SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 20. Juni 2017(1)
Rechtssache C‑670/16
Tsegezab Mengesteab
gegen
Bundesrepublik Deutschland
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Minden [Deutschland])
„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Aufnahmegesuche nach Art. 21 Abs. 1 – Fristen für die Stellung eines Aufnahmegesuchs – Zeitpunkt, zu dem ein Antrag auf internationalen Schutz nach Art. 20 Abs. 2 gestellt ist – Zeitpunkt, ab dem die Frist nach Art. 21 Abs. 1 zu laufen beginnt – Frage, ob sich das Recht auf einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 1 auf die Nichteinhaltung der Fristen nach Art. 21 Abs. 1 erstreckt“
1. Im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ersucht das Verwaltungsgericht Minden (Deutschland) um detaillierte Hinweise zur Auslegung verschiedener Aspekte der Dublin‑III-Verordnung(2) und bestimmter Rechtsakte des Unionsrechts, die den durch diese Verordnung eingeführten Verfahren zugrunde liegen(3). Erstens, ist in dem Fall, dass ein Drittstaatsangehöriger in Mitgliedstaat „A“ einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, dieser Staat jedoch Mitgliedstaat „B“ um Übernahme der Prüfung seines Antrags ersucht und Mitgliedstaat „B“ der nach den Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung zuständige Mitgliedstaat wird, der Betroffene berechtigt, die Überstellungsentscheidung des Mitgliedstaats „A“ nach Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung mit der Begründung anzufechten, dass das Aufnahmegesuch nach Ablauf der in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Frist gestellt wurde? Zweitens: Welches Ereignis genau markiert den Beginn der Frist, in der Mitgliedstaat „A“ (der ersuchende Mitgliedstaat) ein Aufnahmegesuch stellen muss? In dieser Hinsicht stellen sich eine Reihe von Unterfragen, u. a.: Beginnt die Frist, wenn der Drittstaatsangehörige bei Behörden eines Mitgliedstaats vorstellig wird und sein erstes Gesuch um internationalen Schutz stellt? Oder wenn die Behörden eines Mitgliedstaats eine Bescheinigung ausstellen, die bescheinigt, dass der Betroffene bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz ein Bleiberecht in diesem Mitgliedstaat hat und dass er in diesem Zeitraum Anspruch auf bestimmte Unterstützungsleistungen, einschließlich einer Unterkunft und Sozialleistungen, hat? Oder wenn der Antrag auf internationalen Schutz bei den zuständigen Behörden gestellt wird (und wenn dies der Fall ist, was ist als „Stellung“ eines solchen Antrags anzusehen)?
Unionsrechtlicher Rahmen
Charta
2. Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) gewährleistet das Asylrecht nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(5) und nach Maßgabe der Verträge.
3. Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat jede Person, deren durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen(6).
4. Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die durch die Charta garantierten Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie den ihnen entsprechenden Rechten nach der EMRK verliehen wird.
Dublin-System – Überblick
5. Die Ursprünge des Dublin-Systems lassen sich auf den zwischenstaatlichen Mechanismus nach dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen(7) zurückverfolgen. Das Dublin-System regelt Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Entscheidung über Anträge auf internationalen Schutz zuständig ist. Diese Bestimmungen wurden in das Dubliner Übereinkommen(8) übernommen, das 1997 durch den Vertrag von Amsterdam in den Besitzstand der Union überging und an dessen Stelle später die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates trat(9).
Dublin‑III-Verordnung
6. Die Erwägungsgründe der Dublin‑III-Verordnung enthalten die folgenden Erklärungen:
– Die Formel zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden(10).
– Die Asylverfahrensrichtlinie(11) sollte zusätzlich und unbeschadet der Bestimmungen über die in der Dublin‑III-Verordnung geregelten Verfahrensgarantien vorbehaltlich der Beschränkungen der Anwendung dieser Richtlinie gelten(12).
– Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Art. 47 der Charta Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird(13).
– In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter die Dublin‑III-Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden(14). Die Dublin‑III-Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden, und sollte daher in diesem Sinne angewandt werden(15).
7. Art. 2 enthält folgende Definitionen; danach bezeichnet
„a) ‚Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Bürger der Union im Sinne von Artikel 20 Absatz 1 des AEUV ist und bei der es sich nicht um einen Staatsangehörigen eines Staates handelt, der sich aufgrund eines Abkommens mit der Europäischen Union an [der Dublin‑III-Verordnung] beteiligt;
b) ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 2 Buchstabe h [der Anerkennungsrichtlinie(16)];
c) ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;
…“
8. Nach dem in Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verankerten allgemeinen Grundsatz müssen die Mitgliedstaaten „jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt[, prüfen]. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“ Nach Art. 3 Abs. 2 ist in dem Fall, dass sich anhand der Kriterien nach Kapitel III der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt, der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für seine Prüfung zuständig. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 kodifiziert das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache NS(17). Er bestimmt:
„Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 [der Charta] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.“
9. Art. 4 Abs. 1 bestimmt, dass „[s]obald ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Artikels 20 Absatz 2 in einem Mitgliedstaat gestellt wird, … seine zuständigen Behörden den Antragsteller über die Anwendung dieser Verordnung [unterrichten]“(18). Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 5 Abs. 1 auch verpflichtet, mit Antragstellern ein persönliches Gespräch zu führen(19).
10. Kapitel III umfasst die Art. 7 bis 15. Nach Art. 7 Abs. 1 finden die Kriterien nach Kapitel III in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung. Bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt (Art. 7 Abs. 2).
11. An der ersten Stelle der Rangfolge stehen die Kriterien in Bezug auf Minderjährige (Art. 8) und Familienangehörige (Art. 9, 10 und 11). Das vorlegende Gericht hat keine Angaben dahin gemacht, dass sie im Ausgangsverfahren berührt sind.
12. Art. 13 Abs. 1 bestimmt:
„Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 [der Dublin‑III-Verordnung] genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach [der Eurodac-Verordnung] festgestellt, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.“
13. Nach Art. 17 Abs. 1 kann jeder Mitgliedstaat „[a]bweichend von Artikel 3 Absatz 1 … beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in [der Dublin‑III-Verordnung] festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist“.
14. Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. a ist der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, aufzunehmen. In diesen Fällen muss der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 18 Abs. 2 den gestellten Antrag auf internationalen Schutz prüfen oder seine Prüfung abschließen.
15. Die Bestimmungen über „Aufnahme“- und „Wiederaufnahme“-Verfahren sind in Kapitel VI geregelt. Art. 20 bestimmt:
„(1) Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.
(2) Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem nicht in schriftlicher Form gestellten Antrag sollte die Frist zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein.
…“
16. Art. 21 Abs. 1 bestimmt:
„Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.
Abweichend von Unterabsatz 1 wird im Fall einer Eurodac-Treffermeldung im Zusammenhang mit Daten gemäß Artikel 14 [der Eurodac-Verordnung] dieses Gesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung gemäß Artikel 15 Absatz 2 jener Verordnung gestellt.
Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der in Unterabsätzen 1 und 2 niedergelegten Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig.“
17. Nach Art. 22 Abs. 1 muss der ersuchte Mitgliedstaat die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und über das Aufnahmegesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt des Gesuchs entscheiden. Nach Art. 22 Abs. 2 sind bestimmte Beweise und Indizien zu verwenden. Nach Art. 22 Abs. 7 ist in dem Fall, dass der ersuchte Mitgliedstaat innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Art. 22 Abs. 1 keine Antwort erteilt, im Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in Bezug auf ein Aufnahmegesuch davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird.
18. Das Wiederaufnahmeverfahren ist in den Art. 23 bis 25 geregelt. Ist ein Mitgliedstaat, in dem ein Antragsteller einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Auffassung, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, kann er ein Wiederaufnahmegesuch stellen (Art. 23 Abs. 1). Dieses Gesuch ist so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach einer Eurodac-Treffermeldung zu stellen. Stützt sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System, stehen dem Mitgliedstaat für sein Gesuch drei Monate ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz zur Verfügung (Art. 23 Abs. 2). Wird ein Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der festgelegten Fristen gestellt, führt dies dazu, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz bei dem Mitgliedstaat verbleibt, in dem der neue Antrag gestellt wurde (Art. 23 Abs. 3).
19. Nach Art. 24 Abs. 2 gilt für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs eine Frist von zwei Monaten in Fällen, in denen eine Eurodac-Treffermeldung vorliegt, im ersuchenden Mitgliedstaat kein neuer Antrag gestellt wird und der betreffende Drittstaatsangehörige sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhält. In Ermangelung von Beweismitteln aus dem Eurodac-System beträgt die Frist drei Monate ab dem Zeitpunkt, zu dem der ersuchende Mitgliedstaat festgestellt hat, dass er für die betreffende Person zuständig sein könnte. Wird das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Art. 24 Abs. 2 genannten Frist gestellt, muss der ersuchende Mitgliedstaat der betreffenden Person Gelegenheit geben, einen neuen Antrag zu stellen(20).
20. Nach Art. 26 muss der ersuchende Mitgliedstaat in dem Fall, dass der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme (oder Wiederaufnahme) eines Antragstellers zustimmt, die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis setzen, sie in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Diese Entscheidung muss eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten.
21. Nach Art. 27 Abs. 1 haben Antragsteller das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht. Nach Art. 27 Abs. 3 müssen die Mitgliedstaaten im innerstaatlichen Recht vorsehen, dass Rechtsbehelfe gegen oder eine Überprüfung von Überstellungsentscheidungen aufschiebende Wirkung für diese Entscheidungen haben, so dass die betreffende Person bis zu deren Abschluss im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bleiben kann.
22. Art. 29 betrifft die Regelungen und Fristen für Überstellungen. Nach Art. 29 Abs. 1 „erfolgt“ die Überstellung „… aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat … gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat“.
23. Nach Art. 35 Abs. 1 „[teilt] [j]eder Mitgliedstaat … der Kommission unverzüglich die speziell für die Durchführung dieser Verordnung zuständigen Behörden sowie alle späteren sie betreffenden Änderungen mit. Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass diese Behörden über die nötigen Mittel verfügen, um ihre Aufgabe zu erfüllen und insbesondere die Informationsersuchen sowie die Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern innerhalb der vorgegebenen Fristen zu beantworten.“
Eurodac-Verordnung
24. Das durch die Eurodac-Verordnung eingerichtete System hat die Aufgabe, die Bestimmung des Mitgliedstaats, der gemäß der Dublin‑III-Verordnung für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zu unterstützen und allgemein die Anwendung der letzteren Verordnung zu erleichtern(21). Ein „Treffer“ ist definiert als „die aufgrund eines Abgleichs durch das Zentralsystem festgestellte Übereinstimmung oder festgestellten Übereinstimmungen zwischen den in der automatisierten zentralen Fingerabdruck-Datenbank gespeicherten Fingerabdruckdaten und den von einem Mitgliedstaat übermittelten Fingerabdruckdaten zu einer Person …“(22).
25. Nach Art. 9 muss jeder Mitgliedstaat jeder Person, die internationalen Schutz beantragt und mindestens 14 Jahre alt ist, umgehend den Abdruck aller Finger abnehmen und die Fingerabdruckdaten zusammen mit bestimmten anderen Daten so bald wie möglich, spätestens aber 72 Stunden nach Antragstellung gemäß Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung an das Zentralsystem übermitteln(23). Die Daten werden über einen Zeitraum von zehn Jahren aufbewahrt. Die Verpflichtung zur Erfassung und Übermittlung von Fingerabdruckdaten gilt auch für Drittstaatsangehörige, die beim illegalen Überschreiten einer Außengrenze aufgegriffen werden (Art. 14 Abs. 1 und 2). Die erfassten Daten werden im Zentralsystem gespeichert. Unbeschadet der Verpflichtung zur Erstellung einer Statistik dürfen die gespeicherten Daten ausschließlich zum Zwecke des Abgleichs mit Daten zu Personen, die internationalen Schutz beantragen, verwendet werden(24).
Dublin-Durchführungsverordnung
26. Die Dublin-Durchführungsverordnung regelt die praktischen Modalitäten zur Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung mit Blick auf die Übermittlung und Behandlung der Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuche für Antragsteller auf internationalen Schutz(25). Ein Formblatt für Aufnahmegesuche ist im Anhang der Durchführungsverordnung enthalten. Dem Gesuch müssen u. a. eine Kopie aller Beweismittel und Indizien, die auf die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz hinweisen, sowie Angaben zu einem positiven Eurodac-Ergebnis beigefügt werden(26).
