Language of document : ECLI:EU:C:2012:621

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 4. Oktober 2012(1)

Verbundene Rechtssachen C‑197/11 und C‑203/11

Eric Libert,

Christian Van Eycken,

Max Bleeckx,

Syndicat national des propriétaires et copropriétaires (ASBL),

Olivier de Clippele

gegen

Flämische Regierung (C‑197/11)

und

All Projects & Developments NV,

Bouw- en Coördinatiekantoor Andries NV,

Belgische Gronden Reserve NV,

Bouwonderneming Ooms NV,

Bouwwerken Taelman NV,

Brummo NV,

Cordeel Zetel Temse NV,

DMI Vastgoed NV,

Dumobil NV,

Durabrik Bouwbedrijven NV,

Eijssen NV,

Elbeko NV,

Entro NV,

Extensa NV,

Flanders Immo JB NV,

Green Corner NV,

Huysman Bouw NV,

Imano BVBA,

Immpact Ontwikkeling NV,

Invest Group Dewaele NV,

Invimmo NV,

Kwadraat NV,

Liburni NV,

Lotinvest NV,

Matexi NV,

Novus NV,

Plan & Bouw NV,

7Senses Real Estate NV,

Sibomat NV,

Tradiplan NV,

Uma Invest NV,

Versluys Bouwgroep BVBA,

Villabouw Francis Bostoen NV,

Willemen General Contractor NV,

Wilma Project Development NV,

Woningbureau Paul Huyzentruyt NV

gegen

Flämische Regierung (C‑203/11)

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour constitutionnelle [Belgien])

„Regionale Regelung, die die Übertragung von Grundstücken und Gebäuden davon abhängig macht, dass eine ausreichende Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters zu der Zielgemeinde besteht – Soziale Auflage für Parzellierer und Bauherren – Steueranreize und Subventionsmechanismen – Beschränkung der Grundfreiheiten – Rechtfertigung – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Staatliche Beihilfen – Begriff des öffentlichen Bauauftrags“





I –    Einführung

1.        In den vorliegenden verbundenen Rechtssachen wird der Gerichtshof um die Auslegung mehrerer Vorschriften des Primärrechts und des abgeleiteten Unionsrechts ersucht. Bei den Vorschriften des Primärrechts handelt es sich um die Art. 21 AEUV, 45 AEUV, 49 AEUV, 56 AEUV, 63 AEUV, 107 AEUV und 108 AEUV. Im Hinblick auf das abgeleitete Recht befassen sich die Vorlagefragen mit der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge(2), mit der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG(3), mit der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt(4) sowie mit der Entscheidung 2005/842/EG der Kommission vom 28. November 2005 über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden(5).

2.        Die Antwort des Gerichtshofs soll der Cour constitutionnelle (Belgien), die die Vorabentscheidungsfragen vorgelegt hat, die Entscheidung über die Klagen auf Nichtigerklärung einzelner Bestimmungen des Dekrets der Flämischen Region vom 27. März 2009 über die Grundstücks- und Immobilienpolitik (im Folgenden: Grundstücks- und Immobiliendekret) ermöglichen.

3.        Die Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑197/11 verweisen auf die Bestimmungen des Grundstücks- und Immobiliendekrets, die die Übertragung von Grundstücken und aufstehenden Gebäuden in bestimmten flämischen Gemeinden davon abhängig machen, dass eine ausreichende Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters zu der betreffenden Gemeinde besteht, wodurch nach Auffassung der Kläger die Möglichkeit der freien Verfügung über Grundeigentum beschränkt wird.

4.        Die Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑203/11 sehen den Grund für die Nichtigkeit des Grundstücks- und Immobiliendekrets nicht nur in der Voraussetzung einer ausreichenden Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters zu der betreffenden Gemeinde, sondern auch in der sozialen Auflage, der die Parzellierer und Bauherren unterworfen sind, sowie in den Steueranreizen und Subventionsmechanismen, die die genannte soziale Auflage teilweise ausgleichen sollen.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Richtlinie 2004/18

5.        Art. 1 („Definitionen“) der Richtlinie 2004/18 bestimmt:

„(1)       Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten die Definitionen der Absätze 2 bis 15.

(2)      a)       ‚Öffentliche Aufträge‘ sind zwischen einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern und einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern geschlossene schriftliche entgeltliche Verträge über die Ausführung von Bauleistungen, die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Richtlinie.

b)       ‚Öffentliche Bauaufträge‘ sind öffentliche Aufträge über entweder die Ausführung oder gleichzeitig die Planung und die Ausführung von Bauvorhaben im Zusammenhang mit einer der in Anhang I genannten Tätigkeiten oder eines Bauwerks oder die Erbringung einer Bauleistung durch Dritte, gleichgültig mit welchen Mitteln, gemäß den vom öffentlichen Auftraggeber genannten Erfordernissen. Ein ‚Bauwerk‘ ist das Ergebnis einer Gesamtheit von Tief- oder Hochbauarbeiten, das seinem Wesen nach eine wirtschaftliche oder technische Funktion erfüllen soll.

…“

2.      Richtlinie 2004/38

6.        Art. 22 („Räumlicher Geltungsbereich“) der Richtlinie 2004/38 lautet:

„Das Recht auf Aufenthalt und das Recht auf Daueraufenthalt erstrecken sich auf das gesamte Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats. Die Mitgliedstaaten können das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Daueraufenthalt nur in den Fällen räumlich beschränken, in denen sie dieselben Beschränkungen auch für ihre eigenen Staatsangehörigen vorsehen.“

7.        Art. 24 („Gleichbehandlung“) bestimmt in seinem Abs. 1:

„Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt genießen.“

3.      Entscheidung 2005/842

8.        Art. 1 („Gegenstand“) der Entscheidung 2005/842 bestimmt:

„Die vorliegende Entscheidung bestimmt, unter welchen Voraussetzungen staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden, als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen und demzufolge von der in Artikel 88 Absatz 3 EG‑Vertrag verankerten Notifizierungspflicht freigestellt werden können.“

9.        In Art. 2 („Geltungsbereich“) Abs. 1 der Entscheidung heißt es:

„Die vorliegende Entscheidung gilt für staatliche Beihilfen, die Unternehmen in Form von Ausgleichszahlungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag gewährt werden, die in eine der folgenden Kategorien fallen:

b)       Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser und im sozialen Wohnungsbau tätige Unternehmen, die Tätigkeiten ausführen, die von dem jeweiligen Mitgliedstaat als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eingestuft wurden;

…“

10.      Art. 3 („Vereinbarkeit und Freistellung von der Notifizierungspflicht“) der Entscheidung bestimmt:

„Staatliche Beihilfen, die in Form von Ausgleichszahlungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gewährt werden und gleichzeitig die in dieser Entscheidung genannten Voraussetzungen erfüllen, sind mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar und von der Notifizierungspflicht gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG-Vertrag freigestellt, sofern in den sektorspezifischen gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften in Bezug auf die Gemeinwohlverpflichtungen nichts anderes bestimmt ist.“

B –    Innerstaatliches Recht

11.      Buch 4 („Maßnahmen in Bezug auf bezahlbare Wohnungen“) des Grundstücks- und Immobiliendekrets enthält in Kapitel 3 („Soziale Auflagen“) den Art. 4.1.16, der bestimmt:

„§ 1. Wenn ein Parzellierungsprojekt oder ein Bauprojekt einer Norm im Sinne von Kapitel 2 Abschnitt 2 unterliegt, wird die Parzellierungsgenehmigung bzw. die Städtebaugenehmigung von Rechts wegen mit einer sozialen Auflage verbunden.

Eine soziale Auflage … verpflichtet den Parzellierer oder den Bauherrn, Maßnahmen auszuführen, damit ein Angebot an Sozialwohnungen verwirklicht werden kann, das dem für das Parzellierungsprojekt oder das Bauprojekt anwendbaren Prozentsatz entspricht.“

12.      Art. 4.1.17 des Grundstücks- und Immobiliendekrets bestimmt:

„Der Parzellierer oder der Bauherr kann eine soziale Auflage wahlweise wie folgt erfüllen:

1.       in natura gemäß den Regeln der Artikel 4.1.20 bis 4.1.24;

2.       durch den Verkauf der für das vorgeschriebene Angebot an Sozialwohnungen erforderlichen Grundstücke an eine Organisation für Sozialwohnungen gemäß den Regeln von Artikel 4.1.25;

3.       durch die Vermietung von innerhalb einer Parzellierung oder eines Bauprojektes errichteten Wohnungen an ein soziales Vermietungsbüro gemäß den Regeln von Artikel 4.1.26;

4.       durch eine Kombination der Nrn. 1, 2 und/oder 3.“

13.      Art. 4.1.19 des Grundstücks- und Immobiliendekrets lautet:

„Der Parzellierer oder der Bauherr kann eine soziale Auflage ganz oder teilweise erfüllen, indem er einen Sozialbeitrag an die Gemeinde überweist, in der das Parzellierungsprojekt oder das Bauprojekt entwickelt wird. Der Sozialbeitrag wird berechnet, indem die Anzahl der grundsätzlich zu erstellenden Sozialwohnungen oder Parzellen mit 50 000 Euro multipliziert und der Betrag anhand des ABEX-Indexes mit demjenigen von Dezember 2008 als Basisindex dem Index angepasst wird.

