Language of document : ECLI:EU:C:2012:795

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

13. Dezember 2012(*)

„Wettbewerb – Art. 101 Abs. 1 AEUV – Kartell – Spürbarkeit einer Beschränkung – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 3 Abs. 2 – Nationale Wettbewerbsbehörde – Verhaltensweise, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen – Verfolgung und Ahndung – Nichtüberschreitung der in der De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Marktanteilsschwellen – Bezweckte Beschränkungen“

In der Rechtssache C‑226/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 10. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Mai 2011, in dem Verfahren

Expedia Inc.

gegen

Autorité de la concurrence u. a.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Richters A. Rosas in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter U. Lõhmus (Berichterstatter), A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Juni 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Expedia Inc., vertreten durch F. Molinié und F. Ninane, avocats,

–        der Autorité de la concurrence, vertreten durch F. Zivy und L. Gauthier-Lescop als Bevollmächtigte im Beistand von É. Baraduc, avocate,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und J. Gstalter als Bevollmächtigte,

–        von Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch N. von Lingen und B. Mongin als Bevollmächtigte,

–        der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch X. Lewis, M. Schneider und M. Moustakali als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. September 2012

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Expedia Inc. (im Folgenden: Expedia) und insbesondere der Autorité de la concurrence (ehemals Conseil de la concurrence) (Wettbewerbsbehörde) über die Verfolgung und die Geldbußen, die Letztere wegen Vereinbarungen über die Gründung einer gemeinsamen Tochtergesellschaft zwischen Expedia und der Société nationale des chemins de fer français (SNCF) (französische nationale Eisenbahngesellschaft, im Folgenden: SNCF) eingeleitet bzw. verhängt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:

„(1)      Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 [EG] an, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können, so wenden sie auch Artikel 81 [EG] auf diese Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen an. …

(2)      Die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts darf nicht zum Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen führen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, aber den Wettbewerb im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 [EG] nicht einschränken oder die Bedingungen des Artikels 81 Absatz 3 [EG] erfüllen oder durch eine Verordnung zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 [EG] erfasst sind …“

4        In den Ziff. 1, 2, 4, 6 und 7 der Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 [EG] nicht spürbar beschränken (de minimis) (ABl. 2001, C 368, S. 13; im Folgenden: De-minimis-Bekanntmachung), heißt es:

„1.      … Der Gerichtshof … hat präzisiert, dass [Artikel 81 Absatz 1 EG] nicht eingreift, wenn die Vereinbarung keine spürbaren Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel hat oder keine spürbare Wettbewerbsbeschränkung vorliegt

2.      In der vorliegenden Bekanntmachung quantifiziert die Kommission anhand von Marktanteilsschwellen, wann keine spürbare Wettbewerbsbeschränkung gemäß Artikel 81 [EG] vorliegt. Diese negative Definition der Spürbarkeit bedeutet nicht, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, deren Marktanteile über den in dieser Bekanntmachung festgelegten Schwellen liegen, den Wettbewerb spürbar beschränken. Solche Vereinbarungen können trotzdem nur geringfügige Auswirkungen auf den Wettbewerb haben und daher nicht dem Verbot des Artikels 81 Absatz 1 unterliegen …

4.      In Fällen, die in den Anwendungsbereich dieser Bekanntmachung fallen, wird die Kommission weder auf Antrag noch von Amts wegen ein Verfahren eröffnen. Gehen Unternehmen gutgläubig davon aus, dass eine Vereinbarung in den Anwendungsbereich der Bekanntmachung fällt, wird die Kommission keine Geldbußen verhängen. Die Bekanntmachung soll auch den Gerichten und Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Artikel 81 als Leitfaden dienen, auch wenn sie für diese nicht verbindlich ist.

