Language of document : ECLI:EU:C:2017:745

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

10. Oktober 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung – Richtlinie 90/232/EWG – Art. 1 – Haftung im Fall von Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers – Pflichtversicherung – Unmittelbare Wirkung – Richtlinie 84/5/EWG – Art. 1 Abs. 4 – Stelle, die für den Ersatz von Sach- oder Personenschäden zuständig ist, die durch ein nicht ermitteltes oder nicht versichertes Fahrzeug verursacht werden – Möglichkeit, sich gegenüber einem Staat auf eine Richtlinie zu berufen – Voraussetzungen, unter denen eine privatrechtliche Stelle als eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung angesehen werden kann und ihr die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können“

In der Rechtssache C‑413/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 12. Mai 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2015, in dem Verfahren

Elaine Farrell

gegen

Alan Whitty,

Minister for the Environment,

Ireland,

Attorney General,

Motor Insurers Bureau of Ireland (MIBI)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Rosas und J. Malenovský, der Richter E. Juhász, A. Borg Barthet (Berichterstatter) und D. Šváby, der Richterinnen M. Berger, A. Prechal und K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und M. Vilaras,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: T. Millett, Hilfskanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Minister for the Environment, von Ireland und des Attorney General, vertreten durch E. Creedon und S. Purcell als Bevollmächtigte im Beistand von J. Connolly, SC, und C. Toland, BL,

–        des Motor Insurers Bureau of Ireland (MIBI), vertreten durch J. Walsh, Solicitor, B. Murray, Barrister, L. Reidy, SC, und B. Kennedy, SC,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und C. David als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer und K.‑Ph. Wojcik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. Juni 2017

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Frage, ob einer privatrechtlichen Stelle, die ein Mitgliedstaat mit der Aufgabe nach Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17) in der Fassung der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 (ABl. 1990, L 129, S. 33) (im Folgenden: Zweite Richtlinie) betraut hat, die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der Richtlinie entgegengehalten werden können.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich Frau Elaine Farrell auf der einen und Herr Alan Whitty, der Minister for the Environment (Umweltminister, Irland), Ireland (Irland), der Attorney General sowie das Motor Insurers Bureau of Ireland (MIBI) auf der anderen Seite wegen des Ersatzes der Personenschäden, die Frau Farrell bei einem Verkehrsunfall erlitten hatte, im ersten Rechtszug gegenüberstanden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 1972, L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie) sieht vor:

„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“

4        Art. 1 der Zweiten Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.

(4)      Jeder Mitgliedstaat schafft eine Stelle oder erkennt eine Stelle an, die für Sach- oder Personenschäden, welche durch ein nicht ermitteltes oder nicht im Sinne des Absatzes 1 versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen der Versicherungspflicht Ersatz zu leisten hat. Das Recht der Mitgliedstaaten, Bestimmungen zu erlassen, durch die der Einschaltung dieser Stelle subsidiärer Charakter verliehen wird oder durch die der Rückgriff dieser Stelle auf den oder die für den Unfall Verantwortlichen sowie auf andere Versicherer oder Einrichtungen der sozialen Sicherheit, die gegenüber dem Geschädigten zur Regulierung desselben Schadens verpflichtet sind, geregelt wird, bleibt unberührt. Die Mitgliedstaaten dürfen es der Stelle jedoch nicht gestatten, die Zahlung von Schadensersatz davon abhängig zu machen, dass der Geschädigte in irgendeiner Form nachweist, dass der Haftpflichtige zur Schadensersatzleistung nicht in der Lage ist oder die Zahlung verweigert.

…“

5        Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 der Zweiten Richtlinie lautet:

„Jeder Mitgliedstaat trifft zweckdienliche Maßnahmen, damit jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] ausgestellten Versicherungspolice, mit der die Nutzung oder Führung von Fahrzeugen durch

–        hierzu weder ausdrücklich noch stillschweigend ermächtigte Personen oder

–        Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, oder

–        Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind,

von der Versicherung ausgeschlossen werden, bei der Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten als wirkungslos gilt.“

6        Die Erwägungsgründe 2 bis 5 der Dritten Richtlinie 90/232 (im Folgenden: Dritte Richtlinie) lauten:

„Nach Artikel 3 der [Ersten Richtlinie] hat jeder Mitgliedstaat alle zweckdienlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Der Umfang der Schadensdeckung sowie die Modalitäten des Versicherungsschutzes sollten im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt werden.