…“

14.      Das Grundstücks- und Immobiliendekret sieht für die privaten Unternehmen, die die „sozialen Auflagen“ in natura erfüllen, folgende Steueranreize und Subventionsmechanismen vor: die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes und eines ermäßigten Satzes für die Registrierungsgebühren (Art. 4.1.20 § 3 Abs. 2); Infrastrukturzuschüsse (Art. 4.1.23) und eine Übernahmegarantie für errichtete Wohnungen (Art. 4.1.21).

15.      Außerdem sieht Buch 3 („Aktivierung von Grundstücken und Immobilien“) des Grundstücks- und Immobiliendekrets Subventionen vor, die unabhängig von der Erfüllung einer „sozialen Auflage“ gewährt werden. Insbesondere handelt es sich um Subventionen für „Aktivierungsprojekte“ (Art. 3.1.2 des genannten Dekrets), um eine im Zusammenhang mit dem Abschluss von Renovierungsvereinbarungen gewährte Steuerermäßigung für natürliche Personen (Art. 3.1.3 ff. des Dekrets) sowie um eine pauschale Herabsetzung der Erhebungsgrundlage für Registrierungsgebühren (Art. 3.1.10 des Dekrets).

16.      Art. 5.1.1 im Buch 5 („Wohnen in der eigenen Region“) des Grundstücks- und Immobiliendekrets bestimmt:

„Die Flämische Regierung stellt alle drei Jahre, und zum ersten Mal in dem Kalendermonat, in dem dieses Dekret in Kraft tritt, eine Liste der Gemeinden auf, die auf der Grundlage der neuesten statistischen Daten den beiden folgenden Merkmalen entsprechen:

1.       [D]ie Gemeinde gehört zu den 40 Prozent der flämischen Gemeinden, in denen der durchschnittliche Preis für Baugrundstücke je Quadratmeter der höchste ist;

2.       die Gemeinde gehört zu:

a)       entweder den 25 Prozent der flämischen Gemeinden mit der höchsten internen Migrationsintensität;

b)       oder den 10 Prozent der flämischen Gemeinden mit der höchsten externen Migrationsintensität.

Die in Absatz 1 erwähnte Liste wird im Belgischen Staatsblatt veröffentlicht.

…“

17.      Art. 5.2.1, der ebenfalls zu Buch 5 des Grundstücks- und Immobiliendekrets gehört, sieht vor:

„§ 1. Es gilt eine besondere Bedingung für die Übertragung von Grundstücken und den darauf errichteten Bauwerken in den Gebieten, die folgende zwei Bedingungen erfüllen:

1.       [S]ie unterliegen der Gebietseinteilung ‚Wohnerweiterungsgebiet‘ im Sinne des königlichen Erlasses vom 28. Dezember 1972 über die Einrichtung und Anwendung der Sektorenplanentwürfe und Sektorenpläne, und dies am Tag des Inkrafttretens dieses Dekrets;

2.       sie liegen zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der privatschriftlichen Übertragungsurkunde in den Zielgemeinden, die in der neuesten, im Belgischen Staatsblatt veröffentlichten Liste im Sinne von Artikel 5.1.1 angeführt sind, wobei davon ausgegangen wird, dass die privatschriftliche Übertragungsurkunde zur Anwendung dieser Bestimmung sechs Monate vor dem Erhalt eines festen Datums unterschrieben werde, wenn zwischen dem Datum der Unterzeichnung und dem Datum des Erhalts eines festen Datums mehr als sechs Monate verstrichen sind.

Die besondere Übertragungsbedingung besteht darin, dass Grundstücke und darauf errichte Bauwerke nur an Personen (weiter) übertragen werden können, die nach dem Dafürhalten einer provinzialen Bewertungskommission eine ausreichende Bindung zur Gemeinde besitzen. Unter ‚Übertragen‘ ist Folgendes zu verstehen: Verkauf, Vermietung für mehr als neun Jahre oder Belastung mit einem Erbpacht- oder Erbbaurecht.

Die besondere Übertragungsbedingung verfällt endgültig und ohne Möglichkeit der Erneuerung nach zwanzig Jahren ab dem Zeitpunkt, zu dem die der Bedingung unterliegende ursprüngliche Übertragung ein festes Datum erhalten hat.

§ 2.       Eine Person verfügt zur Anwendung von § 1 Absatz 2 über eine ausreichende Bindung zur Gemeinde, wenn sie eine oder mehrere der folgenden Bedingungen erfüllt:

1.       Sie ist mindestens sechs Jahre lang ohne Unterbrechung in der Gemeinde oder in einer angrenzenden Gemeinde wohnhaft gewesen, vorausgesetzt, dass diese Gemeinde ebenfalls in der in Artikel 5.1.1 erwähnten Liste aufgeführt ist;

2.       sie verrichtet im Zeitpunkt der Übertragung Tätigkeiten in der Gemeinde, sofern diese Tätigkeiten durchschnittlich mindestens eine halbe Arbeitswoche in Anspruch nehmen;

3.       sie hat aufgrund eines wichtigen und dauerhaften Umstands eine berufliche, familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindung zur Gemeinde aufgebaut.

…“

18.      Gemäß Art. 5.1.1 des Grundstücks- und Immobiliendekrets wurde durch den Erlass der flämischen Regierung vom 19. Juni 2009 eine Liste mit 69 Gemeinden aufgestellt, für die die besondere Bedingung für die Übertragung von Grundstücken im Sinne von Art. 5.2.1 des Grundstücks- und Immobiliendekrets gilt (im Folgenden: Zielgemeinden).

III – Vorlagefragen

19.      Die einzige Frage in der Rechtssache C‑197/11 lautet wie folgt:

Sind die Art. 21 AEUV, 45 AEUV, 49 AEUV, 56 AEUV und 63 AEUV und die Art. 22 und 24 der Richtlinie 2004/38/EG dahin auszulegen, dass sie der durch Buch 5 („Wohnen in der eigenen Region“) des Grundstücks- und Immobiliendekrets eingeführten Regelung entgegenstehen, mit der die Übertragung von Grundstücken und darauf errichteten Gebäuden in bestimmten, sogenannten Zielgemeinden davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer oder Mieter eine ausreichende Bindung im Sinne von Art. 5.2.1 § 2 des Dekrets nachweist?

20.      Die Fragen in der Rechtssache C‑203/11 lauten wie folgt:

1.       Sind die Art. 107 AEUV und 108 AEUV, an sich oder in Verbindung mit der Entscheidung 2005/842/EG, so auszulegen, dass sie es erfordern, dass die in den Art. 3.1.3, 3.1.10, 4.1.20 § 3 Abs. 2, 4.1.21 und 4.1.23 des Grundstücks- und Immobiliendekrets enthaltenen Maßnahmen vor der Annahme oder dem Inkrafttreten dieser Bestimmungen bei der Europäischen Kommission gemeldet werden müssen?

2.       Ist eine Regelung, die privaten Akteuren, deren Parzellierung oder Bauprojekt eine bestimmte Mindestgröße aufweist, von Rechts wegen eine soziale Auflage in Höhe eines Prozentsatzes von mindestens 10 Prozent und höchstens 20 Prozent dieser Parzellierung oder dieses Bauprojekts auferlegt, die in natura oder durch Zahlung einer Geldsumme von 50 000 Euro pro nicht verwirklichte soziale Parzelle oder Sozialwohnung ausgeführt werden kann, anhand der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit oder des freien Kapitalverkehrs zu prüfen, oder ist sie als eine komplexe Regelung einzustufen, die anhand jeder dieser Freiheiten zu prüfen ist?

3.       Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und j der Richtlinie 2006/123/EG anwendbar auf einen Pflichtbeitrag von privaten Akteuren zur Erstellung von Sozialwohnungen und Appartements, die als soziale Auflage in Verbindung mit jeder Bau- oder Parzellierungsgenehmigung für ein Projekt, das einen gesetzlich festgelegten Mindestumfang aufweist, von Rechts wegen auferlegt wird, wobei die erstellten Sozialwohnungen zu vorher festgelegten Höchstpreisen durch soziale Wohnungsbaugesellschaften gekauft werden, um an eine breite Kategorie von Privatpersonen vermietet oder im Wege der Substitution durch die sozialen Wohnungsbaugesellschaften an Privatpersonen verkauft zu werden, die derselben Kategorie angehören?

4.       Ist, wenn die dritte Vorabentscheidungsfrage bejaht wird, der Begriff „zu prüfende Anforderung“ in Art. 15 der Richtlinie 2006/123 so auszulegen, dass er die Verpflichtung für private Akteure erfasst, zusätzlich zu oder als Teil ihrer üblichen Tätigkeit zum sozialen Wohnungsbau beizutragen und die erstellten Wohnungen zu Höchstpreisen an oder im Wege der Substitution durch halböffentliche Behörden zu übertragen, obwohl diese privaten Akteure kein weiteres Initiativrecht auf dem Markt der Sozialwohnungen besitzen?

