Language of document : ECLI:EU:C:2007:152

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE Kokott

vom 8. März 2007(1)

Rechtssache C-467/05

Giovanni Dell’Orto

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Milano [Italien])

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2001/220 – Richtlinie 2004/80 – Begriff des Opfers – Rückgabe der beschlagnahmten Beute“





I –    Einführung

1.        Im vorliegenden Verfahren ist zu klären, ob der Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren(2) in Verbindung mit der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten(3) verlangt, dass unterschlagene Gelder einer geschädigten Aktiengesellschaft im Rahmen eines Strafverfahrens zurückerstattet werden. Insbesondere stellt sich die Frage, ob der Begriff des Opfers im Rahmenbeschluss entgegen der Definition des Art. 1 Buchst. a nicht nur natürliche Personen erfasst, sondern auf juristische Personen auszudehnen ist. Das vorlegende Gericht stützt sich insofern auf die Richtlinie, die keine Definition von Opfern enthält.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften

2.        Nach Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2001/220 bezeichnet der Ausdruck Opfer „eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen“.

3.        Art. 2 Abs. 1 beschreibt allgemein die Berücksichtigung von Opferinteressen:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.“

4.        Art. 9 des Rahmenbeschlusses betrifft das Recht auf Entschädigung im Rahmen des Strafverfahrens:

„(1) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Opfer einer Straftat ein Recht darauf haben, innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter im Rahmen des Strafverfahrens zu erwirken, es sei denn, das einzelstaatliche Recht sieht in bestimmten Fällen vor, dass die Entschädigung in einem anderen Rahmen erfolgt.

(2) …

(3) Im Rahmen des Strafverfahrens sichergestelltes Eigentum des Opfers, das für eine Rückgabe in Frage kommt, wird diesem unverzüglich zurückgegeben, es sei denn, der Rückgabe stehen zwingende Gründe im Zusammenhang mit der Verfahrensführung entgegen.“

5.        Der 7. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses erläutert das Verhältnis zum Zivilverfahren:

„Die Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer von Straftaten und insbesondere die Vorschriften, die sich auf die Entschädigung und die Schlichtung beziehen, betreffen nicht die Lösungen, die dem Zivilverfahren eigen sind.“

6.        Die Richtlinie 2004/80 betrifft die Entschädigung der Opfer von Straftaten durch den Staat. Sie enthält Regelungen, die eine Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen erleichtern sollen. Die wesentlichen Grundprinzipien sind in den ersten beiden Artikeln niedergelegt:

„Art. 1

Recht auf Antragstellung im Wohnsitz-Mitgliedstaat

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese berechtigt ist, den Antrag bei einer Behörde oder einer anderen Stelle in letzterem Mitgliedstaat zu stellen.

Art. 2

Zuständigkeit für die Zahlung der Entschädigung

Die Entschädigung wird von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats gezahlt, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde.“

7.        Entgegen dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission wurde auf eine Harmonisierung der Entschädigungsregelungen verzichtet. Allerdings hält der 6. Erwägungsgrund fest:

„Opfer von Straftaten in der Europäischen Union sollten unabhängig davon, an welchem Ort in der Europäischen Gemeinschaft die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben.“

8.        Art. 12 der Richtlinie 2004/80 sieht diesbezüglich vor:

„(1) Die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen stützen sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten.

(2) Alle Mitgliedstaten tragen dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet.“

9.        Art. 17 Buchst. a betont, dass die Mitgliedstaaten unabhängig von der Richtlinie günstigere Bestimmungen zugunsten der Opfer von Straftaten oder sonstiger von Straftaten betroffener Personen einführen oder beibehalten können, sofern diese Bestimmungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind.

B –    Italienisches Recht

10.      Italien hat die Definition des Opfers nach Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2001/220 anscheinend nicht ausdrücklich umgesetzt.

11.      Art. 262 und Art. 263 des italienischen codice di procedura penale regeln die Herausgabe der im Strafverfahren beschlagnahmten Güter. Die Entscheidung über die Herausgabe fällt grundsätzlich in die Zuständigkeit des Strafrichters. Wenn jedoch über das Eigentum Streit besteht, verweist er diesen Streit an das zuständige Zivilgericht.

12.      Daneben ist in Art. 74 ff. und Art. 538 ff. des italienischen codice di procedura penale die Entscheidung über Schadensersatzansprüche des Opfers im Strafverfahren vorgesehen.

III – Sachverhalt und Vorlagefragen

13.      Giovanni Dell’Orto wurde neben anderen Angeklagten mit Urteil vom 4. Mai 1999 auf der Basis eines staatsanwaltlichen Vergleichs unter Strafaussetzung zur Bewährung zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe verurteilt, und zwar wegen Straftaten der wahrheitswidrigen Mitteilungen über Gesellschaften u. a. zur Begehung von Straftaten der Unterschlagung in schwerem Fall und der unrechtmäßigen Finanzierung politischer Parteien zu Lasten der SAIPEM s.p.a. Dieses Urteil ist mittlerweile rechtskräftig.

14.      Herr Dell’Orto überwies noch während des Ermittlungsverfahrens einen Geldbetrag von 1 064 069,78 Euro, der nach Angaben des vorlegenden Gerichts aus der Beute stammt und weiterhin Eigentum von SAIPEM ist, von einem ausländischen Konto nach Italien. Das italienische Konto wurde zur Sicherheit beschlagnahmt.

15.      In dem Urteil war zu dem beschlagnahmten Betrag nichts vorgesehen. Auf Antrag der SAIPEM wurde mit Beschluss vom 3. Dezember 1999 die Erstattung des beschlagnahmten Betrags an diese angeordnet. Hierzu wurde am 10. Dezember 1999 der auf dem Konto vorhandene Betrag abgehoben, und das Konto wurde gelöscht.

16.      Das vorlegende Gericht teilt nicht mit, welches Gericht Herrn Dell’Orto verurteilte und über die Erstattung der beschlagnahmten Beträge entschied, doch scheint es dabei jeweils selbst entschieden zu haben.

17.      Die Corte di Cassazione hob diese Maßnahme am 8. November 2001 auf. Die Rückerstattung des beschlagnahmten Gelds sei nämlich nicht Gegenstand des staatsanwaltschaftlichen Vergleichs gewesen. Daher könne die Rückerstattung nicht im Strafverfahren angeordnet werden.

18.      Nach weiteren Zwischenentscheidungen muss nunmehr das vorlegende Gericht als Vollstreckungsgericht über die weiteren Maßnahmen in Bezug auf den umstrittenen Geldbetrag entscheiden. Um diese Entscheidung vorzubereiten, stellt es dem Gerichtshof die folgenden Fragen:

a)      Sind die Bestimmungen der Art. 2 und 9 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI kraft Art. 1 ff. der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten oder anderer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts allgemein in einem Strafverfahren auf sonstige von einer Straftat betroffene Personen anwendbar?

b)      Sind die Bestimmungen der Art. 2 und 9 des Rahmenbeschlusses 2001/220 kraft Art. 1 ff. der Richtlinie 2004/80 in einem auf das endgültige Strafurteil folgenden Strafvollstreckungsverfahren (und damit auch auf das Urteil über die Vollstreckung der Strafe gemäß … [einem staatsanwaltschaftlichen Vergleich](4)) auf sonstige von einer Straftat betroffene Personen anwendbar?

