Language of document : ECLI:EU:C:2012:707

Rechtssache C‑35/11

Test Claimants in the FII Group Litigation

gegen

Commissioners of Inland Revenue und The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England & Wales], Chancery Division)

„Art. 49 AEUV und 63 AEUV – Ausschüttung von Dividenden – Körperschaftsteuer – Rechtssache C‑446/04 – Test Claimants in the FII Group Litigation – Auslegung des Urteils – Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung – Gleichwertigkeit der Befreiungs- und der Anrechnungsmethode – Begriffe ‚Steuersätze‘ und ‚unterschiedliche Besteuerungsniveaus‘ – Aus Drittstaaten stammende Dividenden“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 13. November 2012

1.        Niederlassungsfreiheit – Freier Kapitalverkehr – Steuerrecht – Körperschaftsteuer – Befreiung von Dividenden aus inländischen Quellen – Besteuerung von Dividenden aus ausländischen Quellen unter Anrechnung der tatsächlich von der ausschüttenden Gesellschaft in ihrem Sitzmitgliedstaat gezahlten Steuer – Tatsächliches Besteuerungsniveau bei den Gewinnen der Gesellschaften allgemein unter dem nominalen Steuersatz – Unzulässigkeit – Rechtfertigung – Notwendigkeit, die Kohärenz der Steuerregelung zu gewährleisten – Fehlen

(Art. 49 AEUV und 63 AEUV)

2.        Niederlassungsfreiheit – Freier Kapitalverkehr – Steuerrecht – Körperschaftsteuer – Anrechnung des Betrags der von der ausschüttenden Gesellschaft entrichteten Körperschaftsteuer auf die von einer gebietsansässigen Gesellschaft, die Dividenden aus inländischen Quellen bezieht, geschuldete – Unmöglichkeit für eine gebietsansässige Gesellschaft, die Dividenden aus ausländischen Quellen bezieht, die von der ausschüttenden Gesellschaft in ihrem Sitzstaat entrichtete Steuer von der den ausgeschütteten Gewinnen entsprechenden Steuer abzuziehen – Ausländische Steuer, die von einer Tochtergesellschaft entrichtet worden ist – Von der gebietsansässigen Muttergesellschaft geleistete Steuervorauszahlung – Unzulässigkeit

(Art. 49 AEUV und 63 AEUV)

3.        Niederlassungsfreiheit – Freier Kapitalverkehr – Steuerrecht – Körperschaftsteuer – Befreiung gebietsansässiger Gesellschaften, die an ihre Anteilseigner Dividenden ausschütten, die aus von ihnen bezogenen Dividenden aus inländischen Quellen stammen, von der Körperschaftsteuervorauszahlung – Wahlweise Regelung zugunsten gebietsansässiger Gesellschaften, die an ihre Anteilseigner Dividenden ausschütten, die aus von ihnen bezogenen Dividenden aus ausländischen Quellen stammen, die es ihnen erlaubt, die als Vorauszahlung geleistete Körperschaftsteuer zurückzuerlangen – Verpflichtung, die Steuervorauszahlung zu leisten und dann deren Erstattung zu beantragen – Keine Steuergutschrift für die Anteilseigner dieser Gesellschaften – Von einer Tochtergesellschaft entrichtete ausländische Steuer – Von der gebietsansässigen Muttergesellschaft geleistete Steuervorauszahlung – Unzulässigkeit

(Art. 49 AEUV und 63 AEUV)

4.        Recht der Europäischen Union – Unmittelbare Wirkung – Mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale Steuern – Erstattungspflicht

5.        Niederlassungsfreiheit – Freier Kapitalverkehr – Geltungsbereich – Steuerrecht – Körperschaftsteuer – Besteuerung von Dividenden – Steuerliche Behandlung von einer in einem Drittland ansässigen Gesellschaft ausgeschütteter Dividenden – Behandlung, die nicht ausschließlich für Situationen gilt, in denen die Muttergesellschaft einen entscheidenden Einfluss auf die ausschüttende Gesellschaft ausübt – Unanwendbarkeit der Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit – Anwendbarkeit der Bestimmungen über den freien Kapitalverkehr

(Art. 49 AEUV und 63 AEUV)