5.       Hat, wenn die dritte Vorabentscheidungsfrage bejaht wird, der nationale Richter mit

a)       der Feststellung, dass eine gemäß Art. 15 der Richtlinie 2006/123 neue zu prüfende Anforderung nicht auf spezifische Weise gemäß Art. 15 Abs. 6 dieser Richtlinie geprüft worden wäre, und

b)       der Feststellung, dass diese neue Anforderung nicht gemäß Art. 15 Abs. 7 dieser Richtlinie mitgeteilt worden wäre, eine Sanktion – und bejahendenfalls welche – zu verbinden?

6.       Ist, wenn die dritte Vorabentscheidungsfrage bejaht wird, der Begriff „unzulässige Anforderung“ in Art. 14 der Richtlinie 2006/123 so auszulegen, dass er nicht nur in den in diesem Artikel beschriebenen Fällen eine nationale Regelung verbietet, wenn diese die Aufnahme oder Ausübung der Dienstleistungstätigkeit von einer Anforderung abhängig macht, sondern auch, wenn diese Regelung lediglich vorsieht, dass die Nichterfüllung dieser Anforderung zur Folge hat, dass der finanzielle Ausgleich für die Erbringung einer gesetzlich vorgeschriebenen Dienstleistung verfällt und dass die geleistete finanzielle Garantie für die Ausübung dieser Dienstleistung nicht zurückgezahlt wird?

7.       Ist, wenn die dritte Vorabentscheidungsfrage bejaht wird, der Begriff „konkurrierender Marktteilnehmer“ in Art. 14 Nr. 6 der Richtlinie 2006/123 so auszulegen, dass er auch auf eine öffentliche Einrichtung anwendbar ist, deren Aufgaben sich teilweise mit denjenigen von Dienstleistungserbringern überschneiden können, wenn sie die in Art. 14 Nr. 6 derselben Richtlinie erwähnten Entscheidungen trifft und gleichzeitig verpflichtet ist, als letzte Phase in einem Stufensystem die Sozialwohnungen zu kaufen, die von einem Dienstleistungserbringer zur Erfüllung der ihm obliegenden sozialen Auflage erstellt wurden?

8.       a)       Ist, wenn die dritte Vorabentscheidungsfrage bejaht wird, der Begriff „Genehmigungsregelung“ in Art. 4 Nr. 6 der Richtlinie 2006/123 so auszulegen, dass er auf Bescheinigungen anwendbar ist, die durch eine öffentliche Einrichtung erteilt werden, nachdem die ursprüngliche Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bereits erteilt wurde, und die notwendig sind, um Anspruch auf einige der Ausgleichszahlungen für die Ausführung einer sozialen Auflage zu haben, die von Rechts wegen mit dieser ursprünglichen Genehmigung verbunden war, und die gleichzeitig notwendig sind, um Anspruch auf die Rückgabe der durch den Dienstleistungserbringer verpflichtend zu leistenden finanziellen Garantie zugunsten dieser öffentlichen Einrichtung zu erheben?

b)       Ist, wenn die dritte Vorabentscheidungsfrage bejaht wird, der Begriff „Genehmigungsregelung“ in Art. 4 Nr. 6 der Richtlinie 2006/123 so auszulegen, dass er auf eine Vereinbarung anwendbar ist, die ein privater Akteur aufgrund einer Gesetzesnorm mit einer öffentlichen Einrichtung im Rahmen der Rechtsübertragung zugunsten dieser öffentlichen Einrichtung für den Verkauf einer Sozialwohnung schließt, die durch diesen privaten Akteur zur Erfüllung einer sozialen Auflage in natura, die von Rechts wegen mit einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung verbunden ist, erstellt wurde, und zwar unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Abschluss dieser Vereinbarung eine Voraussetzung für die Ausführbarkeit dieser Genehmigung darstellt?

9.       Sind die Art. 49 AEUV und 56 AEUV so auszulegen, dass sie eine Regelung verbieten, die zur Folge hat, dass mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bezüglich eines Projekts von einem bestimmten Mindestumfang von Rechts wegen eine soziale Auflage verbunden wird, die darin besteht, in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Projekts Sozialwohnungen zu erstellen, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen an oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen?

10.       Ist Art. 63 AEUV so auszulegen, dass er eine Regelung verbietet, die zur Folge hat, dass mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bezüglich eines Projekts von einem bestimmten Mindestumfang von Rechts wegen eine soziale Auflage verbunden wird, die darin besteht, in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Projekts Sozialwohnungen zu erstellen, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen an oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen?

11.      Ist der Begriff „öffentlicher Bauauftrag“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18/EG so auszulegen, dass er auf eine Regelung Anwendung findet, die zur Folge hat, dass mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bezüglich eines Projekts von einem bestimmten Mindestumfang von Rechts wegen eine soziale Auflage verbunden wird, die darin besteht, in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Projekts Sozialwohnungen zu erstellen, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen an oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen?

12.       Sind die Art. 21 AEUV, 45 AEUV, 49 AEUV, 56 AEUV und 63 AEUV und die Art. 22 und 24 der Richtlinie 2004/38/EG dahin gehend auszulegen, dass sie der durch Buch 5 („Wohnen in der eigenen Region“) des Grundstücks- und Immobiliendekrets eingeführten Regelung entgegenstehen, durch welche die Übertragung von Grundstücken und darauf errichteten Bauten in bestimmten, sogenannten Zielgemeinden davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer oder Mieter eine ausreichende Bindung zu der betreffenden Gemeinde im Sinne von Art. 5.2.1 § 2 des Dekrets nachweist?

IV – Würdigung

A –    Zur einzigen Frage in der Rechtssache C‑197/11 und zur zwölften Frage in der Rechtssache C‑203/11

21.      Die einzige Frage in der Rechtssache C‑197/11 ist identisch mit der zwölften Frage in der Rechtssache C‑203/11 und geht dahin, ob die Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, die ein Verbot von Beschränkungen der Grundfreiheiten enthalten, sowie die Art. 22 und 24 der Richtlinie 2004/38 einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Übertragung von Grundstücken in Zielgemeinden, d. h. in den Gemeinden, in denen der durchschnittliche Preis für Baugrundstücke je Quadratmeter der höchste und die interne oder externe Migrationstätigkeit am stärksten ist, davon abhängig macht, dass eine ausreichende Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters zu der betreffenden Gemeinde besteht.

22.      Hinsichtlich dieser Frage weist die flämische Regierung darauf hin, dass die Rechtsstreitigkeiten vor dem vorlegenden Gericht einen rein innerstaatlichen Sachverhalt beträfen, da alle Kläger der Ausgangsverfahren ihren Sitz oder Wohnsitz in Belgien hätten.

23.      Insoweit ist festzustellen, dass die Ausgangsverfahren keinen grenzüberschreitenden Anknüpfungspunkt aufweisen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Vorlagefragen im Rahmen des spezifischen Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht gestellt werden. Es handelt sich um ein Verfahren über eine Nichtigkeitsklage gegen einen innerstaatlichen Rechtsakt, der sowohl für die belgischen Staatsangehörigen als auch für die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten Geltung hat. Es liegt auf der Hand, dass die Entscheidung des vorlegenden Gerichts in diesem Verfahren Wirkung erga omnes haben wird, und zwar auch gegenüber den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten.

24.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens berufen sich auf das Unionsrecht, und der Gerichtshof kann nicht beurteilen, ob das vorlegende Gericht in einem Nichtigkeitsverfahren den betreffenden innerstaatlichen Rechtsakt nicht nur im Hinblick auf das innerstaatliche Recht, sondern auch im Hinblick auf das Unionsrecht überprüfen kann. In den vorliegenden Fällen sollte sich der Gerichtshof meines Erachtens auf das vorlegende Gericht verlassen, das der Meinung ist, dass die Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils erforderlich ist(6), und demgemäß die begehrte Auslegung der Bestimmungen des Vertrags über die Grundfreiheiten des Binnenmarkts vornehmen(7).

25.      Das vorlegende Gericht hält die Voraussetzung, dass eine ausreichende Bindung zur Zielgemeinde besteht, für eine Beschränkung der Grundfreiheiten.

26.      Diese Auffassung teile ich. Nach der Rechtsprechung ist der Zugang zur Wohnung und zu anderen Immobilien eine Voraussetzung für die Ausübung der Grundfreiheiten(8). Die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde bedeutet praktisch, dass bestimmten Personen – denen, die die genannte Voraussetzung nicht erfüllen – verboten wird, Grundstücke oder darauf errichte Bauwerke zu kaufen oder für länger als neun Jahre zu mieten. Es besteht kein Zweifel, dass diese Voraussetzung geeignet ist, die Unionsbürger von der Ausübung ihrer im Vertrag verankerten Grundrechte abzuhalten.

27.      Der Umstand, dass die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde gegenwärtig nur in 69 Gemeinden gilt und ihre Anwendung auf bestimmte Teile dieser Gemeinde beschränkt ist, hat meines Erachtens keine Bedeutung für die Frage, ob die genannte Voraussetzung eine Beschränkung der Grundfreiheiten darstellt. Der beschränkte Geltungsbereich der Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde kann an der Stelle berücksichtigt werden, an der die Rechtfertigung dieser Beschränkung der Grundfreiheiten zu prüfen ist.

28.      Nach gefestigter Rechtsprechung können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, allerdings zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist(9).

29.      Es ist daher zu prüfen, ob mit dem Grundstücks- und Immobiliendekret, das die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde einführt, ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, ob die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde geeignet ist, die Erreichung dieses Ziel zu gewährleisten, und ob die Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.

