Language of document : ECLI:EU:C:2013:113

Rechtssache C‑473/10

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn – Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur – Richtlinien 91/440/EWG und 2001/14/EG – Unvollständige Umsetzung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 28. Februar 2013

1.        Verkehr – Gemeinsame Politik – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Trennung zwischen Infrastrukturbetrieb und Erbringung von Verkehrsleistungen – Wesentliche Funktionen, die an eine unabhängige Stelle übertragen werden müssen – Begriff – Verwaltung des Eisenbahnverkehrs – Ausschluss – Erlass von Maßnahmen zur Wiederherstellung normaler Verkehrsbedingungen im Fall von Verkehrsstörungen oder Gefahren – Ausschluss

(Richtlinie 2001/14 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 2 und Art. 29; Richtlinie 91/440 des Rates, Art. 6 Abs. 3 und Anhang II)

2.        Verkehr – Gemeinsame Politik – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Trennung zwischen Infrastrukturbetrieb und Erbringung von Verkehrsleistungen – Wesentliche Funktionen, die an eine unabhängige Stelle übertragen werden müssen – Begriff – Berechnung des Wegeentgelts – Einbeziehung – Erhebung der Entgelte – Ausschluss

(Richtlinie 2001/14 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2; Richtlinie 91/440 des Rates, Art. 6 Abs. 3 und Anhang II)

3.        Vertragsverletzungsklage – Prüfung der Begründetheit durch den Gerichtshof – Maßgebende Lage – Lage bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist

(Art. 258 AEUV; Richtlinie 2001/14 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 7 Abs. 3)

1.        Die Verwaltung des Eisenbahnverkehrs kann nicht als eine wesentliche Funktion angesehen, die von den Mitgliedstaaten an unabhängige Stellen, die nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen, übertragen werden muss.

Zwar führt nämlich Anhang II der Richtlinie 91/440 Entscheidungen über die Trassenzuweisung als wesentliche Funktion auf, die einer unabhängigen Stelle übertragen werden muss, erwähnt aber nicht die Verkehrsverwaltung. Insoweit impliziert die Verkehrsverwaltung auf den ersten Blick keine Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen, sondern umfasst Tätigkeiten, die zum Betrieb der Infrastruktur gehören, und besteht in der Umsetzung oder Durchführung von Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen. Die Verwaltung des Verkehrs ist eine Tätigkeit, mit der die tatsächliche und sichere Ausübung der Rechte auf Inanspruchnahme von Fahrwegkapazität in Form von Zugtrassen sichergestellt werden soll.

Außerdem können die nach Art. 29 der Richtlinie 2001/14 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur im Fall von Verkehrsstörungen oder Gefahren erlassenen Maßnahmen nicht so angesehen werden, als beträfen sie unmittelbar die wesentliche Funktion der Kapazitätszuweisung oder Zuweisung von Zugtrassen, da diese Bestimmung im Gegensatz zu den anderen Bestimmungen des Kapitels III, die die Fahrplanerstellung und die Ad-hoc-Zuweisung einzelner Zugtrassen betreffen, Sondermaßnahmen betrifft, die erlassen werden müssen, um aus Sicherheitsgründen normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen. Der Erlass derartiger Maßnahmen gehört daher zur Verwaltung des Verkehrs und unterliegt nicht dem Unabhängigkeitserfordernis, so dass einem Betreiber der Infrastruktur, der auch ein Eisenbahnunternehmen ist, eine derartige Funktion übertragen werden kann.

(vgl. Randnrn. 45, 46, 51, 54, 55, 59, 60, 63)

2.        Aus den Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft in Verbindung mit ihrem Anhang II und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur ergibt sich, dass die Entgeltberechnung eine wesentliche Funktion zur Gewährleistung eines gerechten und nichtdiskriminierenden Zugangs zur Infrastruktur ist, die durch eine entgelterhebende Stelle wahrgenommen werden muss, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist. Ein Eisenbahnunternehmen, das als Betreiber der Infrastruktur fungiert, ist nach diesen Bestimmungen nur befugt, die Entgelte einzuziehen oder zu erheben.

Durch die Verwendung des Begriffs „Berechnung“ sieht die Richtlinie 2001/14 nämlich vor, dass die Entgeltregelung dem von den Eisenbahnunternehmen unabhängigen Betreiber der Infrastruktur vorbehalten sein muss. Die Berechnung der Entgelte bedeutet, dass dieser Betreiber über eine gewisse Flexibilität verfügen muss, die es ihm erlaubt, zumindest Entscheidungen über die Auswahl und die Beurteilung der Faktoren oder Parameter zu treffen, auf deren Grundlage die Berechnung durchgeführt wird. Der Betreiber der Infrastruktur darf jedoch nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14, wenn er nicht unabhängig ist, nur mit der Erhebung der Entgelte betraut werden. Diese Funktion wird somit nicht als wesentlich zur Gewährleistung eines gerechten und nicht diskriminierenden Zugangs zur Infrastruktur angesehen. Als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers ist dieser Begriff der Erhebung somit eng auszulegen.

(vgl. Randnrn. 76, 79, 82)

3.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 96, 97, 105)