19.      Am Verfahren haben sich Herr Dell’Orto, Irland, Italien, die Niederlande, Österreich, das Vereinigte Königreich und die Kommission beteiligt.

IV – Würdigung

20.      Das vorlegende Gericht bittet um eine Auslegung des Rahmenbeschlusses 2001/220 im Licht der Richtlinie 2004/80. Es möchte nämlich in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Gerichtshofs im Urteil Pupino zum Grundsatz konformer Auslegung in Bezug auf Rahmenbeschlüsse seine Auslegung nationalen Rechts so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses ausrichten, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen und so Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU nachzukommen.(5) Für den Ausgangsfall erwartet es offenbar, durch den Rahmenbeschluss verpflichtet zu sein, über die Herausgabe der beschlagnahmten Beträge an die SAIPEM zu entscheiden.

A –    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

21.      Das Vereinigte Königreich hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig. Das vorlegende Gericht beruft sich auf Art. 234 EG, bittet jedoch um die Auslegung von Bestimmungen eines Rahmenbeschlusses, d. h. eines Rechtsakts nach Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU. Ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung des Unionsrechts könne jedoch nur nach Maßgabe von Art. 35 Abs. 1 EU eingelegt werden. Irland vertritt eine ähnliche Auffassung, meint jedoch, der Fehler des vorlegenden Gerichts könne geheilt werden, da eine entsprechende Vorlage nach Art. 35 EU zulässig wäre.

22.      Wie von Irland in der mündlichen Verhandlung betont, ist es selbstverständlich ausgeschlossen, unter dem Vorwand einer Vorlage von Fragen zum Gemeinschaftsrecht nach Art. 234 EG dem Gerichtshof tatsächlich Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, die nur nach Maßgabe der zusätzlichen Bedingungen des Art. 35 EU zulässig sind. In welchem Umfang allerdings bei der noch anzusprechenden gegenseitigen Beeinflussung beider Rechtsordnungen eine Vorlage zum Gemeinschaftsrecht auf das Unionsrecht Bezug nehmen darf, könnte praktisch schwierige Abgrenzungsfragen aufwerfen. Über diese ist hier jedoch nicht zu entscheiden.

23.      Das Vorbringen des Vereinigten Königreichs gegen die Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens überzeugt jedenfalls nicht. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, gelten nach Art. 46 Buchst. b EU die Bestimmungen des EG-Vertrags, des EGKS-Vertrags und des EAG-Vertrags betreffend die Zuständigkeit des Gerichtshofs und die Ausübung dieser Zuständigkeit, zu denen Art. 234 EG gehört, nach Maßgabe des Art. 35 EU für die Bestimmungen des Titels VI des Vertrages über die Europäische Union. Folglich findet die Regelung des Art. 234 EG auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Vorabentscheidung nach Art. 35 EU unter den dort genannten Voraussetzungen Anwendung.(6)

24.      Auch Vorlagen zum Unionsrecht – nach Art. 35 EU – sind daher im Prinzip Ersuchen im Sinne von Art. 234 EG. In welchem Umfang das nationale Gericht diese Vorschriften ausdrücklich nennt, kann für die Zulässigkeit des Ersuchens nicht entscheidend sein. Vielmehr hängt diese davon ab, ob die jeweiligen Voraussetzungen beachtet werden, die sich bei Fragen zum Unionsrecht insbesondere aus Art. 35 EU ergeben.

25.      Die insbesondere aus der Sicht des Vereinigten Königreichs und Irlands wichtigste Bedingung des Art. 35 EU dürfte darin liegen, dass der betreffende Mitgliedstaat die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungsersuchen zum Unionsrecht anerkennen muss. Beide Mitgliedstaaten haben nämlich keine entsprechende Erklärung abgegeben. Wie auch Irland anerkennt, steht es jedoch im vorliegenden Fall außer Frage, dass das vorlegende Gericht zur Vorlage berechtigt ist. Italien hat nämlich mit Wirkung vom 1. Mai 1999, dem Tag des Inkrafttretens des Vertrages von Amsterdam, eine Erklärung abgegeben, mit der es die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Entscheidungen über die Gültigkeit und die Auslegung der in Art. 35 EU genannten Rechtsakte gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkannt hat.(7)

26.      Weiterhin wird die Entscheidungserheblichkeit des Vorabentscheidungsersuchens von verschiedenen Regierungen in Zweifel gezogen.

27.      Zur Notwendigkeit der Entscheidungserheblichkeit hat der Gerichtshof unter Anwendung der Rechtsprechung zu Art. 234 EG auf Art. 35 EU festgestellt, dass die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden kann, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Rechtsvorschriften der Union offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. Abgesehen von solchen Fällen ist der Gerichtshof grundsätzlich verpflichtet, über die ihm vorgelegten Fragen nach der Auslegung von Rechtsakten im Sinne von Art. 35 Abs. 1 EU zu entscheiden.(8)

28.      Die niederländische Regierung beanstandet, dass das Vorabentscheidungsersuchen keine Angaben darüber enthalte, welche Bestimmungen des italienischen Rechts in Übereinstimmung mit dem Rahmenbeschluss ausgelegt werden sollen. Da eine unmittelbare Anwendung des Rahmenbeschlusses ausgeschlossen sei, bedürfe es entsprechender Angaben.

29.      Nach ständiger Rechtsprechung ist eine dem nationalen Gericht dienliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts nur dann möglich, wenn dieses in seinem Vorlagebeschluss den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen seine Fragen beruhen. Diese Darstellung soll nicht zuletzt auch den Regierungen der Mitgliedstaaten sowie den anderen Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit geben, nach Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs Erklärungen einzureichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diesen Verfahrensbeteiligten nur das Vorabentscheidungsersuchen zugestellt wird.(9)

30.      Daher muss das vorlegende Gericht den rechtlichen Rahmen soweit darlegen, wie es für eine sachdienliche Beantwortung der Vorlagefrage nötig ist. Es ist dagegen nicht gehalten, nachzuweisen, dass eine angestrebte konforme Auslegung tatsächlich möglich ist. Nach dem Urteil Pupino führen bloße Zweifel an der Möglichkeit einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts nicht zur Unzulässigkeit des Ersuchens, sondern diese Auslegung muss offensichtlich unmöglich sein. Bei fehlender Offensichtlichkeit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob sein nationales Recht in diesem Verfahren in einer rahmenbeschlusskonformen Weise ausgelegt werden kann.(10) Diese Position ist auch logisch, da die Auslegung des innerstaatlichen Rechts – auch die Auslegung in Übereinstimmung mit Unionsrecht oder Gemeinschaftsrecht – nicht Aufgabe des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsersuchen ist.

31.      Dementsprechend wäre es möglicherweise hilfreich gewesen, mehr über die Bestimmungen zu erfahren, die das vorlegende Gericht in Übereinstimmung mit dem Rahmenbeschluss auslegen will,(11) das Fehlen entsprechender Angaben hindert jedoch nicht daran, eine sachdienliche Antwort auf die Vorlagefragen zu geben.