30.      Was das mit dem Grundstücks- und Immobiliendekret verfolgte Ziel angeht, verweist das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf die vorbereitenden Arbeiten zum Grundstücks- und Immobiliendekret darauf, dass den Wohnraumbedürfnissen der einheimischen Bevölkerung entsprochen werden solle. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob das genannte Ziel als ein zwingender Grund des Allgemeininteresses angesehen werden könne, durch den eine Beschränkung der Grundfreiheiten gerechtfertigt sei.

31.      Zum besseren Verständnis der Zielsetzung des Grundstücks- und Immobiliendekrets führt das vorlegende Gericht die vorbereitenden Arbeiten zu diesem Dekret an, wonach „die hohen Grundstückspreise in bestimmten flämischen Gemeinden zur sozialen Ausgrenzung [bzw. Gentrifizierung] [führen]. Das heißt, dass weniger kapitalkräftige Bevölkerungsgruppen durch die Zuwanderung finanziell stärkerer Bevölkerungsgruppen aus anderen Gemeinden vom Markt verdrängt werden. Bei den weniger kapitalkräftigen Bevölkerungsgruppen handelt es sich nicht nur um die sozial Schwächeren, sondern oft auch um junge Haushalte oder Alleinstehende, die hohe Ausgaben tätigen müssen und noch nicht in der Lage sind, sich ein ausreichendes Kapital zu bilden.“

32.      Die flämische Regierung führt aus, die in Frage stehende innerstaatliche Rechtsvorschrift bezwecke im Wesentlichen die Förderung des einheimischen Wohnungswesens in den Wohnerweiterungsgebieten, was der Dekretgeber für erforderlich halte, um das Recht auf eine angemessene Wohnung und im weiteren Sinne den sozialen Zusammenhalt gewährleisten zu können, indem die Raumordnung gefördert und ein Ausfransen des Gesellschafts- und Wirtschaftsgefüges verhindert werde.

33.      Bezweckt das Grundstücks- und Immobiliendekret tatsächlich, den Wohnungsbau der weniger kapitalkräftigen einheimischen Bevölkerung in den Zielgemeinden zu fördern, könnte dies meines Erachtens als ein mit der Raumordnungspolitik im Zusammenhang stehendes gesellschaftliches Ziel angesehen werden. Der Gerichtshof hat bereits in diesem Sinne entschieden und festgestellt, dass ein derartiges Ziel einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt(10).

34.      Es ist jedoch zu beachten, dass auch andere Meinungen zu der Frage vertreten werden, welches Ziel mit dem Grundstücks- und Immobiliendekret verfolgt wird. So macht die Regierung der Französischen Gemeinschaft geltend, das wirkliche Ziel des Dekrets sei nicht, die Wirkungen der Gentrifizierung zu beschränken, sondern den flämischen Charakter der Bevölkerung der Zielgemeinden zu erhalten. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Ziel nicht als ein zwingender Grund des Allgemeininteresses angesehen werden könnte. Insofern möchte ich daran erinnern, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, das Ziel des Grundstücks- und Immobiliendekrets genau zu bestimmen.

35.      Ich werde nunmehr prüfen, ob die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde geeignet ist, die Erreichung des Ziels zu gewährleisten, den Wohnraumbedürfnissen der weniger kapitalkräftigen einheimischen Bevölkerung entgegenzukommen, und ob diese Maßnahme nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des genannten Ziels erforderlich ist.

36.      Art. 5.2.1 § 2 des Grundstücks- und Immobiliendekrets sieht drei alternative Kriterien dafür vor, wann die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde vorliegt. Das erste Kriterium ist erfüllt, wenn eine Person, an die das Grundstück übertragen werden soll, vor der Übertragung mindestens sechs Jahre lang in der Zielgemeinde wohnhaft war. Nach dem zweiten Kriterium muss der potenzielle Käufer oder Mieter im Zeitpunkt der Übertragung Tätigkeiten in der betreffenden Gemeinde verrichten. Das dritte Kriterium sieht vor, dass aufgrund eines wichtigen und dauerhaften Umstands eine berufliche, familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters zu dieser Gemeinde besteht. Die provinziale Bewertungskommission entscheidet, ob der potenzielle Käufer oder Mieter des Grundstücks eines oder mehrere der genannten Kriterien erfüllt.

37.      Es kann festgestellt werden, dass keines dieser Kriterien die sozioökonomischen Aspekte widerspiegelt, die zu dem Ziel des Schutzes der weniger kapitalkräftigen einheimischen Bevölkerung auf dem Immobilienmarkt gehören. Die fraglichen Kriterien begünstigen nicht nur die weniger kapitalkräftige einheimische Bevölkerung, sondern auch einen Teil der einheimischen Bevölkerung, der über ausreichende Mittel verfügt und damit keines Schutzes auf dem Immobilienmarkt bedarf.

38.      Wie bereits ausgeführt, bedeutet die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung zur Zielgemeinde praktisch, dass bestimmten Personen, nämlich denen, die die genannte Voraussetzung nicht erfüllen, verboten wird, Grundstücke oder darauf errichte Bauwerke zu kaufen oder für länger als neun Jahre zu mieten. Ich stimme mit der Auffassung überein, die der Vertreter der Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑197/11 in seinen schriftlichen Erklärungen geäußert hat, dass andere Maßnahmen geeignet wären, das vom Grundstücks- und Immobiliendekret verfolgte Ziel zu erreichen, die nicht zwangsläufig auf ein Verbot des Erwerbs oder der Anmietung durch andere Personen hinauslaufen müssten. Zu denken wäre z. B. an Kaufprämien, Preisregulierungen in den Zielgemeinden oder behördlich beschlossene Begleitmaßnahmen für die geschützte einheimische Bevölkerung.

39.      Hieraus ergibt sich, dass die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters des Grundstücks zur Zielgemeinde, die beinhaltet, dass der potenzielle Käufer oder Mieter vor der Übertragung mindestens sechs Jahre lang in der Zielgemeinde wohnhaft war, dass er in der Zielgemeinde Tätigkeiten verrichtet oder dass er aufgrund eines wichtigen und dauerhaften Umstands eine berufliche, familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindung hat, keine Maßnahme ist, die geeignet ist, die Erreichung des Ziels zu gewährleisten, die Wohnraumbedürfnisse der weniger kapitalkräftigen einheimischen Bevölkerung zu erfüllen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Voraussetzung einer ausreichenden Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters des Grundstücks geeignet sein kann, die Erreichung des vom Grundstücks- und Immobiliendekret verfolgten Ziels zu gewährleisten, geht diese Maßnahme über das hinaus, was zur Erreichung des genannten Ziels erforderlich ist.

40.      Was die Art. 22 und 24 der Richtlinie 2004/38 betrifft, die die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern sollen und insbesondere bezwecken, dieses Recht zu stärken(11), bezweifele ich, dass die in Rede stehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften im Licht dieser Bestimmungen zu prüfen sind, da Letztere keine neuen spezifischen Gründe enthalten, die eine Beschränkung des Rechts rechtfertigen würden, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Was Art. 24 der Richtlinie 2004/38 angeht, ist dieser ein besonderer Ausdruck des allgemeinen Diskriminierungsverbots nach Art. 18 AEUV.

41.      Art. 22 der Richtlinie 2004/38 bestimmt den räumlichen Geltungsbereich des Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Gewisse Zweifel könnten sich aus dem zweiten Satz des genannten Artikels ergeben, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten … das Aufenthaltsrecht und das Recht auf Daueraufenthalt nur in den Fällen räumlich beschränken [können], in denen sie dieselben Beschränkungen auch für ihre eigenen Staatsangehörigen vorsehen“. Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die räumlichen Beschränkungen allgemein zulässig sind, sofern sie auch für die Staatsangehörigen des Aufnahmestaats gelten, und dass die genannte Bestimmung damit einen neuen Grund zur Rechtfertigung einer Beschränkung des den Unionsbürgern aus dem Vertrag erwachsenden Rechts einführt. Wie nämlich die Kommission zu Recht geltend macht, enthält der zweite Satz des Art. 22 der Richtlinie 2004/38 eine zusätzliche Voraussetzung, unter der eine Beschränkung des Aufenthaltsrechts und des Rechts auf Daueraufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 27 der Richtlinie 2004/38 gerechtfertigt sein kann.

42.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass die Art. 21 AEUV, 45 AEUV, 56 AEUV und 63 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer innerstaatlichen Regelung entgegenstehen, mit der die Übertragung von Grundstücken und darauf errichteten Gebäuden in bestimmten Gemeinden davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer oder Mieter eine ausreichende Bindung zu diesen Gemeinden nachweist, wenn das Vorliegen der genannten Bindung nach folgenden alternativen Kriterien bewertet wird:

–        Die Person, an die das Grundstück zu übertragen ist, war vor der Übertragung mindestens sechs Jahre lang in der betreffenden Gemeinde wohnhaft;

–        der potenzielle Käufer oder Mieter verrichtet im Zeitpunkt der Übertragung Tätigkeiten in der Gemeinde;

–        aufgrund eines wichtigen und dauerhaften Umstands besteht eine berufliche, familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindung.

