Language of document : ECLI:EU:C:2015:797

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 3. Dezember 2015(1)

Rechtssache C‑542/14

„VM Remonts“ SIA (vormals „DIV un Ko“ SIA),

„Ausma grupa“ SIA

gegen

Konkurences padome

(Vorabentscheidungsersuchen der Augstākā tiesa [Oberster Gerichtshof, Lettland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 101 Abs. 1 AEUV – Zurechnung des rechtswidrigen Verhaltens eines unabhängigen Dienstleisters an ein Unternehmen – Fehlende Kenntnis des Unternehmens vom rechtswidrigen Verhalten des unabhängigen Dienstleisters“





I –    Einleitung

1.        In dem vorliegenden, am 27. November 2014 eingereichten Vorabentscheidungsersuchen der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) geht es um die Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV hinsichtlich einer angeblichen Abstimmung von Unternehmen bei ihrer Beteiligung an einer Ausschreibung der Stadt Jūrmala (Lettland).

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

2.        Art. 21 AEUV (früher Art. 18 EG) lautet:

„(1)       Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, insbesondere

a)      die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen;

b)      die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investitionen;

c)      die Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen;

d)      die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden;

e)      die an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen.

…“

B –    Lettisches Recht

3.        Art. 11 Abs. 1 des Wettbewerbsgesetzes (Konkurences likums) vom 4. Oktober 2001 (Latvijas Vēstnesis, 2001, Nr. 151) lautet:

„Vereinbarungen zwischen Marktteilnehmern, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb Lettlands bezwecken oder bewirken, sind verboten und von Anfang an nichtig; dazu gehören Vereinbarungen über

5)      die Teilnahme oder Nichtteilnahme an Ausschreibungen oder Versteigerungen oder die Bedingungen eines solchen Handelns (Unterlassens), es sei denn, die Teilnehmer haben ihr gemeinsames Angebot öffentlich bekannt gemacht und dieses Angebot bezweckt keine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs.

…“

III – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

4.        Der Gemeinderat von Jūrmala veranstaltete eine Ausschreibung zur Belieferung von Ausbildungseinrichtungen mit Lebensmittelerzeugnissen. „VM Remonts“ SIA (vormals „DIV un Ko“ SIA, im Folgenden: DIV un Ko), „Ausma grupa“ SIA (im Folgenden: Ausma grupa) und „Pārtikas kompānija“ SIA (im Folgenden: Pārtikas kompānija) gaben Angebote auf die Ausschreibung ab.

5.        Pārtikas kompānija zog „Juridiskā sabiedrība B&Š partneri“ SIA als rechtlichen Beistand bei der Erstellung und Einreichung ihres Angebots hinzu. Zu diesem Zweck zog „Juridiskā sabiedrība B&Š partneri“ SIA wiederum ein Subunternehmen hinzu, und zwar „MMD lietas“ SIA (im Folgenden: MMD lietas), die von Pārtikas kompānija einen Entwurf für ein Angebot erhielt, der von diesem Unternehmen unabhängig, ohne Abstimmung mit DIV un Ko oder Ausma grupa, erstellt wurde.

6.        Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich deutlich hervor, dass Pārtikas kompānija ihre Preise unabhängig festlegte (vgl. insbesondere Rn. 3.3 und 3.5 der Entscheidung) und dass die – für Tatsachenfragen allein zuständige – Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) darauf hingewiesen hat, dass keine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen Pārtikas kompānija und den anderen betroffenen Unternehmen existierte (vgl. insbesondere Rn. 3 und 3.5 der Entscheidung).

7.        Aus der Vorlageentscheidung geht außerdem hervor, dass MMD lietas, ohne Pārtikas kompānija darüber zu informieren, sich parallel verpflichtete, jeweils Angebote für DIV un Ko und Ausma grupa zu erstellen. Dabei habe ein Angestellter von MMD lietas das Angebot von Pārtikas kompānija als Referenz genutzt, um die Angebote der beiden anderen Ausschreibungsteilnehmer zu erstellen. MMD lietas habe insbesondere diese beiden Angebote ausgehend von den im Angebot von Pārtikas kompānija aufgeführten Preisen erstellt, so dass das Angebot von Ausma grupa ungefähr 5 % unter dem von Pārtikas kompānija und das von DIV un Ko 5 % unter dem von Ausma grupa gelegen habe.

8.        Am 21. Oktober 2011 entschied die Konkurences padome (Wettbewerbsrat), dass die drei an der Ausschreibung teilnehmenden Unternehmen gegen Art. 11 Abs. 1 Nr. 5 des Wettbewerbsgesetzes verstoßen hätten, indem sie ihre Angebote gemeinsam erstellten, um einen Wettbewerb vorzutäuschen. Der Wettbewerbsrat stellte fest, dass diese aufeinander abgestimmte Verhaltensweise den Wettbewerb verfälsche und verhängte gegen diese Unternehmen ein Bußgeld.

9.        DIV un Ko, Ausma grupa und Pārtikas kompānija beantragten vor der Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) die Aufhebung der Entscheidung des Wettbewerbsrats. Mit Urteil vom 3. Juli 2013 hob dieses Gericht die angefochtene Entscheidung insoweit auf, als darin eine Zuwiderhandlung durch Pārtikas kompānija festgestellt wurde, und bestätigte die Entscheidung bezüglich der anderen beiden Gesellschaften.

10.       Das Gericht war der Ansicht, dass das arithmetische Verhältnis zwischen den Angebotspreisen der drei an der Ausschreibung teilnehmenden Unternehmen zwar eine abgestimmte Verhaltensweise bei der Beteiligung an der Ausschreibung belege, meinte jedoch, dass kein Beweis für eine Beteiligung von Pārtikas kompānija hieran vorliege.

11.      DIV un Ko und Ausma grupa legten vor der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) Kassationsbeschwerde gegen das Urteil der Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) ein, soweit damit ihre Klage abgewiesen wurde. Der Wettbewerbsrat legte gegen das Urteil Kassationsbeschwerde ein, soweit damit der Klage von Pārtikas kompānija stattgegeben wurde.