32.      Die Regierung Österreichs geht sogar einen Schritt weiter als die Regierung der Niederlande, indem sie vorträgt, dass nach italienischem Recht im Strafvollstreckungsverfahren nicht über zivilrechtliche Ansprüche des Opfers entschieden werden könne. Daher sei das Vorabentscheidungsersuchen hypothetisch. Auch dieses Vorbringen greift jedoch nicht durch, da es keine Angaben enthält, die offensichtliche Zweifel an der Möglichkeit einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts begründen würden.

33.      Von größerem Gewicht sind die Zweifel der irischen Regierung daran, dass der Rahmenbeschluss 2001/220 in zeitlicher Hinsicht im Ausgangsverfahren Rechtswirkungen entfalten kann. Die Verurteilung von Herrn Dell’Orto datiert vom 4. Mai 1999, die streitgegenständlichen Beträge wurden bereits am 29. Dezember 1997 zur Sicherheit beschlagnahmt und ihre angebliche Unterschlagung oder Veruntreuung ist noch früher geschehen. Dagegen endete die Frist für die Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses erst am 22. März 2002, die für die Richtlinie 2004/80 sogar erst zum 1. Juli 2005 bzw. zum 1. Januar 2006. Wenn der Rahmenbeschluss daher aus zeitlichen Gründen keine Rechtswirkungen für die Rückerstattung der angeblichen Beute entfalten kann, dann ist eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung des italienischen Rechts ausgeschlossen und das Vorabentscheidungsersuchen für das Ausgangsverfahren unerheblich.

34.      Nach meinen Schlussanträgen zur Rechtssache Pupino steht es einer konformen Auslegung jedoch nicht entgegen, dass die zu untersuchenden Vorfälle zeitlich vor Verabschiedung des Rahmenbeschlusses stattfanden. Nach ständiger Rechtsprechung ist bei Verfahrensvorschriften nämlich im Allgemeinen davon auszugehen, dass sie auf alle zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar sind.(12) Auch der Gerichtshof sah in der Frage der zeitlichen Anwendbarkeit offenbar kein Hindernis für die rahmenbeschlusskonforme Auslegung, da er diesen Punkt im Urteil Pupino nicht aufgegriffen hat. Wie in der Rechtssache Pupino geht es auch im Ausgangsverfahren um verfahrensrechtliche Fragen, nämlich um die gerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung, ob im Strafverfahren sichergestellte Bankguthaben an ein geschädigtes Unternehmen ausgezahlt werden. Dementsprechend hat Irland seine Bedenken in der mündlichen Verhandlung aufgegeben.

35.      Soweit im vorliegenden Fall noch Entscheidungen zu treffen sind, ist daher die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2001/220 im Ausgangsverfahren ratione temporis möglich.

36.      Ein letzter Zweifel an der Erheblichkeit des Ersuchens betrifft die Rechtmäßigkeit des Rahmenbeschlusses 2001/220. Ist der Rahmenbeschluss rechtswidrig und daher unanwendbar, so kann er auch nicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung verpflichten und die Fragen zur Auslegung sind für das Ausgangsverfahren ohne Belang.

37.      Insofern möchte ich daran erinnern, dass ich in den Schlussanträgen in der Rechtssache Pupino Zweifel an seiner Rechtsgrundlage geäußert habe, aber zu dem Ergebnis kam, dass der Gerichtshof diese Zweifel nicht von Amts wegen aufgreifen muss, da sich jedenfalls keine schwerwiegenden Zweifel aufdrängen.(13) Die Verabschiedung des Rahmenbeschlusses auf der gewählten Rechtsgrundlage erscheint zumindest vertretbar. Dementsprechend hat sich der Gerichtshof im Urteil Pupino nicht zu dieser Frage geäußert. Da auch im vorliegenden Verfahren weder das vorlegende Gericht noch die Beteiligten die Frage der Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses aufwerfen, besteht kein Anlass, diesen Punkt im vorliegenden Verfahren erneut zu vertiefen.

38.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.

B –    Zu den Vorlagefragen

39.      Um die Fragen des vorlegenden Gerichts zur Auslegung des Rahmenbeschlusses 2001/220 im Licht der Richtlinie 2004/80 zu beantworten, sind zunächst die Möglichkeiten und Grenzen der gegenseitigen Beeinflussung von Rechtsakten auf Basis des EG-Vertrags und des Unionsvertrags zu erörtern (dazu im Folgenden unter 1.). Unter Berücksichtigung der Ergebnisse ist nachfolgend der Rahmenbeschluss auszulegen (dazu im Folgenden unter 2. und 3.).

1.      Zum Verhältnis zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht in Bezug auf die Auslegung

40.      Insbesondere Irland und das Vereinigte Königreich wenden sich dagegen, bei der Auslegung eines unionsrechtlichen Rahmenbeschlusses eine (später ergangene) gemeinschaftsrechtliche Richtlinie zu beachten. Es handele sich um zwei unterschiedliche Rechtsordnungen, die streng zu trennen seien. Diese Auffassung beruht zumindest teilweise auf guten Gründen. Ihr kann allerdings nicht in vollem Umfang gefolgt werden.

41.      Klarzustellen ist zunächst, dass jede gegenseitige Beeinflussung bei der Auslegung einen entsprechenden Auslegungsspielraum voraussetzt. Eine Auslegung contra legem wäre kaum mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit zu vereinbaren.(14)

42.      Wie insbesondere das Vereinigte Königreich vorträgt, verhindern auch bei bestehenden Auslegungsspielräumen die unterschiedlichen Kompetenzen des Unionsvertrags und des EG-Vertrags, dass im Wege der Auslegung Regelungen der jeweils anderen Rechtsordnung übertragen werden, für die in der aufnehmenden Rechtsordnung keine Rechtsgrundlage existiert. Jede Auslegung muss nämlich die Rechtsgrundlagen der auszulegenden Maßnahme berücksichtigen und darf daher nicht zu einem Ergebnis führen, das mit der Rechtsgrundlage nicht mehr vereinbar wäre.

43.      Dies gilt insbesondere für die Übernahme von Inhalten des Gemeinschaftsrechts in das Unionsrecht, da der Vertrag über die Europäische Union nach seinem Art. 47 den EG-Vertrag unberührt lässt. Daher sieht sich der Gerichtshof verpflichtet, darüber zu wachen, dass die Handlungen, von denen der Rat behauptet, sie fielen unter den Unionsvertrag, nicht in die Zuständigkeiten übergreifen, die die Bestimmungen des EG-Vertrags der Gemeinschaft zuweisen.(15)

44.      Werden diese Grenzen beachtet, so sind Transfers zwischen Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht bereits in den Verträgen angelegt. Die Union und die Gemeinschaft koexistieren nämlich als verschiedene, aber integrierte Rechtsordnungen.(16) Nach Art. 1 Abs. 3 EU sind die Europäischen Gemeinschaften die Grundlage der Union. Gemäß Art. 3 Abs. 1 EU verfügt die Union über einen einheitlichen institutionellen Rahmen, der die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung ihrer Ziele unter gleichzeitiger Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstands sicherstellt. Daneben sieht Art. 61 Buchst. a und e EG vor, dass Maßnahmen nach Titel IV des EG-Vertrags zusammen mit Maßnahmen auf Grundlage von Titel VI des EU-Vertrags zum Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beitragen.