B –    Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑203/11

43.      Diese Vorlagefrage betrifft die im Grundstücks- und Immobiliendekret vorgesehenen Steueranreize und Subventionsmechanismen. Die betreffenden Maßnahmen können in zwei Gruppen mit unterschiedlichen Zielen unterteilt werden. Die Maßnahmen der ersten Gruppe bezwecken die Aktivierung bestimmter Grundstücke und Immobilien. Es geht um die in Art. 3.1.3 des Grundstücks- und Immobiliendekrets geregelte Steuerermäßigung für einen Mieter, der eine Renovierungsvereinbarung abschließt, sowie um die in Art. 3.1.10 des Grundstücks- und Immobiliendekrets geregelte Herabsetzung der Erhebungsgrundlage für Registrierungsgebühren(12). Die Maßnahmen der zweiten Gruppe stellen einen Ausgleich für die soziale Auflage dar, der die Parzellierer und Bauherren unterliegen. Zu dieser Gruppe gehören der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf Wohnungsverkäufe und der ermäßigte Satz der Registergebühren für den Kauf eines Baugrundstücks gemäß Art. 4.1.20 § 3 Abs. 2 des Grundstücks- und Immobiliendekrets, der Infrastrukturzuschuss nach Art. 4.1.23 des Grundstücks- und Immobiliendekrets und die Garantie der Übernahme der errichteten Sozialwohnung durch eine Organisation für Sozialwohnungen nach Art. 4.1.21 des Grundstücks- und Immobiliendekrets.

44.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die fraglichen Maßnahmen als staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 AEUV anzusehen sind und, falls ja, zu welchem Zeitpunkt sie bei der Kommission gemeldet werden müssen oder ob sie gegebenenfalls von der Pflicht zur Anmeldung staatlicher Beihilfen aufgrund der Entscheidung 2005/842 freigestellt sind.

1.      Einstufung der Maßnahmen

45.      Was die Einstufung der fraglichen Maßnahmen als staatliche Beihilfe betrifft, führt das vorlegende Gericht zu Recht die Rechtsprechung an, die den Begriff der staatlichen Beihilfe an der Erfüllung der nachfolgenden Voraussetzungen festmacht: Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss diese Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein Vorteil gewährt werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen(13).

46.      Aus der Begründung der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass das vorlegende Gericht hinsichtlich der zweiten Voraussetzung, die die Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel betrifft, und hinsichtlich der dritten Voraussetzung, die den mit den fraglichen Maßnahmen verbundenen Vorteil betrifft, Zweifel hat.

47.      Was die Auswirkungen der fraglichen Maßnahmen auf den innergemeinschaftlichen Handel angeht, möchte ich darauf hinweisen, dass das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller im vorliegenden Fall relevanten rechtlichen oder tatsächlichen Umstände zu beurteilen hat, ob die konkreten Maßnahmen geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel zu beeinträchtigen. Die vorhandene Rechtsprechung bietet dem vorlegenden Gericht hierfür eine ausreichende Grundlage(14).

48.       Nach dieser Rechtsprechung hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die fraglichen Maßnahmen die Stellung der begünstigten Unternehmen gegenüber anderen Wettbewerbern im innergemeinschaftlichen Handel stärken(15). Die begünstigten Unternehmen brauchen jedoch nicht selbst am innergemeinschaftlichen Handel teilzunehmen. Wenn nämlich ein Mitgliedstaat einem Unternehmen eine Beihilfe gewährt, kann die inländische Tätigkeit dadurch beibehalten oder verstärkt werden, so dass sich die Chancen der in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen, in den Markt dieses Mitgliedstaats einzudringen, verringern(16). Selbst eine verhältnismäßig geringe Beihilfe kann den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, vor allem wenn auf dem fraglichen Sektor ein lebhafter Wettbewerb herrscht(17). Schließlich darf nicht übersehen werden, dass es nicht des Nachweises einer tatsächlichen Auswirkung der fraglichen Maßnahmen auf den innergemeinschaftlichen Handel und einer tatsächlichen Wettbewerbsverzerrung bedarf, sondern nur der Prüfung, ob die genannten Maßnahmen geeignet sind, dies zu tun(18).

49.      Was den mit den fraglichen Maßnahmen verbundenen Vorteil angeht, so verstehe ich diesen Teil der Vorlagefragen dahin, dass mit ihm im Wesentlichen Aufschluss über die Rechtsprechung erlangt werden soll(19), der zufolge eine staatliche Maßnahme keine staatliche Beihilfe im Sinne des Unionsrechts darstellt, soweit sie als Ausgleich anzusehen ist, der die Gegenleistung für Leistungen bildet, die von den Unternehmen, denen sie zugutekommt, zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen erbracht werden, so dass diese Unternehmen in Wirklichkeit keinen finanziellen Vorteil erhalten und die genannte Maßnahme somit nicht bewirkt, dass sie gegenüber den mit ihnen im Wettbewerb stehenden Unternehmen in eine günstigere Wettbewerbsstellung gelangen(20). Jedoch ist die Einstufung der konkreten Maßnahme als staatliche Beihilfe nur dann ausgeschlossen, wenn vier Voraussetzungen, die sogenannten „Altmark-Voraussetzungen“, erfüllt sind.

50.      Vor Prüfung dieser Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass die angeführte Rechtsprechung nur auf die Maßnahmen angewandt werden kann, die die soziale Auflage ausgleichen, der die Parzellierer und Bauherren unterliegen. Die Vlaamse Regering (flämische Regierung) hat in ihren schriftlichen Erklärungen selbst ausgeführt, dass die den Parzellierern und Bauherren obliegende soziale Auflage auch ein angemessener Preis sei, den sie dafür zu entrichten hätten, dass sie die Genehmigung vollziehen könnten und die sich hieraus ergebenen erheblichen wirtschaftlichen Vorteile erlangten.

51.      Gemäß der ersten Altmark-Voraussetzung muss das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein(21). Daher ist zu prüfen, ob die soziale Auflage, der die Parzellierer und Bauherren unterliegen, als eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung angesehen werden kann.

52.      Wie die flämische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, wird den Bauherren und Parzellieren die soziale Auflage im Rahmen einer Politik erteilt, die den Gruppen, die über bescheidene Mittel verfügen oder sozial benachteiligt sind, durch eine räumliche Verteilung, die sich an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert und nicht ausschließlich von der freiwilligen Initiative und dem guten Willen der Akteure abhängt, gleichen Zugang zu Sozialwohnungen bieten soll. Unter diesem Gesichtspunkt spricht nichts dagegen, die im Grundstücks- und Immobiliendekret geregelte soziale Auflage als eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung anzusehen. Dass die soziale Auflage nicht unmittelbar den Privatpersonen zugutekommt, die eine Sozialwohnung beantragen, sondern den sozialen Wohnungsbaugesellschaften (die eine Personifizierung der öffentlichen Hand darstellen), ist insoweit ohne Auswirkungen. Wie die deutsche Regierung ausgeführt hat, bedarf es für die Leistung der Bereitstellung einer Sache zwangsläufig zunächst der Herstellung des sachlichen Substrats. Die sozialen Wohnungsbaugesellschaften fungieren insoweit nur als verwaltungstechnische Durchlaufstationen.

53.      Gemäß der zweiten Altmark-Voraussetzung müssen die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufgestellt worden sein(22). Diese Voraussetzung scheint problematisch zu sein, und zwar vor allem im Hinblick auf den Infrastrukturzuschuss und die Übernahmegarantie für Sozialwohnungen. Aufgrund der vom vorlegenden Gericht angeführten innerstaatlichen Rechtsvorschrift kann zwar festgestellt werden, wer die Begünstigten der genannten Maßnahmen sind. Sie erlaubt dagegen nicht die Feststellung, welches die Parameter sind, anhand deren diese Art von Ausgleich berechnet wird. Die flämische Regierung hat allerdings in ihren schriftlichen Erklärungen dargelegt, wie diese Art von Ausgleich berechnet wird. Das vorlegende Gericht hat daher zu beurteilen, ob die Parameter für die Berechnung des von der flämischen Regierung angeführten Ausgleichs die zweite Altmark-Voraussetzung erfüllen.

54.      Gemäß der dritten Altmark-Voraussetzung darf der Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der Verpflichtungen zur Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung ganz oder teilweise zu decken(23). Im vorliegenden Fall scheint es aber, dass die Maßnahmen, die die soziale Auflage ausgleichen, nicht anhand der tatsächlichen Kosten ihrer Erfüllung berechnet werden. Es ist daher möglich, dass die Kosten der Kombination der verschiedenen Maßnahmen zum Ausgleich der sozialen Auflage letztlich die Kosten, die mit der Erfüllung der sozialen Auflage verbunden sind, übersteigen.

55.      Gemäß der vierten Altmark-Voraussetzung ist, wenn die Wahl des Unternehmens, das mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut wird, im konkreten Fall nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, das die Auswahl desjenigen Bewerbers ermöglicht, der diese Dienste zu den geringsten Kosten für die Allgemeinheit erbringen kann, die Höhe des erforderlichen Ausgleichs auf der Grundlage einer Analyse der Kosten zu bestimmen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit Transportmitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu berücksichtigen sind(24). Im vorliegenden Fall liegt es auf der Hand, dass die Begünstigten der Maßnahmen, die die soziale Auflage ausgleichen, nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge bestimmt wurden. Aus der Akte ergibt sich indessen nicht, dass eine nach der vierten Voraussetzung erforderliche Analyse durchgeführt wurde und die fraglichen Maßnahmen nach Maßgabe der Kosten festgelegt wurden, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen bei der Erfüllung der sozialen Auflage hätte.