12.      In diesem Rahmen stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob die Beteiligung eines Unternehmens an einem Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht seine Haftung begründet, wenn nicht nachgewiesen wurde, dass die Führungskräfte dieses Unternehmens den Handlungen zugestimmt hatten oder darüber informiert waren.

13.      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass Art. 11 Abs. 1 des Wettbewerbsgesetzes unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer Harmonisierung des nationalen Rechts und des Unionsrechts im Bereich des Wettbewerbsrechts erarbeitet wurde und dass die Auslegung dieser Bestimmung sich daher nicht von der des Art. 101 Abs. 1 AEUV unterscheiden dürfe.

14.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, und zwar insbesondere aus den Urteilen Musique Diffusion française u. a./Kommission (100/80 bis 103/80, EU:C:1983:158) sowie Slovenská sporiteľňa (C‑68/12, EU:C:2013:71), gehe hervor, dass ein Unternehmen im Sinne von Art. 101 AEUV für Handlungen hafte, die von Personen begangen würden, die wie Angestellte für dieses Unternehmen handelten, unabhängig von der Frage, ob die in diesem Unternehmen mit Entscheidungsbefugnis ausgestatteten Personen sie beauftragt hätten, in dieser Weise zu handeln, oder ob sie darüber informiert gewesen seien. Jedoch stelle sich die Frage, ob diese Rechtsprechung auf Fälle wie den des Ausgangsverfahrens anzuwenden sei, da die in dieser Rechtssache überprüften Handlungen nicht die Handlungen eines Angestellten von Pārtikas kompānija seien, sondern die eines von diesem Unternehmen unabhängigen Dienstleisters. Außerdem habe dieser Dienstleister nicht ausschließlich für dieses Unternehmen gearbeitet, sondern auch für Div un Ko und Ausma grupa.

15.      Unter diesen Umständen hat die Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass für die Feststellung, dass ein Unternehmen sich an einer den Wettbewerb beschränkenden Vereinbarung beteiligt hat, der Nachweis eines persönlichen Handelns einer Führungskraft des Unternehmens, ihrer Kenntnis oder ihrer Zustimmung hinsichtlich des Handelns einer Person erforderlich ist, die dem Unternehmen externe Leistungen erbringt und zugleich für Rechnung anderer Teilnehmer an einer möglichen verbotenen Vereinbarung tätig ist?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

16.      Die lettische und die italienische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. An der mündlichen Verhandlung vom 21. Oktober 2015 nahmen die lettische Regierung und die Kommission teil.

V –    Würdigung

A –    Zur Zulässigkeit

17.      Nur die Kommission hat sich zu diesem Punkt geäußert und spricht sich für die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens aus. Auch wenn nämlich das Unionsrecht nicht auf das Ausgangsverfahren anzuwenden sei, da die abgestimmte Verhaltensweise in dieser Rechtssache nicht den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtige, sei das Wettbewerbsgesetz gerade deshalb beschlossen worden, um das lettische Recht dem der Union anzupassen. Die Kommission fügt hinzu, dass die Umstände des Ausgangsverfahrens eher mit denen zu vergleichen seien, die dem Urteil Allianz Hungária Biztosító u. a. (C‑32/11, EU:C:2013:160) zugrunde lägen, als mit denen des Urteils Kleinwort Benson (C‑346/93, EU:C:1995:85).

18.      Meiner Ansicht nach ist das vorliegende Ersuchen zulässig.

19.      Der Gerichtshof ist nämlich zuständig für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen, die Bestimmungen des Unionsrechts in Fällen betreffen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den unmittelbaren Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, diese Bestimmungen aber durch das nationale Recht, das sich zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richtet, für anwendbar erklärt wurden. In solchen Fällen besteht nämlich ein klares Interesse der Europäischen Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden(2).

B –    Zur Beantwortung der Fragen

20.      In dieser Rechtssache wird der Gerichtshof vom vorlegenden Gericht gefragt, ob einem Unternehmen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Beteiligung an einer gemäß Art. 101 AEUV verbotenen abgestimmten Verhaltensweise zugerechnet werden kann, die in einem aufeinander abgestimmten Angebot im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens („bid rigging“(3)) besteht, allein aufgrund des Nachweises eines rechtswidrigen Verhaltens eines von diesem Unternehmen unabhängigen Dienstleisters, der mit der Erstellung des Angebots beauftragt wurde, wenn nicht bewiesen wurde, dass die Führungskräfte des besagten Unternehmens von diesem Verhalten informiert waren oder es erlaubt haben.

1.      Zusammenfassung des Vorbringens der Beteiligten

21.      Die lettische Regierung schlägt vor, auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass für die Feststellung, dass ein Unternehmen sich an einer den Wettbewerb beschränkenden Vereinbarung beteiligt hat, weder der Nachweis eines persönlichen Handelns einer Führungskraft des Unternehmens noch ihre Kenntnis oder Zustimmung hinsichtlich des Handelns eines für sein Unternehmen tätigen Dienstleisters, der auch für andere Teilnehmer an der möglichen verbotenen Vereinbarung tätig war, erforderlich ist.

22.      Die Regierung ist nämlich der Auffassung, dass in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens der rechtliche Status desjenigen, der die vom Unternehmen übertragene Aufgabe ausführt (Arbeitnehmer oder Selbständiger, Angestellter oder Beauftragter), für die Verantwortlichkeit des Unternehmens für einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht irrelevant ist.

23.      Für die besagte Regierung ergibt sich aus den Definitionen des Beauftragten und des Arbeitnehmers im lettischen Recht, dass beide im Interesse des Unternehmens handeln, das ihre Dienste in Anspruch nimmt. Dasselbe gelte für einen unabhängigen Dienstleister, der vom Unternehmen mit der Erbringung einer juristischen Dienstleistung beauftragt werde. Dieser habe nämlich die Erlaubnis erhalten, bei seiner Tätigkeit Informationen zu verwenden, die sich im Besitz des Unternehmens befänden. Ein externer Dienstleister trage nicht das unternehmerische Risiko, wenn er für Dritte handle, und vor diesem Hintergrund seien seine Handlungen dem Unternehmen, das seine Dienstleistungen in Anspruch nehme, zuzurechnen.