45.      Im Urteil Pupino stellte der Gerichtshof daher fest, es sei völlig verständlich, dass die Verfasser des Vertrags über die Europäische Union es für angebracht hielten, im Rahmen von Titel VI dieses Vertrags den Rückgriff auf Rechtsinstrumente mit analogen Wirkungen wie im EG-Vertrag vorzusehen, um einen wirksamen Beitrag zur Verfolgung der Ziele der Union zu leisten.(17) Entsprechendes gilt natürlich auch für die Rechtsetzungstätigkeit der Union. Regelungstechniken, Lösungsansätze und Konzepte, die sich im sekundären Gemeinschaftsrecht bewährt haben, können auch in Rechtsakten des Unionsrechts zur Anwendung kommen.

46.      Aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Elementen ist daher im Unionsrecht grundsätzlich der gleiche Inhalt wie im Gemeinschaftsrecht zuzumessen. Dies gilt allerdings nur, soweit der besondere Charakter des Unionsrechts, etwa der Ausschluss der unmittelbaren Wirkung von Rahmenbeschlüssen, dem nicht entgegensteht. Auch im Wege kohärenter Auslegung dürfen nämlich die vertraglich festgelegten Unterschiede zwischen dem supranationalen Gemeinschaftsrecht und dem stärker am traditionellen Völkerrecht ausgerichteten Unionsrecht nicht verwischt werden.

47.      Unter Umständen verlangt die strenge Trennung der Regelungskompetenzen allerdings sogar, dass einander ergänzende Rechtsakte des Unions- und Gemeinschaftsrechts erlassen werden. So ergehen Änderungen des Schengener Durchführungsübereinkommens hinsichtlich des Schengener Informationssystems durch parallele Rechtsakte auf der Grundlage von Art. 66 EG und Art. 30 Abs. 1 Buchst. a und b, Art. 31 Buchst. a und b sowie Art. 34 Abs. 2 Buchst. c EU.(18) Derartige Rechtsakte sind entsprechend ihrem gemeinsamen Ziel so auszulegen, dass sie nahtlos ineinander greifen. In diesem Zusammenhang kann es insbesondere angezeigt sein, Definitionen einheitlich auszulegen.

48.      Gerade in solchen Fällen mag es entgegen der Auffassung Irlands geboten sein, den früheren Rechtsakt einer Rechtsordnung im Licht eines nachfolgend ergangenen Rechtsakts der anderen Rechtsordnung auszulegen. Umgekehrt kann es in dieser Situation auch angezeigt sein, den nachfolgenden Rechtsakt im Licht des älteren Rechts auszulegen, das er ergänzen soll.

49.      Die Auslegung von Maßnahmen des Unionsrechts im Licht des Gemeinschaftsrechts ist somit möglich, doch müssen dabei die Grenzen beachtet werden, die sich aus den Unterschieden von Union und Gemeinschaft ergeben – insbesondere hinsichtlich ihrer Kompetenzen und der ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsformen.

2.      Zum Begriff des Opfers

50.      Mit seiner ersten Frage zielt das vorlegende Gericht darauf ab, ob auch juristische Personen Opfer im Sinne des Rahmenbeschlusses 2001/220 sein können. Dies ist von Interesse, da alle einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses, vor allem Art. 2 und 9, nur zugunsten von Opfern wirken. Ich werde allerdings nachfolgend zeigen, dass die Annahme, juristische Personen könnten als Opfer im Sinne des Rahmenbeschlusses angesehen werden, auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/80 fern liegt.

a)      Zum Rahmenbeschluss 2001/220

51.      Wie alle Beteiligten betonen, ist die SAIPEM kein Opfer im Sinne der Definition des Opfers nach Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2001/220, da danach der Begriff des Opfers auf natürliche Personen beschränkt ist.

52.      Irland und die Kommission unterstreichen zu Recht, dass die Entstehung dieser Definition dagegen spricht, sie auf juristische Personen auszudehnen. Die Beschränkung auf natürliche Personen war schon ursprünglich beabsichtigt, da sie mit der portugiesischen Initiative für den Rahmenbeschluss übereinstimmt. Die Kommission weist darauf hin, dass auch ihre der Initiative vorangehende Mitteilung über die Opfer von Straftaten(19) ausschließlich natürliche Personen zum Gegenstand hatte. Der Rat prüfte im Rechtsetzungsverfahren zwar die Einbeziehung juristischer Personen,(20) doch führte dies nicht zu einer entsprechenden Erweiterung der Opferdefinition.

53.      Diese Entstehungsgeschichte spricht ebenfalls gegen die von Irland als vorstellbar vorgetragene Auffassung, die hinter einer juristischen Person stehenden natürlichen Personen als Opfer einer Straftat zu Lasten der juristischen Person anzusehen. Wenn diese mittelbaren Opfer auch hätten geschützt werden sollen, dann wäre es konsequenter gewesen, auch juristische Personen als Opfer anzusehen. Im Übrigen geht es im Ausgangsverfahren nicht um Ansprüche mittelbar beeinträchtigter natürlicher Personen, sondern um Ansprüche einer unmittelbar geschädigten juristischen Person. Daher stellt sich nicht die Frage, ob eine mittelbare Beeinträchtigung den Opferstatus im Sinne des Rahmenbeschlusses 2001/220 begründen kann.

54.      Die Berücksichtigung der natürlichen Personen, die hinter einer juristischen Person stehen, entkräftet jedoch einen weiteren Einwand des Vereinigten Königreichs gegen die Ausdehnungen des Opferbegriffs auf juristische Personen. Dieser Mitgliedstaat trägt vor, das in Art. 29 EU niedergelegte Ziel, den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten, sei notwendigerweise auf natürliche Personen bezogen. Das kann den Unionsgesetzgeber allerdings nicht daran hindern, juristische Personen genauso zu schützen wie natürliche Personen, denn auch die Kriminalität zum Schaden von juristischen Personen berührt in letzter Konsequenz natürliche Personen, d. h. deren Eigentümer oder auch ihre Arbeitnehmer. Darüber hinaus kann auch diese Kriminalität das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger beeinflussen.

55.      Unabhängig von der generellen Zielsetzung des Titels VI des Unionsvertrags steht die begrenzte Opferdefinition des Rahmenbeschlusses 2001/220 allerdings im Einklang mit seinen übrigen Bestimmungen und seinen erkennbaren Zielen.

56.      Die anderen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses könnten zwar teilweise grundsätzlich auch auf juristische Personen angewendet werden, wenn diese als Opfer anzusehen wären, doch wirken – wie Österreich zu Recht betont – einige Elemente des Rahmenbeschlusses ausschließlich zugunsten natürlicher Personen. Schon die in Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2001/220 beispielhaft genannten Schäden eines Opfers, eine Beeinträchtigung seiner körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder ein wirtschaftlicher Verlust treffen weit überwiegend nur natürliche Personen. Auch ist Art. 2 Abs. 1 hervorzuheben. Danach sind Opfer mit der gebührenden Achtung ihrer persönlichen Würde zu behandeln. Der verstärkte Schutz besonders gefährdeter Opfer nach Art. 2 Abs. 2 ist bei juristischen Personen ebenfalls nur schwer vorstellbar. Ebenso sind die Schutzbestimmungen für das Opfer und seine Familienangehörigen nach Art. 8 nicht auf juristische Personen übertragbar.