6.        Niederlassungsfreiheit – Steuerrecht – Körperschaftsteuer – Nationale Regelung, die es einer gebietsansässigen Gesellschaft nicht erlaubt, überschüssige Steuervorauszahlungen auf gebietsfremde und in diesem Staat nicht steuerpflichtige Tochtergesellschaften zu übertragen – Zulässigkeit

(Art. 49 AEUV)

1.        Die Art. 49 AEUV und 63 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Befreiungsmethode auf Dividenden aus inländischen Quellen und die Anrechnungsmethode auf Dividenden aus ausländischen Quellen anwendet, wenn sich erweist, dass zum einen die Steuergutschrift für die Dividenden empfangende Gesellschaft im Rahmen der Anrechnungsmethode dem Betrag der Steuer entspricht, die tatsächlich auf die den ausgeschütteten Dividenden zugrunde liegenden Gewinne entrichtet worden ist, und zum anderen in dem betreffenden Mitgliedstaat das effektive Besteuerungsniveau für die Gewinne von Gesellschaften generell unter dem vorgeschriebenen Steuersatz liegt.

Bei einer Ausschüttung von Dividenden aus inländischen Quellen muss nämlich die Empfängergesellschaft keine Körperschaftsteuer auf diese Dividenden zahlen, und zwar unabhängig von der Steuer, die die ausschüttende Gesellschaft entrichtet hat, d. h., auch wenn diese aufgrund der ihr gewährten Entlastungen überhaupt keine Steuer entrichten muss oder eine unter dem im Vereinigten Königreich geltenden Nominalsatz liegende Körperschaftsteuer zahlt. Dagegen führt die Anwendung der Anrechnungsmethode auf Dividenden aus ausländischen Quellen zu einer zusätzlichen steuerlichen Belastung bei der gebietsansässigen Empfängergesellschaft, wenn das effektive Besteuerungsniveau, dem die Gewinne der die Dividenden ausschüttenden Gesellschaft unterlagen, nicht den nominalen Steuersatz erreicht, dem die Gewinne der gebietsansässigen Gesellschaft unterliegen, die die Dividenden empfängt. Im Gegensatz zur Befreiungsmethode erlaubt die Anrechnungsmethode nämlich nicht die Weitergabe der Entlastungen, die auf der vorhergehenden Stufe der Dividenden ausschüttenden Gesellschaft bei der Körperschaftsteuer gewährt wurden, auf die Empfängergesellschaft. Daher wird die Gleichwertigkeit der steuerlichen Befreiung der von einer gebietsansässigen Gesellschaft ausgeschütteten Dividenden und der Anwendung einer Anrechnungsmethode auf die von einer gebietsfremden Gesellschaft ausgeschütteten Dividenden, die das effektive Niveau der Besteuerung der Gewinne im Quellenstaat berücksichtigt, beeinträchtigt, wenn die Gewinne der gebietsansässigen Gesellschaft, die Dividenden ausschüttet, im Ansässigkeitsmitgliedstaat einem niedrigeren effektiven Besteuerungsniveau unterliegt als dem dort anwendbaren nominalen Steuersatz.

Eine solche Regelung ist nicht durch die Notwendigkeit begründet, die Kohärenz der nationalen Steuerregelung zu gewährleisten. Zwar lässt sich die Anwendung der Anrechnungsmethode auf Dividenden aus ausländischen Quellen und der Befreiungsmethode auf Dividenden aus inländischen Quellen mit der Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne begründen, doch ist es für die Wahrung der betreffenden steuerlichen Kohärenz nicht erforderlich, einerseits für die Berechnung der steuerlichen Vergünstigung im Rahmen der Anwendung der Anrechnungsmethode das effektive Besteuerungsniveau bei den ausgeschütteten Gewinnen und andererseits im Rahmen der Befreiungsmethode nur den auf die ausgeschütteten Gewinne angewandten nominalen Steuersatz zu berücksichtigen. Eine nationale Regelung, die insbesondere auch im Rahmen der Anrechnungsmethode den nominalen Steuersatz berücksichtigt, dem die den ausgeschütteten Dividenden zugrunde liegenden Gewinne unterlagen, dürfte geeignet sein, die wirtschaftliche Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne zu vermeiden und die innere Kohärenz der Steuerregelung zu gewährleisten, und würde gleichzeitig die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr weniger beeinträchtigen.