24.      Außerdem müsse ein Unternehmen bei der Auswahl seines Beauftragten ebenso vorsichtig vorgehen wie bei der Einstellung eines Arbeitnehmers. Ohne diese Verpflichtung könnten Unternehmen Dritte in Anspruch nehmen, um gegen das Wettbewerbsrecht zu verstoßen, ohne Strafen zu riskieren.

25.       Außerdem müsse geprüft werden, ob die vom Unternehmen an den Dienstleister übermittelten Informationen wettbewerbserheblich seien. Insoweit könnten Informationen über ein konkretes Angebot eines Unternehmens im Rahmen einer Ausschreibung eine solche Wirkung haben, da sie für die Öffentlichkeit unzugängliche Hinweise enthielten, die sich beispielsweise auf den Angebotspreis oder die Arbeitsweise des Unternehmens bezögen.

26.      Mit Rücksicht darauf, dass im Ausgangsverfahren MMD lietas im Besitz (sensibler) Informationen gewesen sei, die für den relevanten Markt wettbewerbserheblich sein konnten, und beauftragt gewesen sei, mit diesen Informationen im Namen von Pārtikas kompānija zu handeln, könne auf eine Haftung dieses Unternehmens für die vom Dienstleister für andere Teilnehmer an einer möglichen Vereinbarung erbrachten Handlungen geschlossen werden.

27.      Darüber hinaus führt die lettische Regierung aus, es sei nicht nötig zu beweisen, dass die Führungskräfte des Unternehmens dem unabhängigen Dienstleister gestattet hätten, die streitigen Informationen weiterzugeben, oder dass sie von dieser Übermittlung informiert gewesen seien. Die Führungskräfte seien nämlich als notwendigerweise über die Handlungen der von ihrem Unternehmen in Anspruch genommenen unabhängigen Dienstleister informiert anzusehen.

28.      Die italienische Regierung schlägt vor, das Vorabentscheidungsersuchen dahin gehend zu beantworten, dass einem Unternehmen die Verantwortlichkeit für eine wettbewerbswidrige Vereinbarung zugerechnet werden könne, wenn es an der Vereinbarung aufgrund des Verhaltens eines unabhängigen Dienstleisters beteiligt sei, der den konkurrierenden Unternehmen die Informationen übermittelt habe, die er von dem ersten Unternehmen erhalten habe, auch wenn die Führungskräfte dieses Unternehmens nicht von dieser Übermittlung informiert gewesen seien und sie nicht gestattet hätten, wenn nicht das betreffende Unternehmen beweise, dass es keine angemessene Möglichkeit gehabt habe, das rechtswidrige Handeln des Dienstleisters vorherzusehen und zu verhindern.

29.      Insoweit ist die Regierung der Ansicht, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Handeln von Angestellten eines Unternehmens entsprechend auf einen Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens angewandt werden könne, in dem das streitige Handeln auf einen unabhängigen Dienstleister zurückgehe. Es sei also nicht nötig, dass das eine verbotene Vereinbarung darstellende Verhalten den Führungskräften oder Vertretern dieses Unternehmens zuzuschreiben sei, sondern nur, dass das Verhalten einer Person zuzuschreiben sei, die verpflichtet sei, für das Unternehmen zu handeln.

30.      Zum einen wäre nämlich die Ahndung rechtswidriger Vereinbarungen gefährdet, wenn Unternehmen erlaubt würde, sich darauf zu berufen, dass das rechtswidrige Handeln auf Personen zurückgehe, die nicht zu den Führungskräften des Unternehmens gehörten, um sich von ihrer Haftung zu befreien.

31.      Zum anderen erfordere ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV keinen Vorsatz seitens des Unternehmens, sondern könne auf einer Fahrlässigkeit desselben beruhen. So könne durch den Umstand, dass die Führungskräfte eines Unternehmens wie Pārtikas kompānija es MMD lietas nicht ausdrücklich erlaubt hätten, den Wettbewerbern dieses Unternehmens den Entwurf für ein Angebot zu übermitteln, oder dass sie nicht gewusst hätten, dass eine solche Übermittlung erfolgt sei, nicht ausgeschlossen werden, dass das besagte Unternehmen sich an der verbotenen Vereinbarung durch das Handeln dieses Dienstleisters beteiligt habe. Pārtikas kompānija habe fahrlässig gehandelt, als es die Abfassung des Angebots einem Dienstleister übertrug, ohne ihm zu untersagen, dies auch für konkurrierende Unternehmen zu tun und den Inhalt zu deren Gunsten zu verwenden.

32.      Pārtikas kompānija habe ein Risiko akzeptiert, so dass sie für die aus dem Handeln dieses Dienstleisters hervorgehende wettbewerbswidrige Vereinbarung in vollem Umfang verantwortlich zu machen sei. Daraus folge, dass dieses Unternehmen sich von dieser Verantwortlichkeit nur befreien könne, indem es spezifisch nachweise, dass es keine angemessene Möglichkeit gehabt habe, das rechtswidrige Handeln des Dienstleisters vorherzusehen und zu verhindern.

33.      Die Kommission schlägt vor, die Frage des vorlegenden Gerichts wie folgt zu beantworten:

Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin gehend auszulegen, dass die Feststellung, dass sich ein Unternehmen durch das Handeln eines Beauftragten, der nicht zu seinen Angestellten gehört, an einer den Wettbewerb beschränkenden Vereinbarung beteiligt hat, den Beweis erfordert,

–        dass das rechtswidrige Handeln in den Bereich der durch das Unternehmen auf den Beauftragten übertragenen Aufgaben gehört oder

–        dass das Unternehmen vom rechtswidrigen Handeln des Beauftragten Kenntnis hatte und sich davon nicht offen distanzierte.

Wenn das rechtswidrige Handeln in den Bereich der dem Beauftragten übertragenen Aufgaben gehört, ist jedoch weder der Beweis erforderlich, dass dieser beauftragt wurde, die besagten Handlungen in rechtswidriger Weise durchzuführen, noch dass die Geschäftsführung des Unternehmens Kenntnis von diesem Handeln hatte oder diesem zugestimmt hatte.