57.      Ein Anlass, juristische Personen in den Opferbegriff einzubeziehen, könnte sich höchstens ergeben, wenn ihre Nichtberücksichtigung mit höherrangigem Recht unvereinbar wäre, d. h. insbesondere mit den von Irland erwähnten Grundrechten, die die Union nach Art. 6 Absatz 2 EU achtet. Insofern stellt sich vor allem die Frage, ob die unterschiedliche Behandlung von natürlichen und juristischen Personen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist. Er verlangt, vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich zu behandeln, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt wäre.(21)

58.      Der Unionsgesetzgeber durfte sich allerdings auch unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes darauf beschränken, nur die Behandlung natürlicher Personen zu regeln. Zwar können auch juristische Personen durch Straftaten geschädigt werden, doch zeigt schon die Opferdefinition des Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2001/220, dass sich der Schaden natürlicher Personen häufig nicht in materiellen Verlusten erschöpft, sondern mit der körperlichen und geistigen Unversehrheit sowie seelischem Leid ganz andere Dimensionen erreichen kann als bei juristischen Personen. Außerdem sind natürliche Personen in Strafverfahren oft sehr viel stärker auf Schutz angewiesen als die regelmäßig professionell unterstützten juristischen Personen. Das sind objektive Gründe für eine privilegierte Behandlung natürlicher Personen, die Opfer von Straftaten wurden.

59.      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss die Mitgliedstaaten nicht hindert, eigene Maßnahmen zu ergreifen, soweit juristische Personen in Strafverfahren ebenfalls schutzbedürftig sind.(22)

60.      Somit ist festzustellen, dass der Rahmenbeschluss 2001/220 – auch unter Berücksichtigung der Grundrechte – keinen Anhaltspunkt dafür enthält, die Opferdefinition über ihren Wortlaut hinaus auf juristische Personen auszudehnen.

b)      Zur Richtlinie 2004/80

61.      Zunächst ist mit dem Vereinigten Königreich darauf hinzuweisen, dass der vorliegende Fall unabhängig von der Auslegung des Opferbegriffs nicht zur Anwendung der Richtlinie 2004/80 führen kann. Die Richtlinie sieht nur für den Fall einer vorsätzlichen Gewalttat Entschädigung vor, doch das streitgegenständliche Geld rührt aus Veruntreuung oder Unterschlagung. Darüber hinaus fand die Straftat zumindest im Wesentlichen, wenn nicht gar ausschließlich in dem Mitgliedstaat statt, in dem sich der Sitz des Opfers – SAIPEM – befand. Die Richtlinie regelt dagegen die Entschädigung, wenn die Straftat in einem anderen Mitgliedstaat geschah. Schließlich erlaubt die Richtlinie den Mitgliedstaaten, die Entschädigung auf Antragsteller zu begrenzen, deren Schädigung aus Straftaten resultiert, die nach dem 30. Juni 2005 begangen wurden; hier wurde die Straftat dagegen etwa ein Jahrzehnt früher begangen.

62.      Die Richtlinie 2004/80 ist jedoch in den weiteren Zusammenhang des Rahmenbeschlusses 2001/220 einzuordnen. Auch sie bezweckt den Schutz von Opfern und nimmt im 5. Erwägungsgrund ausdrücklich auf den Rahmenbeschluss Bezug. Wie die Kommission feststellt, ergänzen sich beide Rechtsakte zumindest hinsichtlich des Ziels, Opfer zu schützen.

63.      Wie das Vereinigte Königreich und die Kommission richtigerweise betonen – haben die beide Rechtsakte allerdings unterschiedliche Gegenstände, nämlich einerseits der Rahmenbeschluss – soweit hier einschlägig – die Entschädigung durch den Täter und andererseits die Richtlinie die Entschädigung durch den Staat.

64.      Daher stehen die beiden Rechtsakte nicht in einem engen komplementären Verhältnis. Eine einheitliche Auslegung des Opferbegriffs ist für ihr Funktionieren nicht zwingend notwendig, sondern eher von systematischem Interesse. Sie könnte insbesondere die Umsetzung und praktische Anwendung in den Mitgliedstaaten erleichtern. Schon das geringe Gewicht dieses Interesses an einer kohärenten Auslegung lässt daran zweifeln, dass die Richtlinie 2004/80 überhaupt geeignet ist, eine erweiternde Auslegung des Opferbegriffs im Rahmenbeschluss 2001/220 – etwa im Wege der Analogie – zu rechtfertigen.

65.      Eine erweiternde Auslegung des Opferbegriffs im Rahmenbeschluss 2001/220 ist aber auch deshalb nicht aufgrund der Richtlinie 2004/80 erforderlich, weil ihr nicht eindeutig zu entnehmen ist, dass sie juristische Personen als Opfer ansieht.

66.      Die Richtlinie 2004/80 enthält anders als der Rahmenbeschluss 2001/220 keine ausdrückliche Definition des Opfers. Dies erklärt sich aus ihrer Entstehungsgeschichte. Der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Entschädigung für Opfer von Straftaten zielte nicht nur auf eine Erleichterung der grenzüberschreitenden Opferentschädigung, sondern auch auf einen gemeinsamen Mindeststandard der Opferentschädigung. In diesem Zusammenhang enthielt er eine auf natürliche Personen beschränkte Opferdefinition und erfasste nur Personenschäden.(23)

67.      Der Rat verzichtete jedoch auf eine Harmonisierung der Opferentschädigung.(24) Die einzige Regelung über Entschädigungsansprüche in der Richtlinie ist Art. 12 der Richtlinie 2004/80, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer von vorsätzlich begangenen Gewalttaten gewährleisten. Darüber hinaus folgt aus Art. 2, dass es um eine Entschädigung durch staatliche Stellen geht.

68.      Art. 12 der Richtlinie 2004/80 kann nach seinem Wortlaut auch juristische Personen als Opfer erfassen, denn auch sie können durch vorsätzliche Gewalttaten in anderen Mitgliedstaaten Schäden erleiden.(25) Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber über die ursprünglichen Ziele des Richtlinienvorschlags der Kommission hinaus den Kreis der begünstigten Opfer erweitert hat.

69.      Die niederländische Regierung, die Regierungen Österreichs und des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission vertreten jedoch die Auffassung, nur natürliche Personen könnten Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten im Sinne der Richtlinie 2004/80 sein. Dafür tragen sie vor, die Beschränkung auf natürliche Personen ergebe sich aus dem im ersten Erwägungsgrund niedergelegten Ziel, Hindernisse für den freien Verkehr von Personen und Dienstleistungen zu beseitigen, aus dem im zweiten Erwägungsgrund genannten Urteil Cowan,(26) das den Schutz natürlicher Personen fordert, sowie aus der Bezugnahme des fünften Erwägungsgrunds auf den Rahmenbeschluss 2001/220, der nur natürliche Personen als mögliche Opfer definiert. Im Übrigen hat der Rat beim Verzicht auf die von der Kommission vorgeschlagene Harmonisierung vermutlich nicht beabsichtigt, den Kreis der Begünstigten über den Kommissionsvorschlag hinaus auf juristische Personen auszudehnen.

70.      Somit lässt der Wortlaut der Richtlinie 2004/80 es zwar zu, den Begriff des Opfers auf natürliche und juristische Personen zu erstrecken, doch es gibt eine Reihe von Gründen, ihn auf natürliche Personen zu beschränken. Ohne dass es im vorliegenden Fall notwendig wäre, die Reichweite des Opferbegriffs der Richtlinie endgültig festzulegen, kann er daher jedenfalls nicht dazu führen, den Opferbegriff des Rahmenbeschlusses 2001/220 über den Wortlaut der Definition hinaus auszudehnen.