Mit der [Zweiten Richtlinie] wurden die Unterschiede bezüglich Höhe und Inhalt der Pflichtversicherungsverträge zur Deckung der Haftpflicht in den einzelnen Mitgliedstaaten beträchtlich vermindert; erhebliche Unterschiede bestehen jedoch weiterhin hinsichtlich der Schadensdeckung durch eine solche Versicherung.

Den bei Kraftfahrzeug-Verkehrsunfällen Geschädigten sollte unabhängig davon, in welchem Land der [Union] sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantiert werden.

Lücken bestehen insbesondere in einigen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Versicherungspflicht für die Fahrzeuginsassen; sie sollten geschlossen werden, um diese besonders stark gefährdete Kategorie potenzieller Geschädigter zu schützen.“

7        Art. 1 Abs. 1 der Dritten Richtlinie lautet:

„Unbeschadet des Artikels 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 der [Zweiten Richtlinie] deckt die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.“

8        Gemäß Art. 6 Abs. 2 der Dritten Richtlinie verfügte Irland über eine am 31. Dezember 1998 endende Frist, um Art. 1 der Richtlinie in Bezug auf Motorrad-Soziusfahrer nachzukommen, und über eine am 31. Dezember 1995 endende Frist, um Art. 1 der Richtlinie in Bezug auf die übrigen Fahrzeuge nachzukommen.

 Irisches Recht

9        Nach Section 56 des Road Traffic Act 1961 (Straßenverkehrsgesetz von 1961) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz von 1961) hat jeder Nutzer eines Kraftfahrzeugs über eine Versicherung für Personen- und Sachschäden an Dritten auf öffentlichem Gelände zu verfügen. Diese Versicherungspflicht erstreckt sich jedoch nicht auf Schäden bei Personen, die in Fahrzeugbereichen mitfahren, die nicht für Mitfahrer ausgestattet sind.

10      Nach Section 78 des Gesetzes von 1961 sind Versicherer, die in Irland Kfz-Versicherungen anbieten, zur Mitgliedschaft im MIBI verpflichtet.

11      Das MIBI ist eine „company limited by guarantee“ (Gesellschaft mit beschränkter Nachschusspflicht ohne Kapitaleinlage), die ausschließlich durch ihre Mitglieder finanziert wird, bei denen es sich um Versicherer handelt, die auf dem irischen Kraftfahrzeugversicherungsmarkt tätig sind. Das MIBI wurde im November 1954 aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Department of Local Government (Ministerium für kommunale Verwaltung) und den in Irland tätigen Kfz-Versicherern eingerichtet.

12      Nach Ziff. 2 einer Vereinbarung von 1988 zwischen dem Umweltminister und dem MIBI kann das MIBI von jeder Person in Anspruch genommen werden, die Schadensersatz von einem nicht versicherten oder nicht ermittelten Fahrer verlangt. Ziff. 4 der Vereinbarung enthält die Entschädigungszusage des MIBI an die Opfer nicht versicherter oder nicht ermittelter Fahrer. Die Pflicht des MIBI zur Entschädigung der Opfer entsteht, wenn eine gerichtlich festgestellte Forderung nicht binnen 28 Tagen vollständig befriedigt wird, sofern diese Gerichtsentscheidung „eine Haftung für Personen- oder Sachschäden [betrifft], die von einer genehmigten Versicherungspolice nach Section 56 des [Gesetzes von 1961] gedeckt sein muss“.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13      Frau Farrell erlitt am 26. Januar 1996 einen Straßenverkehrsunfall. Sie war in einem Lieferwagen mitgefahren, dessen Eigentümer und Fahrer, Herr Whitty, die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte. Zum Unfallzeitpunkt saß Frau Farrell auf dem Boden des hinteren Teils des Fahrzeugs von Herrn Whitty, das für die Beförderung von Mitfahrern im hinteren Teil weder konstruiert noch gebaut war.

14      Da Herr Whitty gegen die von Frau Farrell erlittenen Personenschäden nicht versichert war, wandte sie sich wegen der Entschädigung an das MIBI.

15      Das MIBI weigerte sich, Frau Farrell zu entschädigen, weil nach irischem Recht die Versicherungspflicht keine Haftung für die ihr entstandenen Personenschäden vorsehe.