34.      Diesbezüglich unterscheide erstens die Rechtsprechung des Gerichtshofs zwischen dem Begriff des Angestellten und dem des Vertreters. Insbesondere im Urteil Suiker Unie u. a./Kommission (40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73 bis 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73, EU:C:1975:174) habe der Gerichtshof anerkannt, dass im Sinne von Art. 101 AEUV ein Beauftragter ein von seinem Auftraggeber unabhängiges Unternehmen sein könne, außer in dem Fall, in dem ein Beauftragter in das Unternehmen des Geschäftsherrn „eingegliedert“ sei. Der Gerichtshof habe unterschiedliche Kriterien anerkannt, und zwar einerseits, ob der Beauftragte ein wirtschaftliches Risiko trage, und andererseits, ob die durch diesen erbrachten Dienstleistungen Ausschließlichkeitscharakter hätten. Diese Kriterien seien insbesondere vom Gericht der Europäischen Union im Urteil Minoan Lines/Kommission (T‑66/99, EU:T:2003:337) angewandt worden, wo die Frage geprüft worden sei, ob einem Unternehmen die Verantwortlichkeit für ein rechtswidriges Handeln des Beauftragten zugerechnet werden könne.

35.      Allerdings seien diese beiden Kriterien weder abschließend noch kumulativ. Aus dem Urteil Energetický a průmyslový und EP Investment Advisors/Kommission (T‑272/12, EU:T:2014:995) gehe hervor, dass auch die Feststellung wichtig sei, ob das fragliche rechtswidrige Verhalten im Bereich der Kompetenzen des Beauftragten lag, während das Kriterium des wirtschaftlichen Risikos oder der Ausschließlichkeit nicht immer entscheidend sei.

36.      Auch das Competition Appeal Tribunal (Berufungsgericht für Wettbewerbsrecht, Vereinigtes Königreich) habe diese Auffassung im Urteil A H Willis & Sons Ltd/Office of Fair Trading (OFT) [2011] CAT 13 vertreten. Dieses Gericht habe im Wesentlichen entschieden, dass das rechtswidrige Verhalten eines Beauftragten seinem Geschäftsherrn nicht zugerechnet werden könne, wenn sich die Handlung vollständig von den ihm übertragenen Aufgaben unterscheide.

37.      Was zweitens die für die Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn für Handlungen seiner Beauftragten geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze angeht, führt die Kommission aus, dass im französischen Recht(4) ein Geschäftsherr für das Verhalten des von ihm Beauftragten hafte, wenn die Zuwiderhandlung im Rahmen seiner ‐ tatsächlichen oder scheinbaren ‐ Aufgaben(5) begangen worden sei.

38.      Aus dieser Rechtsprechung und diesen Grundsätzen gehe hervor, dass der alleinige Umstand, dass MMD lietas nicht ausschließlich von Pārtikas kompānija beauftragt worden sei, nicht ausreiche, um dieses Unternehmen von seiner Haftung für das Verhalten von MMD lietas zu befreien. Dagegen könne das Verhalten von MMD lietas Pārtikas kompānija nicht zugerechnet werden, wenn es sich nicht in den Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben einfüge, außer wenn Pārtikas kompānija Kenntnis von diesem Verhalten hatte und sich davon nicht offen distanzierte. Da MMD lietas nur mit der Erstellung der Angebotsunterlagen von Pārtikas kompānija nach den Anweisungen dieses Unternehmens beauftragt worden sei (reine Vertretung des Unternehmens und Abgabe des Angebots), erscheine die Entscheidung eines Angestellten von MMD lietas, die Angebote der Konkurrenten von Pārtikas kompānija auf der Grundlage des für dieses Unternehmen erstellten Angebots auszuarbeiten, als eine völlig andere Tätigkeit, die dem besagten Unternehmen nicht zugerechnet werden könne. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten gehe außerdem auch hervor, dass MMD lietas nicht beauftragt gewesen sei, mit den anderen Unternehmen zu verhandeln.

2.      Beurteilung

a)      Allgemeine Überlegungen und Rechtsprechung

39.      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Begriff der aufeinander abgestimmten Verhaltensweise im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV auf jede Form der Koordinierung zwischen Unternehmen bezieht, die zwar noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen Sinn gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt(6). Ein solches Vorgehen kann insbesondere aus unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahmen zwischen Wettbewerbern hervorgehen, die bezwecken oder bewirken, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potenziellen Wettbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Wettbewerber über das Marktverhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht(7).

40.      Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass eine abgestimmte Verhaltensweise einem Unternehmen nicht ohne Nachweis seiner bewussten Beteiligung daran zugerechnet werden kann. In diesem Rahmen ist, auch wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofs keinen Beweis für einen bewussten Verstoß gegen Art. 101 AEUV fordert, dennoch die Feststellung erforderlich, dass das Unternehmen nicht ignorieren konnte, dass sein Verhalten eine Wettbewerbsbeschränkung zur Folge hatte(8).

41.      Insbesondere aufgrund der schweren Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht kann die Verantwortlichkeit grundsätzlich nur persönlich sein, unabhängig davon, ob die Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde.

42.      In dem Vorabentscheidungsersuchen wird dem Gerichtshof die Frage gestellt, ob im Wettbewerbsrecht einem Unternehmen Handlungen Dritter zugerechnet werden können.

43.      Diesbezüglich kann danach unterschieden werden, ob das wettbewerbsrechtlich verbotene Verhaltensweise zurückgeht auf

–        einen Angestellten des Unternehmens,

–        eine seiner Tochtergesellschaften oder

–        einen Dritten (natürliche oder juristische Person), der nicht in das Unternehmen eingegliedert ist.

44.      Wenn das Unternehmen selbst sich durch seine Vertreter oder Angestellten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben im Unternehmen wettbewerbsrechtswidrig verhält, haftet es unmittelbar, unabhängig davon, ob die Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde. In diesem Fall setzt die Anwendung des Wettbewerbsrechts auf das Unternehmen „keine Handlung und nicht einmal Kenntnisse der Inhaber oder Geschäftsführer des betreffenden Unternehmens voraus, sondern es genügt die Handlung einer Person, die berechtigt ist, für das Unternehmen tätig zu werden“(9).