71.      Auch der vom vorlegenden Gericht genannte Art. 17 der Richtlinie 2004/80 kann eine Ausdehnung des Opferbegriffs auf juristische Personen nicht begründen. Wie Österreich, Italien, die Niederlande, das Vereinigte Königreich und die Kommission zu Recht vortragen, eröffnet diese Bestimmung den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, eine großzügigere nationale Regelung zu erlassen. Die Mitgliedstaaten dürfen daher auch juristische Personen als Opfer ansehen. Daraus folgt jedoch gerade nicht, dass sie dazu verpflichtet sind.

72.      Opfer im Sinne des Rahmenbeschlusses 2001/220 sind daher auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/80 ausschließlich natürliche Personen.

3.      Zur Anwendung von Art. 9 des Rahmenbeschlusses 2001/220 in einem Strafvollstreckungsverfahren

73.      Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht erfahren, ob die Rechte des Opfers nach Art. 2 und Art. 9 des Rahmenbeschlusses 2001/220 auch noch während des Strafvollstreckungsverfahrens bestehen. Da aufgrund der Antwort auf die erste Frage vorliegend kein Opfer im Sinne des Rahmenbeschlusses betroffen ist, vertreten einige Beteiligte die Auffassung, diese Frage sei rein hypothetischer Natur.

74.      Der Gerichtshof hat jedoch nach Artikel 234 EG wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Gemeinschaftsvorschriften in Fällen betrafen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht unter das Gemeinschaftsrecht fiel, aber die genannten Vorschriften entweder durch das nationale Recht oder aufgrund bloßer Vertragsbestimmungen für anwendbar erklärt worden waren.(27) Dies sollte auch für Bestimmungen des Unionsrechts gelten.

75.      Im vorliegenden Fall ist nicht auszuschließen, dass im italienischen Recht grundsätzlich ein weiter gefasster Begriff des Opfers Anwendung findet, so dass juristische Personen ebenfalls in den Genuss der Verfahren kommen, die zugunsten natürlicher Personen zur Anwendung kommen, wenn sie ihre Opferrechte durchsetzen wollen. Dafür spricht, dass Italien den Opferbegriff des Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2001/220 nicht ausdrücklich umgesetzt hat(28) und auch die einschlägigen italienischen Bestimmungen anscheinend keinen besonderen Opferbegriff verwenden.(29)

76.      Falls das italienische Recht eine einheitliche Anwendung dieser Bestimmungen unabhängig davon vorsieht, ob die Opfer natürliche oder juristische Personen sind, können die Anforderungen des Rahmenbeschlusses an das Vollstreckungsverfahren für das vorlegende Gericht von Interesse sein. Folglich sollte der Gerichtshof auch diese Frage beantworten.

77.      Inhaltlich betrifft diese Frage die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 und 3 des Rahmenbeschlusses, wo die Entschädigung der Opfer und die Rückgabe ihres Eigentums geregelt werden.

78.      Das vorlegende Gericht geht offenbar davon aus, dass vorliegend eine Rückerstattung in Betracht kommt. Dazu sieht Art. 9 Abs. 3 vor, dass im Rahmen des Strafverfahrens sichergestelltes Eigentum des Opfers, das für eine Rückgabe in Frage kommt, diesem unverzüglich zurückgegeben wird, es sei denn, der Rückgabe stehen zwingende Gründe im Zusammenhang mit der Verfahrensführung entgegen.

79.      Da es um die Rückgabe von Geld geht, das vermutlich als Buchgeld auf Konten des Täters transferiert wurde, scheint es allerdings möglich, dass das Geld entgegen der Darstellung des vorlegenden Gerichts nicht im Eigentum der SAIPEM verblieb. Folglich sollte auch die Möglichkeit einer Entschädigung des Opfers nicht vernachlässigt werden. Insofern gewährleisten die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220, dass Opfer einer Straftat ein Recht darauf haben, innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter im Rahmen des Strafverfahrens zu erwirken, es sei denn, das einzelstaatliche Recht sieht in bestimmten Fällen vor, dass die Entschädigung in einem anderen Rahmen erfolgt. Hier muss nicht abschließend geklärt werden, welche Arten von Ansprüchen vom Begriff der Entschädigung umfasst werden. Es ist allerdings offensichtlich, dass Vermögensschäden davon umfasst sind, insbesondere da Art. 1 Buchst. a den wirtschaftlichen Verlust ausdrücklich als Beispiel für den Schaden eines Opfers nennt.

80.      Im Unterschied zur ersten Frage hat die Richtlinie 2004/80 keinen erkennbaren Einfluss auf die Auslegung. Das entspricht ihrem Gegenstand, der Entschädigung von Opfern durch den Staat unter Verzicht auf eine detaillierte Harmonisierung. Daher enthält sie keine Regelungen über die Entschädigung durch den Täter oder die Rückgabe sichergestellten Eigentums an das Opfer. Auch betrifft sie nicht das Strafverfahren, da die staatliche Opferentschädigung typischerweise in einem separaten Verfahren nach öffentlichem Recht durchgeführt wird.

a)      Zur Entschädigung

81.      Im Hinblick auf die Entschädigung gewährleisten die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220, dass Opfer einer Straftat ein Recht darauf haben, innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter im Rahmen des Strafverfahrens zu erwirken, es sei denn, das einzelstaatliche Recht sieht in bestimmten Fällen vor, dass die Entschädigung in einem anderen Rahmen erfolgt.

82.      Opfern soll danach das Recht eingeräumt werden, im Rahmen des Strafverfahrens eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter zu erwirken. Hinsichtlich dieses Rahmens besteht allerdings ein Vorbehalt. Die Mitgliedstaaten können in bestimmten Fällen die Entschädigung in einem anderen Rahmen vorsehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des Rahmens für die Opferentschädigung völlig frei wären, sondern nur, dass für bestimmte Fälle ein anderer Rahmen zur Anwendung kommen kann. In der Regel müssen die Opfer frei sein, eine Entscheidung im Rahmen des Strafverfahrens zu erwirken.

83.      Ziel der Verbindung des Strafverfahrens mit der Entscheidung über die Entschädigung ist es, dem Opfer die Belastung und die Risiken eines zusätzlichen Gerichtsverfahrens zu ersparen. Soweit das Strafverfahren bestimmte Fragen klärt oder ohne größere Schwierigkeiten klären kann, werden die berechtigten Interessen der Opfer im Sinne Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 anerkannt, wenn das Strafgericht diese Erkenntnisse unmittelbar in entsprechende Entscheidungen umsetzt.

84.      Diesem Ziel hätte es im Ausgangsfall entsprochen, wenn bereits im Rahmen des strafrechtlichen Urteils soweit wie möglich über die Entschädigung der SAIPEM entschieden worden wäre.