6.      Die Bekanntmachung greift der Auslegung von Artikel 81 durch den Gerichtshof und das Gericht … nicht vor.

7.      Die Kommission ist der Auffassung, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, den Wettbewerb im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 nicht spürbar beschränken,

a)      wenn der von den an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen insgesamt gehaltene Marktanteil auf keinem der von der Vereinbarung betroffenen relevanten Märkte 10 % überschreitet in Fällen, wo die Vereinbarung zwischen Unternehmen geschlossen wird, die tatsächliche oder potenzielle Wettbewerber auf einem dieser Märkte sind (Vereinbarung zwischen Wettbewerbern) …

…“

 Französisches Recht

5        Art. L. 420‑1 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) lautet:

„Abgestimmtes Vorgehen, Vereinbarungen, Absprachen – seien sie ausdrücklicher oder stillschweigender Art – oder Bündnisse, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs auf einem Markt bezwecken oder bewirken können, sind, auch wenn sie direkt oder indirekt über eine außerhalb Frankreichs niedergelassene Konzerngesellschaft zustande kommen, verboten, insbesondere wenn sie darauf abzielen,

1.      den Zugang zum Markt oder die freie Ausübung des Wettbewerbs durch andere Unternehmen zu beschränken;

2.      die Festlegung der Preise durch das freie Kräftespiel des Marktes zu behindern, indem sie ihre künstliche Erhöhung oder Senkung begünstigen;

3.      die Erzeugung, den Absatz, die Investitionen oder den technischen Fortschritt einzuschränken oder zu kontrollieren;

4.      die Märkte oder die Versorgungsquellen aufzuteilen.“

6        Nach Art. L. 464‑6‑1 des Code de commerce kann die Autorité de la concurrence entscheiden, dass das Verfahren nicht weiterzuverfolgen ist, wenn die in Art. L. 420‑1 dieses Code aufgeführten Verhaltensweisen keine Verträge betreffen, die nach dem Code des marchés publics (Gesetzbuch über öffentliche Aufträge) vergeben werden, und der kumulierte Marktanteil der Unternehmen oder Einrichtungen, die an der in Rede stehenden Vereinbarung oder Verhaltensweise beteiligt sind, bestimmte Schwellen, die den in Ziff. 7 der De-minimis-Bekanntmachung festgelegten entsprechen, nicht überschreitet.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7        Um den Vertrieb von Bahnfahrkarten und Reisen im Internet auszubauen, schloss die SNCF im September 2001 mehrere Vereinbarungen mit Expedia, einer auf den Vertrieb von Reisen im Internet spezialisierten amerikanischen Gesellschaft, und gründete mit dieser eine gemeinsame Tochtergesellschaft mit der Bezeichnung GL Expedia. Die Website voyages-SNCF.com, die bis dahin nur der Information, der Reservierung und dem Verkauf von Bahnfahrkarten im Internet gedient hatte, war fortan das Tätigkeitsfeld der gemeinsamen Gesellschaft und wurde umgestaltet, um neben den ursprünglichen Dienstleistungen auch die eines Online-Reisebüros anzubieten. Im Jahr 2004 wurde diese gemeinsame Tochtergesellschaft in Agence de voyages SNCF.com (im Folgenden: Agence VSC) umbenannt.

8        Mit Entscheidung vom 5. Februar 2009 stellte die Autorité de la concurrence fest, dass die Partnerschaft von SNCF und Expedia bei der Gründung der Agence VSC ein gegen Art. 81 EG und Art. L. 420‑1 des Code de Commerce verstoßendes Kartell darstelle, mit dem bezweckt und bewirkt werde, diese gemeinsame Tochtergesellschaft auf dem Markt für Reisebürodienstleistungen für Urlaubsreisen zum Nachteil der Wettbewerber zu fördern. Sie verhängte sowohl gegen Expedia als auch gegen SNCF Geldbußen.

9        Die Autorité de la concurrence vertrat insbesondere die Ansicht, dass Expedia und SNCF auf dem Markt für Online-Dienste von Urlaubsreisebüros Wettbewerber seien und mehr als 10 % der Marktanteile hielten und dass daher die De-minimis-Regel in Ziff. 7 der De-minimis-Bekanntmachung und in Art. L. 464‑2‑1 des Code de commerce keine Anwendung finde.

10      Im Verfahren vor der Cour d’appel de Paris rügte Expedia, dass die Autorité de la concurrence die Marktanteile der Agence VSC überschätzt habe. Das Gericht nahm zu diesem Klagegrund nicht unmittelbar Stellung. In seinem Urteil vom 23. Februar 2010 entschied es insbesondere, dass die Autorité de la concurrence in Anbetracht des Wortlauts von Art. L. 464‑6‑1 des Code de commerce und insbesondere der Verwendung des Verbs „kann“ auf alle Fälle die Möglichkeit habe, die Verhaltensweisen der Unternehmen, deren Marktanteile die in dieser Regelung und in der De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellen nicht erreichten, zu verfolgen.