(vgl. Randnrn. 46-48, 60-62, 65, Tenor 1)

2.        Die Art. 49 AEUV und 63 AEUV stehen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es einer gebietsansässigen Gesellschaft, die Dividenden von einer anderen gebietsansässigen Gesellschaft erhält, ermöglichen, von der Körperschaftsteuervorauszahlung, die die erstgenannte Gesellschaft zu leisten hat, die von der letztgenannten Gesellschaft geleistete Körperschaftsteuervorauszahlung abzuziehen, während ein solcher Abzug im Fall einer gebietsansässigen Gesellschaft, die Dividenden von einer gebietsfremden Gesellschaft erhält, in Bezug auf die Steuer, die von der letztgenannten Gesellschaft auf die ausgeschütteten Gewinne in ihrem Sitzstaat gezahlt worden ist, nicht möglich ist, auch dann entgegen, wenn

–        die ausländische Körperschaftsteuer, mit der die den ausgeschütteten Dividenden zugrunde liegenden Gewinne belegt waren, nicht oder nicht vollständig von der gebietsfremden Gesellschaft, die diese Dividenden an die gebietsansässige Gesellschaft zahlt, sondern von einer in einem Mitgliedstaat ansässigen direkten oder indirekten Tochtergesellschaft der erstgenannten Gesellschaft entrichtet worden ist;

–        die Körperschaftsteuervorauszahlung nicht von der gebietsansässigen Gesellschaft entrichtet worden ist, die die Dividenden von einer gebietsfremden Gesellschaft empfangen hat, sondern im Rahmen der Regelung der Gruppenbesteuerung von ihrer gebietsansässigen Muttergesellschaft.

(vgl. Randnrn. 67, 82, Tenor 3)

3.        Die Art. 49 EG und 63 EG stehen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, die gebietsansässige Gesellschaften, die an ihre Anteilseigner Dividenden ausschütten, die aus von ihnen bezogenen Dividenden aus inländischen Quellen stammen, von der Körperschaftsteuervorauszahlung befreien, dagegen gebietsansässigen Gesellschaften, die an ihre Anteilseigner Dividenden ausschütten, die aus von ihnen bezogenen Dividenden aus ausländischen Quellen stammen, die Möglichkeit einräumen, sich für eine Regelung zu entscheiden, nach der sie die als Vorauszahlung geleistete Körperschaftsteuer zurückerlangen können, dabei jedoch diese Gesellschaften zum einen verpflichten, die genannte Steuervorauszahlung zu leisten und dann deren Erstattung zu beantragen, und zum anderen keine Steuergutschrift für die Anteilseigner vorsehen, obwohl diese eine solche Gutschrift bei einer Ausschüttung durch eine gebietsansässige Gesellschaft auf der Grundlage von Dividenden aus inländischen Quellen erhalten hätten. Diese Bestimmungen stehen solchen Rechtsvorschriften auch dann entgegen, wenn

–        die ausländische Körperschaftsteuer, mit der die den ausgeschütteten Dividenden zugrunde liegenden Gewinne belegt waren, nicht oder nicht vollständig von der gebietsfremden Gesellschaft, die diese Dividenden an die gebietsansässige Gesellschaft zahlt, sondern von einer in einem Mitgliedstaat ansässigen direkten oder indirekten Tochtergesellschaft der erstgenannten Gesellschaft entrichtet worden ist;

–        die Körperschaftsteuervorauszahlung nicht von der gebietsansässigen Gesellschaft entrichtet worden ist, die die Dividenden von einer gebietsfremden Gesellschaft empfangen hat, sondern im Rahmen der Regelung der Gruppenbesteuerung von ihrer gebietsansässigen Muttergesellschaft.

(vgl. Randnrn. 67, 82, Tenor 2)

4.        Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft, die im Rahmen einer Regelung der Gruppenbesteuerung unter Verstoß gegen das Unionsrecht gezwungen war, die Körperschaftsteuervorauszahlung auf den aus Dividenden aus ausländischen Quellen stammenden Teil ihres Gewinns zu entrichten, einen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer hat, soweit diese den Mehrbetrag der Körperschaftsteuer übersteigt, den der betreffende Mitgliedstaat erheben durfte, um den im Vergleich zu dem nominalen Steuersatz für die Gewinne der gebietsansässigen Muttergesellschaft niedrigeren nominalen Steuersatz für die den Dividenden aus ausländischen Quellen zugrunde liegenden Gewinne auszugleichen.