16      Im September 1997 erhob Frau Farrell vor den irischen Gerichten Klage gegen Herrn Whitty, den Umweltminister, Irland, den Attorney General und das MIBI, mit der sie u. a. geltend machte, dass mit den zum Zeitpunkt des Unfalls geltenden nationalen Umsetzungsvorschriften die einschlägigen Vorschriften der Ersten und der Dritten Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden seien. Der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) ersuchte daraufhin den Gerichtshof um Vorabentscheidung.

17      Im Rahmen jener Vorlage hat der Gerichtshof zum einen für Recht erkannt, dass Art. 1 der Dritten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung die Haftung für Personenschäden von Einzelpersonen nicht deckt, die in einem Teil eines Kraftfahrzeugs mitfahren, der mit Sitzgelegenheiten für Mitfahrer weder konstruiert noch gebaut ist, und zum anderen, dass dieser Artikel alle Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und demzufolge Einzelpersonen Rechte verleiht, auf die sie sich vor den nationalen Gerichten berufen können. Der Gerichtshof hat allerdings festgestellt, dass es dem nationalen Gericht obliegt, zu prüfen, ob diese Vorschrift gegenüber einer Einrichtung wie dem MIBI geltend gemacht werden kann (Urteil vom 19. April 2007, Farrell, C‑356/05, EU:C:2007:229, Rn. 36 und 44).

18      In einem Urteil vom 31. Januar 2008 stellte der High Court (Hoher Gerichtshof) fest, dass das MIBI eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung sei und Frau Farrell daher bei ihm Schadensersatz verlangen könne.

19      Gegen das Urteil legte das MIBI Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein, da es der Ansicht war, dass es keine dem Staat zuzurechnende Einrichtung sei und ihm daher die Bestimmungen einer Richtlinie, die nicht in nationales Recht umgesetzt worden seien, nicht entgegengehalten werden könnten, selbst wenn sie unmittelbare Wirkung hätten.

20      Nach Abschluss einer Vereinbarung zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens erhielt Frau Farrell eine Entschädigung für die ihr entstandenen Personenschäden. Das MIBI auf der einen und der Umweltminister, Irland und der Attorney General auf der anderen Seite sind sich jedoch uneins, wer diese Entschädigung zu leisten hat.

21      Der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) ist der Auffassung, dass die Antwort auf diese Frage davon abhängt, ob das MIBI als eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung anzusehen ist, der die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können. Er hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind die in Rn. 20 des Urteils vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C‑188/89, EU:C:1990:313), in Bezug auf die Frage, was eine einem Mitgliedstaat zuzurechnende Einrichtung ist, dargelegten Kriterien so zu verstehen, dass sie

a)      kumulativ oder

b)      alternativ

anzuwenden sind?

2.      Soweit die unterschiedlichen Gesichtspunkte, auf die im Urteil vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C‑188/89, EU:C:1990:313), Bezug genommen wird, alternativ als im Rahmen einer Gesamtbeurteilung angemessen zu berücksichtigende Faktoren anzusehen sind, gibt es einen tragenden Grundsatz, der den einzelnen in dieser Entscheidung genannten Faktoren zugrunde liegt und den ein Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob eine bestimmte Stelle eine staatliche Einrichtung ist, zu berücksichtigen hat?

3.      Reicht es für die Eigenschaft einer dem Mitgliedstaat zuzurechnenden Einrichtung aus, dass einer Stelle von einem Mitgliedstaat eine weit gefasste Verantwortlichkeit übertragen wurde, um vorgeblich unionsrechtliche Verpflichtungen zu erfüllen, oder ist es außerdem erforderlich, dass eine solche Einrichtung zusätzlich a) mit besonderen Rechten ausgestattet ist oder b) unter direkter Leitung oder Aufsicht des Mitgliedstaats tätig ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

22      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 288 AEUV dahin auszulegen ist, dass er nicht ausschließt, dass einer Einrichtung, die nicht alle in Rn. 20 des Urteils vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C‑188/89, EU:C:1990:313), genannten Eigenschaften aufweist, die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können.

23      In den Rn. 3 bis 5 des Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Einrichtung, um die es in der Rechtssache Foster u. a. ging, die British Gas Corporation, „eine durch Gesetz errichtete juristische Person“ war, „mit der Aufgabe, in Form eines Monopols ein Gasversorgungssystem in Großbritannien zu errichten und zu unterhalten“, dass „[die] Mitglieder [ihrer Geschäftsleitung] vom zuständigen Minister ernannt [wurden, der] auch befugt [war], [British Gas] im Hinblick auf Angelegenheiten, die das nationale Interesse betrafen, allgemeine Richtlinien vorzugeben sowie Weisungen in Bezug auf ihre Geschäftsführung zu erteilen“, und dass British Gas befugt war, „mit Zustimmung des Ministers Gesetzesvorschläge im Parlament einzubringen“.