27. Anhang II der Dublin-Durchführungsverordnung enthält ein „Verzeichnis A“ und ein „Verzeichnis B“, die die Beweise zur Bestimmung des nach der Dublin‑III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaats angeben. Verzeichnis A bezieht sich auf förmliche Beweismittel, die insoweit über die Zuständigkeit entscheiden, als sie nicht durch Gegenbeweise widerlegt werden. In Nr. 7 erster Gedankenstrich dieses Verzeichnisses ist ein positives Ergebnis seitens Eurodac nach Vergleich der Fingerabdrücke des Antragstellers mit den nach Art. 14 der Eurodac-Verordnung genommenen Fingerabdrücken genannt.
Anerkennungsrichtlinie
28. Die Anerkennungsrichtlinie legt Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes fest(27). Art. 2 enthält u. a. folgende Begriffsbestimmungen; danach bezeichnet
„a) ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus
…
h) ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht
…“
Asylverfahrensrichtlinie
29. Die Asylverfahrensrichtlinie führt gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ein(28). Die Richtlinie gilt für Anträge auf internationalen Schutz, die im Unionsgebiet gestellt werden(29). Die Mitgliedstaaten müssen eine Asylbehörde benennen, die für die Prüfung von Anträgen nach allen einschlägigen Verfahren zuständig ist. Es steht im Ermessen der Mitgliedstaaten, ob die Asylbehörde auch für die Bearbeitung von Anträgen nach der Dublin‑III-Verordnung zuständig ist(30).
30. Nach Art. 6 Abs. 1 muss, wenn eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde stellt, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung erfolgen. Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, die nach nationalem Recht nicht für die Registrierung der betreffenden Person zuständig sind, muss die Registrierung gleichwohl spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgen. Diese Behörden müssen die Antragsteller darüber informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können. Nach Art. 6 Abs. 2 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen(31). Unbeschadet des Art. 6 Abs. 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden (Art. 6 Abs. 3). Nach Art. 6 Abs. 4 „[gilt] [u]ngeachtet des Absatzes 3 … ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist“.
31. Ein Antragsteller auf internationalen Schutz ist berechtigt, ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens zur Prüfung seines Antrags in dem betreffenden Mitgliedstaat zu verbleiben(32).
Aufnahmerichtlinie
32. Die Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen(33), im Sinne der Definition in Art. 2 Buchst. h der Anerkennungsrichtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Antragsteller innerhalb einer Frist von 15 Tagen nach einem von ihnen „gestellten“ Antrag über Leistungen, auf die sie Anspruch haben, und über Verpflichtungen, die mit den im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteilen verbunden sind, unterrichten müssen (Art. 5 Abs. 1). Die Mitgliedstaaten müssen dafür Sorge tragen, dass einem Antragsteller innerhalb von drei Tagen nach dem gestellten Antrag eine Bescheinigung ausgestellt wird, die ihren Rechtsstatus als Antragsteller auf internationalen Schutz bestätigt oder bescheinigt, dass er sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten darf, solange sein Antrag zur Entscheidung anhängig ist oder geprüft wird (Art. 6 Abs. 1).
Nationales Recht
33. Den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts im Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass das nationale System in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, der in Deutschland internationalen Schutz beantragt, zwischen einem formlosen Gesuch gegenüber den Behörden (wie etwa den Grenzschutz- oder Polizeibehörden oder Beamten der Ausländerbehörden oder einer Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber) einerseits und der Stellung eines förmlichen Antrags auf internationalen Schutz beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: BAMF), der nach nationalem Recht als für die Entscheidung über Asylanträge benannten und für ausländerrechtliche Entscheidungen zuständigen Stelle, andererseits unterscheidet.
34. Der Drittstaatsangehörige wird zunächst an die jeweilige Aufnahmeeinrichtung weitergeleitet, die das BAMF unterrichten muss. Die deutschen Behörden müssen dem Drittstaatsangehörigen eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (im Folgenden: Bescheinigung) ausstellen. Ab diesem Zeitpunkt ist ihm der Aufenthalt in Deutschland bis zum Abschluss des Verfahrens über seinen Asylantrag gestattet. Der Drittstaatsangehörige erhält dann einen Termin und ist verpflichtet, persönlich bei der Außenstelle des BAMF zu erscheinen, um seinen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.
Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen
35. Herr Tsegezab Mengesteab (im Folgenden: Kläger) ist eritreischer Staatsangehöriger. Er hat angegeben, von Libyen aus über das Mittelmeer am 4. September 2015 erstmals in Italien in das Unionsgebiet eingereist zu sein. Er sei von Italien aus auf dem Landweg am 12. September 2015 in Deutschland angekommen. Die deutschen Behörden erteilten ihm am 14. September 2015 auf sein formloses Asylgesuch hin erstmals eine von der Regierung von Oberbayern ausgestellte Bescheinigung. Am 8. Oktober 2015 stellte ihm die Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld eine zweite Bescheinigung aus. Am 14. Januar 2016 und nochmals am 6. Februar 2016 übersandte Herr Mengesteab dem BAMF die zweite Bescheinigung. Am 22. Juli 2016 stellte Herr Mengesteab beim BAMF einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz.
36. Eine Abfrage der Eurodac-Datenbank ergab am 19. August 2016, dass Herrn Mengesteab in Italien Fingerabdrücke abgenommen worden waren (Eurodac-Treffer IT2LE01HRQ), er dort aber keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte. Die deutschen Behörden richteten am selben Tag ein Aufnahmegesuch an die entsprechenden italienischen Behörden. Dieses Gesuch beantworteten die italienischen Behörden nicht.
37. Mit Bescheid vom 10. November 2016, Herrn Mengesteab zugestellt am 16. November 2016, erklärte das BAMF seinen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig, lehnte infolgedessen seinen Asylantrag ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Das BAMF vertrat die Ansicht, dass Italien und nicht Deutschland der für die Prüfung seines Antrags zuständige Mitgliedstaat sei, da er auf der Reise von Libyen nach Italien die Außengrenze der Union illegal überschritten habe und auf seinen Fall daher Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung Anwendung finde.
38. Gegen diesen Bescheid erhob Herr Mengesteab am 17. November 2016 Klage beim vorlegenden Gericht, u. a. mit dem Antrag, die Überstellungsentscheidung auszusetzen. Das Gericht ordnete am 22. Dezember 2016 die Aussetzung der Abschiebungsanordnung an.
39. Nach Ansicht von Herrn Mengesteab ist Deutschland für die Prüfung seines Antrags zuständig, da das Aufnahmegesuch nach Ablauf der Dreimonatsfrist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung gestellt worden sei. Die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs habe mit der Äußerung seines formlosen Asylgesuchs am 14. September 2015 zu laufen begonnen. Dies gelte ungeachtet eines vorliegenden positiven Eurodac-Ergebnisses, da die kürzere Zweimonatsfrist nach Art. 21 Unterabs. 2 das Aufnahmeverfahren beschleunigen solle.
40. Das BAMF hält dem erstens entgegen, dass die Fristenregelungen der Dublin‑III-Verordnung von Antragstellern nicht im Wege eines Rechtsbehelfs zur Überprüfung gestellt werden könnten, da sie keine subjektiven Rechte begründeten. Es ist zweitens der Ansicht, dass die festgelegten Fristen erst mit der Stellung eines förmlichen Asylantrags in Lauf gesetzt würden.
41. Das vorlegende Gericht möchte geklärt wissen, ob Herr Mengesteab in einem Verfahren nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung die Anwendung der Fristen nach Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung verlangen kann. Wenn dies zu bejahen ist, ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise insbesondere dazu, was als Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz nach der Dublin‑III-Verordnung anzusehen ist.
42. Dementsprechend stellt das vorlegende Gericht folgende Fragen:
1. Kann ein Asylbewerber den Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat wegen Ablaufs der Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs (Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 der Dublin‑III-Verordnung) geltend machen?
2. Falls Frage 1 zu bejahen ist: Kann ein Asylbewerber den Übergang der Zuständigkeit auch dann geltend machen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat weiterhin bereit ist, ihn aufzunehmen?
3. Falls Frage 2 zu verneinen ist: Kann aus der ausdrücklichen Zustimmung bzw. der fingierten Zustimmung (Art. 22 Abs. 7 der Dublin‑III-Verordnung) des ersuchten Mitgliedstaats geschlossen werden, dass der ersuchte Mitgliedstaat weiterhin bereit ist, den Asylbewerber aufzunehmen?
4. Kann die Zweimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung nach dem Ablauf der Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung enden, wenn der ersuchende Mitgliedstaat mehr als einen Monat nach Beginn der Dreimonatsfrist vergehen lässt, bevor er eine Anfrage an die Eurodac-Datenbank richtet?
5. Gilt ein Antrag auf internationalen Schutz bereits mit der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender oder erst mit der Protokollierung eines förmlichen Asylantrags als im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung gestellt? Insbesondere:
a) Ist die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender ein Formblatt oder ein Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung?
b) Ist zuständige Behörde im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung die Behörde, die für die Entgegennahme des Formblatts oder die Erstellung des Protokolls zuständig ist, oder die Behörde, die für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig ist?
c) Ist ein behördliches Protokoll der zuständigen Behörde auch dann zugegangen, wenn ihr der wesentliche Inhalt des Formblatts oder des Protokolls mitgeteilt wurde, oder muss ihr dafür das Original oder eine Kopie des Protokolls übermittelt werden?
6. Können Verzögerungen zwischen dem erstmaligen Nachsuchen um Asyl bzw. der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender und der Stellung eines Aufnahmegesuchs zu einem Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat entsprechend Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 der Dublin‑III-Verordnung führen oder den ersuchenden Mitgliedstaat verpflichten, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung Gebrauch zu machen?
7. Falls Frage 6 bezüglich einer der beiden Alternativen zu bejahen ist: Ab welchem Zeitraum ist von einer unangemessenen Verzögerung der Stellung eines Aufnahmegesuchs auszugehen?
8. Wahrt ein Aufnahmegesuch, in dem der ersuchende Mitgliedstaat nur das Datum der Einreise in den ersuchenden Mitgliedstaat sowie das Datum der Stellung des förmlichen Asylantrags, nicht aber auch das Datum des erstmaligen Nachsuchens um Asyl bzw. das Datum der erstmaligen Ausstellung einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender angibt, die Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, oder ist ein solches Ersuchen „unwirksam“?
43. Schriftliche Erklärungen sind von Deutschland, Ungarn und der Europäischen Kommission eingereicht worden. In der Sitzung vom 25. April 2017 haben diese drei Beteiligten sowie Herr Mengesteab und das Vereinigte Königreich mündliche Ausführungen gemacht.
Würdigung
Vorbemerkungen
44. Das vorlegende Gericht gibt in seinem Vorabentscheidungsersuchen an, dass Herr Mengesteab von Libyen aus über das Mittelmeer in Italien in das Unionsgebiet eingereist sei. Als eritreischer Staatsangehöriger hätte er beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union im Besitz eines Visums sein müssen(34). Dies war vermutlich nicht der Fall, so dass seine Einreise in das Unionsgebiet illegal war, soweit er die Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex nicht erfüllte(35). Vor diesem Hintergrund gehen die Fragen des vorlegenden Gerichts davon aus, dass auf Herrn Mengesteab Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung Anwendung finde und Italien der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat sei.
45. Ist die Annahme des vorlegenden Gerichts, dass die Einreise von Herr Mengesteab nach Italien illegal im Sinne dieser Bestimmung war, begründet?
46. Die Frage nach der Auslegung von Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung wird im vorliegenden Verfahren nicht ausdrücklich gestellt. Eine ähnliche Fragestellung betreffend die Überschreitung von Landgrenzen durch Drittstaatsangehörige, die von Herbst 2015 bis zum Frühjahr 2016 über den Westbalkan reisten, liegt dem Gerichtshof derzeit in den Rechtssachen A. S.(36) und Jafari(37) vor. Der Gerichtshof wird in jenen Rechtssachen um Hinweise zur Bedeutung der Formulierung „die [G]renze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat“ in Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit der Auslegung von Art. 5 Abs. 4 Buchst. c des Schengener Grenzkodex ersucht, wonach ein Mitgliedstaat von einer oder mehreren Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung (wie etwa dem Besitz eines gültigen Visums) aus humanitären Gründen oder aufgrund seiner internationalen Verpflichtungen abweichen und dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestatten kann.
