Language of document : ECLI:EU:C:2008:611

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

DÁMASO RUIZ-JARABO COLOMER

vom 6. November 20081(1)

Rechtssache C‑326/07

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Italienische Republik

„Vertragsverletzungsverfahren – Art. 43 EG und 56 EG – Statut privatisierter Unternehmen – Bestimmung über die Ausübung bestimmter besonderer Befugnisse“





I –    Einleitung

1.        Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Dies schreibt William Shakespeare im Kaufmann von Venedig(2), als der Prinz von Marokko das Silberkästchen auswählt, um das Herz Porzias zu erobern. Auf dem Gebiet der „golden shares“ hätte dieses Motto bereits eine nachhaltige Wirkung auf den Willen der Mitgliedstaaten zeitigen müssen, die bestrebt sind, wie König Midas zu handeln, und Anteile am Kapital von Unternehmen, die auf strategischen Sektoren tätig sind oder öffentliche Dienstleistungen erbringen, in das Edelmetall verwandeln.

2.        Dessen ungeachtet vergessen die Regierungen bei dieser zügellosen alchimistischen Tätigkeit häufig die Korrektivwirkung des Gemeinschaftsrechts, das die sorgfältig abgeschirmten Sonderrechte, mit denen sie sich ausstatten wollen, um sich über die Allgemeinheit der Aktionäre zu stellen, wertlos macht. Zweifellos hegen sie hinter dem Schirm des Gemeininteresses die besten Absichten, doch legitimiert ein solcher Wille keine Abweichung von der Disziplin, zu der die Bestimmungen des EG-Vertrags verpflichten.

3.        Die vorliegende Klage der Kommission gegen die Italienische Republik liegt auf der Linie mit den Rechtssachen über die sogenannten „Goldenen Aktien“, unter denen seit dem Urteil Kommission/Deutschland(3) jede individuell auf Unternehmen anwendbare rechtliche Struktur zu verstehen ist, die den Einfluss der öffentlichen Gewalt auf diese Gesellschaften aufrechterhält oder dazu beiträgt, sie zu perpetuieren(4). Im Wesentlichen fordert das Gemeinschaftsorgan den Gerichtshof auf, die in einem Dekret zur Ausübung außerordentlicher Befugnisse, die bestimmten Behörden durch Gesetz zuerkannt werden, enthaltenen Kriterien für unvereinbar mit dem freien Kapitalverkehr und dem Niederlassungsrecht zu erklären.

II –  Rechtlicher Rahmen

A –     Gemeinschaftsrecht

4.        Der Gerichtshof prüft die Wirksamkeit der nationalen Bestimmungen, die die Kommission im Bereich der Golden Shares in Frage stellt, normalerweise im Licht zweier Grundfreiheiten des EG‑Vertrags: der Niederlassungsfreiheit und des freien Kapitalverkehrs. Die Erstgenannte ist in Art. 43 Abs. 1 geregelt, der folgenden Wortlaut hat:

„Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. Das gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind.“

5.        Dem freien Kapitalverkehr ist Art. 56 Abs. 1 EG gewidmet:

„(1)      Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten.“

6.        Wegen seiner Bedeutung bei der Auslegung ist auch Art. 295 EG zu nennen:

„Dieser Vertrag lässt die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt.“

7.        Im abgeleiteten Recht ist besonders die Richtlinie 88/361/EWG(5) zu nennen, die in Anhang I eine Nomenklatur zur Gliederung des Kapitalverkehrs enthält, auf die Art. 1 Bezug nimmt. Sie umfasst insbesondere „Beteiligungen an neuen oder bereits bestehenden Unternehmen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter Wirtschaftsbeziehungen“ (Direktinvestitionen)(6) und den „Erwerb an der Börse gehandelter inländischer Wertpapiere durch Gebietsfremde“ (7).

B –    Das italienische Recht

8.        Durch Art. 4 Abs. 227 bis 231 des italienischen Finanzgesetzes für das Jahr 2004 (im Folgenden: Finanzgesetz)(8) wurde das Decreto‑legge Nr. 332 vom 31. Mai 1994(9) mit Änderungen umgewandelt in das Gesetz Nr. 474 vom 30. Juli 1994 zur Einführung von Bestimmungen über die Beschleunigung der Verfahren zum Verkauf von staatlichen und öffentlichen Beteiligungen an Aktiengesellschaften(10).