85.      Die Kommission hebt allerdings zu Recht hervor, dass der Rahmenbeschluss 2001/220 die Einordnung der Entscheidung in das innerstaatliche Strafverfahren nicht regelt. Der Rahmenbeschluss würde es daher zulassen, dass das Gericht zunächst über die Strafe entscheidet und in einem anschließenden Verfahren auf Basis der Erkenntnisse aus dem Strafverfahren über die Entschädigung durch den Täter entscheidet. Dabei müsste allerdings sichergestellt werden, dass diese nachfolgende Entscheidung wie von Art. 9 Abs. 1 vorgesehen innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt.

86.      Ob dies tatsächlich möglich ist, hängt – wie insbesondere die Niederlande betonen – mangels einer ausdrücklichen Regelung im Rahmenbeschluss 2001/220 vom innerstaatlichen Recht ab. Lässt dieses – auch bei Auslegung im Licht des Rahmenbeschlusses – nach Aburteilung des Straftäters eine Entscheidung über die Entschädigung nicht mehr zu, dann müssen die Gerichte diese Entscheidung vor oder mit dem Strafurteil treffen, je nachdem, was das innerstaatliche Recht insofern vorsieht.

87.      Im Übrigen erscheint es mir ausgeschlossen, zu verlangen, während des gesamten Strafvollstreckungsverfahrens einen Anspruch auf Entscheidung über die Entschädigung des Opfers aufrechtzuerhalten. Andernfalls wäre zu befürchten, dass solche Ansprüche Jahre nach der gerichtlichen Aufklärung der Straftaten gestellt würden. Ungeachtet der möglichen Verjährung widerspräche dies nicht nur dem in Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 niedergelegten Anspruch auf eine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist, sondern es wäre auch zweckwidrig. Die Vorteile einer gemeinsamen oder zumindest zeitnahen Entscheidung des gleichen Gerichts über die Bestrafung und die Entschädigung gingen verloren.

88.      Zugleich wären davon häufig Verfahren betroffen, in denen weder während des zur Verurteilung führenden Verfahrens noch beim Urteil der Rahmenbeschluss zu beachten war. Illustrativ ist der vorliegende Fall: Die Verurteilung datiert aus dem Jahr 1999, also aus einer Zeit, als der Rahmenbeschluss noch nicht existierte. Daher konnte er das zuständige Gericht noch nicht dazu verpflichten, bei der Verurteilung über Entschädigungsansprüche zu entscheiden oder etwaig notwendige Tatsachen aufzuklären. Wenn in diesen Fällen bislang noch nicht über die Entschädigung entschieden wurde, ist daher auch nicht zu erwarten, dass eine künftige Entscheidung einer Entscheidung im zivilgerichtlichen Verfahren vorzuziehen wäre.

89.      Folglich steht Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 der Entscheidung über die Entschädigung des Opfers innerhalb einer angemessenen Frist im Strafvollstreckungsverfahren nicht entgegen, verlangt dies allerdings nicht.

b)      Zur Rückgabe von Eigentum

90.      Für die Rückgabe von Eigentum ist Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220 maßgeblich. Danach wird dem Opfer sein im Rahmen des Strafverfahrens sichergestelltes Eigentum, das für eine Rückgabe in Frage kommt, unverzüglich zurückgegeben, es sei denn, der Rückgabe stehen zwingende Gründe im Zusammenhang mit der Verfahrensführung entgegen.

91.      Anders als Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 hinsichtlich der Entschädigung sieht diese Bestimmung keine Entscheidung über das Eigentum des Opfers vor. Dementsprechend vertritt die Kommission die Auffassung, die Bestimmung sei nur anwendbar, wenn das Eigentum unstreitig bestehe. Wie auch die österreichische Regierung ist die Kommission der Auffassung, ein Streit über das Eigentum sei dagegen zivilrechtlicher Natur und werde daher gemäß dem 7. Erwägungsgrund vom Rahmenbeschluss nicht erfasst.

92.      Mit ihrer Bezugnahme auf den 7. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2001/220 verkennen die Kommission und Österreich, dass dort nur vom Zivilverfahren die Rede ist, nicht aber vom Zivilrecht. Es stünde im Widerspruch zu der in Art. 9 Abs. 1 vorgesehenen Entscheidung über eine Entschädigung durch den Täter, wenn der Rahmenbeschluss zivilrechtliche Fragen unberührt ließe. Die Entscheidung über eine Entschädigung durch den Täter ist nämlich in der Regel zivilrechtlicher Natur.

93.      Davon unabhängig trifft es allerdings zu, dass Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220 keine Entscheidung über das Eigentum vorsieht. Grundsätzlich betrifft diese Regelung daher die Rückgabe von unbestrittenem Eigentum, etwa von Gegenständen des Opfers, die zu Beweiszwecken sichergestellt wurden. Wie die irische Regierung völlig zu Recht betont, konkretisiert Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220 insoweit nur das Grundrecht auf Eigentum.

94.      Darüber hinaus kann nicht jedes Bestreiten des Eigentums die vorgesehene Rückgabe verhindern. Wenn nämlich im Rahmen des Strafverfahrens rechtskräftig für Zwecke dieses Verfahrens festgestellt wurde, wem das Eigentum zusteht, z. B. im Fall von Diebesgut, um eine Verurteilung wegen Diebstahls zu ermöglichen, dann muss diese Feststellung auch für die Rückgabe maßgeblich sein. Nur diese Vorgehensweise genügt der Anforderung von Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220, die berechtigten Interessen des Opfers im Rahmen des Strafverfahrens anzuerkennen. Eine Tatsachenfeststellung, die ausreicht, um einen Straftäter zu verurteilen, muss auch dann Bestand haben, wenn die Rückgabe von Eigentum des Opfers zu beurteilen ist.

95.      Dagegen kann das Opfer die Rückgabe bestrittenen Eigentums nicht verlangen, wenn das Strafverfahren nicht zu entsprechenden Feststellungen führte. Insofern steht es den Mitgliedstaaten frei, den Streit über das Eigentum der Zivilgerichtsbarkeit zu überlassen. Es stellt sich höchstens die Frage, inwieweit der Rahmenbeschluss 2001/220 das Gericht verpflichtet, entsprechende Feststellungen zu treffen, wenn diese für den Abschluss des Strafverfahrens nicht zwingend notwendig sind. Für das vorliegende Verfahren ist diese Frage allerdings ohne Interesse, da alle etwaigen Feststellungen bereits bei der Verurteilung von Herrn Dell’Orto getroffen wurden oder sich jedenfalls jetzt nicht mehr nachholen lassen.

96.       Es ist daher festzuhalten, dass die unverzügliche Rückgabe sichergestellten Eigentums an das Opfer nach Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220 erfolgen muss, wenn das Eigentum des Opfers unbestritten ist oder im Strafverfahren rechtskräftig festgestellt wurde.

V –    Ergebnis

97.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen wie folgt zu beantworten:

1.      Opfer im Sinne des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind auch unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten ausschließlich natürliche Personen.

2.      Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220 steht der Entscheidung über die Entschädigung des Opfers innerhalb einer angemessenen Frist im Strafvollstreckungsverfahren nicht entgegen, verlangt dies allerdings nicht.

3.      Die unverzügliche Rückgabe sichergestellten Eigentums an das Opfer nach Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220 muss erfolgen, wenn das Eigentum des Opfers unbestritten ist oder im Strafverfahren rechtskräftig festgestellt wurde.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – ABl. L 82, S. 1.


3 – ABl. L 261, S. 15 (Sprachfassungen der EU 15).


