Language of document : ECLI:EU:C:2011:694

Stellungnahme des Generalanwalts

JÁN MAZÁK

vom 26. Oktober 2011(1)

Rechtssache C‑329/11

Alexandre Achughbabian

gegen

Préfet du Val-de-Marne

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Paris [Frankreich])

„Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Nationale Regelung, die allein wegen der illegalen Einreise in das nationale Hoheitsgebiet oder des illegalen Aufenthalts dort eine Freiheitsstrafe vorsieht – Vereinbarkeit“





1.        Wie in der Rechtssache El Dridi(2) hat sich der Gerichtshof auch anlässlich der von der Cour d’appel de Paris (Frankreich) zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage im Zusammenhang mit dem nationalen Strafrecht mit der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(3) zu befassen.

2.        Im vorliegenden Fall wird die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage dem vorlegenden Gericht bei der Beurteilung weiterhelfen, ob ein gegen Herrn Achughbabian, einen Drittstaatsangehörigen, wegen illegalen Aufenthalts in Frankreich verhängter Freiheitsentzug rechtmäßig ist.

3.        Der Vorlageentscheidung zufolge und nach den Akten, die dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelt worden sind, lässt sich die Situation von Herrn Achughbabian wie folgt zusammenfassen:

–        Herr Achughbabian reiste am 9. April 2008 nach Frankreich ein.

–        Am 28. November 2008 wies das Office français de protection des réfugiés et apatrides (französisches Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen) seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung wegen Asyls zurück.

–        Am 27. Januar 2009 wies der Präfekt des Departements Val-d’Oise (Frankreich) den Antrag von Herrn Achughbabian auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurück und ordnete an, dass er das französische Hoheitsgebiet innerhalb eines Monats nach Zustellung dieser Entscheidung zu verlassen habe.

–        Am 24. Juni 2011 wurde Herr Achughbabian aufgegriffen und wegen des Verdachts des illegalen Aufenthalts gemäß Art. L. 621‑1 des Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht, im Folgenden: CESEDA) in Polizeigewahrsam genommen.

–        Am 25. Juni 2011 ordnete der Präfekt des Val-de-Marne die Abschiebung und die Inhaftnahme von Herrn Achughbabian an, der daraufhin in einer Hafteinrichtung inhaftiert wurde.

–        Am 27. Juni 2011 wies der Juge des libertés et de la détention (für die Anordnung der Untersuchungshaft zuständiger Richter) des Tribunal de grande instance de Créteil die vom Rechtsbeistand von Herrn Achughbabian in limine litis geltend gemachten Einreden der Nichtigkeit des Verfahrens, u. a. die Einrede der Nichtigkeit der Anordnung der Ingewahrsamnahme im Hinblick auf das Urteil El Dridi(4), zurück und genehmigte die Verlängerung der Haft von Herrn Achughbabian.

–        Der Rechtsbeistand von Herrn Achughbabian legte am 28. Juni 2011 bei der Cour d’appel de Paris gegen die Entscheidung des Tribunal de grande instance de Créteil aus mehreren Gründen Beschwerde ein, u. a. wiederum wegen Nichtigkeit der Anordnung der Ingewahrsamnahme im Hinblick auf das Urteil El Dridi(5).

4.        Unter diesen Umständen ordnete die Cour d’appel de Paris am 29. Juni 2011 die Freilassung von Herrn Achughbabian an, nachdem sie zuvor beschlossen hatte, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht die Richtlinie 2008/115 unter Berücksichtigung ihres Anwendungsbereichs einer nationalen Regelung wie Art. L. 621‑1 CESEDA entgegen, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegenüber einem Drittstaatsangehörigen allein wegen seiner illegalen Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats oder seines illegalen Aufenthalts dort vorsieht?

5.        Da dem Gerichtshof sehr daran gelegen ist, dass die französischen Gerichte so schnell wie möglich eine Antwort auf die Vorlagefrage erhalten, da dadurch mögliche rechtswidrige Freiheitsentziehungen verhindert oder verkürzt werden könnten, hat er beschlossen, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104a der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen, stattzugeben.

