Language of document : ECLI:EU:C:2010:80

Rechtssache C-310/08

London Borough of Harrow

gegen

Nimco Hassan Ibrahim

und

Secretary of State for the Home Department

(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England & Wales] [Civil Division])

„Freizügigkeit – Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Ehegatte eines Angehörigen eines Mitgliedstaats ist, und ihrer Kinder, die Angehörige eines Mitgliedstaats sind – Beendigung der unselbständigen Tätigkeit des Angehörigen eines Mitgliedstaats und anschließende Ausreise aus dem Aufnahmemitgliedstaat – Einschreibung der Kinder in einer Bildungseinrichtung – Fehlen von Mitteln zur Bestreitung des Lebensunterhalts – Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 – Art. 12 – Richtlinie 2004/38/EG“

Leitsätze des Urteils

1.        Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Anspruch der Kinder eines Arbeitnehmers auf Zugang zum Unterricht im Aufnahmemitgliedstaat – Aufenthaltsrecht zur weiteren Teilnahme am allgemeinen Unterricht

(Verordnung Nr. 1612/68 des Rates, Art. 12)

2.        Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen – Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigt ist oder gewesen ist – Elternteil, der die elterliche Sorge für diese Kinder tatsächlich wahrnimmt

(Verordnung Nr. 1612/68 des Rates, Art. 10 und 12; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates)

1.        Die Kinder eines Bürgers der Europäischen Union, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, sind zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt, um dort gemäß Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen. Dass die Eltern dieser Kinder inzwischen geschieden sind und dass nur einer von ihnen Unionsbürger und nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist, ist dabei ohne Belang.

(vgl. Randnr. 29)

2.        Den Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigt ist oder gewesen ist, und dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, steht ein Recht auf Aufenthalt in diesem Staat auf der Grundlage allein von Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in der durch die Verordnung Nr. 2434/92 geänderten Fassung zu, ohne dass dieses Recht davon abhängig ist, dass sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Staat verfügen.

Das dem Kind eines Wanderarbeitnehmers in Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zuerkannte Recht, im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin unter den bestmöglichen Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen, impliziert nämlich notwendig, dass das Kind das Recht hat, dass sich die die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmende Person bei ihm aufhält, und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während der Ausbildung des Kindes mit diesem zusammen in dem betreffenden Mitgliedstaat zu wohnen. Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ist daher autonom gegenüber den unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden, die die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat regeln. Diese Autonomie von Art. 12 gegenüber Art. 10 dieser Verordnung muss auch im Verhältnis zu den Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221, 68/360, 72/194, 73/148, 75/34, 75/35, 90/364, 90/365 und 93/96 gelten. Die gegenteilige Lösung könnte das im fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1612/68 angesprochene Ziel der Integration der Familie des Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat beeinträchtigen. Diese Integration kann nur dann gelingen, wenn das Kind eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, die Möglichkeit hat, im Aufnahmemitgliedstaat die Schule zu besuchen und eine Ausbildung zu absolvieren und seine Ausbildung gegebenenfalls erfolgreich abzuschließen.

Eine Voraussetzung, dass die Beteiligten über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen, ist in Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68, der nicht eng ausgelegt und keinesfalls seiner praktischen Wirksamkeit beraubt werden darf, nicht enthalten. Die Richtlinie 2004/38 macht das Recht der in Ausbildung befindlichen Kinder und des die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmenden Elternteils auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat auch nicht in bestimmten Situationen davon abhängig, dass diese über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen.

(vgl. Randnrn. 31, 42-43, 52, 56, 59 und Tenor)