47. War diese Fragestellung in der Rechtssache von Herrn Mengesteab Gegenstand der Prüfung? Wenn nicht, ist eine derartige Prüfung vorzunehmen?
48. Dies ist eine schwierige und sensible Fragestellung, die unausgesprochene politische Fragen mit sich bringt und durch die tragischen Berichte von Menschen, die bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben kommen, akut beunruhigt. Auch wenn das vorlegende Gericht die Frage nicht stellt, ist sie für die Entscheidung darüber, wie die Dublin‑III-Verordnung auf die vorliegende konkrete Rechtssache anzuwenden ist, gleichwohl von Bedeutung. Ist Art. 13 Abs. 1 nicht das einschlägige Kriterium nach Kapitel III, könnten die tatsächlich gestellten Fragen keiner Beantwortung mehr bedürfen.
49. Zum Hintergrund sei daran erinnert, dass das Europäische Parlament die Europäische Union und die Mitgliedstaaten im April 2015 eindringlich aufgefordert hat, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um Todesfälle auf See zu verhindern(38). In der Folge wurden von der Union und Küstenmitgliedstaaten wie Italien eine große Zahl koordinierter Such- und Rettungseinsätze oder Grenzschutzeinsätze, die auch solche Aufgaben haben, häufig in Verbindung mit Frontex (der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache) durchgeführt(39).
50. Es scheint eine unausgesprochene Annahme zu geben, dass potenzielle Antragsteller auf internationalen Schutz, die nach dem Übersetzen auf dem Seeweg im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ankommen, die Außengrenzen dieses Mitgliedstaats zwangsläufig im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung „illegal“ überschritten haben müssten. Diese Vermutung dürfte sich meines Erachtens nicht in jedem Fall zwangsläufig als richtig erweisen.
51. Geht jemand in Sicherheit und unbemerkt nach dem Übersetzen auf dem Seeweg an Land und wird dann zu einem späteren Zeitpunkt bei den Behörden dieses Mitgliedstaats oder eines anderen Mitgliedstaats vorstellig und ersucht um internationalen Schutz, ist die Annahme, er müsse die Grenze des ersten Mitgliedstaats „illegal“ überschritten haben, gerechtfertigt: Sie ist nämlich nahezu mit Sicherheit zutreffend. Wird jemand auf hoher See aus einem überfüllten, sinkenden Schlauchboot gerettet, ist die Rechtslage erheblich komplizierter. Die Rechtslage kann sich noch differenzierter darstellen, wenn eine Person innerhalb der Hoheitsgewässer eines Mitgliedstaats gerettet wird.
52. Die Pflicht, Personen in Seenot Hilfe zu leisten, stellt „einen der ältesten und grundlegendsten Bestandteile des Seerechts“ dar(40). Nach Art. 98 Abs. 1 Buchst. b des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (UNCLOS) muss jeder Staat den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes u. a. verpflichten, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen. Nach Art. 98 Abs. 2 des Seerechtsübereinkommens müssen alle Küstenstaaten die Errichtung, den Einsatz und die Unterhaltung eines angemessenen Such- und Rettungsdiensts fördern, um die Sicherheit auf und über der See zu gewährleisten(41).
53. Ein „sicherer Ort“ ist ein Ort, an dem Rettungseinsätze als beendet angesehen werden. Ferner ist dies ein Ort, an dem die Sicherheit des Lebens der Geretteten nicht mehr bedroht ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse (wie Ernährung, Obdach und medizinische Bedürfnisse) erfüllt werden können. Ferner ist dies ein Ort, von dem aus Vorkehrungen für die Beförderung der Geretteten an den nächsten oder den endgültigen Bestimmungsort getroffen werden können(42). Eine damit einhergehende konkrete Verpflichtung eines Küstenstaats (oder des Flaggenstaats des Schiffs oder des Staates, der den Such- und Rettungseinsatz [Search and Rescue – SAR] organisiert), den geretteten Personen zu gestatten, sich in seinem Hoheitsgebiet auszuschiffen, besteht jedoch nicht(43). Grundsätzlich (und selbstverständlich vorbehaltlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung) können Drittstaatsangehörige, die durch ein unter der Flagge eines Mitgliedstaats der Union fahrendes Schiff oder innerhalb der Hoheitsgewässer eines Mitgliedstaats gerettet werden, in einem Nicht-EU-Land ausgeschifft werden(44). Die Kommission hat vor zehn Jahren, im Jahr 2007, auf die Probleme, die mit der Bestimmung des für die Ausschiffung geeignetsten Hafens verbunden sind, hingewiesen(45). Der Ausschuss zur Erleichterung der Formalitäten (Facilitation Committee) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation schlug im Jahr 2009 vor, dass die für das Such- und Rettungsgebiet zuständige Regierung einer Ausschiffung geretteter Personen zustimmen müsse, wenn kein anderer sicherer Ort gefunden werden könne, dieser Vorschlag wurde jedoch später abgelehnt(46). Nach einer Initiative des Rates von 2010(47), die vom Gerichtshof aus Verfahrensgründen für nichtig erklärt wurde(48), legte die Frontex-Verordnung folgende Grundsatzregelung bei Such- und Rettungseinsätzen fest: Der Einsatzmitgliedstaat und die beteiligten Mitgliedstaaten müssen mit der Leitstelle zusammenarbeiten, um einen sicheren Ort zu finden; besteht diese Möglichkeit jedoch „so schnell, wie es nach vernünftigem Ermessen möglich ist“, nicht, dürfen die geretteten Personen im Einsatzmitgliedstaat ausgeschifft werden(49). Die Frontex-Verordnung findet jedoch in den Hoheitsgewässern von Drittländern keine Anwendung(50); die Verordnung wird zudem kritisiert, weil sie keine „klaren rechtlichen Vorgaben für die Ausschiffung bei Such- und Rettungssituationen“ mache(51).
54. Aus dem von mir dargestellten Kurzüberblick wird deutlich, dass der Schnittpunkt des internationalen Seerechts, des humanitären Völkerrechts (in Gestalt der Genfer Konvention von 1951) und des Unionsrechts keine umgehende und auf der Hand liegende Antwort auf die Frage liefert, ob in Bezug auf die bei der Überquerung des Mittelmeers geretteten und in einem Küstenmitgliedstaat der Union (typischerweise, aber nicht ausschließlich Griechenland oder Italien) ausgeschifften Personen davon auszugehen ist, dass sie die Grenze dieses Mitgliedstaats im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung „illegal“ überschritten haben.
55. Allerdings kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht die notwendigen Hinweise hier nicht ohne Weiteres geben. Da die Fragestellung im Vorabentscheidungsersuchen nicht aufgeworfen wurde, ist sie den Dublin-Staaten(52) nicht zur Kenntnis gebracht worden. Sie konnten daher keine informierte Entscheidung darüber treffen, ob sie schriftliche Erklärungen zu diesem Punkt vorlegen wollen.
56. Was den dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Sachverhalt angeht, hat der Gerichtshof keine Kenntnis davon, ob Herr Mengesteab auf See gerettet wurde (und gegebenenfalls von wem) oder ob ihm tatsächlich gestattet wurde, aus humanitären Gründen oder aufgrund von dessen völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Italien einzureisen. Er könnte sich im Gegenteil völlig heimlich bewegt haben. In diesem Fall ist es mehr als wahrscheinlich, dass Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung eindeutig auf seinen Fall Anwendung fände.
57. Aus diesen Gründen hielt ich es zwar für angezeigt, das Problem anzusprechen, doch dürfte meines Erachtens die richtige Auslegung von Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung im Kontext eines Übersetzens auf dem Seeweg mit anschließender Ankunft im Hoheitsgebiet eines Küstenmitgliedstaats eine Frage sein, deren Entscheidung einer anderen Rechtssache vorbehalten ist, in der sie von einem nationalen Gericht unmittelbar gestellt wird. Ich komme daher jetzt zu den vom vorlegenden Gericht vorgelegten Fragen.
Fragen 1, 2 und 3
58. Die Fragen 1 bis 3 stehen in engem Zusammenhang. Mit ihnen soll im Wesentlichen geklärt werden, ob Herr Mengesteab die Entscheidung anfechten kann, ihn von Deutschland nach Italien als dem für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen.
Frage 1: allgemeine Anmerkungen
59. Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob ein Antragsteller auf internationalen Schutz aufgrund von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung eine Überstellungsentscheidung anfechten kann, soweit der ersuchende Mitgliedstaat (hier Deutschland) die Dreimonatsfrist für die Stellung eines solchen Antrags nach Art. 21 Abs. 1 nicht einhält.
60. Nach Ansicht Deutschlands und des Vereinigten Königreichs ist Frage 1 mit „nein“ zu beantworten. Herr Mengesteab und Ungarn sind der gegenteiligen Ansicht. Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen vorgetragen, dass ein Antragsteller eine Überstellungsentscheidung mit dieser Begründung anfechten könne. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission ihre Ansicht geändert. Sie hat vorgetragen, dass das Recht eines Antragstellers auf einen Rechtsbehelf nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sich nicht auf die Bestimmungen dieser Verordnung erstrecke, die die Fristen regelten, innerhalb derer die Mitgliedstaaten ein Aufnahmegesuch stellen müssten.
61. Meines Erachtens wirft Frage 1 zwei allgemeine Fragestellungen auf, nämlich diejenige der Auslegung von Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung und diejenige des Geltungsbereichs des Rechts auf ein wirksames Rechtsmittel in Art. 27 Abs. 1. Die Frage ist im Wesentlichen, ob das Handeln der Mitgliedstaaten, insbesondere eine Untätigkeit während der in der Verordnung festgelegten Fristen, einer gerichtlichen Kontrolle im Wege einer auf die Anfechtung einer Überstellungsentscheidung gerichteten Klage eines Antragstellers auf internationalen Schutz vor einem nationalen Gericht unterliegen muss.
62. Bei der Prüfung dieser Fragestellungen dürfte meines Erachtens von wesentlicher Bedeutung sein, bestimmte allgemeine Grundsätze nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, die in den Erwägungsgründen der Dublin‑III-Verordnung bekräftigt werden(53). So ist die Union eine Rechtsgemeinschaft, in der weder ihre Mitgliedstaaten noch ihre Organe der Kontrolle daraufhin entzogen sind, ob ihre Handlungen mit der Charta oder den Verträgen im Einklang stehen, mit denen ein umfassendes System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen wird, das die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallenden Handlungen ermöglichen soll. Ferner sind die Grundrechte integraler Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Dabei lässt der Gerichtshof sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und insbesondere von der EMRK, der hierbei besondere Bedeutung zukommt, leiten(54).
63. Die konkret in Rede stehenden Grundrechte sind u. a. die Achtung der Verteidigungsrechte und das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, die durch Art. 47 der Charta garantiert werden. Das erstere Recht ist Teil der Verfahrensrechte, die unter das Recht auf rechtliches Gehör fallen. Das letztere Recht schließt ein, dass die jeweilige Behörde der betreffenden Person ermöglichen muss, ihre Rechte zu verteidigen und Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf in Bezug auf alle Verstöße gegen durch das Unionsrecht garantierte Rechte zu haben(55). In dieser Hinsicht hat Art. 47 der Charta einen weiteren Geltungsbereich als die entsprechenden Rechte in den Art. 6 und 13 EMRK(56).
64. Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze bei der Auslegung von Art. 21 Abs. 1 und Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung muss die Antwort auf Frage 1 meines Erachtens aus den von mir im Folgenden erläuterten Gründen „ja“ sein. Die praktischen Auswirkungen für den Fall von Herrn Mengesteab werden von der Antwort auf Frage 5 abhängen, in der es darum geht, wann davon auszugehen ist, dass ein Antrag auf internationalen Schutz „gestellt“ worden ist. Dieser Schritt markiert den Beginn der Dreimonatsfrist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1(57).
Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung
65. Auch wenn es keine ausdrückliche Bestimmung im Wortlaut dahin gibt, dass die Fristen nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung Gegenstand eines Rechtsbehelfs nach Art. 27 Abs. 1 sein können, widerspricht eine solche Auslegung weder dem Wortlaut noch den Zielen des Rechtsakts(58).
66. Das Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Rechten und den zwischenstaatlichen Mechanismen, die durch die Verfahren des Dublin-Systems eingeführt wurden, ist seit seinen Anfängen anerkannt(59). Da das Dublin-System ursprünglich dafür konzipiert war, einen Mechanismus bereitzustellen, der den Mitgliedstaaten eine rasche Bestimmung des für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständigen Staates ermöglicht, kann es vielleicht nicht überraschen, dass ein solches Spannungsverhältnis besteht(60).
67. Wie dieses Spannungsverhältnis richtigerweise aufzulösen ist, hat sich jedoch mit der Zeit geändert. Erstens sind jetzt die in der Charta als Primärrecht verankerten Grundrechte zu berücksichtigen(61). Zweitens zeigt die Entstehungsgeschichte, dass der Unionsgesetzgeber mit der Einführung der Dublin‑III-Verordnung sicherstellen wollte, dass ihre Bestimmungen mit den Grundrechten als allgemeinen Prinzipien des Unionsrechts und mit dem Völkerrecht in vollem Einklang standen. „Besondere Aufmerksamkeit galt dabei der Notwendigkeit, die Rechts- und Verfahrensgarantien für Personen zu stärken, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, damit sie ihre Rechte besser durchsetzen können …“(62). Diese Aufmerksamkeit für die Grundrechte wird aus der Systematik und dem Kontext der Dublin‑III-Verordnung deutlich. Zusammen bilden diese den Hintergrund, vor dem Art. 21 Abs. 1 auszulegen ist(63).
68. Aus der Systematik der Verordnung wird deutlich, dass das vorrangige Ziel darin besteht, den für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat so rasch wie möglich zu bestimmen(64). Die Bestimmung ist von den hierfür nach Art. 35 Abs. 1 benannten zuständigen Behörden vorzunehmen. Bei der Durchführung ihrer Aufgaben müssen die zuständigen Behörden die in der Dublin‑III-Verordnung vorgegebenen Fristen einhalten.
69. Nach Art. 3 Abs. 1 ist der Antrag von einem einzigen Mitgliedstaat zu prüfen, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Der allgemeine Grundsatz ist, dass die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags bei dem Mitgliedstaat liegt, der die größte Rolle dabei gespielt hat, dass der Antragsteller in das Unionsgebiet eingereist ist oder sich dort aufhält. Am häufigsten kommen die Kriterien nach Kapitel III betreffend die illegale Einreise in das Unionsgebiet (d. h. Art. 13 Abs. 1) zur Bestimmung der Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zur Anwendung, während die Kriterien nach den Art. 8 bis 11 des Kapitels III betreffend Minderjährige und die Einheit der Familie weniger häufig zur Anwendung gelangen(65). Das Dublin-System ist darauf ausgelegt, sicherzustellen, dass es für einen Antragsteller nicht zu einem Hin und Her zwischen Mitgliedstaaten kommt und dass er nicht im Orbit verharrt, ohne dass ein Mitgliedstaat bereit ist, seinen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen. Die Formulierung „ein einziger Mitgliedstaat“ zeigt an, dass Antragsteller nicht berechtigt sind, mehrere Anträge in mehreren Mitgliedstaaten zu stellen (im Folgenden: Forum shopping(66)).
70. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats muss eingeleitet werden, sobald in einem Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird (Art. 20 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung). Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen. Aufnahmegesuche müssen so bald wie möglich bzw. spätestens innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 gestellt werden. Der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wird, ist hierzu nicht verpflichtet, da das Aufnahmeverfahren in seinem Ermessen steht. Stellt er ein solches Gesuch nicht, bleibt er der zuständige Mitgliedstaat.
71. Ferner zeigt die Entstehungsgeschichte, dass die Frist für Aufnahmegesuche von sechs auf drei Monate verkürzt wurde, als das Dubliner Übereinkommen durch die Dublin‑II-Verordnung ersetzt wurde(67). Die geänderten Fristen in der Dublin‑II-Verordnung (die sich in der Dublin‑III-Verordnung wiederfinden) wurden an die Zulässigkeitsprüfungsverfahren in der (damals) vorgeschlagenen Asylverfahrensrichtlinie angeglichen(68). Die Kommission führte damals in ihrer Begründung aus, dass das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nur funktionieren könne, wenn u. a. Anträge innerhalb der vorgesehenen Fristen bearbeitet würden(69).
72. Entscheidet ein Mitgliedstaat sich für die Stellung eines Aufnahmegesuchs, gelten zwingend und streng die Fristen nach Art. 21 Abs. 1. Es ist weder vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten sie verlängern können, noch hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass Mitgliedstaaten von den vorgegebenen Fristen in Ausnahmefällen abweichen können.
73. Der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag gestellt wird, kann natürlich ein erfolgreiches Aufnahmegesuch an einen anderen Mitgliedstaat richten. In diesem Fall wird er die Zuständigkeit für die materielle Prüfung des Asylantrags verlieren. Er kann jedoch auch i) sich dafür entscheiden, kein Aufnahmegesuch zu stellen, ii) ein Gesuch innerhalb der Frist von drei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung stellen, das vom ersuchten Mitgliedstaat (wegen mangelnder Beweise) berechtigterweise abgelehnt wird, oder iii) ein solches Gesuch nach Ablauf der Dreimonatsfrist stellen. In jedem dieser Fälle wird er der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat(70). Dies hat natürlich eine materielle Folge für den Antragsteller selbst. Er wird nicht von Mitgliedstaat „A“ in den Mitgliedstaat „B“ überstellt. Er bleibt im erstgenannten Mitgliedstaat, während sein Antrag auf internationalen Schutz bearbeitet und über diesen entschieden wird. Die materielle Auswirkung auf den Antragsteller wird je nach den Umständen des Einzelfalls variieren. In Fällen, in denen das Dublin-Verfahren rasch abläuft, wird dieser Vorgang wahrscheinlich geringere Auswirkungen auf den allgemeinen Fortgang des Antrags des Antragstellers auf internationalen Schutz haben, als er in Fällen hätte, in denen es bei einem Antrag, insbesondere in der Vorphase der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, zu Verzögerungen kommt(71). In dieser Hinsicht geben die vorgesehenen Fristen, einschließlich derjenigen nach Art. 21 Abs. 1, den Antragstellern und dem betreffenden Mitgliedstaat ein gewisses Maß an Sicherheit. Die verschiedenen vorgesehenen Fristen sind für die Anwendung des Dublin-Systems im Allgemeinen von zentraler Bedeutung.
74. Diese Ansicht wird durch die Bestimmungen gestützt, die eingeführt wurden, um subjektive Rechte zu gewähren oder zu stärken, wie etwa das Recht auf Information nach Art. 4 Abs. 1 und das Recht auf Zustellung der Überstellungsentscheidung nach Art. 26 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung.
75. Hinzuzufügen ist, dass dem Wortlaut von Art. 29 Abs. 3 zu entnehmen ist, dass die gesetzliche Systematik davon ausgeht, dass eine Person irrtümlich überstellt werden kann und dass einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellung stattgegeben werden bzw. die Überprüfung einer Überstellung zu deren Aufhebung führen kann(72).
76. Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass dem Wortlaut und den Zielen in Verbindung mit der gesetzlichen Systematik der Dublin‑III-Verordnung zu entnehmen ist, dass Antragsteller in Fällen, in denen die Mitgliedstaaten die Fristen für Aufnahmegesuche nicht einhalten, berechtigt sein müssen, Überstellungsentscheidungen anzufechten, insbesondere wenn die Nichteinhaltung dieser Fristen sich auf den Fortgang des Antrags des Betroffenen auf internationalen Schutz auswirkt.
Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung
77. Das vorlegende Gericht ersucht um Hinweise dazu, ob die Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil Abdullahi(73) auf den Fall von Herrn Mengesteab anwendbar ist. Das Urteil Abdullahi betraf eine somalische Staatsangehörige, die in Griechenland erstmals in das Unionsgebiet eingereist war. Frau Abdullahi begab sich dann über Ungarn weiter nach Österreich, wo sie einen Asylantrag stellte. Die österreichischen Behörden vertraten die Ansicht, dass nach dem einschlägigen Kriterium nach Kapitel III Ungarn der zuständige Mitgliedstaat sei(74). Die ungarischen Behörden stimmten der Prüfung des von Frau Abdullahi gestellten Antrags zu. Frau Abdullahi war dagegen der Ansicht, dass Griechenland der zuständige Mitgliedstaat sei, da sie dort erstmals in das Unionsgebiet eingereist sei(75). Der Gerichtshof entschied, dass das Recht auf einen Rechtsbehelf nach Art. 19 Abs. 2 der Dublin‑II-Verordnung dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers auf der Grundlage zugestimmt hat, dass er tatsächlich der Mitgliedstaat der ersten Einreise in das Unionsgebiet sei, der Asylbewerber dem nur damit entgegentreten konnte, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
78. Die Entscheidung im Urteil Abdullahi dürfte meines Erachtens auf die besonderen Umstände jener Rechtssache beschränkt sein. Die Lage von Herrn Mengesteab ist hiervon zu unterscheiden.
79. Erstens wendet sich Herr Mengesteab nicht gegen die Anwendung des einschlägigen Kriteriums nach Kapitel III (Art. 13 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung). Zweitens ist die Auslegung der Dublin‑II-Verordnung im Urteil Abdullahi weitgehend durch die in der nächsten Dublin-Verordnung eingeführten Änderungen überlagert worden(76). Die Ziele und die allgemeine Systematik der Verordnung haben sich weiterentwickelt. Infolgedessen ist das Recht auf einen Rechtsbehelf weniger eingeschränkt, als dies nach Art. 19 Abs. 2 der Dublin‑II-Verordnung der Fall war. Die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung über Rechtsgarantien für Antragsteller betreffend die Informationen, die die Mitgliedstaaten ihnen mitteilen müssen, und die Verpflichtung zur Führung eines persönlichen Gesprächs waren in der früheren Verordnung ebenfalls nicht enthalten(77). Die Änderungen an der Gesetzessystematik werden durch die angegebenen Ziele bestätigt, den Antragstellern im Dublin-System gewährten Schutz zu verbessern und einen wirksamen Rechtsbehelf einzuführen, der sowohl die Prüfung der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfasst, in den der Antragsteller überstellt wird(78).
80. Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, wonach Antragsteller das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer Überprüfung haben müssen, lag dem Gerichtshof vor Kurzem in den Rechtssachen Ghezelbash(79) und Karim(80) zur Prüfung vor.
81. In beiden Rechtssachen wandte sich ein Antragsteller auf internationalen Schutz gegen eine Entscheidung der zuständigen Behörden in dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhielt, ihn in einen anderen Staat zu überstellen, der mit dem ersten Mitgliedstaat darüber einig war, die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags zu übernehmen. Im Urteil Ghezelbash entschied der Gerichtshof (im Zusammenhang mit einer geltend gemachten fehlerhaften Anwendung des Kriteriums nach Kapitel III betreffend Visa [Art. 12 der Dublin‑III-Verordnung]), dass, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, der in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene wirksame Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen muss, in den der Antragsteller überstellt werden soll(81). Im Urteil Karim entschied der Gerichtshof, dass die fehlerhafte Anwendung von Art. 19 Abs. 2 (der nicht zu den Kriterien nach Kapitel III gehört, sondern Teil von Kapitel V der Dublin‑III-Verordnung ist) im Wege eines Rechtsbehelfs nach Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung zur Überprüfung gestellt werden kann, und stellte insoweit fest, dass „die Anwendung der [Dublin‑III-Verordnung] im Wesentlichen auf der Durchführung eines Verfahrens zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats beruht, der aufgrund der in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien bestimmt wird …“(82).