6.        Beim Gerichtshof sind schriftliche Erklärungen von Herrn Achughbabian, von der deutschen, der estnischen und der französischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission eingereicht worden.

7.        Herr Achughbabian, die dänische, die deutsche, die estnische und die französische Regierung sowie die Kommission waren in der mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2011 vertreten.

 Rechtlicher Rahmen

 Richtlinie 2008/115

8.        Wie sich sowohl aus ihrem zweiten und ihrem 20. Erwägungsgrund als auch aus ihrem Art. 1 ergibt, soll die Richtlinie 2008/115 gemeinsame Vorschriften zu Fragen der Rückkehr, der Abschiebung, der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, der Inhaftnahme und der Einreiseverbote in Bezug auf Drittstaatsangehörige festlegen, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten. Diese Vorschriften sollen als Grundlage einer wirksamen Abschiebungspolitik dienen und die Grundrechte beachten.

9.        Die Erwägungsgründe 5 und 17 der Richtlinie lauten:

„(5)      Mit dieser Richtlinie sollte eine Reihe von horizontalen Vorschriften eingeführt werden, die für sämtliche Drittstaatsangehörige gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen.

(17)      In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.“

10.      In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie ist deren Anwendungsbereich wie folgt bestimmt:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.“

11.      Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

12.      Im Einklang mit dem 10. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115, wonach der freiwilligen Rückkehr von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, der Vorzug vor der zwangsweisen Rückführung zu geben ist, bestimmt Art. 7 („Freiwillige Ausreise“) der Richtlinie:

„(1) Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. ...

(4)   Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“

13.      Nach Art. 8 („Abschiebung“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 „... ergreifen [die Mitgliedstaaten] alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist“.

14.      Nach Art. 20 der Richtlinie 2008/115 hatten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, um der Richtlinie, mit Ausnahme ihres Art. 13 Abs. 4, bis spätestens zum 24. Dezember 2010 nachzukommen.

 Nationales Recht

15.      Art. L. 621‑1 CESEDA lautet:

„Ein Ausländer, der unter Verstoß gegen Art. L. 211‑1 und L. 311‑1 nach Frankreich einreist oder sich dort aufhält oder der sich dort über die in seinem Visum bestimmte Dauer hinaus aufhält, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mit einer Geldstrafe von 3 750 Euro bestraft.

Das Gericht kann dem verurteilten Ausländer außerdem für eine Dauer von bis zu drei Jahren verbieten, nach Frankreich einzureisen oder sich dort aufzuhalten. Dieses Verbot führt von Rechts wegen zur Rückführung des Verurteilten, gegebenenfalls nach dem Verbüßen seiner Freiheitsstrafe.“

16.      Die Bestimmungen des Code de procédure pénale (Strafprozessordnung) über den Polizeigewahrsam sind durch das am 1. Juni 2011 in Kraft getretene Gesetz Nr. 2011‑392 vom 14. April 2011 geändert worden. Art. 62 des Code de procédure pénale in der auf den vorliegenden Fall anwendbaren Fassung lautet demnach:

„Eine Person, gegen die keinerlei glaubhafte Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung einer Straftat vorliegen, darf nur so lange festgehalten werden, wie es für ihre Vernehmung unbedingt erforderlich ist, in keinem Fall aber länger als vier Stunden.

Ergeben sich im Laufe der Vernehmung der Person glaubhafte Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens, kann sie von den Ermittlungsbeamten nur im Rahmen des Polizeigewahrsams festgehalten werden. Ihre Ingewahrsamnahme wird ihr dann gemäß Art. 63 bekanntgegeben.“

17.      Nach Art. 62‑2 des Code de procédure pénale in der auf den vorliegenden Fall anwendbaren Fassung „ist [der Polizeigewahrsam] eine Zwangsmaßnahme, die von einem Beamten der Kriminalpolizei unter richterlicher Aufsicht angeordnet wird und mit der eine Person, gegen die ein oder mehrere glaubhafte Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens vorliegen, zur Verfügung der Ermittlungsbeamten gehalten wird ...“.