24      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in Rn. 18 des Urteils darauf hingewiesen, dass er „in einer Reihe von Rechtssachen anerkannt [hat], dass sich die Einzelnen auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber Organisationen oder Einrichtungen berufen können, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten“.

25      Daraus hat er in Rn. 20 des Urteils gefolgert, dass „jedenfalls eine Einrichtung, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gilt, zu den Rechtssubjekten [gehört], denen die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können“.

26      Wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, macht die vom Gerichtshof in Rn. 20 des Urteils vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C‑188/89, EU:C:1990:313), gewählte Formulierung „gehört jedenfalls … zu [diesen] Rechtssubjekten“ deutlich, dass er keinen allgemeinen Test formulieren wollte, mit dem alle Fallgestaltungen erfasst werden sollen, in denen einer Einrichtung die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können, sondern dass er der Ansicht gewesen ist, dass eine Stelle wie die, um die es in der Rechtssache Foster u. a. ging, jedenfalls dann als eine solche Einrichtung anzusehen ist, wenn sie jede der in Rn. 20 des Urteils genannten Eigenschaften aufweist.

27      Rn. 20 des Urteils ist nämlich in Verbindung mit dessen Rn. 18 zu betrachten, wo der Gerichtshof hervorgehoben hat, dass eine Privatperson solche Bestimmungen gegenüber einer Organisation oder Einrichtung geltend machen kann, die dem Staat oder dessen Aufsicht untersteht oder mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten.

28      Wie die Generalanwältin in den Nrn. 53 und 77 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, können daher die Voraussetzungen, dass die betreffende Stelle dem Staat oder dessen Aufsicht untersteht und mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten, nicht kumulativ sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Dezember 1997, Kampelmann u. a., C‑253/96 bis C‑258/96, EU:C:1997:585, Rn. 46 und 47, sowie vom 7. September 2006, Vassallo, C‑180/04, EU:C:2006:518, Rn. 26).

29      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 288 AEUV dahin auszulegen ist, dass er als solcher nicht ausschließt, dass einer Einrichtung, die nicht alle in den Rn. 18 und 20 des Urteils vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C‑188/89, EU:C:1990:313), genannten Eigenschaften aufweist, die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

30      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es einen tragenden Grundsatz gibt, von dem sich ein Gericht bei der Beurteilung der Frage leiten zu lassen hat, ob einer Stelle die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können, und insbesondere, ob einer Stelle, die ein Mitgliedstaat mit der Aufgabe nach Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie betraut hat, solche Bestimmungen entgegengehalten werden können.

31      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist (Urteile vom 26. Februar 1986, Marshall, 152/84, EU:C:1986:84, Rn. 48, vom 14. Juli 1994, Faccini Dori, C‑91/92, EU:C:1994:292, Rn. 20, vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 108, und vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 30). Würde die Möglichkeit, sich auf nicht umgesetzte Richtlinien zu berufen, auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Einzelnen ausgedehnt, hieße das nämlich, der Union die Befugnis zuzuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zulasten der Einzelnen Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur dort darf, wo ihr die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist (Urteil vom 14. Juli 1994, Faccini Dori, C‑91/92, EU:C:1994:292, Rn. 24).

32      Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann der Einzelne, wenn er sich nicht einem Privaten, sondern dem Staat gegenüber auf eine Richtlinie berufen kann, dies jedoch unabhängig davon tun, in welcher Eigenschaft – als Arbeitgeber oder als Hoheitsträger – der Staat handelt. In dem einen wie dem anderen Fall muss nämlich verhindert werden, dass der Staat aus der Nichtbeachtung des Unionsrechts Nutzen ziehen kann (Urteile vom 26. Februar 1986, Marshall, 152/84, EU:C:1986:84, Rn. 49, vom 12. Juli 1990, Foster u. a., C‑188/89, EU:C:1990:313, Rn. 17, und vom 14. September 2000, Collino und Chiappero, C‑343/98, EU:C:2000:441 Rn. 22).