11      Die mit dem Rechtsmittel von Expedia gegen dieses Urteil befasste Cour de cassation führt aus, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kartell unstreitig einen wettbewerbswidrigen Zweck habe, wie von der Autorité de la concurrence festgestellt. In Anbetracht der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs stehe nicht fest, ob die Kommission ein solches Kartell verfolge, wenn die betreffenden Marktanteile die in der De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellen nicht überstiegen.

12      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts werfen ferner die Angaben in den Ziff. 4 und 6 der De-minimis-Bekanntmachung, wonach diese für die Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten nicht verbindlich sei und der Auslegung von Art. 101 AEUV durch die Gerichte der Europäischen Union nicht vorgreife, Zweifel hinsichtlich der Frage auf, ob die mit dieser Bekanntmachung eingeführten Marktanteilsschwellen eine unwiderlegbare Vermutung für das Nichtvorhandensein einer spürbaren Auswirkung auf den Wettbewerb im Sinne dieses Artikels darstellten.

13      Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen, dass sie der Verfolgung und Ahndung einer Praxis von Absprachen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, aber nicht die von der Europäischen Kommission in ihrer De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellenwerte erreicht, durch eine nationale Wettbewerbsbehörde auf der doppelten Grundlage des Art. 101 Abs. 1 AEUV und des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts entgegenstehen?

 Zur Vorlagefrage

14      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV durch eine nationale Wettbewerbsbehörde auf eine Vereinbarung zwischen Unternehmen entgegenstehen, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, jedoch nicht die von der Kommission in ihrer De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellenwerte erreicht.

15      Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 101 Abs. 1 AEUV alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken.

16      Nach ständiger Rechtsprechung wird eine Vereinbarung vom Verbot in dieser Bestimmung jedoch nicht erfasst, wenn sie den Markt nur geringfügig beeinträchtigt (Urteile vom 9. Juli 1969, Völk, 5/69, Slg. 1969, 295, Randnr. 7, vom 28. Mai 1998, Deere/Kommission, C‑7/95 P, Slg. 1998, I‑3111, Randnr. 77, vom 21. Januar 1999, Bagnasco u. a., C‑215/96 und C‑216/96, Slg. 1999, I‑135, Randnr. 34, sowie vom 23. November 2006, Asnef-Equifax und Administración del Estado, C‑238/05, Slg. 2006, I‑11125, Randnr. 50).

17      Eine Vereinbarung fällt daher nur dann unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV, wenn sie eine spürbare Einschränkung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezweckt oder bewirkt und geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (Urteile vom 24. Oktober 1995, Bayerische Motorenwerke, C‑70/93, Slg. 1995, I‑3439, Randnr. 18, vom 28. April 1998, Javico, C‑306/96, Slg. 1998, I‑1983, Randnr. 12, sowie vom 2. April 2009, Pedro IV Servicios, C‑260/07, Slg. 2009, I‑2437, Randnr. 68).

18      In Bezug auf die Rolle der Behörden der Mitgliedstaaten bei der Beachtung des Wettbewerbsrechts der Union stellt Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 eine enge Verbindung zwischen dem Kartellverbot in Art. 101 AEUV und den entsprechenden Vorschriften des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts her. Wenn die nationale Wettbewerbsbehörde die Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, mit denen Kartelle verboten werden, auf eine Vereinbarung zwischen Unternehmen anwendet, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 101 AEUV beeinträchtigen kann, ist sie nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 verpflichtet, parallel dazu auch Art. 101 AEUV anzuwenden (Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a., C‑17/10, Randnr. 77).

19      Nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 darf die Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts nicht zum Verbot solcher Kartelle führen, wenn sie den Wettbewerb im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht einschränken.

20      Somit dürfen die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten Bestimmungen des nationalen Rechts, die Kartelle verbieten, nur dann auf eine Vereinbarung zwischen Unternehmen anwenden, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 101 AEUV zu beeinträchtigen, wenn diese Vereinbarung eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt darstellt.

