleisten. In einer solchen Situation war die Durchführung des beschleunigten Verfahrens nämlich erforderlich, um die für das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen europäischen Asylsystems, das zur Beachtung von Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beiträgt, abträgliche Ungewissheit so schnell wie möglich zu beseitigen (vgl. Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. Februar 2017, Mengesteab, C‑670/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:120, Rn. 15 und 16, sowie Jafari, C‑646/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:138, Rn. 14 und 15).

21      Zu den Ausgangsverfahren ist jedoch festzustellen, dass sich den Vorlagebeschlüssen nicht entnehmen lässt, dass die Ungewissheit hinsichtlich der Antworten auf die vorgelegten Fragen vergleichbare Auswirkungen haben könnte wie die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Beschlusses angeführten.

22      Zweitens ist den Vorlagebeschlüssen zu entnehmen, dass die Kläger der Ausgangsverfahren nicht nur bereits einen von der Republik Bulgarien gewährten subsidiären Schutz genießen. Vor allem hat das Oberverwaltungsgericht die vom Bundesamt getroffene Anordnung der Abschiebung der Kläger nach Bulgarien aufgehoben. Daher droht ihnen derzeit keine unmittelbare Gefahr einer Überstellung.

23      Unter diesen Umständen können die Ungewissheit, die auf den Klägern lastet, und ihr zweifellos berechtigtes Interesse, so bald wie möglich den Umfang der ihnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte zu erfahren, angesichts des Ausnahmecharakters des beschleunigten Verfahrens keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der die Durchführung eines solchen Verfahrens zu rechtfertigen vermag (vgl. entsprechend Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. März 2017, X, C‑47/17 und C‑48/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:224, Rn. 20).

24      Dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, kann daher nicht stattgegeben werden.

Aus diesen Gründen hat der Präsident des Gerichtshofs beschlossen:

Der Antrag des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland), die Rechtssachen C297/17, C318/17 und C319/17 dem in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wird zurückgewiesen.

Luxemburg, den 14. Juli 2017

Der Kanzler

 

      Der Präsident

A. Calot Escobar

 

      K. Lenaerts


*      Verfahrenssprache: Deutsch.