45.      Dem Gerichtshof zufolge „findet die Beteiligung an nach dem AEU-Vertrag verbotenen Kartellen im Übrigen meistens im Verborgenen statt und unterliegt keinen Formvorschriften. Es kommt selten vor, dass ein Vertreter eines Unternehmens, der an einem Treffen teilnimmt, über eine Vollmacht für die Begehung einer Zuwiderhandlung verfügt.“ Daher ist „Art. 101 Abs. 1 AEUV … dahin auszulegen, dass es für die Bejahung des Vorliegens einer den Wettbewerb beschränkenden Vereinbarung nicht notwendig ist, das persönliche Handeln des satzungsgemäßen Vertreters eines Unternehmens oder die in Form einer Vollmacht erteilte persönliche Zustimmung dieses Vertreters zum Handeln eines seiner Mitarbeiter, der an einem wettbewerbswidrigen Treffen teilgenommen hat, nachzuweisen“(10).

46.      Die Rechtsprechung hat außerdem die Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften für gegen das Wettbewerbsrecht verstoßende Handlungen ihrer Tochtergesellschaften festgestellt, wenn diese Unternehmen eine wirtschaftliche Einheit bilden: „Verstößt eine solche wirtschaftliche Einheit gegen die Wettbewerbsregeln, hat sie nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung einzustehen“(11).

47.      Nach ständiger Rechtsprechung kann ferner „einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt …, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die die beiden Rechtssubjekte verbinden“(12).

48.      Es verbleibt der Fall, in dem die gegen das Wettbewerbsrecht verstoßende Handlung von einer (natürlichen oder juristischen) Person begangen wird, die weder eine Tochtergesellschaft des betreffenden Unternehmens noch in dieses eingegliedert ist, und in dem, wie vorliegend, dieser gegenüber dem Unternehmen Dritte als unabhängiger Dienstleister handelte. Inwieweit kann das von den Leistungen eines solchen Dienstleisters profitierende Unternehmen für dessen Handlungen haftbar gemacht werden?

49.      Zwei Fallgestaltungen sind denkbar:

–        Der Dritte handelte im Namen des Unternehmens und beging die gegen das Wettbewerbsrecht verstoßende Handlung in Erfüllung der ihm von diesem erteilten Aufträge. In diesem Fall ist die Verantwortlichkeit des Unternehmens, das die Dienste des Dritten in Anspruch genommen hat, eindeutig, denn es wusste oder hätte notwendigerweise wissen müssen, dass der Dritte eine gegen das Wettbewerbsrecht verstoßende Handlung begehen würde oder begangen hat, und es hat dem zugestimmt, oder diese Handlung gehörte sogar zu den dem Dritten übertragenen Aufgaben;

–        der Dritte handelte im Rahmen eines Vertrags mit dem betreffenden Unternehmen, ergriff jedoch Initiativen (insbesondere Handlungen, die gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen), die nicht zu den ihm übertragenen Aufgaben gehörten, ohne dass nachgewiesen wurde, dass die Führungskräfte dieses Unternehmens Kenntnis von einer solchen gegen das Wettbewerbsrecht verstoßenden Handlung des Dienstleisters hatten oder dieser sogar zustimmten.

50.      Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit die Verantwortlichkeit für eine durch diesen Dritten begangene rechtswidrige Handlung dem Unternehmen zugerechnet werden kann, das seine Leistungen in Anspruch genommen hat?

51.      Im Urteil Minoan Lines/Kommission (T‑66/99, EU:T:2003:337)(13) wollte das Gericht zu Recht wissen, ob das Unternehmen und der Beauftragte „ein und dasselbe Unternehmen oder ein und dieselbe wirtschaftliche Einheit mit einheitlichem Marktverhalten bilden oder zu einem solchen Unternehmen oder einer solchen Einheit gehören“ (Rn. 124). „Wenn dies der Fall ist, so kann der Dritte, wird er für seinen Geschäftsherrn tätig, grundsätzlich als ein ‚in [dessen] Unternehmen eingegliedertes Hilfsorgan‘ angesehen werden, das den Weisungen des Geschäftsherrn zu folgen hat und sonach mit dem betroffenen Unternehmen ebenso wie ein Handlungsgehilfe eine wirtschaftliche Einheit bildet“ (Rn. 125).

52.      Das Gericht stellte sodann bei der Frage nach dem Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit auf zwei Kriterien ab, „zum einen darauf, ob der Mittler ein wirtschaftliches Risiko zu tragen hat, und zum anderen darauf, ob die vom Mittler erbrachten Dienstleistungen Ausschließlichkeitscharakter haben“ (Rn. 126); das Fehlen einer Risikoteilung und die Ausschließlichkeit der Dienstleistungen spreche für das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit.

53.      Wie die lettische Regierung und die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt haben, können diese beiden Kriterien nicht abschließend und für sich allein entscheidend für die Feststellung sein, ob die Zuwiderhandlung eines Beauftragten seinem Geschäftsherrn zugerechnet werden kann.

54.      In seinem Urteil voestalpine und voestalpine Wire Rod Austria/Kommission (T‑418/10, EU:T:2015:516) entschied das Gericht, obwohl kein Beweis dafür vorlag, dass das Unternehmen die geringste Information über das wettbewerbswidrige Verhalten seines Beauftragten haben konnte, und nach Prüfung von dessen Verhalten und Aufgaben: „Unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles, d. h., wenn der Handelsvertreter im Namen und für Rechnung des Geschäftsherrn agiert, ohne das wirtschaftliche Risiko der ihm übertragenen Tätigkeiten zu tragen, kann das wettbewerbswidrige Verhalten des Handelsvertreters im Rahmen dieser Tätigkeiten dem Geschäftsherrn ebenso zugerechnet werden, wie es bei einem Arbeitgeber in Bezug auf die von einem seiner Beschäftigten begangenen rechtswidrigen Handlungen der Fall ist, auch ohne Nachweis der Kenntnis des Geschäftsherrn vom wettbewerbswidrigen Verhalten des Handelsvertreters“ (Rn. 175); in Rn. 178 dieses Urteils gelangte es zu dem Ergebnis: „Im vorliegenden Fall war die Kommission daher zu dem Schluss berechtigt, dass der Handelsvertreter und der Geschäftsherr hinsichtlich der Herrn G. von Austria Draht übertragenen Tätigkeiten eine wirtschaftliche Einheit bildeten, und durfte davon ausgehen, dass dem Geschäftsherrn die von Herrn G. im Rahmen der ihm übertragenen Tätigkeiten für Rechnung von Austria Draht begangenen rechtswidrigen Handlungen aufgrund dieser wirtschaftlichen Einheit zugerechnet werden können, ohne dass nachgewiesen zu werden brauchte, dass der Geschäftsherr von diesen Handlungen wusste.“