9.        Art. 4 Abs. 227 regelt die dem italienischen Staat eingeräumten besonderen Befugnisse in Bezug auf bestimmte Gesellschaften; im Wesentlichen wird durch Art. 4 Abs. 227 Unterabs. 1 der Art. 2 Abs. 1 des Decreto‑legge Nr. 332 neu gefasst. Danach gilt:

„1. Durch Dekret des Präsidenten des Ministerrats werden unter den unmittelbar oder mittelbar vom Staat kontrollierten Gesellschaften, die auf den Gebieten der Verteidigung, des Verkehrs, der Telekommunikation, den Energiequellen und sonstiger öffentlicher Dienstleistungen tätig sind, diejenigen bestimmt, in deren Satzung vor jedem Rechtsakt, der zu einem Verlust der Kontrolle führt, durch Beschluss einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung eine Bestimmung einzufügen ist, durch die dem Wirtschafts- und Finanzministerium eine oder mehrere der nachstehenden besonderen Befugnisse eingeräumt werden, die im Einklang mit dem Ministerium für Produktionstätigkeiten ausgeübt werden.“

10.      Die Sonderrechte des italienischen Staats werden sodann in Art. 2 Buchst. a, b, c, d und e detailliert dargelegt; sie können folgendermaßen zusammengefasst werden:

a)      ein Einspruch dagegen, dass Investoren bedeutende Beteiligungen an diesen Gesellschaften in Höhe von mindestens 5 % der Stimmrechte oder des vom Wirtschafts- und Finanzministerium durch Dekret festgelegten Mindestprozentsatz erwerben,

b)      ein Einspruch dagegen, dass Anteilseigner, die über 5 % der Stimmrechte verfügen oder den vom Wirtschafts- und Finanzministerium durch Dekret festgelegten Mindestprozentsatz innehaben, Vereinbarungen oder Absprachen treffen,

c)      ein Vetorecht im Hinblick auf Beschlüsse über die Auflösung der Gesellschaft, den Übergang des Betriebs, den Zusammenschluss, die Aufspaltung, die Verlagerung des Geschäftssitzes ins Ausland, die Änderung des Gesellschaftszwecks oder der Gesellschaftssatzung, durch die die besonderen Befugnisse aufgehoben oder geändert werden, und

d)      die Ernennung eines Geschäftsführers ohne Stimmrecht.

11.      Am 10. Juni 2004 erließ der Präsident des italienischen Ministerrats das in Art. 4 Abs. 230 des Finanzgesetzes vorgesehene Dekret(11), dessen Art. 1 Abs. 1 Folgendes bestimmt:

„Die besonderen Befugnisse nach Art. 2 des Decreto-legge Nr. 331/1994 werden nur bei Vorliegen entscheidender und überwiegender Gründe des Gemeinwohls, insbesondere im Hinblick auf die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit, das öffentliche Gesundheitswesen und die Verteidigung, sowie in einer Art und Weise, die im Hinblick auf den Schutz dieser Interessen geeignet und verhältnismäßig ist, einschließlich angemessener Fristen, und unbeschadet der Beachtung der Grundsätze der innerstaatlichen Rechtsordnung und des Gemeinschaftsrechts und in erster Linie des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung ausgeübt.“

12.      Art. 1 Abs. 2 des Dekrets legt die Kriterien für das Handeln der Behörden im Rahmen der besonderen Befugnisse wie folgt fest:

„2. Unbeschadet des in Artikel 1 bezeichneten Zwecks werden die besonderen Rechte im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a, b und c des Decreto-legge Nr. 332/1994 ausgeübt, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen:

a)      eine schwere tatsächliche Gefahr einer Unterbrechung der nationalen Grundversorgung mit Erdöl- und Energieerzeugnissen sowie damit verbundener oder abgeleiteter Dienstleistungen und im Allgemeinen der Versorgung mit Rohstoffen, mit für die Gemeinschaft wesentlichen Gütern oder der Grundversorgung mit Telekommunikations- oder Transportdienstleistungen,

b)      eine schwere tatsächliche Gefahr für die kontinuierliche Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit auf dem Gebiet der öffentlichen Dienstleistungen sowie für die Ausübung der der Gesellschaft übertragenen Aufgaben im Allgemeininteresse,

c)      eine schwere tatsächliche Gefahr für die Sicherheit der Einrichtungen und Netze der staatlichen Grunddienstleistungen,

d)      eine schwere tatsächliche Gefahr für die Landesverteidigung, die militärische Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit,

e)      Krisenfälle im Gesundheitswesen.“

III – Vorverfahren

13.      Da die italienische Regierung der Sachverhaltsdarstellung der Kommission weder in der Klagebeantwortung noch in der Erwiderung auch nur in einem Punkt entgegengetreten ist, ist nur von der Sachverhaltsschilderung in der Klageschrift auszugehen, allerdings um die Elemente bereinigt, die für die Entscheidung in dieser Rechtssache entbehrlich sind.