4 –      Ergänzung durch die Verfasserin.


5 – Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino (C‑105/03, Slg. 2005, I‑5285, Randnr. 43). In Bezug auf diese Feststellung des Gerichtshofs ist anzumerken, dass in der deutschen und der englischen Übersetzung des Urteils zunächst fälschlicherweise der Begriff „richtlinienkonforme Auslegung“ Verwendung fand, der bei Rahmenbeschlüssen nicht einschlägig ist. Dieser Übersetzungsfehler wurde mittlerweile korrigiert.


6 – Urteil Pupino (zitiert in Fn. 5, Randnr. 19). Vgl. auch die Urteile vom 27. Februar 2007, Gestoras Pro Amnistía u. a./Rat (C‑354/04 P, noch nicht in der der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 54), und Segi u. a./ Rat (C‑355/04 P, noch nicht in der der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 54).


7 – Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam (ABl. L 114, S. 56).


8 – Urteil Pupino (zitiert in Fn. 5, Randnrn. 29 f. m. w. N. zur Rechtsprechung nach Art. 234 EG).


9 – Urteil vom 14. Dezember 2006, Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio (C-217/05, Slg. 2006, I-0000, Randnrn. 26 bis 28), und meine Schlussanträge in der gleichen Sache vom 13. Juli 2006, Nr. 33, jeweils m. w. N.


10 – Urteil Pupino (zitiert in Fn. 5, Randnr. 48).


11 – Vgl. nachfolgend, Nr. 79.


12 – Schlussanträge vom 11. November 2004 (C‑105/03, Slg. 2005, I‑5285, Nr. 43) mit Hinweis auf die Urteile vom 12. November 1981, Salumi u. a. (212/80 bis 217/80, Slg. 1981, 2735, Randnr. 9), vom 6. Juli 1993, CT Control Rotterdam und JCT Benelux/Kommission (C-121/91 und C-122/91, Slg. 1993, I-3873, Randnr. 22), vom 7. September 1999, De Haan (C-61/98, Slg. 1999, I-5003, Randnrn. 13 und 14) sowie vom 1. Juli 2004, Tsapalos (C-361/02 und C-362/02, Slg. 2004, I‑6405, Randnr. 19).


13 – Schlussanträge Pupino (zitiert in Fn. 12, Nrn. 48 bis 52).


14 – Urteil Pupino (zitiert in Fn. 5, Randnrn. 44 und 47).


15 – Urteile vom 12. Mai 1998, Kommission/Rat (Transitvisa) (C‑170/96, Slg. 1998, I‑2763, Randnr. 16), und vom 13. September 2005, Kommission/Rat (Umweltstrafrecht) (C‑176/03, Slg. 2005, I‑7879, Randnr. 39).


16 – Vgl. das Urteil des Gerichts vom 21. September 2005, Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (T‑306/01, Slg. 2005, II‑3533, Randnr. 156).


17 – Zitiert in Fn. 5, Randnr. 36.


18 – Siehe z. B. den Beschluss 2004/201/JI und Verordnung (EG) Nr. 378/2004 des Rates vom 19. Februar 2004 über Verfahren zur Änderung des SIRENE-Handbuchs (ABl. L 64/5 und 45).


19 – Die Kommission bezieht sich auf ihre Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss – Opfer von Straftaten in der Europäischen Union – Überlegungen zu Grundsätzen und Maßnahmen, KOM (1999) 349 endg.


20 – Beratungsergebnisse der Gruppe „Strafrechtliche Zusammenarbeit“ vom 19. und 20. Juni 2000, (Ratsdokument 9720/00 vom 26. Juni 2000, S. 3, Fn. 3) und Bericht der Gruppe „Strafrechtliche Zusammenarbeit“ vom 11. Juli 2000 (Ratsdokument 10387/00 vom 14. Juli 2000, S. 7, Fn. 1).


21 – Urteile vom 20. September 1988, Spanien/Rat (203/86, Slg. 1988, 4563, Randnr. 25), vom 17. Juli 1997, SAM Schiffahrt und Stapf (C-248/95 und C-249/95, Slg. 1997, I-4475, Randnr. 50), vom 13. April 2000, Karlsson u. a. (C-292/97, Slg. 2000, I-2737, Randnr. 39), vom 12. März 2002, Omega Air u. a. (C-27/00 und C-122/00, Slg. 2002, I-2569, Randnr. 79), vom 9. September 2003, Milk Marque und National Farmers’ Union (C-137/00, Slg. 2003, I-7975, Randnr. 126), vom 9. September 2004, Spanien/Kommission (C-304/01, Slg. 2004, I-7655, Randnr. 31), und vom 14. Dezember 2004, Swedish Match (C-210/03, Slg. 2004, I-11893, Randnr. 70).


22 – Er enthält im Übrigen auch keine Bestimmungen, die eine Benachteiligung juristischer Personen durch die Mitgliedstaaten legitimieren könnten. Insofern unterscheidet sich der Rahmenbeschluss 2001/220 von der in meinen Schlussanträgen vom 8. September 2005, Parlament/Rat (Familienzusammenführung) (C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769, Nrn. 99 ff.), diskutierten Regelung, die eine grundrechtswidrige Umsetzung zu rechtfertigen schien.


23 – KOM(2002) 562 endg., ABl. 2003, C 45E, S. 69 ff.


24 – Siehe das Optionspapier der Präsidentschaft, Ratsdokument 7752/04 vom 26. März 2004, für die Ratsberatungen am 30. März 2004 und den daraus resultierenden Entwurf, Ratsdokument 8033/04 vom 5. April 2004.


25 – Siehe z. B. das Urteil vom 9. Dezember 1997, Kommission/Frankreich (C‑265/95, Slg. 1997, I‑6959).


26 – Urteil vom 2. Februar 1989, Cowan (186/87, Slg. 1989, 195, Randnr. 19).


27 – Urteile vom 17. Juli 1997, Leur-Bloem (C-28/95, Slg. 1997, I-4161, Randnr. 27) und Giloy (C-130/95, Slg. 1997, I-4291, Randnrn. 23), vgl. auch die Urteile vom 8. November 1990, Gmurzynska-Bscher (C‑231/89, Slg. 1990, I‑4003, Randnr. 24), vom 18. Oktober 1990, Dzodzi (C-297/88 und C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Randnr. 36), vom 11. Januar 2001, Kofisa Italia (C-1/99, Slg. 2001, I-207, Randnr. 21), vom 17. März 2005, Feron (C-170/03, Slg. 2005, I-2299, Randnr. 11), und vom 16. März 2006, Poseidon Chartering (C-3/04, Slg. 2006, I‑ 2505, Randnr. 15).


28 – Siehe das Kommissionsdokument SEC(2004)102, S. 3, http://ec.europa.eu/justice_home/doc_centre/criminal/doc/sec_2004_0102_fr.pdf. Dabei handelt es sich um den nur in französischer Sprache vorliegenden Anhang zum Bericht der Kommission gemäß Art. 18 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, KOM(2004) 54 endg. vom 16. April 2004.


29 – Dabei dürfte es sich um die Art. 74 ff. und Art. 538 ff. des italienischen codice di procedura penale für die Opferentschädigung im Strafverfahren handeln sowie um Art. 262 und Art. 263 des italienischen codice di procedura penale für die Rückgabe beschlagnahmten Eigentums.