55.      Außerdem vertrat das Gericht in demselben Urteil die Auffassung, dass die Teilnahme des Beauftragten an einigen wettbewerbswidrigen Zusammenkünften seinem Geschäftsherrn nicht zugerechnet werden könne, denn die dort besprochenen Fragen gehörten eindeutig nicht zu der vom Geschäftsherrn diesem Handelsvertreter übertragenen Aufgabe, ihn zu vertreten (vgl. in diesem Sinne Rn. 384). Das Gericht war der Ansicht, dass die Verantwortlichkeit für wettbewerbswidriges Verhalten des Handelsvertreters, das außerhalb des italienischen Marktes erfolgte, voestalpine Austria Draht nicht zugerechnet werden könne (denn der Auftrag habe sich nur auf das italienische Hoheitsgebiet bezogen). In Anbetracht dieser Erkenntnisse entschied das Gericht, die gegen die beiden Unternehmen gesamtschuldnerisch verhängte Geldbuße von 22 Mio. Euro auf 7,5 Mio. Euro herabzusetzen.

56.      Es ist hinzuzufügen, dass in der besagten Rechtssache (sowie in der dem Urteil Minoan Lines/Kommission, T‑66/99, EU:T:2003:337, zugrunde liegenden Rechtssache) der Beauftragte eindeutig im Namen des Unternehmens handelte und über Befugnisse bezüglich der Geschäftspolitik des Geschäftsherrn verfügte, so dass die Festlegung der Preise einer der Aspekte des ihm erteilten Auftrags war, was Verhandlungen mit den anderen Unternehmen mit sich brachte.

57.      Anders verhält es sich in der vorliegenden Rechtssache, in der aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, dass Pārtikas kompānija den Preis ihres Angebots selbst festlegte (siehe oben, Nr. 6) und dass MMD lietas nur ein mit der technischen Abfassung der Unterlagen Beauftragter war. Die Entscheidung von MMD lietas, das Angebot von Pārtikas kompānija als Grundlage für die Ausarbeitung der Angebote anderer Unternehmen zu nehmen, gehört zu einer völlig anderen Tätigkeit als der, die ihr übertragen worden war, und kann meiner Ansicht nach Pārtikas kompānija nicht zugerechnet werden.

58.      Wie bereits ausgeführt, finden sich in der vorliegenden Rechtssache, anders als in der Rechtssache Minoan Lines/Kommission (T‑66/99, EU:T:2003:337, insbesondere Rn. 139 bis 147), keine Beweise für die Kenntnis von Pārtikas kompānija vom Verhalten ihres Beauftragten und/oder ihre Zustimmung hierzu.

b)      Ausgangsverfahren

59.      Wie ist also in der vorliegenden Angelegenheit zu entscheiden, in der kein Beweis dafür vorliegt, dass Pārtikas kompānija Kenntnis vom Verhalten von MMD lietas hatte, und in der dieser Vermittler wie ein unabhängiger Kaufmann handelte, kein wirtschaftliches Risiko mit Pārtikas kompānija teilte und vertraglich durch keine Ausschließlichkeitsvereinbarung mit diesem Unternehmen verbunden war (auch wenn die Minimalgrundsätze einer ordnungsmäßigen Berufsausübung diese meiner Ansicht nach für das in Rede stehende Angebot notwendigerweise verlangen) und Initiativen ergriff, die offensichtlich den ihm von Pārtikas kompānija erteilten Auftrag überschritten?

60.      Meiner Ansicht nach sind zwei Extrempositionen zu verwerfen: Zum einen dem Unternehmen automatisch die Verantwortlichkeit für Handlungen Dritter zuzurechnen, unabhängig vom Umfang der Beteiligung dieses Unternehmens, was gegen die Grundsätze verstößt, die für die Verhängung von Sanktionen wie die durch das Wettbewerbsrecht vorgesehenen gelten (insbesondere die Grundsätze der individuellen Bestrafung und der Rechtssicherheit), und zum anderen die Verpflichtung der für das Wettbewerbsrecht zuständigen Behörde, überzeugend den Nachweis zu führen, dass das von den Dienstleistungen des Dritten profitierende Unternehmen Kenntnis von dessen rechtswidrigen Handlungen hatte oder ihnen zugestimmt hatte, und dies mit der Gefahr, die Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts schwerwiegend zu beeinträchtigen.

61.      Es ist nämlich, „da das Verbot, an wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen und Vereinbarungen teilzunehmen, sowie die Sanktionen, die Zuwiderhandelnden auferlegt werden können, bekannt sind, üblich, dass die Tätigkeiten, mit denen diese Verhaltensweisen und Vereinbarungen verbunden sind, insgeheim ablaufen, dass die Zusammenkünfte heimlich stattfinden, meist in einem Drittstaat, und dass die Unterlagen darüber auf ein Minimum reduziert werden“(14). Es wäre also zu einfach, sich hinter einem Dritten „zu verstecken“, um hinsichtlich des Wettbewerbsrechts unbestraft zu bleiben.

62.      Außerdem rechtfertigt die Bedeutung des Schutzes des freien Wettbewerbs es, von Unternehmen, die Dritten Aufgaben wie die in Rede stehenden übertragen, zu verlangen, dass sie alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass diese Dritten Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht begehen, um insbesondere jede Nachlässigkeit oder Unvorsichtigkeit bei der Festlegung oder Überwachung dieser Aufträge zu vermeiden.