14.      Im Februar 2003 wies die Kommission die italienische Regierung in einem Aufforderungsschreiben auf die Unvereinbarkeit von Art. 66 des Finanzgesetzes Nr. 488 vom 23. Dezember 1999 sowie des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats vom 11. Februar 2000 über die Privatisierung öffentlicher Unternehmen mit dem Gemeinschaftsrecht hin.

15.      Im Juni 2003 teilten die italienischen Behörden in einem Antwortschreiben mit, dass durch das Dekret das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-58/99(12) umgesetzt worden sei, und in einem weiteren Antwortschreiben im November 2003, dass zum Jahresende der Gemeinschaftsrechtsordnung entsprechende Bestimmungen erlassen würden.

16.      Nach dem Erlass der angekündigten Gesetzesänderungen brachte die italienische Regierung im Januar 2004 der Kommission den Wortlaut des Finanzgesetzes für das Jahr 2004 zur Kenntnis, das den Auftrag an den Präsidenten des Ministerrats enthielt, innerhalb von 90 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes ein Dekret mit den Kriterien für die Ausübung der besonderen Befugnisse zu erlassen.

17.      Am 30. Juni 2004 wurde der Kommission diese Durchführungsregelung, das angefochtene Dekret, mitgeteilt.

18.      Am 22. Dezember 2004 richtete die Kommission ein weiteres Aufforderungsschreiben an die italienischen Behörden, da sie der Ansicht war, dass durch die geänderten Bestimmungen und die neuen Kriterien für die Ausübung der besonderen Befugnisse die Verletzung der Bestimmungen des EG‑Vertrags über den freien Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit nicht beseitigt worden sei.

19.      Am 24. Mai 2005 antwortete die italienische Regierung, dass das Decreto-legge Nr. 332 und das Dekret vom 10. Juni 2004 ein System der „golden shares“ für den Bereich der Verwaltung von Gesellschaften mit staatlicher Beteiligung darstellten, das mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts vereinbar sei.

20.      Da diese Begründung die Kommission nicht zufriedenstellte, richtete sie am 18. Oktober 2005 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die italienische Regierung. Mit Schreiben vom 20. Dezember 2005 traten die italienischen Behörden der Stellungnahme entgegen. Daraufhin beschloss die Kommission, beim Gerichtshof Klage zu erheben.

IV – Das Verfahren vor dem Gerichtshof und die Anträge der Parteien

21.      Die Klage der Kommission ist am 13. Juli 2007, die Klagebeantwortung der italienischen Regierung am 5. Oktober 2007 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

22.      Am 16. November 2007 ist die Erwiderung, am 7. Februar 2008 die Gegenerwiderung eingegangen.

23.      Die Kommission beantragt, festzustellen, dass die Italienische Republik durch das Einfügen von Vorschriften in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats vom 10. Juni 2004 zur Festlegung der Kriterien für die Ausübung der besonderen Befugnisse im Sinne des Art. 2 des Decreto-legge Nr. 332 vom 31. Mai 1994, mit Änderungen umgewandelt in das Gesetz Nr. 474 vom 30. Juli 1994, in der durch Art. 4 Abs. 227 Buchst. a, b und c des Finanzgesetzes Nr. 350/2004 geänderten Fassung, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 56 EG verstoßen hat. Sie beantragt weiterhin, der italienischen Regierung die Kosten aufzuerlegen.

24.      Die italienische Regierung beantragt, die Klage abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

25.      In der Sitzung vom 2. Oktober 2008 haben die Bevollmächtigten der italienischen Regierung und der Kommission mündlich verhandelt.

V –    Untersuchung der Vertragsverletzung

A –    Vorbemerkungen

1.      Zum Streitgegenstand

26.      In ihren Verfahrensschriftsätzen(13) macht die italienische Regierung die Unzulässigkeit zwar nicht der Klage insgesamt, aber der Mehrzahl der Rügen, auf die der Vorwurf der Vertragsverletzung gestützt wird, geltend. Sie ist der Auffassung, dass sich die in der Klage und der Erwiderung vorgebrachte Kritik weniger gegen das angefochtene Dekret als gegen die im Decreto-legge Nr. 332 geregelten besonderen Befugnisse richte; da jedoch diese Vorrechte in der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht beanstandet worden seien, werfe ihr die Kommission vor, durch die Regelung dieser besonderen Befugnisse eine Vertragsverletzung begangen zu haben, und erweitere auf diese Weise verdeckt den Gegenstand der Klage.

27.      Die Klägerin wiederum bestätigt in ihrer Erwiderung(14), dass sie nur die Verhältnismäßigkeit von Art. 1 Abs. 2 des streitigen Dekrets in Frage stelle, insbesondere die Kriterien für die Ausübung der Sonderrechte des italienischen Staats; sie rügt, dass diese Kriterien nicht hinreichend konkret seien, damit Investoren die genauen Voraussetzungen, unter denen die Verwaltung von den außerordentlichen Befugnissen Gebrauch machen kann, erkennen könnten. Sie erkennt jedoch die Notwendigkeit an, die Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit der Rechtmäßigkeit und sogar der Zweckmäßigkeit der Ausübung der besonderen Befugnisse zu untersuchen(15).