33      Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Gerichtshof anerkannt, dass sich die Einzelnen auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie nicht nur gegenüber einem Mitgliedstaat und allen Trägern seiner Verwaltung wie den dezentralen Stellen berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 1989, Costanzo, 103/88, EU:C:1989:256, Rn. 31), sondern auch – wie im Rahmen der Antwort auf die erste Frage ausgeführt – gegenüber Organisationen oder Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten (Urteile vom 12. Juli 1990, Foster u. a., C‑188/89, EU:C:1990:313, Rn. 18, und vom 4. Dezember 1997, Kampelmann u. a., C‑253/96 bis C‑258/96, EU:C:1997:585, Rn. 46).

34      Solche Organisationen oder Einrichtungen unterscheiden sich von Privatpersonen und sind dem Staat gleichzustellen, entweder weil sie juristische Personen des öffentlichen Rechts sind, die zum Staat im weiteren Sinne gehören, oder weil sie einer öffentlichen Stelle oder deren Aufsicht unterstehen oder weil sie von einer solchen Stelle mit der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut sind und hierzu mit den genannten besonderen Rechten ausgestattet wurden.

35      Daher können einer – selbst privatrechtlichen – Organisation oder Einrichtung, die von einem Mitgliedstaat mit der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut wurde und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten, die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden.

36      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie verpflichtet waren, alle zweckdienlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.

37      Die Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber dem Schutz der Geschädigten beimisst, hat ihn dazu veranlasst, dieses System zu vervollständigen, indem er durch Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet hat, eine Stelle einzurichten, die für Sach- oder Personenschäden, die durch ein nicht ermitteltes oder nicht im Sinne von Art. 1 Abs. 1 – der auf Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie verweist – versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen des Unionsrechts Ersatz zu leisten hat (Urteil vom 11. Juli 2013, Csonka u. a., C‑409/11, EU:C:2013:512, Rn. 29).

38      Folglich ist die Aufgabe, mit deren Erfüllung ein Mitgliedstaat eine Entschädigungsstelle wie das MIBI betraut hat und die zur Erreichung des allgemeinen Ziels des Schutzes der Geschädigten beiträgt, das mit der Unionsregelung über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung verfolgt wird, als eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe anzusehen, die sich aus der Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie ergibt.

39      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf Sach- oder Personenschäden, die durch ein nicht im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, entschieden hat, dass die Einschaltung dieser Stelle eine Abhilfe dafür sein soll, dass der Mitgliedstaat seine Pflicht nicht erfüllt hat, dafür zu sorgen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2013, Csonka u. a., C‑409/11, EU:C:2013:512, Rn. 31).

40      In Bezug auf das MIBI ist hinzuzufügen, dass der irische Gesetzgeber durch Section 78 des Gesetzes von 1961 alle Versicherer, die in Irland Kfz-Versicherungen anbieten, verpflichtet hat, bei dieser Stelle Mitglied zu werden. Damit hat er das MIBI mit besonderen Rechten ausgestattet, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten, da diese private Stelle aufgrund von Section 78 von allen diesen Versicherern verlangen kann, dass sie bei ihr Mitglied werden und die Erfüllung der Aufgabe finanzieren, mit der sie vom irischen Staat betraut wurde.

41      Folglich können gegenüber einer Stelle wie dem MIBI die unbedingten und hinreichend genauen Bestimmungen einer Richtlinie geltend gemacht werden.

42      Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass einer privatrechtlichen Stelle, die ein Mitgliedstaat mit einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut hat – wie der Aufgabe, die sich aus der Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie ergibt – und die hierzu kraft Gesetzes mit besonderen Rechten ausgestattet ist – wie der Befugnis, die Versicherer, die im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats Kfz-Versicherungen anbieten, zu verpflichten, bei dieser Stelle Mitglied zu werden und sie zu finanzieren –, die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können.

 Kosten

43      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 288 AEUV ist dahin auszulegen, dass er als solcher nicht ausschließt, dass einer Einrichtung, die nicht alle in den Rn. 18 und 20 des Urteils vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C188/89, EU:C:1990:313), genannten Eigenschaften aufweist, die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden können.

2.      Einer privatrechtlichen Stelle, die ein Mitgliedstaat mit einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut hat – wie der Aufgabe, die sich aus der Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung in der Fassung der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 ergibt – und die hierzu kraft Gesetzes mit besonderen Rechten ausgestattet ist – wie der Befugnis, die Versicherer, die im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats Kfz-Versicherungen anbieten, zu verpflichten, bei dieser Stelle Mitglied zu werden und sie zu finanzieren –, können die unmittelbar anwendbaren Bestimmungen einer Richtlinie entgegengehalten werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.