 Würdigung

18.      Die Vorabentscheidungsfrage des vorlegenden Gerichts spiegelt die Situation in Frankreich nach dem Urteil El Dridi(6) wider, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet bleibt. Hinsichtlich der Frage, ob dieser Grundsatz auch für die Freiheitsstrafe gemäß Art. L. 621‑1 CESEDA wegen illegaler Einreise eines Ausländers nach Frankreich oder dessen illegalen Aufenthalts dort gilt, ist die Rechtsprechung in Frankreich uneinheitlich. Wenn ja, wäre eine Ingewahrsamnahme gemäß Art. 62‑2 des Code de procédure pénale, der für eine solche Zwangsmaßnahme einen Verdacht einer mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Straftat voraussetzt, auf der Grundlage von Art. L. 621‑1 CESEDA ausgeschlossen.

19.      Auch wenn sich diese Frage im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung des gegen Herrn Achughbabian verhängten Freiheitsentzugs, konkret durch seine Ingewahrsamnahme, stellt(7), ist klarzustellen, dass die Ingewahrsamnahme als strafrechtliche freiheitsentziehende Maßnahme und ihre Voraussetzungen nicht Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens sind. Ich bin mir aber durchaus der Tatsache bewusst, dass die Antwort des Gerichtshofs Auswirkungen auf die Möglichkeit haben kann, Personen, die einer Straftat gemäß Art. L. 621‑1 CESEDA verdächtigt werden, in Gewahrsam zu nehmen.

20.      Art. L. 621‑1 CESEDA und die Richtlinie 2008/115 haben ein Tatbestandsmerkmal gemein, nämlich den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats. Daran werden von diesen Regelungen aber unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft. Während Art. L. 621‑1 CESEDA dies als mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldbuße von 3 750 Euro bedrohte Straftat qualifiziert, sieht die Richtlinie 2008/115 die Einleitung eines verwaltungsrechtlichen Rückkehrverfahrens vor, bei dem gewährleistet sein muss, dass die persönliche Freiheit des Betroffenen nur zur Vorbereitung seiner Rückkehr und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung beschränkt werden kann, sofern keine anderen Maßnahmen, die ausreichen, jedoch mit weniger Zwang verbunden sind, wirksam angewandt werden können.

21.      Zwar sieht die französische Regelung bei einem illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen neben der strafrechtlichen Sanktion auch ein verwaltungsrechtliches Rückkehrverfahren vor. Dies wird dadurch belegt, dass Herr Achughbabian sich derzeit in einem Stadium eines solchen Verfahrens gemäß dem CESEDA befindet.

22.      Dieses Verfahren selbst ist jedoch nicht Gegenstand der Vorlagefrage, weshalb im Rahmen der vorliegenden Stellungnahme nicht geprüft wird, ob das Verwaltungsverfahren der Rückführung von Herrn Achughbabian gemäß den französischen Rechtsvorschriften den Anforderungen der Richtlinie 2008/115 genügt. Allerdings ist festzustellen, dass Frankreich zum im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt seine Verpflichtung aus Art. 20 der Richtlinie 2008/115, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, um dieser Richtlinie nachzukommen, nicht erfüllt hatte. Den schriftlichen Erklärungen der französischen Regierung zufolge ist die Richtlinie 2008/115 erst durch das am 18. Juli 2011 in Kraft getretene Gesetz Nr. 2011‑672 vom 16. Juni 2011 über die Einwanderung, die Integration und die Staatsangehörigkeit (Loi relative à l’immigration, à l’intégration et à la nationalité) vollständig in französisches Recht umgesetzt worden. Der Wortlaut von Art. L. 621‑1 CESEDA, um den es im vorliegenden Fall geht, ist von den durch dieses Gesetz erfolgten Änderungen aber nicht betroffen.