63.      Im Sinne des Vorstehenden besteht die von mir vorgeschlagene Lösung für Fälle wie den vorliegenden im Aufstellen einer widerleglichen Vermutung der Verantwortlichkeit eines Unternehmens für gegen das Wettbewerbsrecht verstoßende Handlungen eines Dritten, dessen Dienstleistungen es in Anspruch genommen hat und der nicht als ein in dieses Unternehmen eingegliedertes Hilfsorgan angesehen werden kann. Eine solche Vermutung ermöglicht die Wahrung des Gleichgewichts zwischen einerseits dem Ziel der wirksamen Ahndung von gegen das Wettbewerbsrecht, insbesondere gegen Art. 101 AEUV, verstoßendem Verhaltensweisen und der Verhinderung ihrer Wiederholung in dem Wissen, dass die Einhaltung dieser Regeln zu jeder Zeit ein aktives Handeln der Unternehmen erfordert, und andererseits der Beachtung der Grundrechte bei Sanktionen. Diese Vermutung fände selbst dann Anwendung, wenn die Handlungen des Dritten sich von den ihm übertragenen Aufgaben unterscheiden, und sogar dann, wenn nicht bewiesen ist, dass das Unternehmen, das seine Leistungen in Anspruch genommen hat, Kenntnis von seinen Handlungen hatte oder diesen zugestimmt hat(15).

64.      Diese Vermutung müsste gegenüber einem Unternehmen Anwendung finden, sobald die für die Einhaltung der Wettbewerbsvorschriften zuständige Behörde das Vorliegen einer gegen das Wettbewerbsrecht verstoßenden Handlung durch eine für dieses Unternehmen arbeitende Person, die weder unmittelbar noch mittelbar in das Unternehmen eingegliedert ist, bewiesen hat.

65.      Zur Wahrung des oben in Nr. 63 angeführten Gleichgewichts kann das Unternehmen die Vermutung der Verantwortlichkeit widerlegen, indem es alle Umstände vorträgt, die die Auffassung untermauern, dass es nichts von dem rechtswidrigen Verhalten des Dritten, also des Dienstleisters, wusste, und indem es beweist, dass es alle notwendigen Vorkehrungen zur Vermeidung solcher Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht ergriffen hat, und zwar zu drei Zeitpunkten(16).

66.      Der erste liegt im Augenblick der Einstellung oder Beauftragung des Dritten. Dies betrifft insbesondere die Auswahl des Dienstleisters, die Festlegung der Aufgaben und die Überwachung ihrer Durchführung, die Bedingungen für die Inanspruchnahme von Subunternehmern (oder deren Ausschluss), die zwecks Sicherstellung der Einhaltung der Gesetze, insbesondere des Wettbewerbsrechts, auferlegten Verpflichtungen sowie die Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung des Vertrags und das Erfordernis einer Zustimmung für jede im Vertrag nicht vorgesehene Handlung.

67.      Der zweite Zeitpunkt betrifft den gesamten Zeitraum der Erfüllung der dem Dritten übertragenen Aufgaben unter Überwachung der strikten Einhaltung der im Vertrag festgelegten Aufgaben durch den Dritten.

68.      Der dritte Zeitpunkt ist derjenige, zu dem der Dritte gegen das Wettbewerbsrecht verstößt, selbst wenn dies ohne Wissen des Unternehmens geschieht. Das Unternehmen kann dies nicht einfach nur ignorieren, es muss sich offen von der verbotenen Handlung distanzieren, ihre Wiederholung verhindern und/oder sie den Verwaltungsbehörden anzeigen. Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, „dass passive Formen der Beteiligung an der Zuwiderhandlung, wie die Teilnahme eines Unternehmens an Sitzungen, bei denen, ohne dass es sich offen dagegen ausgesprochen hat, wettbewerbswidrige Vereinbarungen getroffen wurden, eine Komplizenschaft zum Ausdruck bringen, die geeignet ist, die Verantwortlichkeit des Unternehmens im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 EG zu begründen, da die stillschweigende Billigung einer rechtswidrigen Initiative, ohne sich offen von deren Inhalt zu distanzieren oder sie bei den Behörden anzuzeigen, dazu führt, dass die Fortsetzung der Zuwiderhandlung begünstigt und ihre Entdeckung verhindert wird“ (Urteil AC‑Treuhand/Kommission, C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 31).

69.      In der mündlichen Verhandlung wurde die Frage gestellt, ob es für die Widerlegung der Vermutung von Bedeutung sein könne, wenn das Unternehmen dartue, dass es keinerlei Nutzen von den wettbewerbswidrigen Handlungen des Beauftragten habe. Sowohl die lettische Regierung als auch die Kommission haben diese Frage verneint.

70.      Dem kann ich nicht folgen, allerdings unter zwei Voraussetzungen, die im Übrigen indirekt im Zentrum der mündlichen Verhandlung standen. Es trifft zu, dass das Interesse oder das fehlende Interesse eines Unternehmens an einer abgestimmten Verhaltensweise keinerlei Einfluss auf die Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes hat. Jedoch geht es hier nicht um die Feststellung einer Zuwiderhandlung, sondern um die Widerlegung einer Vermutung der Verantwortlichkeit. Der von dem Unternehmen geführte Nachweis, dass das Verhalten des Beauftragten nur negative Folgen für es hatte, kann die anderen zur Widerlegung der Vermutung der Verantwortlichkeit vorgebrachten Elemente stützen. Natürlich trifft das Gegenteil zu, wenn umgekehrt das Unternehmen ein Interesse an dem Ergebnis der Vereinbarung oder der abgestimmten Verhaltensweise hatte.

71.      In der mündlichen Verhandlung wurde angeführt, der Umstand, dass Pārtikas kompānija den Auftrag nicht erhalten habe, beweise nicht, dass sie sich nicht auf die eine oder andere Weise an der abgestimmten Verhaltensweise beteiligt habe, denn sie könnte mit den anderen Unternehmen eine zeitliche Aufteilung der Aufträge vereinbart haben („bid rigging“). Ich stimme diesem Hinweis zu, doch ist dies nicht die Hypothese, an die ich denke, nämlich der Nachweis durch das Unternehmen, dass es nicht nur den in Rede stehenden Auftrag nicht erhalten hat, sondern sich in keiner Weise an anderen Verhandlungen beteiligt hat, bei denen es einen Nutzen aus einem Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht hätte ziehen können. Dies ist natürlich nur eines der Elemente, die das Unternehmen in seiner Argumentation zur Widerlegung der Vermutung anführen kann.