82. Herr Mengesteab und Ungarn halten die Urteile Ghezelbash und Karim vorliegend für einschlägig. Deutschland, das Vereinigte Königreich und die Kommission halten diese Entscheidungen nur in begrenzten Fällen für einschlägig, nämlich dann, wenn ein Antragsteller auf internationalen Schutz geltend mache, dass die Kriterien nach Kapitel III fehlerhaft angewendet worden seien, oder die in Rede stehenden Bestimmungen mit der Anwendung dieser Kriterien in engem Zusammenhang ständen. Nach Ansicht der Kommission sollte der Gerichtshof ferner seine Entscheidungen in den Urteilen Ghezelbash und Karim klarstellen und eine eindeutige Bestimmung der Grenzen der Rechte eines Antragstellers nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vornehmen.
83. Auch wenn die Urteile Ghezelbash und Karim nicht ausdrücklich die Frage behandelten, ob ein Asylbewerber die Nichteinhaltung der Fristen nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung geltend machen kann, dürften die in jenen Rechtssachen aufgestellten Grundsätze hier meines Erachtens gleichermaßen Geltung haben(83).
84. Lassen Sie mich sofort auf die Einwände eingehen, die dagegen erhoben werden, dass Antragstellern in der Lage von Herrn Mengesteab im Wege eines Verfahren zur Überprüfung oder eines Rechtsbehelfs gegen Überstellungsentscheidungen eine Geltendmachung von Art. 21 Abs. 1 möglich sein soll.
85. Das erste, von Deutschland, dem Vereinigten Königreich und der Kommission (im Fall der Kommission in der mündlichen Verhandlung) vorgebrachte Argument ist, dass ein Antragsteller die Nichteinhaltung der Fristen nach Art. 21 Abs. 1 nicht geltend machen könne, weil die dort festgelegten Fristen das zwischenstaatliche Verhältnis zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Mitgliedstaat regelten. Demzufolge könne dieses Verhältnis nicht Gegenstand der Anfechtung durch einen Einzelnen sein.
86. Diese Ansicht halte ich nicht für überzeugend, weil das Dublin-System kein rein zwischenstaatliches Verfahren mehr ist. Diese Rechtslage endete mit dem Übergang des Dublin-Systems in den Besitzstand der Union als Dublin‑II-Verordnung, wie die vorbereitenden Materialien für diesen Rechtsakt zeigen(84). Noch eindeutiger wurde die Rechtslage mit der Einführung der Dublin‑III-Verordnung(85).
87. Der zweite, hauptsächlich vom Vereinigten Königreich erhobene Einwand ist, dass die festgelegten Fristen verfahrensrechtlichen Charakter hätten. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs sollte der Gerichtshof eine Abgrenzung zwischen den Bereichen vornehmen, die materielle Rechte begründeten (wie etwa die fehlerhafte Anwendung der Kriterien nach Kapitel III), und solchen, die (seiner Ansicht nach) lediglich das Verfahren beträfen.
88. Meines Erachtens ist die Rechtslage nicht so einfach, wie das Vereinigte Königreich vorträgt. Eine solche Abgrenzung könnte meines Erachtens zu einer gekünstelten Anwendung der Verordnung führen und in der Tat mit der Charta nicht im Einklang stehen.
89. Richtig ist zwar, dass die Festlegung von Fristen nach allgemeiner Ansicht verfahrensrechtlichen Charakter hat. Die Anwendung der Frist nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung hat jedoch materielle Auswirkungen sowohl für Antragsteller als auch die betreffenden Mitgliedstaaten(86).
90. Im Unionsrecht ist für Rechtsakte der Unionsorgane allgemein anerkannt, dass ein Verstoß gegen eine wesentliche Verfahrensvorschrift die Ausübung von Befugnissen rechtswidrig macht, soweit die Ausübung von Befugnissen geeignet ist, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Insoweit sind sowohl der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes als auch der Anspruch auf rechtliches Gehör als solche wesentlichen Verfahrensvorschriften angesehen worden(87). Bei einem Aufnahmegesuch treten im Fall einer Überschreitung der Frist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 die Folgen nach Unterabs. 3 ein – nämlich, dass der ersuchende Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig bleibt.
91. Der Gerichtshof hat in Bezug auf die Anfechtung der Gültigkeit von Entscheidungen über die Aufnahme von Namen in eine Liste entschieden, dass die gerichtliche Überprüfung sich u. a. auf die Einhaltung von Verfahrensregelungen erstreckt und der Unionsrichter zu prüfen hat, ob die betreffenden Verfahrensgarantien eingehalten wurden(88). Diese Grundsätze haben hier meines Erachtens gleichermaßen Geltung.
92. Die Anwendung der Fristen nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, die für die Rechtmäßigkeit eines Aufnahmegesuchs und einer darauf gestützten späteren Überstellungsentscheidung eine Rolle spielen, hängt mit tatsächlichen und rechtlichen Aspekten der Anwendung dieser Verordnung zusammen, für die die nationalen Gerichte in der Lage sein müssen, eine gerichtliche Kontrolle nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung wahrzunehmen.
93. Zu betonen ist, dass eine solche Entscheidung des Gerichtshofs dem Verfahren auf der nationalen Ebene niemals vorgreifen wird. Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verankert das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbehelf. Daraus folgt nicht, dass ein eingelegter Rechtsbehelf begründet und erfolgreich sein wird. Damit das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 27 Abs. 1 jedoch sinnvoll ausgeübt werden kann, müssen die nationalen Gerichte feststellen können, ob eine Überstellungsentscheidung aufgrund einer einvernehmlichen Aufnahme nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung unter Einhaltung der Verfahrensregelungen nach dieser Bestimmung und der grundlegenden Garantien nach dieser Verordnung ergangen ist(89).
94. Damit dieses Recht in Fällen wirksam ist, in denen ein Antragsteller eine Überstellungsentscheidung mit der Begründung anficht, dass der ersuchende Mitgliedstaat die Frist nach Art. 21 Abs. 1 für die Stellung eines Aufnahmegesuchs nicht eingehalten hat, muss das nationale Gericht die Anwendung der Dublin‑III-Verordnung u. a. nach ihrem Wortlaut, ihrer Systematik und den Zielen des Gesetzgebers prüfen. Wie bereits erwähnt, enthalten die Fristen nach Art. 21 Abs. 1 kein flexibles Element(90). Einem Antragsteller Zugang zu den Gerichten zu gewähren, wenn eine Frist nicht eingehalten wurde, ermöglicht eine gerichtliche Kontrolle, um sicherzustellen, dass diesem Antragsteller erforderlichenfalls tatsächlich ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung steht.
95. Das Vereinigte Königreich und die Kommission weisen zu Recht darauf hin, dass Art. 21 Abs. 1 nicht dahin formuliert sei, dass er subjektive Rechte gewähre. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber deshalb Einzelnen nicht gestatten wollte, eine Nichteinhaltung der in der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Frist geltend zu machen. Verbindliche Fristen wurden erstmals in der Dublin‑II-Verordnung eingeführt, um die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, den für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat so rasch wie möglich zu bestimmen, und die Situation zu vermeiden, dass Antragsteller auf internationalen Schutz über lange Zeiträume „im Orbit“ verharren(91). Ein Antragsteller hat somit ein Interesse daran, dass das Dublin-System wirksam angewendet wird, so dass der zuständige Mitgliedstaat zügig bestimmt wird und sein Fall in das Stadium gelangt, in dem sein Antrag materiell-rechtlich geprüft wird. Die Vermeidung von Verzögerungen zwischen der zunächst erfolgenden Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und der anschließenden Prüfung und Entscheidung eines Antrags auf internationalen Schutz hat auch Vorteile für die Mitgliedstaaten. Ein zügiges und effizientes Verfahren mindert die Wahrscheinlichkeit einer Sekundärmigration in Staaten, die in dem Ruf stehen, Dublin-Anträge schneller zu bearbeiten.
96. Wäre schon bei einem Aufnahmegesuch, bei dessen Stellung die Dreimonatsfrist nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung um einen Tag überschritten wird, eine spätere Überstellung unwirksam, oder sollten Überstellungen nur in Fällen einer gravierenden Nichteinhaltung, wie etwa von einem Jahr oder mehr, untersagt sein?
97. Hier ist darauf hinzuweisen, dass Art. 31 Abs. 3 der Asylverfahrensrichtlinie sechs Monate als die Frist bestimmt, innerhalb derer die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in materieller Hinsicht abzuschließen ist. Die Frist für die Stellung eines Aufnahmegesuchs sollte meines Erachtens unter normalen Umständen diejenige für die Durchführung der materiellen Prüfung nicht überschreiten können(92). Ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten (d. h. mehr als das Doppelte der vom Gesetzgeber vorgegebenen Frist) würde daher darauf hindeuten, dass die Ziele der Dublin‑III-Verordnung beeinträchtigt wurden. Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wäre nicht „zügig“ erfolgt, und der Antragsteller würde in der Tat bis zu der Entscheidung, die in diesem, der Prüfung seines Antrags in materieller Hinsicht vorgelagerten Stadium ergeht, „im Orbit“ verharren. Allerdings wäre es selbstverständlich Sache des nationalen Gerichts, über jeden Einzelfall im Licht aller Umstände zu entscheiden.
98. Hinzuzufügen ist, dass aufgrund dessen, dass eine Anfechtung nach Art. 27 Abs. 1 aufschiebende Wirkung hat, die Lage des ersuchten Mitgliedstaats nicht zwangsläufig beeinträchtigt wird, wenn eine Überstellungsentscheidung angefochten wird. Antragsteller, deren Rechtsbehelf erfolgreich ist, werden an sich nicht „belohnt“. Eine erfolgreiche Anfechtung bedeutet lediglich, dass dann die Ausgangsrechtslage nach der Dublin‑III-Verordnung eintritt und der ersuchende Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig bleibt.
99. Ein dritter, sowohl vom Vereinigten Königreich als auch von der Kommission vorgetragener Einwand ist, dass ein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen die Nichteinhaltung von Fristen dem Forum shopping Vorschub leisten würde.
100. Dieses Vorbringen überzeugt mich nicht.
101. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Herr Mengesteab im Verdacht stände, in dieser Weise tätig geworden zu sein. Daher gibt es hier keinen Anlass zu diesen konkreten Bedenken. Im Blick zu behalten ist auch, dass die Dublin‑III-Verordnung konkrete Bestimmungen enthält, um diesem Phänomen entgegenzuwirken, nämlich die Regelungen für Wiederaufnahmegesuche in den Art. 23 bis 25(93). Die Anfechtung einer Überstellungsentscheidung aufgrund von Art. 21 Abs. 1 mit der Begründung, dass die Dreimonatsfrist abgelaufen sei, ist eine vom Forum shopping zu trennende Frage.
102. Hat ein Antragsteller zwei Anträge in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten gestellt, würde dies in der Tat unter die Definition des Forum shopping fallen. In diesem Fall würden die Fristen nach Art. 23 gelten, und die zuständigen Behörden würden der vorgesehenen Dreimonatsfrist unterliegen. Werden die Fristen nicht eingehalten, liegt die Zuständigkeit bei dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag gestellt wird. Diese Folge ergibt sich jedoch aus der gesetzlichen Systematik selbst und nicht aus dem Recht auf einen Rechtsbehelf(94).
103. Der vierte Einwand wird ausschließlich von der Kommission erhoben. Ihrer Ansicht nach solle der Gerichtshof eine Einschränkung des Rechts auf einen Rechtsbehelf nach Art. 27 Abs. 1 dahin vornehmen, dass es ausschließlich an solche Bestimmungen gebunden werde, bei denen Grundrechte des Antragstellers betroffen seien(95). Dieses Vorbringen beruht nach meinem Verständnis auf der Annahme, dass das Asylrecht gewährleistet werde, soweit selbstverständlich der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt werde. So soll es nach Ansicht der Kommission ein Recht auf einen Rechtsbehelf nur geben, soweit das Recht auf Achtung des Familienlebens oder die Rechte des Kindes betroffen sind oder im Asylsystem des Staates, in den der Antragsteller überstellt werden soll, systemische Mängel bestehen(96).
104. Es ist im vorliegenden Verfahren nicht Aufgabe des Gerichtshofs, den Inhalt des Vorschlags der Kommission für eine „Dublin-IV-Verordnung“ zu prüfen. Allerdings verstehe ich selbst die Formulierung „das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel“ anders. Diese Formulierung ist in Verbindung mit den Art. 41 und 47 der Charta auszulegen(97); diesen Ansatz hat der Gerichtshof in den Urteilen Ghezelbash und Karim(98) verfolgt.