2.      Zeitpunkt der Notifizierung einer staatlichen Beihilfe bei der Kommission

56.      Nach Art. 108 Abs. 3 AEUV wird die Kommission von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Art. 107 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Abs. 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat.

57.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Pflicht zur Anmeldung neuer staatlicher Beihilfen ein Grundbestandteil des mit dem Vertrag auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen eingerichteten Kontrollsystems. Im Rahmen dieses Systems sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, zum einen bei der Kommission alle Maßnahmen anzumelden, mit denen eine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV eingeführt oder umgestaltet werden soll, und zum anderen gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV solche Maßnahmen nicht durchzuführen, solange die Kommission keinen abschließenden Beschluss über sie erlassen hat(25). Gegenstand des Art. 108 Abs. 3 AEUV ist nicht eine bloße Anmeldepflicht, sondern eine Verpflichtung zur vorherigen Anmeldung, die als solche die im letzten Satz dieses Absatzes bezeichnete aufschiebende Wirkung hat(26).

58.      Hierzu möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4.1.23 des Grundstücks- und Immobiliendekrets, der die Infrastrukturzuschüsse regelt, oder eher die Durchführungsverordnung der flämischen Regierung, die die Bedingungen festlegt, unter denen die genannten Zuschüsse gewährt werden können, der Kommission hätte gemeldet werden müssen, wenn die Infrastrukturzuschüsse als staatliche Beihilfe einzustufen sind.

59.      Meines Erachtens ist die Antwort eindeutig. Die fragliche Maßnahme wurde schon im Grundstücks- und Immobiliendekret vorgesehen, auch wenn die Einzelheiten von der Durchführungsverordnung näher ausgeführt wurden. Um der Verpflichtung aus Art. 108 Abs. 3 AEUV Genüge zu tun, hätte daher der Entwurf des Grundstücks- und Immobiliendekrets der Kommission gemeldet werden müssen.

3.      Freistellung von der Verpflichtung zur Anmeldung der neuen staatlichen Beihilfen bei der Kommission

60.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Ausgleichsmaßnahmen für die soziale Auflage, der die Parzellierer und Bauherren unterliegen, sofern sie als staatliche Beihilfen einzustufen sind, von der Verpflichtung zur Anmeldung bei der Kommission gemäß der Entscheidung 2005/842 freigestellt werden können.

61.      Nach Art. 3 der Entscheidung 2005/842 sind staatliche Beihilfen, die in Form von Ausgleichszahlungen für die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse gewährt werden und gleichzeitig die in den Art. 4 bis 6 der Entscheidung genannten Voraussetzungen erfüllen, mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar und von der Notifizierungspflicht freigestellt. Ich teile die Ansicht des vorlegenden Gerichts, dass diese Voraussetzungen offenbar aus den ersten drei Altmark-Voraussetzungen abgeleitet sind.

62.      Wie bereits dargelegt, wird vorliegend insbesondere die dritte Altmark-Voraussetzung nicht erfüllt. Diese Voraussetzung, nach der der Ausgleich nicht über das hinausgehen darf, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der Verpflichtungen zur Erbringung einer öffentlichen Dienstleistung zu decken, ist auch in Art. 5 der Entscheidung 2005/842 enthalten. Da die Ausgleichsmaßnahmen für die soziale Auflage als staatliche Beihilfen einzustufen sind, weil sie nicht die dritte Altmark-Voraussetzung erfüllen, kann ihnen daher auch keine Ausnahme von der Verpflichtung zur Anmeldung bei der Kommission nach Maßgabe der Entscheidung 2005/842 zugutekommen.

63.      Nach alldem schlage ich dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass die Art. 107 AEUV und 108 AEUV in Verbindung mit der Entscheidung 2005/842 dahin auszulegen sind, dass die in den Art. 3.1.3, 3.1.10, 4.1.20 § 3 Abs. 2, 4.1.21 und 4.1.23 des Grundstücks- und Immobiliendekrets genannten Maßnahmen vor dem Erlass dieser Bestimmungen bei der Kommission angemeldet werden müssen, sofern festgestellt wird, dass die genannten Maßnahmen geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, und dass sie nicht die Voraussetzungen erfüllen, die sich aus dem Urteil Altmark ergeben.

C –    Zu den Fragen 2, 9 und 10 in der Rechtssache C‑203/11

64.      Die genannten Fragen betreffen eine soziale Auflage, die gemäß Art. 4.1.16 des Grundstücks- und Immobiliendekrets den Parzellierer oder den Bauherrn verpflichtet, Maßnahmen auszuführen, damit ein Angebot an Sozialwohnungen verwirklicht werden kann.

65.      Das vorlegende Gericht hat offensichtlich keine Zweifel daran, dass eine soziale Auflage als eine nichtdiskriminierende Beschränkung der Grundfreiheiten einzustufen ist. Ihre Zweifel betreffen erstens die Frage, in Bezug auf welche Grundfreiheit die genannte soziale Auflage zu überprüfen ist, und zweitens, ob eine soziale Auflage als eine Beschränkung der Grundfreiheiten durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein könnte.

66.      Vorab ist festzuhalten, dass die flämische Regierung wie schon bei der einzigen Frage in der Rechtssache C‑197/11 und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑203/11 darauf hinweist, dass die Rechtsstreitigkeiten vor dem vorlegenden Gericht einen rein innerstaatlichen Sachverhalt beträfen. Insoweit nehme ich Bezug auf meine vorstehenden Ausführungen(27).

67.      Was die Freiheit betrifft, an der die Regelung einer sozialen Auflage zu messen ist, kann zwar festgestellt werden, dass sich eine soziale Auflage sowohl auf die Niederlassungsfreiheit als auch auf die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapitalverkehrs auswirken kann.

68.      Ich stimme jedoch mit der Kommission darin überein, dass bei einer sozialen Auflage die Freiheit des Kapitalverkehrs im Vordergrund steht, da die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit nur eine unvermeidbare Folge der Beschränkung der Freiheit des Kapitalverkehrs ist.

69.      Die innerstaatliche Rechtsvorschrift sieht vor, dass die soziale Auflage entweder in natura erfüllt werden kann, d. h. durch Erstellen einer Sozialwohnung, oder durch den Verkauf von Grundstücken an eine Organisation für Sozialwohnungen, die Vermietung von fertiggestellten Wohnungen an ein soziales Vermietungsbüro oder die Zahlung eines Sozialbeitrags. Wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, ist davon auszugehen, dass eine derartige Regelung geeignet ist, die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats davon abzuhalten, in einem anderen Mitgliedstaat im Immobiliensektor zu investieren, da sie die Grundstücke nicht ungehindert zu den Zwecken nutzen können, zu denen sie diese erwerben wollen. Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Kapitalverkehr Vorgänge, durch die Personen im Gebiet eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ihren Wohnsitz haben, Investitionen in Immobilien tätigen. Die Ausübung des Rechts, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats Immobilien zu erwerben, zu nutzen und darüber zu verfügen, führt demnach zu Kapitalverkehr(28).

70.      Auch wenn eine soziale Auflage eine Beschränkung der Freiheit des Kapitalverkehrs darstellt, kann sie doch aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses unter der Voraussetzung gerechtfertigt sein, dass sie dazu geeignet ist, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, und dass sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist(29).

71.      Somit ist das Ziel der fraglichen Rechtsvorschrift zu bestimmen und zu prüfen, ob dieses Ziel als zwingender Grund des Allgemeininteresses angesehen werden kann.

72.      Nach Auffassung der flämischen Regierung ist die Rechtsvorschrift, die die Parzellierer und Bauherren mit einer sozialen Auflage belastet, die Antwort auf ein echtes Problem, nämlich auf den akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Eine soziale Auflage steht somit offensichtlich im Zusammenhang mit der sozialen Wohnungspolitik eines Mitgliedstaats und ihrer Finanzierbarkeit, was der Gerichtshof bereits als einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses anerkannt hat(30). Das vorlegende Gericht hat jedoch das genaue Ziel der fraglichen Rechtsvorschrift festzustellen.

73.      Das vorlegende Gericht hat ebenfalls zu prüfen, ob eine soziale Auflage dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, anders gesagt, ob sie geeignet ist, eine Verbesserung des Angebots an Sozialwohnungen zu gewährleisten, und ob das festgestellte Ziel nicht durch Maßnahmen verfolgt werden könnte, die im Hinblick auf die Freiheit des Kapitalverkehrs weniger einschränkend sind.

74.      Für diese Prüfung könnten die Statistiken der flämischen Verwaltung hilfreich sein, die der Vertreter der Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑203/11 in der mündlichen Verhandlung angeführt hat. Aus ihnen ergibt sich nämlich, dass das Grundstücks- und Immobiliendekret, mit dem die soziale Auflage für die Parzellierer und die Bauherren eingeführt wurde, tatsächlich eher negative Auswirkungen auf den sozialen Wohnungsbau hat.