72.      Kurz gesagt kann das Unternehmen die Vermutung widerlegen, wenn es nachweist, dass der Dritte außerhalb der ihm übertragenen Aufgaben gehandelt hat, dass es bei dessen Auswahl und der Überwachung der Durchführung der ihm übertragenen Aufgabe alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hat und dass es sich nach Erlangung der Kenntnis von dem verbotenen Verhalten offen davon distanziert oder es den Verwaltungsbehörden angezeigt hat.

73.      Selbstverständlich ist es Sache des nationalen Gerichts, im Licht der vorstehenden Erwägungen die ihm in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Umstände zu würdigen, um eine Haftung von Pārtikas kompānija festzustellen oder zu verneinen.

VI – Ergebnis

74.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) wie folgt zu beantworten:

Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass für die Feststellung, dass ein Unternehmen sich an einer den Wettbewerb beschränkenden Vereinbarung beteiligt hat, der Nachweis eines persönlichen Handelns einer Führungskraft des Unternehmens oder ihrer Kenntnis oder Zustimmung hinsichtlich des Handelns einer Person, die dem Unternehmen externe Leistungen erbringt und zugleich für Rechnung anderer Teilnehmer einer möglichen verbotenen Vereinbarung tätig ist, nicht erforderlich ist.

Das nationale Gericht hat in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu prüfen, ob das Unternehmen ausreichend überzeugende Beweise dafür erbringen konnte, dass der Dritte außerhalb der Aufgaben handelte, die es ihm übertragen hatte, dass es bei der Auswahl des Dritten und bei der Überwachung der Erfüllung der in Rede stehenden Aufgaben Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hat sowie für sein eigenes Verhalten nach Erlangung der Kenntnis vom verbotenen Handeln, um die Vermutung seiner Verantwortlichkeit zu widerlegen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Vgl. Urteile Allianz Hungária Biztosító u. a. (C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie FNV Kunsten Informatie en Media (C‑413/13, EU:C:2014:2411), in denen der Gerichtshof unter ähnlichen Umständen wie den vorliegenden das Vorabentscheidungsersuchen beantwortet hat.


3 – Auf Deutsch: Submissionsabsprachen. Im Allgemeinen liegen Submissionsabsprachen vor, wenn mindestens zwei an einer Ausschreibung teilnehmende Unternehmen abstimmen, dass eines oder mehrere von ihnen nicht teilnehmen, kein Angebot abgeben oder es zurückziehen.


4 – Die Kommission bezieht sich auf Art. 1384 des Code civil.


5 – Die Kommission nimmt Bezug auf ein Urteil der französischen Cour de cassation vom 19. Mai 1988, Nr. 87-82654. Aus diesem Urteil gehe hervor, dass ein Geschäftsherr sich von der Verantwortlichkeit für Handlungen seines Beauftragten befreien könne, wenn dieser außerhalb seiner Aufgaben, ohne Erlaubnis und zu anderen Zwecken als seiner Zuständigkeit gehandelt habe.


6 – Urteil Imperial Chemical Industries/Kommission (48/69, EU:C:1972:70, Rn. 64).


7 – Urteil Suiker Unie u. a./Kommission (40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73 bis 56/73, 111/73, 113/73 und 114/73, EU:C:1975:174, Rn. 174).


8 – Urteile Miller International Schallplatten/Kommission (19/77, EU:C:1978:19, Rn. 18), Musique Diffusion française u. a./Kommission (100/80 bis 103/80, EU:C:1983:158, Rn. 112) und IAZ International Belgium u. a./Kommission (96/82 bis 102/82, 104/82, 105/82, 108/82 bis 110/82, EU:C:1983:310, Rn. 45).


9 – Urteil Musique Diffusion française u. a./Kommission (100/80 bis 103/80, EU:C:1983:158, Rn. 97).


10 – Urteil Slovenská sporiteľňa (C‑68/12, EU:C:2013:71, Rn. 26 und 28). Vgl. auch Rn. 25 und 27 dieses Urteils.


11 – Urteil Akzo Nobel u. a. (C‑97/08 P, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12 – Ebd. (Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13 – Gegen dieses Urteil wurde Rechtsmittel eingelegt, von dem ein Grund sich genau darauf bezog, ob das Verhalten des Beauftragten dem Auftraggeber zugerechnet werden könne. Der Gerichtshof wies das Rechtsmittel jedoch als rein tatsachenbezogen und somit offensichtlich unzulässig zurück (Beschluss Minoan Lines/Kommission, C‑121/04 P, EU:C:2005:695, Rn. 19 und 20). Zum Urteil Minoan Lines/Kommission (T‑66/99, EU:T:2003:337) vgl. Blaise, J.-B., und Idot, L., „Chronique de droit communautaire de la concurrence – Mise en œuvre des articles 81 et 82 CE“, Revue trimestrielle de droit européen, 2005, S. 131-223, Rn. 81, und Idot, L., „Transports maritimes – Commentaires aux arrêts du Tribunal du 11 décembre 2003“, Europe, 2004, Nr. 2, S. 18-19.


14 – Urteil Knauf Gips/Kommission (C‑407/08 P, EU:C:2010:389, Rn. 49).


15 – Vermutungen sind im Unionsrecht bekannt. Sowohl der Gerichtshof als auch das Gericht haben Vermutungen zur Bestimmung der gesamtschuldnerischen Haftung einer Muttergesellschaft für Handlungen ihrer Tochtergesellschaften verwendet (Urteil Akzo Nobel u. a./Kommission, C‑97/08 P, EU:C:2009:536) oder für Handlungen von Arbeitnehmern und Angestellten (Urteil Musique Diffusion française u. a./Kommission, 100/80 bis 103/80, EU:C:1983:158, Rn. 97).


16 – Zur Widerlegung der Vermutung der Verantwortlichkeit einer Muttergesellschaft für das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft vgl. Urteil ENI/Kommission (C‑508/11 P, EU:C:2013:289, Rn. 46 ff. sowie Rn. 68 und 69).