105. Die Auslegung der Kommission würde ferner zu einer willkürlichen Unterscheidung bei der Anwendung der Kriterien nach Kapitel III führen, da für Fälle, die die fehlerhafte Anwendung der Kriterien in Bezug auf Minderjährige oder bei Bestehen einer familiären Bindung (Art. 8 bis 11) betreffen, Art. 27 Abs. 1 gelten würde, für Fälle einer fehlerhaften Anwendung der Kriterien nach den Art. 12 bis 15 (Visa und Einreisevoraussetzungen) aber im Allgemeinen nicht.
106. Mir erscheint alles andere als eindeutig, dass eine solche Rechtslage mit den Anforderungen der Charta vereinbar wäre.
107. Für die Prüfung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung muss diese Bestimmung in Verbindung mit Art. 26 Abs. 1 ausgelegt werden. Nach der letzteren Bestimmung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen Antragsteller von einer gegen ihn ergangenen Überstellungsentscheidung in Kenntnis zu setzen. Art. 27 Abs. 1 gewährleistet zum einen den Anspruch auf rechtliches Gehör, der ein Verteidigungsrecht ist, und soll zum anderen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen fehlerhafte Überstellungsentscheidungen bereitstellen(99). Ohne die Mitteilungspflichten nach Art. 26 Abs. 1 könnte Art. 27 Abs. 1 diese Aufgaben nicht erfüllen. Schon aus dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 – „eine auf Sach- und Rechtsfragen gerichtete Überprüfung“ – ergibt sich, dass sich diese Bestimmung auf die Anwendung der Fristen erstreckt. Diese Auslegung steht mit den Verteidigungsrechten und dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes im Einklang, die, wie vom Gerichtshof im Urteil Kadi II(100) erläutert, im Zusammenhang stehen.
108. In Ermangelung eines ausdrücklichen Ausschlusses der in Art. 21 Abs. 1 geregelten Fristen in Art. 27 Abs. 1 würde es meines Erachtens dem Wortlaut, den Zielen und der Systematik der Dublin‑III-Verordnung widersprechen, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und den Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz in der Weise einzuschränken, wie dies vorgetragen wird.
109. Klar ist, dass die Flüchtlingskrise Ende 2015 und Anfang 2016 eine Ausnahmesituation entstehen ließ, die die Mitgliedstaaten in eine schwierige Lage brachte und die verfügbaren Ressourcen belastete(101). Dies kann meines Erachtens jedoch keine Rechtfertigung dafür sein, den nach den Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen gerichtlichen Rechtsschutz zu schmälern.
110. Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen ist, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz berechtigt ist, ein Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung einzulegen, die infolge eines Aufnahmegesuchs ergangen ist, wenn der ersuchende Mitgliedstaat bei der Stellung dieses Gesuchs die Frist nach Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung nicht eingehalten hat.
Frage 2
111. Das vorlegende Gericht fragt, ob ein Asylbewerber eine Überstellungsentscheidung auch dann anfechten kann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme zustimmt und der für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat wird.
112. Im Fall von Herrn Mengesteab wurde das Aufnahmegesuch Deutschlands von Italien nicht beantwortet. Nach Art. 22 Abs. 7 der Dublin‑III-Verordnung wird Italien zum zuständigen Mitgliedstaat bestimmt, weil die italienischen Behörden innerhalb der Frist von zwei Monaten nach Art. 22 Abs. 1 dieser Verordnung keine Antwort erteilten.
113. Meines Erachtens dürfte das in Art. 27 Abs. 1 verankerte Recht eines Antragstellers auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht von der Reaktion (bzw. der Untätigkeit) des ersuchten Mitgliedstaats abhängig sein. Nach dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 1 bezieht sich der Rechtsbehelf, den die Bestimmung bereitstellt, auf die Überstellungsentscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats. Sein Zweck besteht darin, eine gerichtliche Kontrolle darüber sicherzustellen, ob diese Entscheidung auf ordnungsgemäßer tatsächlicher und rechtlicher Grundlage zustande gekommen ist. Diese Gesichtspunkte unterliegen bei der Überprüfung der Kontrolle und nicht die Handlungen des ersuchten Mitgliedstaats, der innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt des Aufnahmegesuchs bestimmte Überprüfungen vornehmen muss (Art. 22 Abs. 1).
114. Bei der Anfechtung einer Überstellungsentscheidung durch den Antragsteller wegen Nichteinhaltung der Fristen nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung kommt es somit nicht darauf an, ob der ersuchte Mitgliedstaat dem Aufnahmegesuch zustimmt. Dies gilt auch dann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat nach Art. 22 Abs. 7 der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat wird.
115. Aufgrund der von mir auf die Fragen 1 und 2 vorgeschlagenen Antworten bedarf Frage 3 keiner Beantwortung.
Frage 4
116. Nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung muss im Fall einer Eurodac-Treffermeldung in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, der von den Behörden eines Mitgliedstaats bei einem illegalen Grenzübertritt im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung aufgegriffen wird, das Aufnahmegesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung gestellt werden.
117. Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob diese Zweimonatsfrist nach Ablauf der Dreimonatsfrist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beginnt, so dass dem ersuchenden Mitgliedstaat für die Stellung eines Aufnahmegesuchs eine Gesamtfrist von fünf Monaten bleibt. Oder sieht alternativ Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 im Fall einer Eurodac-Treffermeldung eine kürzere Frist vor?(102)
118. Ungarn und die Kommission sind der Ansicht, dass die Frist von zwei Monaten eigenständig sei und nicht am Ende der Dreimonatsfrist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beginne. Das Vereinigte Königreich ist anderer Ansicht. Seiner Ansicht nach ist es mit dem Wortlaut dieser Verordnung vereinbar, Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 dahin auszulegen, dass die Frist von zwei Monaten zusätzlich zu der Dreimonatsfrist gilt.
119. Nach dem Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beträgt die allgemeine Frist für die Stellung eines Aufnahmegesuchs drei Monate. Die Formulierung „abweichend von“ zu Beginn von Unterabs. 2 bedeutet, dass trotz der allgemeinen Regel eine besondere Bestimmung für Fälle getroffen wird, in denen eine Eurodac-Treffermeldung vorliegt. Nach meinem Verständnis tritt die Frist von zwei Monaten alternativ zu der allgemeinen Dreimonatsfrist an deren Stelle und gilt nicht zusätzlich zu dieser, und zwar aus folgenden Gründen.
120. Erstens ist eine Eurodac-Treffermeldung beim Abgleich der Fingerabdrücke eines Antragstellers mit den Abdruckdaten nach Art. 14 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung ein Beweis für eine illegale Einreise über eine Außengrenze der Mitgliedstaaten der Union(103). Ein solcher Beweis stellt ein förmliches Beweiselement dar, nach dem sich bestimmt, ob ein Mitgliedstaat tatsächlich der im Sinne der Dublin‑III-Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist(104). Durch einen Eurodac-Treffer kann dieses Verfahren schneller ablaufen als in Fällen, in denen kein derartiger Beweis vorliegt(105). Der ersuchende Staat sollte somit weniger Zeit für die Feststellung benötigen, ob er ein Aufnahmegesuch stellen sollte.
121. Zweitens spiegelt sich die Ansicht, dass eine Eurodac-Treffermeldung die rasche Entscheidung der Dublin‑III-Verfahren erleichtert, in den Bestimmungen über Wiederaufnahmeverfahren wider(106). Nach Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung muss in diesen Fällen ein Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung, gestellt werden. Stützt sich das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel als eine Eurodac-Treffermeldung, beträgt diese Frist nach Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 drei Monate ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz.
122. Ebenso wird in den Fällen des Art. 24 der Dublin‑III-Verordnung (über Wiederaufnahmegesuche in Bezug auf Personen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhalten und keinen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben) zwischen Fällen unterschieden, in denen eine Eurodac-Treffermeldung vorliegt und in denen ein solches Beweismittel nicht vorliegt. Art. 24 Abs. 2 Unterabs. 1 sieht eine Zweimonatsfrist vor, wenn eine Eurodac-Treffermeldung vorliegt. Unterabs. 2 dieser Bestimmung sieht eine Frist von drei Monaten vor, wenn ein solches Beweismittel nicht vorliegt. Nach Art. 25 Abs. 1 muss der ersuchte Mitgliedstaat auf ein Wiederaufnahmegesuch so rasch wie möglich, in jedem Fall aber nicht später als einen Monat nach Stellung des Gesuchs antworten. In den Fällen, in denen das Wiederaufnahmegesuch sich auf eine Eurodac-Treffermeldung stützt, stehen ihm jedoch nur zwei Wochen für die Beantwortung zur Verfügung.
123. Drittens werden die Fristen in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 durch verschiedene Ereignisse in Lauf gesetzt. Im ersteren Fall ist es die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz, auf die es ankommt. Im zweiten Fall ist es der Erhalt der Information aus dem Eurodac-Zentralsystem über eine Treffermeldung. Um zu einer Frist von fünf Monaten zu kommen, müsste bei den zwei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung davon ausgegangen werden, dass sie erst am Ende der Dreimonatsfrist beginnen, und zwar unabhängig davon, wann die Information über die Treffermeldung vorliegt. Eine solche Auslegung widerspricht jedoch dem ausdrücklichen Wortlaut.
124. Das Vereinigte Königreich hat Bedenken dahin geäußert, dass die Mitgliedstaaten gelegentlich Schwierigkeiten bei der Anwendung der Eurodac-Verordnung hätten. Es gebe Fälle, in denen Menschen sich absichtlich selbst verletzt hätten, um es den zuständigen Behörden zu erschweren, Abdrücke zu bekommen. Es gebe auch Fälle, in denen es schwierig sei, Abdrücke zu bekommen, weil die Fingerkuppen einer Person mit der Zeit durch körperliche Arbeit verletzt worden seien.
125. Auch wenn ich keine Zweifel daran habe, dass die Bedenken des Vereinigten Königreichs berechtigt sind, können die von ihm benannten Probleme meines Erachtens nicht dadurch gelöst werden, dass Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung in der von ihm vorgetragenen Weise ausgelegt werden.
126. Die Verpflichtung zur Abnahme von Fingerabdrücken wird durch Art. 9 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung begründet(107). Nach dieser Verordnung müssen Fingerabdrücke umgehend, so bald wie möglich nach Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz, jedenfalls aber spätestens 72 Stunden danach, abgenommen werden(108). Die Frist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung betrifft ausschließlich die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf Aufnahmegesuche. Sie regelt nicht den Zeitraum, innerhalb dessen die Fingerabdrücke eines Drittstaatsangehörigen nach Stellung seines Antrags auf internationalen Schutz abgenommen werden müssen. Wenn eine Eurodac-Treffermeldung vorliegt, müssen die Fingerabdrücke notwendigerweise schon im Eurodac-Zentralsystem gespeichert worden sein (weil sie beispielsweise im Zusammenhang mit einem illegalen Grenzübertritt in einen anderen Mitgliedstaat [nach Art. 14 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung] abgenommen und übermittelt wurden). Dieses Stadium des Verfahrens geht dem Aufnahmegesuch zeitlich voran. Soweit das Vereinigte Königreich Bedenken dahin hat, dass den Mitgliedstaaten durch eine kürzere Frist von zwei Monaten nach Unterabs. 2 dieser Bestimmung Nachteile entstehen könnten, dürfte seine Ansicht daher meines Erachtens auf einem Missverständnis von Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beruhen. Die Zweimonatsfrist kann nicht in Fällen in Lauf gesetzt werden, in denen keine Fingerabdrücke nach Art. 9 der Eurodac-Verordnung zum Abgleich mit bereits im Eurodac-Zentralsystem vorhandenen Abdrücken abgenommen werden oder in denen (aus welchem Grund auch immer) keine übereinstimmenden Fingerabdrücke in diesem System auffindbar sind. In einem solchen Fall würde die allgemeine Frist von drei Monaten gelten.
127. Ob die Frist von zwei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 sich mit der allgemeinen Frist von drei Monaten überschneidet oder ob diese Frist nach Ablauf der allgemeinen Dreimonatsfrist beginnt, wird zwar aus dem Wortlaut der Bestimmung (wohl) nicht deutlich.