23.      Nach dem vom Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache El Dridi aufgestellten Grundsatz, dass „die Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass weder Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG, der in Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV übernommen wurde, noch die Richtlinie 2008/115, die u. a. auf der Grundlage dieser Bestimmung des EG-Vertrags ergangen ist, die strafrechtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts ausschließen, ihre Rechtsvorschriften in diesem Bereich so ausgestalten [müssen], dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist[, und] [i]nsbesondere ... keine Regelung, auch strafrechtlicher Art, anwenden [dürfen], die die Verwirklichung der mit einer Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und sie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte“(8), ist zur Beantwortung der Vorlagefrage meines Erachtens zu untersuchen, ob die Ahndung des illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziele gefährden könnte.

24.      Das Ziel der Richtlinie 2008/115 lässt sich leicht ihrem zweiten und ihrem 20. Erwägungsgrund sowie ihrem Art. 1 entnehmen. Es besteht in der Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Rückkehr, die Abschiebung, die Anwendung von Zwangsmaßnahmen, die Inhaftnahme und die Einreiseverbote für Drittstaatsangehörige, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten – Vorschriften, die als Grundlage einer wirksamen Rückkehrpolitik dienen und die Grundrechte beachten sollen.

25.      Vor der Prüfung der Frage, ob eine Bestimmung wie Art. L. 621‑1 CESEDA die Verwirklichung des so festgelegten Ziels gefährden kann, ist zunächst das Vorbringen der estländischen und der französischen Regierung zurückzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 erst ab dem Erlass einer Rückkehrentscheidung anwendbar sei.

26.      Stimmte man dem zu, würde das bedeuten, dass die Richtlinie 2008/115 es den Mitgliedstaaten freistellte, ob und wann sie eine Rückkehrentscheidung erlassen und somit das Rückkehrverfahren gegen einen sich illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen einleiten.

27.      Die Richtlinie 2008/115 räumt den Mitgliedstaaten einen solchen Wertungsspielraum aber nicht ein. Vielmehr lässt sich mehreren ihrer Bestimmungen entnehmen, dass sie eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten begründen will, bei jedem sich illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen das Rückkehrverfahren einzuleiten. Es handelt sich dabei insbesondere um Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, nach dem die Mitgliedstaaten gegen „alle ... Drittstaatsangehörigen“(9) eine Rückkehrentscheidung erlassen, die sich illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten. Die Ausnahmen von dieser Verpflichtung sind ausdrücklich in den Abs. 2 bis 5 dieses Artikels der Richtlinie 2008/115 geregelt.

28.      Dieser Verpflichtung zum Erlass einer Rückkehrentscheidung entspricht das Recht eines sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhaltenden Drittstaatsangehörigen auf ein solches Handeln des Mitgliedstaats. Die Richtlinie 2008/115 räumt somit jedem sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhaltenden Drittstaatsangehörigen einen Anspruch gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat auf Erlass einer Rückkehrentscheidung ein, durch die das Rückkehrverfahren zur Beendigung des illegalen Aufenthalts eingeleitet wird und in deren Rahmen die persönliche Freiheit des Betroffenen nur zur Vorbereitung seiner Rückkehr und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung eingeschränkt werden darf, sofern keine anderen Maßnahmen, die ausreichen, jedoch mit weniger Zwang verbunden sind, wirksam angewandt werden können.

29.      Um auf das Kernproblem zurückzukommen, nämlich die Frage, ob durch die Ahndung des illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch eine Freiheitsstrafe die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziele gefährdet werden kann, ist das Augenmerk auf das Rückkehrverfahren gemäß der Richtlinie 2008/115(10) zu legen.

30.      Die genannte Richtlinie sieht für die Verwirklichung ihres Ziels, nämlich der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, die Anwendung von Zwangsmaßnahmen vor. Wie ich bereits in meiner Stellungnahme in der Rechtssache El Dridi(11) ausgeführt habe, enthält die Richtlinie 2008/115 keine erschöpfende Aufzählung dieser Maßnahmen. Angesichts des individuellen Charakters (der Einzigartigkeit) jedes Rückkehrverfahrens wäre dies auch gar nicht möglich.