75.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass Art. 63 AEUV dahin auszulegen ist, dass er eine Regelung verbietet, die zur Folge hat, dass mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bezüglich eines Projekts von einem bestimmten Mindestumfang von Rechts wegen eine „soziale Auflage“ verbunden wird, die darin besteht, in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Projekts Sozialwohnungen zu erstellen, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen an oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen, sofern festgestellt wird, dass diese Regelung nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht.

D –    Zu den Fragen 3, 4, 5, 6, 7 und 8 in der Rechtssache C‑203/11

76.      Mit diesen Fragen ersucht das vorlegende Gericht um Auslegung bestimmter Vorschriften der Richtlinie 2006/123.

77.      Nach dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 findet die Richtlinie keine Anwendung auf Vorschriften bezüglich der Stadtentwicklung oder Bodennutzung, der Stadtplanung und der Raumordnung. Ferner stellt Art. 2 Abs. 2 Buchst. j der Richtlinie 2006/123 ausdrücklich fest, dass die Richtlinie keine Anwendung auf soziale Dienstleistungen im Zusammenhang mit Sozialwohnungen findet.

78.      Das Grundstücks- und Immobiliendekret ist eine Vorschrift bezüglich der Stadtentwicklung oder Bodennutzung sowie eine Vorschrift der Stadtplanung und der Raumordnung.

79.      Die Fragen zur Richtlinie 2006/123 brauchen daher nicht beantwortet zu werden.

E –    Zur elften Frage in der Rechtssache C‑203/11

80.      Mit dieser Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung des Begriffs „öffentlicher Bauauftrag“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18. Insbesondere möchte es wissen, ob es sich bei der Regelung, die mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung eine soziale Auflage verbindet, die darin besteht, Sozialwohnungen zu errichten, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen an oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen, um einen öffentlichen Bauauftrag handelt.

81.      Das Grundstücks- und Immobiliendekret versteht unter der sozialen Auflage eine Voraussetzung für die Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung. Art. 4.1.17 des Dekrets sieht zwar mehrere Möglichkeiten vor, wie die Auflage erfüllt werden kann, doch befasst sich die elfte Frage nur mit der sozialen Auflage, die in natura erfüllt wird, d. h. in Form der Errichtung von Sozialwohnungen.

82.      Es ist daran zu erinnern, dass die Definition eines öffentlichen Bauauftrags in den Bereich des Unionsrechts fällt(31). Gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2004/18 müssen vier Merkmale vorliegen, damit von einem öffentlichen Bauauftrag gesprochen werden kann. Erstens muss ein schriftlicher Vertrag geschlossen worden sein. Zweitens muss es sich um einen entgeltlichen Vertrag handeln. Drittens muss der Vertrag zwischen einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern und einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern geschlossen worden sein. Viertens muss der Vertrag entweder die Ausführung oder gleichzeitig die Planung und die Ausführung von Bauvorhaben im Zusammenhang mit einer der in Anhang I genannten Tätigkeiten oder eines Bauwerks oder die Erbringung einer Bauleistung durch Dritte, gleichgültig mit welchen Mitteln, gemäß den vom öffentlichen Auftraggeber genannten Erfordernissen zum Gegenstand haben.

83.      Im vorliegenden Fall erweist sich das erste der oben genannten Merkmale, nämlich das Vorliegen eines schriftlichen Vertrags, als problematisch, und zwar aufgrund der Tatsache, dass die soziale Auflage den Parzellierern und Bauherren durch das Grundstücks- und Immobiliendekret auferlegt wird. Wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, sieht die innerstaatliche Rechtsvorschrift eine Verwaltungsvereinbarung vor, die zwischen dem Bauherrn oder dem Parzellierer einerseits und der sozialen Wohnungsgesellschaft andererseits geschlossen wird. Das vorlegende Gericht weist allerdings auch darauf hin, dass die Verwaltungsvereinbarung nur das Inverkehrbringen bereits errichteter Sozialwohnungen, nicht aber ihre Errichtung betrifft.

84.      Auch wenn es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall ein schriftlicher Vertrag geschlossen wurde, sind aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestimmte Gesichtspunkte zu nennen, die ihm von Nutzen sein können.

85.      Erstens möchte ich auf das Urteil Ordine degli Architetti u. a.(32) aufmerksam machen. Der Gerichtshof hat dort festgestellt, dass der Umstand, dass die öffentliche Verwaltung nicht die Möglichkeit hat, ihren Vertragspartner auszuwählen, allein nicht genügen kann, um die Nichtanwendung der Richtlinie 2004/18 zu rechtfertigen, denn dies entzöge die Errichtung eines Bauwerks, auf die die Richtlinie andernfalls anwendbar wäre, dem gemeinschaftlichen Wettbewerb(33).

86.      Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen ähnlichen Sachverhalt, da die soziale Auflage, Sozialwohnungen zu errichten, von Rechts wegen mit einer Parzellierungsgenehmigung oder einer Städtebaugenehmigung verbunden wird. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil Ordine degli Architetti u. a. erging, hervorgehoben hat, dass zwischen der Gemeindeverwaltung und dem Wirtschaftsteilnehmer in jedem Fall ein Erschließungsvertrag geschlossen werden muss. Vorliegend verstehe ich die innerstaatliche Rechtsvorschrift dahin, dass sie nicht vorsieht, dass der Vertrag geschlossen wird, um eine soziale Auflage zu erfüllen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es sich wirklich so verhält.

87.      Von Bedeutung ist darüber hinaus der Hinweis auf eine andere Feststellung im Urteil Ordine degli Architetti u. a. Der Gerichtshof hat dort darauf hingewiesen, dass „[der] Hauptzweck der Richtlinie … darin besteht, öffentliche Bauaufträge dem Wettbewerb zugänglich zu machen. Es ist nämlich die Öffnung dieses Bereichs für den gemeinschaftlichen Wettbewerb mittels der in der Richtlinie vorgesehenen Verfahren, die die Gefahr von Bevorzugungen durch die öffentliche Verwaltung ausschließt.“(34) Insoweit habe ich gewisse Zweifel, wie die soziale Auflage die Parzellierer und die Bauherren bevorzugen könnte. Die Klage in der Rechtssache C‑203/11 belegt, dass die Wirtschaftsteilnehmer, auf die die soziale Auflage Anwendung findet, selbst der Meinung sind, dass sie durch die genannte soziale Auflage benachteiligt werden. Auch das vorlegende Gericht hat in dem Vorabentscheidungsersuchen ausgeführt, dass eine in natura ausgeführte soziale Auflage stets einen Nachteil für die Parzellierer und die Bauherren beinhalte.

88.      Das zweite Urteil, auf das ich aufmerksam machen möchte, ist das Urteil Asociación Profesional de Empresas de Reparto y Manipulado de Correspondencia(35). Der Gerichtshof hat dort entschieden, dass, um zu schließen, dass ein Vertrag im Sinne der Regelung über den öffentlichen Auftrag nicht besteht, das vorlegende Gericht untersuchen müsste, ob der Wirtschaftsteilnehmer über die Möglichkeit verfügt, mit dem öffentlichen Auftraggeber den konkreten Inhalt der zu erbringenden Leistungen und die für diese geltenden Tarife auszuhandeln, und ob dieser Wirtschaftsteilnehmer in Bezug auf die nicht reservierten Dienste die Möglichkeit hat, sich von den Verpflichtungen aus der Kooperationsvereinbarung unter Einhaltung der darin vorgesehenen Frist zu befreien(36).

89.      Ebenso wie in der Rechtssache, in der das Urteil Ordine degli Architetti u. a. erging, und, wie ich meine, anders als in der Rechtssache, in der das Urteil Asociación Profesional de Empresas de Reparto y Manipulado de Correspondencia erging, wurde eine bestimmte Art von Vertrag zwischen der öffentlichen Verwaltung und dem privaten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen. Es handelte sich genauer gesagt um eine Kooperationsvereinbarung. Es stellt sich die Frage, ob diese Vereinbarung tatsächlich ein Vertrag im Sinne der Regelung über den öffentlichen Auftrag ist, da ein Wirtschaftsteilnehmer keine Möglichkeit hatte, den Abschluss einer solchen Vereinbarung abzulehnen.

90.      Aus dem Urteil Asociación Profesional de Empresas de Reparto y Manipulado de Correspondencia ergibt sich, dass das vorlegende Gericht, falls es im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass eine gewisse Vertragsbeziehung zwischen einer Person, die als öffentlicher Auftraggeber angesehen werden könnte, und einem Parzellierer oder Bauherrn im Hinblick auf die soziale Auflage besteht, prüfen müsste, ob die Vertragsfreiheit des Parzellierers oder Bauherrn nicht dahin gehend eingeschränkt war, dass er keine Möglichkeit hatte, den konkreten Inhalt der zu erbringenden Leistungen und die für diese geltenden Tarife auszuhandeln.

91.      So wie die in Rede stehende innerstaatliche Rechtsvorschrift verstanden werden kann, ist vor allem die Möglichkeit, den für die ausgeführten Arbeiten geltenden Preis zu verhandeln, beschränkt. Vorliegend besteht der Preis für die ausgeführten Arbeiten in dem Preis, der für den Verkauf einer Sozialwohnung an eine soziale Wohnungsgesellschaft gezahlt wird. Er ist durch die innerstaatliche Rechtsvorschrift der Höhe nach begrenzt und entspricht somit nicht dem Marktpreis.