128. Ein Hauptziel des Dublin-Verfahrens besteht jedoch darin, den zuständigen Mitgliedstaat zügig zu bestimmen. Mit diesem Ziel wäre es unvereinbar, wenn die Zweimonatsfrist so ausgelegt würde, dass sie nach Ablauf der Dreimonatsfrist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 begönne (woraus sich eine Frist von fünf Monaten ergäbe)(109). In Fällen einer Eurodac-Treffermeldung beginnt die Frist für die Stellung eines Aufnahmegesuchs somit, wenn der ersuchende Mitgliedstaat die Information erhält, die eine Übereinstimmung der Fingerabdrücke im Eurodac-Zentralsystem bestätigt. Eine solche Eurodac-Treffermeldung ist der Beweis einer illegalen Einreise an einer Außengrenze der Mitgliedstaaten der Union. Unter diesen Umständen muss der Zeitraum für die Stellung eines Aufnahmegesuchs daher kürzer sein als die allgemeine Dreimonatsfrist.
129. Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die Frist von drei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung die allgemeine Frist darstellt, innerhalb derer Aufnahmegesuche zu stellen sind. Die kürzere Frist von zwei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 gilt in Fällen, in denen eine Treffermeldung aus dem Abgleich mit nach Art. 9 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung erhobenen Fingerabdruckdaten im Sinne von Art. 2 Buchst. d und Art. 14 Abs. 1 dieser Verordnung vorliegt. Diese Frist von zwei Monaten gilt nicht zusätzlich zu der allgemeinen Frist von drei Monaten und kann daher nicht nach Ablauf der Frist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beginnen. In Fällen, in denen die zuständigen Behörden eine Treffermeldung erhalten, beginnt die Frist von zwei Monaten ab diesem Zeitpunkt und bewirkt eine Verkürzung der allgemeinen Frist von drei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1.
Frage 5
130. Mit Frage 5 geht es dem vorlegenden Gericht um eine Klärung der Bedeutung der Formulierung in Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung: „Ein Antrag auf internationalen Schutz gilt als gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist.“ Es erläutert, dass im deutschen System eine Bescheinigung, dass der betreffende Drittstaatsangehörige Asylsuchender ist, erstmals auf ein erstes formloses Asylgesuch hin ausgestellt werde. Sobald dieses Gesuch registriert sei, müsse der Drittstaatsangehörige sodann einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz beim BAMF, der nach Art. 35 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung benannten zuständigen Behörde, stellen. Ist die von den Behörden nach Stellung des formlosen Gesuchs ausgestellte Bescheinigung als „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz nach der Dublin‑III-Verordnung anzusehen, oder ist der Antrag erst dann gestellt, wenn die Stellung eines förmlichen Antrags bei den zuständigen Behörden protokolliert wurde?
131. Deutschland, das Vereinigte Königreich und die Kommission sind der Ansicht, dass ein Antrag erst gestellt sei, wenn der förmliche Antrag gestellt und den zuständigen Behörden zugegangen sei. Herr Mengesteab und Ungarn sind anderer Ansicht. Nach Ansicht von Herrn Mengesteab ist die Stellung des formlosen Asylgesuchs als Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung anzusehen; dieses Ereignis setze die Frist von drei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 in Gang. Nach Ansicht Ungarns stellt die auf ein formloses Asylgesuch hin ausgestellte Bescheinigung das von den Behörden übermittelte „Protokoll“ im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung dar.
132. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist ein Antrag auf internationalen Schutz als gestellt anzusehen, wenn die nationalen Behörden einem Antragsteller eine Bescheinigung ausstellen, wonach er berechtigt ist, sich bis zum Abschluss des Asylverfahrens im betreffenden Mitgliedstaat aufzuhalten und bestimmte Unterstützungsleistungen, wie etwa Unterbringung und bestimmte Sozialleistungen, in Anspruch zu nehmen.
133. Meines Erachtens ist in der Ansicht Deutschlands, des Vereinigten Königreichs und der Kommission die vorzugswürdige Auslegung von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zu sehen.
134. Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und das Ziel zu berücksichtigen, das mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt wird(110).
135. Ein Antrag auf internationalen Schutz ist in Art. 2 Buchst. h der Anerkennungsrichtlinie definiert als „das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht“(111). Dieser Wortlaut ist hinreichend weit, um sowohl ein formloses Gesuch um internationalen Schutz gegenüber den Behörden eines Mitgliedstaats (wie etwa den Polizei-, Grenzschutz-, Einwanderungsbehörden oder den Bediensteten einer Aufnahmeeinrichtung) als auch einen förmlichen Antrag bei den nach Art. 35 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung benannten zuständigen Behörden einzuschließen.
136. Die Dublin‑III-Verordnung definiert selbst nicht, was als „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz anzusehen ist. Was Verfahrensfragen im Bereich der Gewährung des internationalen Schutzes angeht, steht selbstverständlich die Asylverfahrensrichtlinie mit den Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung in engem Zusammenhang(112).
137. Art. 6 der Asylverfahrensrichtlinie unterscheidet in Bezug auf das Antragsverfahren zwischen zwei Stadien: erstens demjenigen, in dem eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, und zweitens demjenigen, in dem diese Person die Möglichkeit hat, einen solchen Antrag förmlich zu stellen(113). Für das erste Stadium sieht Art. 6 Abs. 1 vor, dass der Antrag innerhalb von drei Arbeitstagen nach seiner Stellung registriert werden muss(114). Für das zweite Stadium (für das nicht die Fristen nach Art. 6 Abs. 1 gelten) sieht Art. 6 Abs. 2 vor, dass eine Person, die einen Antrag gestellt hat, die Möglichkeit haben muss, diesen „so bald wie möglich“ förmlich zu stellen(115). Art. 6 Abs. 4 der Asylverfahrensrichtlinie entspricht Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung und bestimmt, dass „ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt [gilt], sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist“. Ebenso wie die Dublin‑III-Verordnung definiert auch die Asylverfahrensrichtlinie nicht, was als „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz anzusehen ist; auch konkrete Verfahrensbestimmungen sind nicht vorgesehen. Diese Aspekte unterliegen daher weiterhin den nationalen Regelungen.
138. Die Formulierung „gestellt“ in Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung legt ein förmliches Verfahren zur Einreichung eines Antrags auf internationalen Schutz nahe(116). Die Stellung dieses Antrags erfolgt entweder, indem ein Formblatt ausgefüllt oder von jemandem ein behördliches Protokoll im Namen des Antragstellers erstellt wird. Es gibt kein der Asylverfahrens- oder der Anerkennungsrichtlinie im Anhang angefügtes Standardformblatt für Anträge auf internationalen Schutz. Es ist daher Sache jedes Mitgliedstaats, den genauen Inhalt des Formblatts bzw. des Protokolls zu bestimmen. Es könnte sein, dass Antragsteller normalerweise selbst dafür verantwortlich wären, die Formblätter auszufüllen, vielleicht mit Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen oder die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats. Manche Antragsteller könnten jedoch nicht dazu imstande sein, ein Formblatt auszufüllen; daher ist vorgesehen, dass von dritter Seite ein Protokoll ausgefüllt werden kann, das anstelle eines Antragsformblatts verwendet werden kann. Diese Ansicht wird offenbar durch Art. 20 Abs. 2 gestützt, wonach „[b]ei einem nicht in schriftlicher Form gestellten Antrag … die Frist zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein [sollte]“. Soweit mir ersichtlich, ist die von den für die Aufnahme von Antragstellern zuständigen Behörden ausgestellte Bescheinigung kein Formblatt oder Protokoll im Sinne dieser Bestimmung. Der Zweck der Bescheinigung besteht lediglich darin, den Rechtsstatus des Antragstellers bis zur Prüfung seines Antrags zu bescheinigen und die Erfüllung der Anforderungen der Aufnahmerichtlinie sicherzustellen(117). Sie soll nicht solche detaillierten Angaben über einen Antragsteller wiedergeben, die erforderlich wären, damit die zuständigen Behörden seinen Asylantrag in materiell-rechtlicher Hinsicht bearbeiten könnten.
139. Als weitere Voraussetzung nach Art. 20 Abs. 2 dafür, dass der Antrag als gestellt anzusehen ist, muss das Formblatt oder Protokoll den zuständigen Behörden zugegangen sein. Im Kontext der Dublin‑III-Verordnung müssen die zuständigen Behörden die nach Art. 35 Abs. 1 benannten Behörden sein und nicht eine nationale Behörde, die im System eines Mitgliedstaats allgemeine Aufgaben in Bezug auf die Aufnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz hat. Denn an die Handlung der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz knüpfen sich innerhalb der Systematik des Dublin-Verfahrens bestimmte Folgewirkungen an. Sie markiert den Beginn i) des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags zuständigen Mitgliedstaats (Art. 1), ii) der Verpflichtung, dem Antragsteller Informationen über das Dublin-Verfahren mitzuteilen (Art. 4 Abs. 1), iii) der Möglichkeit eines Mitgliedstaats, über die Ausübung seines Ermessen zu entscheiden, im Wege einer Ausnahme von der Bestimmung der Zuständigkeit anhand der Kriterien nach Kapitel III der zuständige Mitgliedstaat zu werden (Art. 17 Abs. 1), und iv) der Fristen für Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuche (nach Art. 21 Unterabs. 1 bzw. Art. 23 Unterabs. 2)(118).
140. Der Antrag auf internationalen Schutz fällt somit unter Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung, wenn er auf einem Formblatt oder in einem Protokoll nach den nationalen Verfahrensbestimmungen gestellt wird und der nach Art. 35 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung benannten zuständigen Behörde zugegangen ist. Diese Behörde ist u. a. für den Empfang des Antrags zuständig. Ob es auch die Behörde ist, die Antragsteller bei der Erstellung des Antrags unterstützt, ist eine Frage, die der Asylverfahrensrichtlinie unterliegt.
141. Den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge ist im deutschen System ein Drittstaatsangehöriger, der gegenüber den nationalen Behörden, wie etwa den Grenzschutz-, Polizei- oder Ausländerbehörden, ein Gesuch um internationalen Schutz stellt (erstes Stadium), an eine Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten. Die Aufnahmeeinrichtung muss sodann das BAMF (die nach Art. 35 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung benannte zuständige Behörde) über den Antrag auf internationalen Schutz unterrichten. Der betreffenden Person ist eine Bescheinigung auszustellen. Diese Schritte müssen durchgeführt werden, bevor ein Antrag auf internationalen Schutz beim BAMF gestellt wird (zweites Stadium).
142. Das Dokument, das für das formlose Gesuch um internationalen Schutz (erstes Stadium) relevant ist, wird somit offenbar nicht dem BAMF eingereicht. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass das formlose Gesuch auf einem Formblatt nach Art. 20 Abs. 2 gestellt wird(119). Das formlose Gesuch ist kein Protokoll im Sinne dieser Bestimmung, weil es nicht von den nationalen Behörden erstellt wird. Es wird vielmehr vom Antragsteller selbst hervorgebracht.
143. Außerdem dürfte die auf das formlose Gesuch hin ausgestellte Bescheinigung meines Erachtens ebenfalls kein Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung sein. Denn die Bescheinigung ist kein Antrag auf internationalen Schutz eines Drittstaatsangehörigen im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Anerkennungsrichtlinie. Sie ist vielmehr eine behördliche Antwort auf das formlose Gesuch des Antragstellers. Sie gibt den vorläufigen Rechtsschutz der betreffenden Person bis zur Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz wieder und bescheinigt, dass sie Anspruch auf nach der Aufnahmerichtlinie zu gewährende Unterstützungsleistungen hat(120). Es dürfte sich wohl vielmehr um die nach Art. 6 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie auszuhändigende Bescheinigung nach nationalem Recht handeln, die den Rechtsstatus des Antragstellers bescheinigt und bestätigt, dass er sich bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten darf.
144. Die gegenteilige Auslegung von Art. 20 Abs. 2 durch das vorlegende Gericht beruht auf den Besonderheiten des Verfahrens im deutschen System. Für diese dürfte sich jedoch andernorts in der Union keine Entsprechung finden. Andere Mitgliedstaaten stellen möglicherweise auf ein formloses Gesuch um internationalen Schutz hin nicht notwendigerweise eine förmliche Bescheinigung aus. Meines Erachtens kann daher der Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung nicht den Zeitpunkt der Stellung des Antrags darstellen.