21      Der Gerichtshof hat entschieden, dass anhand des tatsächlichen Rahmens einer solchen Vereinbarung zu beurteilen ist, ob eine derartige Beschränkung vorliegt (vgl. Urteil vom 6. Mai 1971, Cadillon, 1/71, Slg. 1971, 351, Randnr. 8). Es ist insbesondere auf deren Inhalt und die mit ihr verfolgten Ziele sowie auf den rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang, in dem sie steht, abzustellen (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2009, GlaxoSmithKline Services u. a./Kommission, C‑501/06 P, C‑513/06 P, C‑515/06 P und C‑519/06 P, Slg. 2009, I‑9291, Randnr. 58). Auch sind die Natur der betroffenen Waren und Dienstleistungen, die auf dem betreffenden Markt oder den betreffenden Märkten bestehenden tatsächlichen Bedingungen und die Struktur dieses Marktes oder dieser Märkte zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Asnef-Equifax und Administración del Estado, Randnr. 49).

22      Im Rahmen seiner Prüfung hat der Gerichtshof es insbesondere berücksichtigt, wenn eine Alleinvertriebsvereinbarung selbst bei absolutem Gebietsschutz mit Rücksicht auf die schwache Stellung, die die Beteiligten auf dem betreffenden Markt haben, diesen Markt nur geringfügig beeinträchtigt (Urteile Völk, Randnr. 7, und Cadillon, Randnr. 9). In anderen Fällen hat er sich dagegen nicht auf die Stellung der Beteiligten auf dem betreffenden Markt gestützt. So hat der Gerichtshof in Randnr. 35 des Urteils Bagnasco u. a. ausgeführt, dass eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedern einer Bankenvereinigung, die die Möglichkeit ausschließt, bei der Gewährung eines Kontokorrentkredits einen festen Zinssatz zu vereinbaren, keine spürbaren wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen hat, wenn die Änderung des Zinssatzes von objektiven Gesichtspunkten wie der Entwicklung auf dem Geldmarkt abhängt.

23      Aus den Ziff. 1 und 2 der De-minimis-Bekanntmachung geht hervor, dass die Kommission in dieser Bekanntmachung anhand von Marktanteilsschwellen quantifizieren möchte, wann keine spürbare Wettbewerbsbeschränkung gemäß Art. 101 AEUV und der in den Randnrn. 16 und 17 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vorliegt.

24      Was den Wortlaut der De-minimis-Bekanntmachung angeht, wird in deren Ziff. 4 Satz 3 unterstrichen, dass sie weder für die Wettbewerbsbehörden noch für die Gerichte der Mitgliedstaaten verbindlich ist.

25      Ferner stellt die Kommission in Ziff. 2 Sätze 2 und 3 dieser Bekanntmachung klar, dass die verwendeten Marktanteilsschwellen zwar quantifizieren, wann keine spürbare Wettbewerbsbeschränkung gemäß Art. 101 AEUV vorliegt, dass diese negative Definition der Spürbarkeit aber nicht bedeutet, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die diese Schwellen überschreiten, den Wettbewerb spürbar beeinträchtigen.

26      Im Übrigen ist in der De-minimis-Bekanntmachung im Gegensatz zur Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (ABl. 2004, C 101, S. 43) nicht von Erklärungen der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten die Rede, wonach sie die Grundsätze der Bekanntmachung anerkennen und diese Grundsätze einhalten werden.

27      Auch aus den mit der De-minimis-Bekanntmachung verfolgten Zielen, wie sie in ihrer Ziff. 4 erwähnt sind, ergibt sich, dass die Bekanntmachung für die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht verbindlich sein soll.

28      Aus dieser Ziffer geht nämlich zum einen hervor, dass die Bekanntmachung dazu dient, zu erläutern, in welcher Weise die Kommission als Wettbewerbsbehörde der Union selbst Art. 101 AEUV anwenden wird. Infolgedessen hat die Kommission durch die De-minimis-Bekanntmachung die Ausübung ihres Ermessens beschränkt und kann nicht von dieser Bekanntmachung abweichen, ohne gegen allgemeine Rechtsgrundsätze, insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes, zu verstoßen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg. 2005, I‑5425, Randnr. 211). Zum anderen möchte sie den Gerichten und den Behörden der Mitgliedstaaten einen Leitfaden für die Anwendung dieses Artikels an die Hand geben.