Der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus den Bestimmungen des Unionsrechts erwachsen, die diesen Abgaben entgegenstehen. Der Mitgliedstaat ist also grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobene Abgaben zu erstatten.

(vgl. Randnrn. 84, 87, Tenor 3)

5.        Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass sich eine im Gebiet eines Mitgliedstaats ansässige Gesellschaft, die eine Beteiligung an einer in einem Drittland ansässigen Gesellschaft hält, die ihr einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der letztgenannten Gesellschaft verschafft, auf Art. 63 AEUV berufen kann, um die Vereinbarkeit einer Regelung dieses Mitgliedstaats über die steuerliche Behandlung von Dividenden aus Quellen dieses Drittlands, die nicht ausschließlich auf Situationen anwendbar ist, in dem die Muttergesellschaft einen entscheidenden Einfluss auf die Dividenden ausschüttende Gesellschaft ausübt, mit dieser Bestimmung in Frage zu stellen.

Da nämlich das Kapitel des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit keine Vorschrift enthält, die den Anwendungsbereich seiner Bestimmungen auf Sachverhalte erstreckt, die die Niederlassung einer Gesellschaft eines Mitgliedstaats in einem Drittstaat oder einer Gesellschaft eines Drittstaats in einem Mitgliedstaat betreffen, kann eine Regelung über die steuerliche Behandlung von Dividenden mit Quellen in Drittländern nicht von Art. 49 AEUV erfasst werden.

Ergibt sich aus dem Gegenstand einer solchen nationalen Regelung, dass sie nur auf Beteiligungen Anwendung finden soll, die es erlauben, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der betreffenden Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, ist weder eine Berufung auf Art. 49 AEUV noch eine auf Art. 63 AEUV möglich. Dagegen ist eine nationale Regelung über die steuerliche Behandlung von Dividenden aus einem Drittland, die nicht ausschließlich für Situationen gilt, in denen die Muttergesellschaft entscheidenden Einfluss auf die Gesellschaft ausübt, die die Dividenden ausschüttet, nach Art. 63 AEUV zu beurteilen.

(vgl. Randnrn. 97-99, 104, Tenor 4)

6.        Art. 49 EG steht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die es einer gebietsansässigen Gesellschaft ermöglichen, den als Vorauszahlung geleisteten Körperschaftsteuerbetrag, den sie nicht auf die von ihr für das betreffende Geschäftsjahr oder für frühere oder spätere Geschäftsjahre geschuldete Körperschaftsteuer anrechnen kann, auf gebietsansässige Tochtergesellschaften zu übertragen, damit diese ihn auf die von ihnen zu zahlende Körperschaftsteuer anrechnen können, es einer gebietsansässigen Gesellschaft jedoch nicht ermöglichen, diesen Betrag auf gebietsfremde Tochtergesellschaften zu übertragen, die in diesem Mitgliedstaat auf die dort erzielten Gewinne Steuern zahlen müssen.

Das Recht, eine überschüssige Steuervorauszahlung an Tochtergesellschaften abzutreten, gewährleistet, dass eine Gruppe von im selben Mitgliedstaat besteuerten Gesellschaften nicht – nur wegen dieser Steuervorauszahlung – einen höheren Steuerbetrag entrichtet, als er der gesamten in diesem Mitgliedstaat entstandenen Steuerschuld entspricht. Die Erstreckung dieses Rechts auf in diesem Mitgliedstaat nicht steuerpflichtige gebietsfremde Gesellschaften, würde faktisch dem Mitgliedstaat das legitime Recht nehmen, einen Mehrbetrag an Steuer auf Dividenden aus ausländischen Quellen zu erheben, die aus Gewinnen ausgeschüttet werden, die zu einem niedrigeren Steuersatz als dem in diesem Mitgliedstaat anwendbaren besteuert worden sind, und auf diese Weise die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

(vgl. Randnrn. 106, 110, 111, Tenor 5)