145. Nach Ansicht Ungarns würde den Mitgliedstaaten dann, wenn der Antrag auf internationalen Schutz als zu dem Zeitpunkt gestellt angesehen würde, zu dem er den zuständigen Behörden zugehe, ein zu großer Spielraum eingeräumt. Insbesondere könnten sie dann die Länge des Zeitraums bestimmen, der vom Zeitpunkt des erstmaligen Gesuchs um internationalen Schutz durch den Drittstaatsangehörigen bis zu dem Zeitpunkt vergehe, zu dem er seinen Antrag schlussendlich stelle, um so sicherzustellen, dass Anträge erst zu einem Zeitpunkt gestellt würden, zu dem die nationale Verwaltung gewährleisten könne, dass sie die Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchen einhalten könne. Dies könne zu einer willkürlichen Behandlung von Einzelfallen führen, die die Anwendung der Dublin-Verfahren insbesondere im Hinblick auf die Verpflichtung zu einer zügigen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats untergraben würde. Das vorlegende Gericht äußert ähnliche Bedenken.
146. Richtig ist zwar, dass die Dublin‑III-Verordnung keine Bestimmungen über den Zeitraum zwischen dem formlosen Gesuch und der Stellung eines förmlichen Antrags auf internationalen Schutz enthält. Es gibt keinerlei Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, innerhalb einer bestimmten Frist zu handeln, außer Art. 6 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, sicherzustellen, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Daraus folgt, dass es einem Mitgliedstaat in der Tat offensteht, zu „kontrollieren“, wie zeitnah er eine Stellung von Asylanträgen zulässt.
147. Den möglichen Nachteilen für Einzelne, die sich aus dieser Flexibilität ergeben, sind jedoch die Probleme entgegenzuhalten, die sich im Dublin-Verfahren ergeben würden, wenn Art. 20 Abs. 2 und Art. 35 Abs. 1 übergangen würden und formlose Gesuche gegenüber anderen als den nach der letzteren Bestimmung benannten nationalen Behörden der Stellung eines Antrags gleichgestellt würden. Meines Erachtens würde die letztere Auslegung das Dublin-Verfahren wohl eher stören und ein Element der Unsicherheit darüber einführen, wann ein Antrag tatsächlich gestellt ist. Sie würde außerdem die Berechnung der Fristen praktisch unmöglich machen.
148. In meinen Augen ist somit die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 vorzugswürdig, die dem Wortlaut dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 35 Abs. 1 sein volles Gewicht zuerkennt.
149. Meines Erachtens hat es der Gesetzgeber den nationalen Verfahrensregelungen überlassen, zu regeln, zu welchem Zeitpunkt das Formblatt oder das Protokoll im Sinne von Art. 20 Abs. 2 den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zugegangen ist. Soweit die Mitgliedstaaten Art. 6 Abs. 3 der Asylverfahrensrichtlinie anwenden, wird es in Bezug auf diesen Aspekt des Verfahrens weniger Raum für Verunsicherung geben, weil der Antrag persönlich (wie dies für Deutschland der Fall ist) oder an einem bestimmten Ort gestellt werden muss(121). Dies ist der Zeitpunkt, zu dem das Protokoll den zuständigen Behörden im Sinne von Art. 20 Abs. 2 „zugegangen“ ist.
150. Folglich ist in den informellen Gesuchen von Herrn Mengesteab um internationalen Schutz und den von den nationalen Behörden am 14. September 2015 und 8. Oktober 2015 ausgestellten Bescheinigungen nicht die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung zu sehen; diese Bescheinigungen stellten auch kein Protokoll im Sinne dieser Bestimmung dar. Demzufolge begann die Frist, innerhalb derer die zuständigen Behörden das Aufnahmegesuch stellen mussten, zu keinem dieser Zeitpunkte. Sie begann am 22. Juli 2016, dem Zeitpunkt, zu dem Herr Mengesteab seinen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz beim BAMF stellte. Das am 19. August 2016 gestellte Aufnahmegesuch wahrte somit die Frist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2.
151. Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass ein Antrag auf internationalen Schutz zu dem Zeitpunkt als im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung gestellt anzusehen ist, zu dem den zur Erfüllung der Verpflichtungen eines Mitgliedstaats nach Art. 35 Abs. 1 dieser Verordnung benannten zuständigen Behörden ein Formblatt oder ein Protokoll zugeht. Insoweit i) ist eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender nicht als Formblatt oder Protokoll anzusehen, ii) ist die benannte zuständige Behörde die für den Empfang eines in dem betreffenden Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständige Behörde und iii) bestimmt sich der Zugang des Antrags bei der zuständigen Behörde nach den die Asylverfahrensrichtlinie umsetzenden nationalen Bestimmungen.
Fragen 6 und 7
152. Ausgehend von meiner Antwort auf Frage 5 und ungeachtet dessen, dass die Frage letztlich Sache des nationalen Gerichts ist, dürfte das Aufnahmegesuch im Fall von Herrn Mengesteab meines Erachtens nicht unwirksam gewesen sein und die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz daher nicht nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 der Dublin‑III-Verordnung automatisch an Deutschland zurückgefallen sein. Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob die Verzögerung von zehn Monaten zwischen dem 8. Oktober 2015 (dem Zeitpunkt der Ausstellung der zweiten Bescheinigung) und dem 19. August 2016 (dem Datum des Aufnahmegesuchs) dazu führt, dass Deutschland verpflichtet ist, den Antrag von Herrn Mengesteab nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung zu prüfen (Frage 6). Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, bei welchem Zeitraum zwischen der Ausstellung einer Bescheinigung und der Stellung eines Aufnahmegesuchs eine unangemessene Verzögerung der Stellung eines solchen Gesuchs vorliegt (Frage 7).
153. Die kurze Antwort ist, dass die Mitgliedstaaten nicht zur Ausübung ihres Ermessens nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verpflichtet sein können, aus humanitären Gründen einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen. Ausgehend hiervon bedarf Frage 7 streng betrachtet keiner Prüfung(122).
154. Die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 ist eindeutig eine Frage des Unionsrechts(123). Dem Wortlaut ist zu entnehmen, dass die Bestimmung eine Ausnahme von der allgemeinen Regel in Art. 3 Abs. 1 darstellt, wonach der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat anhand der Kriterien nach Kapitel III zu bestimmen ist. Die Formulierung „jeder Mitgliedstaat [kann] beschließen, einen … Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen“ zeigt an, dass die Anwendung von Art. 17 Abs. 1 im Ermessen des Mitgliedstaats steht. Es gibt innerhalb der Dublin‑III-Verordnung keinen Mechanismus, der einen Mitgliedstaat dazu zwingt, von dieser Regelung Gebrauch zu machen. Die hinter der Frage des vorlegenden Gerichts stehende Prämisse, dass eine Verzögerung zwischen der Bescheinigung und dem Aufnahmegesuch dazu führen könnte, dass ein Mitgliedstaat zur Anwendung dieser Bestimmung verpflichtet wäre, ist somit unzutreffend(124). Ebenso findet sich in der Dublin‑III-Verordnung keine rechtliche Grundlage für die Feststellung, dass ein bestimmter Zeitraum unangemessen ist.
155. Meines Erachtens kann eine Verzögerung zwischen der Ausstellung einer Bescheinigung, mit der eine Person als Antragsteller auf internationalen Schutz registriert wird, und der Stellung eines Aufnahmegesuchs nicht dazu führen, dass der ersuchende Mitgliedstaat zur Ausübung seines Ermessens nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung verpflichtet ist. Ausgehend von dieser Antwort bedarf Frage 7 keiner Beantwortung.
Frage 8
156. Mit Frage 8 ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zu den Angaben, die das Aufnahmegesuch enthalten muss, damit ein solches Gesuch wirksam ist. Es möchte insbesondere wissen, ob es ausreicht, Angaben zum Datum der Einreise in den ersuchenden Mitgliedstaat sowie das Datum der Stellung des förmlichen Antrags auf internationalen Schutz durch den Antragsteller zu machen, oder ob auch das Datum des formlosen Schutzgesuchs und das Datum der Ausstellung der Bescheinigung anzugeben sind.
157. In Anhang I der Dublin-Durchführungsverordnung ist ein Formblatt zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats dargestellt, das auszufüllen ist, wenn ein Aufnahmegesuch gestellt wird. In diesem Formblatt sind keine Angaben zum erstmaligen formlosen Asylgesuch oder zum Datum der Bescheinigung enthalten. Solche Anforderungen sind auch in Art. 21 nicht vorgesehen.
158. Alle der acht Fragen des vorlegenden Gerichts stehen im Zusammenhang. Unter Berücksichtigung und ausgehend von meinen Stellungnahmen, insbesondere in Beantwortung der Fragen 1 bis 5, muss somit meines Erachtens ein Aufnahmegesuch keine Angaben zu dem formlosen Gesuch um internationalen Schutz und zum Datum der Bescheinigung enthalten.
159. Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass ein Aufnahmegesuch nach Art. 21 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung auf einem Formblatt wie demjenigen in Anhang I der Dublin- Durchführungsverordnung zu stellen ist, die Mitgliedstaaten jedoch nicht das Datum des erstmaligen formlosen Gesuchs um internationalen Schutz oder das Datum der Ausstellung der Bescheinigung über die Meldung als Antragsteller auf internationalen Schutz angeben müssen.
Ergebnis
160. Nach alledem sind die vom Verwaltungsgericht Minden vorgelegten Fragen meines Erachtens wie folgt zu beantworten:
1. Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist im Licht des 19. Erwägungsgrundes dieser Verordnung dahin auszulegen, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz berechtigt ist, ein Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung einzulegen, die infolge eines Aufnahmegesuchs ergangen ist, wenn der ersuchende Mitgliedstaat bei der Stellung dieses Gesuchs die Frist nach Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung nicht eingehalten hat.
2. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob der ersuchte Mitgliedstaat dem Aufnahmegesuch zustimmt. Dies gilt auch dann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat nach Art. 22 Abs. 7 der Verordnung Nr. 604/2013 der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat wird.
3. Frage 3 bedarf keiner Beantwortung.
4. Die Frist von drei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 stellt die allgemeine Frist dar, innerhalb derer Aufnahmegesuche zu stellen sind. Die kürzere Frist von zwei Monaten nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 gilt in Fällen, in denen eine Treffermeldung aus dem Abgleich mit nach Art. 9 Abs. 1 der Eurodac-Verordnung erhobenen Fingerabdruckdaten im Sinne von Art. 2 Buchst. d und Art. 14 Abs. 1 dieser Verordnung vorliegt. Diese Frist von zwei Monaten gilt nicht zusätzlich zu der allgemeinen Frist von drei Monaten und kann daher nicht nach Ablauf der Frist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 beginnen.
5. Ein Antrag auf internationalen Schutz ist zu dem Zeitpunkt als im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 gestellt anzusehen, zu dem den zur Erfüllung der Verpflichtungen eines Mitgliedstaats nach Art. 35 Abs. 1 dieser Verordnung benannten zuständigen Behörden ein Formblatt oder ein Protokoll zugeht. Insoweit i) ist eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender nicht als Formblatt oder Protokoll anzusehen, ii) ist die benannte zuständige Behörde die für den Empfang eines in dem betreffenden Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständige Behörde und iii) bestimmt sich der Zugang des Antrags bei der zuständigen Behörde nach den die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes umsetzenden nationalen Bestimmungen.
6. Eine Verzögerung zwischen der Ausstellung einer Bescheinigung, mit der eine Person als Antragsteller auf internationalen Schutz registriert wird, und der Stellung eines Aufnahmegesuchs kann nicht dazu führen, dass der ersuchende Mitgliedstaat zur Ausübung seines Ermessens nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 verpflichtet ist.
7. Frage 7 bedarf keiner Beantwortung.
8. Ein Aufnahmegesuch nach Art. 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist auf einem Formblatt wie demjenigen in Anhang I der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zu stellen, der ersuchende Mitgliedstaat muss jedoch auf diesem Formblatt nicht das Datum des erstmaligen formlosen Gesuchs um internationalen Schutz oder das Datum der Ausstellung der Bescheinigung über die Meldung als Antragsteller auf internationalen Schutz angeben.