29      Daraus ergibt sich, dass, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, eine Bekanntmachung der Kommission wie die De-minimis-Bekanntmachung für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2011, Pfleiderer, C‑360/09, Slg. 2011, I‑5161, Randnr. 21).

30      Entsprechend wurde diese Bekanntmachung im Jahr 2001 in der Reihe C des Amtsblatts der Europäischen Union veröffentlicht, in der anders als in der Reihe L keine rechtlich verbindlichen Rechtsakte, sondern nur Informationen, Empfehlungen und Stellungnahmen betreffend die Union veröffentlicht werden sollen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Mai 2011, Polska Telefonia Cyfrowa, C‑410/09, Slg. 2011, I‑3853, Randnr. 35).

31      Somit kann die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats für die Feststellung, ob eine Wettbewerbsbeschränkung spürbar ist, die in Ziff. 7 der De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellen berücksichtigen, ohne verpflichtet zu sein, sich daran zu halten. Solche Schwellen stellen nämlich nur Anhaltspunkte unter anderen dar, die es dieser Behörde ermöglichen können, anhand des tatsächlichen Rahmens einer Vereinbarung zu ermitteln, ob eine Beschränkung spürbar ist.

32      Entgegen dem Vorbringen von Expedia in der Sitzung können die Verfolgung und die Sanktionen, die die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats gegenüber den an einer Vereinbarung unterhalb der Schwellen der De-minimis-Bekanntmachung beteiligten Unternehmen einleitet bzw. verhängt, als solche in Anbetracht des Wortlauts von Ziff. 4 dieser Bekanntmachung nicht die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verletzen.

33      Außerdem erfordert, wie die Generalanwältin in Nr. 33 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen nicht, die De-minimis-Bekanntmachung als die nationalen Behörden bindende Rechtsnorm anzusehen. Kartelle sind nämlich bereits nach dem primären Unionsrecht, und zwar nach Art. 101 Abs. 1 AEUV, verboten.

34      Da Expedia, die französische Regierung und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen oder in der Sitzung Zweifel an der Feststellung des vorlegenden Gerichts geäußert haben, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kartell unstreitig einen wettbewerbswidrigen Zweck habe, ist darauf hinzuweisen, dass in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV, der auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, die Würdigung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt (vgl. Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, Slg. 2010, I‑8015, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Sodann ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV die tatsächlichen Auswirkungen einer Vereinbarung nicht berücksichtigt zu werden brauchen, wenn sich ergibt, dass diese eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 1966, Consten und Grundig/Kommission, 56/64 und 58/64, Slg. 1966, 429, sowie vom 8. Dezember 2011, KME Germany u. a./Kommission, C‑272/09 P, Slg. 2011, I‑12789, Randnr. 65, und KME Germany u. a./Kommission, C‑389/10 P, Slg. 2011, I‑13125, Randnr. 75).

36      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof unterstrichen, dass die Unterscheidung zwischen „bezweckten Verstößen“ und „bewirkten Verstößen“ darin begründet liegt, dass bestimmte Formen der Kollusion zwischen Unternehmen schon ihrer Natur nach als schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs angesehen werden (Urteile vom 20. November 2008, Beef Industry Development Society und Barry Brothers, C‑209/07, Slg. 2008, I‑8637, Randnr. 17, sowie vom 4. Juni 2009, T‑Mobile Netherlands u. a., C‑8/08, Slg. 2009, I‑4529, Randnr. 29).

37      Daher stellt eine Vereinbarung, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, und einen wettbewerbswidrigen Zweck hat, ihrer Natur nach und unabhängig von ihren konkreten Auswirkungen eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs dar.

38      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV durch eine nationale Wettbewerbsbehörde auf eine Vereinbarung zwischen Unternehmen nicht entgegenstehen, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, jedoch nicht die von der Kommission in ihrer De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellenwerte erreicht, sofern diese Vereinbarung eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

 Kosten

39      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV durch eine nationale Wettbewerbsbehörde auf eine Vereinbarung zwischen Unternehmen nicht entgegenstehen, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, jedoch nicht die von der Europäischen Kommission in ihrer Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 [EG] nicht spürbar beschränken (de minimis), festgelegten Schwellenwerte erreicht, sofern diese Vereinbarung eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.