31.      Eine Freiheitsstrafe stellt unzweifelhaft eine Zwangsmaßnahme dar. Allerdings liegt ebenso auf der Hand, dass es sich dabei nicht um eine Maßnahme zur Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung und somit zur Verwirklichung des Ziels der Richtlinie 2008/115 handelt. Die für den Fall des illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen (wie bereits in Nr. 25 der vorliegenden Stellungnahme ausgeführt, handelt es sich dabei um den Tatbestand, an den die Richtlinie 2008/115 die Verpflichtung zur Einleitung des Rückkehrverfahrens knüpft) vorgesehene Freiheitsstrafe verhindert vielmehr objektiv, wenn auch nur vorübergehend, die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung.

32.      Insoweit weist die französische Regierung auf die Rundschreiben des Justizministers vom 21. Februar 2006 und vom 12. Mai 2011 hin, die den Staatsanwälten empfehlen, wegen illegaler Einreise oder illegalen Aufenthalts nur gegen die Ausländer Anklage zu erheben, die noch eine andere Straftat begangen haben, die anderen Verfahren aber einzustellen, insbesondere um gegebenenfalls das in Betracht kommende verwaltungsrechtliche Abschiebungsverfahren erfolgreich durchzuführen. Nach den statistischen Daten, die die französische Regierung ebenfalls vorgelegt hat, gibt es jedoch durchaus Fälle von strafrechtlichen Verurteilungen allein auf der Grundlage von Art. L. 621‑1 CESEDA.

33.      Das heißt aber nicht, dass generell jede Beschränkung der persönlichen Freiheit des Betroffenen während der Zeit, die unbedingt für die Prüfung erforderlich ist, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vorliegen, ausgeschlossen wäre. Insoweit teile ich die Auffassung der französischen Regierung, dass eine solche Beschränkung in vielen Fällen erforderlich sein könnte(12), die nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 den nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten unterliegt. Allerdings kann eine solche Beschränkung der persönlichen Freiheit des Betroffenen nicht auf eine Bestimmung wie Art. L. 621‑1 CESEDA gestützt werden.

34.      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage meines Erachtens zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe allein wegen der illegalen Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder wegen dessen illegalen Aufenthalts dort vorsieht.

 Ergebnis

35.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage der Cour d'appel de Paris wie folgt zu beantworten:

Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe allein wegen der illegalen Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder dessen illegalen Aufenthalts dort vorsieht.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Urteil vom 28. April 2011 (C‑61/11 PPU, Slg. 2011, I‑0000).


3 – ABl. L 348, S. 98.


4 – Oben in Fn. 2 angeführt.


5 –      Oben in Fn. 2 angeführt.


6 –      Oben in Fn. 2 angeführt.


7 – In seiner Antwort auf das Ersuchen des Gerichtshofs um eine Klarstellung hat das vorlegende Gericht ausgeführt, die ordentlichen Gerichte und somit auch das vorlegende Gericht seien Hüter der Freiheit der Person. Es habe daher auf entsprechende Einrede hin die aufeinanderfolgenden freiheitsentziehenden Maßnahmen und die Rechtmäßigkeit des Aufgreifens und einer anschließenden Ingewahrsamnahme zu überprüfen, wenn diese unmittelbar einer Inhaftnahme im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens vorausgehe. Rechtsstreitigkeiten über Verwaltungsentscheidungen (Anordnung der Abschiebung oder Inhaftnahme) fielen hingegen in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte.


8 – Oben in Fn. 2 angeführt (Randnrn. 54 und 55). Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz jüngst in dem Urteil vom 21. Juli 2011, Kelly (C‑104/10, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 35), noch einmal bekräftigt.


9 – Hervorhebung nur hier.


10 – Die verschiedenen Schritte des Rückkehrverfahrens und ihre Reihenfolge sind ausführlich in den Randnrn. 34 bis 40 des Urteils El Dridi (oben in Fn. 2 angeführt) dargestellt.


11 – Vom 1. April 2011 (Nr. 32).


12 – Bei Herrn Achughbabian habe ich gewisse Zweifel an der Erforderlichkeit einer solchen Beschränkung. Gegen Herrn Achughbabian ist nämlich bereits die Anordnung des Präfekten vom 27. Januar 2009 erlassen worden, die meines Erachtens als Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eingestuft werden kann.