92.      Nach alledem ist auf die elfte Frage zu antworten, dass der Begriff „öffentlicher Bauauftrag“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er auf eine Regelung Anwendung findet, die zur Folge hat, dass mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bezüglich eines Projekts von einem bestimmten Mindestumfang von Rechts wegen eine soziale Auflage verbunden wird, die darin besteht, Sozialwohnungen zu erstellen, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen, sofern erstens die genannte Regelung vorsieht, dass zwischen einem öffentlichen Auftraggeber und einem Wirtschaftsteilnehmer ein Vertrag geschlossen wird, und zweitens der Wirtschaftsteilnehmer über die tatsächliche Möglichkeit verfügt, mit dem öffentlichen Auftraggeber den Inhalt des genannten Vertrags und den Preis für die ausgeführten Arbeiten auszuhandeln.

V –    Ergebnis

93.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der Cour constitutionnelle vorgelegten Vorabentscheidungsfragen wie folgt zu beantworten:

1.         Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass die Art. 21 AEUV, 45 AEUV, 56 AEUV und 63 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer innerstaatlichen Regelung entgegenstehen, mit der die Übertragung von Grundstücken und darauf errichteten Gebäuden in bestimmten Gemeinden davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer oder Mieter eine ausreichende Bindung zu diesen Gemeinden nachweist, wenn das Vorliegen der genannten Bindung nach folgenden alternativen Kriterien bewertet wird:

–        Die Person, an die das Grundstück zu übertragen ist, war vor der Übertragung mindestens sechs Jahre lang in der betreffenden Gemeinde wohnhaft;

–        der potenzielle Käufer oder Mieter verrichtet im Zeitpunkt der Übertragung Tätigkeiten in der Gemeinde;

–        aufgrund eines wichtigen und dauerhaften Umstands besteht eine berufliche, familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindung.

2.         Die Art. 107 AEUV und 108 AEUV in Verbindung mit der Entscheidung 2005/842 der Kommission vom 28. November 2005 über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden, sind dahin auszulegen, dass die in den Art. 3.1.3, 3.1.10, 4.1.20 § 3 Abs. 2, 4.1.21 und 4.1.23 des Grundstücks- und Immobiliendekrets genannten Maßnahmen vor dem Erlass dieser Bestimmungen bei der Kommission angemeldet werden müssen, sofern festgestellt wird, dass die genannten Maßnahmen geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, und dass sie nicht die Voraussetzungen erfüllen, die sich aus dem Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C‑280/00, Slg. 2003, I‑7747), ergeben.

3.         Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass er eine Regelung verbietet, die zur Folge hat, dass mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bezüglich eines Projekts von einem bestimmten Mindestumfang von Rechts wegen eine „soziale Auflage“ verbunden wird, die darin besteht, in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Projekts Sozialwohnungen zu erstellen, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen an oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen, sofern festgestellt wird, dass diese Regelung nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht.

4.         Der Begriff „öffentlicher Bauauftrag“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge ist dahin auszulegen, dass er auf eine Regelung Anwendung findet, die zur Folge hat, dass mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung bezüglich eines Projekts von einem bestimmten Mindestumfang von Rechts wegen eine soziale Auflage verbunden wird, die darin besteht, Sozialwohnungen zu erstellen, die anschließend zu nach oben begrenzten Preisen an oder im Wege der Substitution durch eine öffentliche Einrichtung verkauft werden müssen, sofern erstens die genannte Regelung vorsieht, dass zwischen einem öffentlichen Auftraggeber und einem Wirtschaftsteilnehmer ein Vertrag geschlossen wird, und zweitens der Wirtschaftsteilnehmer über die tatsächliche Möglichkeit verfügt, mit dem öffentlichen Auftraggeber den Inhalt des genannten Vertrags und den Preis für die ausgeführten Arbeiten auszuhandeln.


1 –      Originalsprache: Französisch.


2 –      ABl. L 134, S. 114.


3 –      ABl. L 158, S. 77.


4 –      ABl. L 376, S. 36.


5 –      ABl. L 312, S. 67.


6 –      In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Französischen Gemeinschaft darauf hingewiesen, dass das vorlegende Gericht wiederholt entschieden habe, dass ein Kläger, der sein Rechtsschutzinteresse für eine Klage nachgewiesen habe, darüber hinaus nicht sein spezifisches Interesse an einem im Rahmen dieser Klage vorgebrachten Angriffsmittel beweisen müsse.


7 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Garkalns (C‑470/11, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 –      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Januar 1988, Kommission/Italien (63/86, Slg. 1988, 29, Randnr. 15), und vom 1. Dezember 2011, Kommission/Ungarn (C‑253/09, Slg. 2011, I-12391, Randnr. 67).


9 –      Vgl. Urteil vom 1. Dezember 2011, Kommission/Ungarn (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 69).


10 –      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 2002, Reisch u. a. (C‑515/99, C‑519/99 bis C‑524/99 und C‑526/99 bis C‑540/99, Slg. 2002, I‑2157, Randnr. 34), vom 23. September 2003, Ospelt und Schlössle Weissenberg (C‑452/01, Slg. 2003, I‑9743, Randnrn. 38 f.), vom 1. Oktober 2009, Woningstichting Sint Servatius (C‑567/07, Slg. 2009, I‑9021, Randnr. 30), und vom 24. März 2011, Kommission/Spanien (C‑400/08, Slg. 2011, I-1915, Randnr. 74).


11 –      Vgl. Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, Slg. 2011, I-11315, Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12 –      Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben vor dem vorlegenden Gericht auch die Subventionen für Aktivierungsprojekte nach Art. 3.1.2. des Grundstücks- und Immobiliendekrets angefochten. Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts stellt diese Maßnahme eine De-minimis-Beihilfe im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1998/2006 der Kommission vom 15. Dezember 2006 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf „De-minimis“-Beihilfen (ABl. L 379, S. 5) dar, die vom Begriff der staatlichen Beihilfe ausgenommen ist.


13 –      Vgl. Urteile vom 29. März 2012, 3M Italia (C‑417/10, Randnr. 37), und vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (C‑140/09, Slg. 2010, I‑5243, Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14 –      Die Analyse in der Vorlageentscheidung zeigt, dass das vorlegende Gericht diese Rechtsprechung kennt.


15 –      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 2009, Kommission/Italien und Wam (C‑494/06 P, Slg. 2009, I‑3639, Randnr. 52), und vom 10. Januar 2006, Cassa di Risparmio di Firenze u. a. (C‑222/04, Slg. 2006, I‑289, Randnr. 141 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a. (C‑78/08 bis C‑80/08, Slg. 2011, I-7611, Randnr. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 1991, Italien/Kommission (303/88, Slg. 1991, I‑1433, Randnr. 27).


18 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Januar 2006, Cassa di Risparmio di Firenze u. a. (oben in Fn. 15 angeführt, Randnr. 140 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19 –      Hierzu weise ich jedoch darauf hin, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht um Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, sondern um die Anwendung der bereits erfolgten Auslegung auf den konkreten Fall ersucht. Dies zeigt sich an der eingehenden Analyse der einschlägigen Rechtsprechung in der Vorlageentscheidung. Der Gerichtshof ist jedoch weder befugt, über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zu entscheiden noch die von ihm ausgelegten Gemeinschaftsvorschriften auf nationale Maßnahmen oder Gegebenheiten anzuwenden, da dafür ausschließlich das vorlegende Gericht zuständig ist (Urteil vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo, oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 22).


20 –      Vgl. Urteile vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C‑280/00, Slg. 2003, I‑7747, Randnr. 87), und vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21 –      Vgl. Urteil vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 35).


22 –      Vgl. Urteil vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 35).


23 –      Vgl. Urteil vom 10. Juni 2010, Fallimento Traghetti del Mediterraneo (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 35).


24 –      Vgl. Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (oben in Fn. 20 angeführt, Randnr. 93).


25 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, France Télécom/Kommission (C‑81/10 P, Slg. 2011, I-12899, Randnr. 58).


26 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2000, Frankreich/Kommission (C‑332/98, Slg. 2000, I‑4833, Randnr. 32).


27 –      Vgl. die Nrn. 23 f. der vorliegenden Schlussanträge.


28 –      Vgl. Urteil vom 1. Oktober 2009, Woningstichting Sint Servatius (oben in Fn. 10 angeführt, Randnr. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29 –      Ebd. (Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30 –      Vgl. Urteil vom 1. Oktober 2009, Woningstichting Sint Servatius (oben in Fn. 10 angeführt, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2007, Auroux u. a. (C‑220/05, Slg. 2007, I‑385, Randnr. 40).


32 –      Urteil vom 12. Juli 2001 (C‑399/98, Slg. 2001, I‑5409).


33 –      Ebd. (Randnr. 75).


34 –      Urteil vom 12. Juli 2001, Ordine degli Architetti u. a. (oben in Fn. 32 angeführt, Randnr. 75).


35 –      Urteil vom 18. Dezember 2007 (C‑220/06, Slg. 2007, I‑12175).


36 –      Urteil vom 18. Dezember 2007, Asociación Profesional de Empresas de Reparto y Manipulado de Correspondencia (oben in Fn. 35 angeführt, Randnr. 55).