28.      Nach ständiger Rechtsprechung wird der Gegenstand einer Klage nach Art. 226 EG durch das in dieser Bestimmung vorgesehene Vorverfahren eingegrenzt. Die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission und die Klage müssen auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt sein, so dass der Gerichtshof eine Rüge, die nicht in der mit Gründen versehenen Stellungnahme erhoben wurde, nicht prüfen kann(16). Aus dieser Rechtsprechung lässt sich der Schluss ziehen, dass der Zweck dieser Kongruenz zwischen Vorverfahren und Klage bei dem Gerichtshof darin liegt, dem beteiligten Mitgliedstaat die Möglichkeit zu geben, sowohl seine sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen, als auch die Einwände, die er gegen die Beschwerdepunkte der Kommission vorbringen will, in angemessener Weise darzulegen.

29.      Die Einrede der Unzulässigkeit der italienischen Regierung ist nicht stichhaltig, denn eine vergleichende Untersuchung des Aufforderungsschreibens(17), der mit Gründen versehenen Stellungnahme(18) und der Klageschrift ergibt nicht nur, dass die Kommission ausschließlich die gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Dekrets begehrt, sondern auch, dass sie im letztgenannten dieser Schriftstücke den Streitgegenstand auf das Dekret beschränkt hat, während die der Klage vorangehenden Schriftsätze einige Anmerkungen enthalten, die die Gültigkeit der besonderen Befugnisse als solche widerlegen sollen(19).

30.      Selbst wenn dadurch der Streitgegenstand beschränkt würde, reicht jedenfalls der Hinweis darauf, dass der Gerichtshof im Rahmen der Vertragsverletzungsverfahren diese Möglichkeit bejaht und sie von der Erweiterung des Klagegegenstands unterschieden hat(20).

31.      Darüber hinaus ist die Argumentation der italienischen Regierung übermäßig sophistisch, denn sie unterstellt, dass die Kommission bei der Rüge des angefochtenen Dekrets in Wirklichkeit auf die Natur der besonderen Befugnisse abstelle, da es nicht legitim sei, die Ausübung der Befugnisse zu beurteilen, ohne ein Urteil über sie selbst zu fällen. Bei der Gleichstellung der besonderen Befugnisse mit ihrer Ausübung verwechselt sie die Norm, die sie begründet (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, b, c und d des Decreto-legge Nr. 332), mit derjenigen, die ihre Ausübung regelt (Art. 1 Abs. 2 des Dekrets).

32.      Zusammenfassend konzentriert sich der Gegenstand des Streits zwischen der Kommission und der italienischen Regierung auf die Verhältnismäßigkeit der zitierten Bestimmungen des in Rede stehenden Dekrets, so dass das gesamte Vorbringen der Kommission in ihren Verfahrensschriftsätzen beachtlich bleibt.

33.      Es bestehen Zweifel, ob sich die besonderen Befugnisse des Decreto-legge Nr. 332 im Licht der Bestimmungen des Vertrags über den freien Verkehr aufrechterhalten lassen, aber die Besonderheiten des Vertragsverletzungsverfahrens hindern den Gerichtshof daran, von Amts wegen in die Prüfung dieser Frage einzutreten, da er sonst eine Entscheidung ultra petita fällen würde.

34.      Infolgedessen sind die Umstände dieser Klage zumindest als seltsam zu bezeichnen: Der Gerichtshof soll über die Verhältnismäßigkeit der Ausübung von besonderen Befugnissen entscheiden, ohne dass er zuvor um eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit solcher Vorrechte mit den Grundfreiheiten des EG‑Vertrags gebeten wird. Da in dieser Hinsicht eine weitere Klage nicht ausgeschlossen werden kann, fordere ich die Kommission auf, ihren Inquisitionseifer mit einer gewissen Dosis an Kohärenz zu versehen, die sich auch auf die Verfahrensökonomie auswirken und eine bessere Verwendung öffentlicher Mittel garantieren würde.

2.      Einschlägigkeit von Art. 295 EG

35.      Wenngleich die italienische Regierung in ihrem Verteidigungsvorbringen nicht geltend gemacht hat, dass Art. 295 EG beachtet werden müsse, den ich in meinen verbundenen Schlussanträgen in den Rechtssachen Kommission/Portugal, Kommission/Frankreich und Kommission/Belgien(21) sowie denen in den Rechtssachen Kommission/Spanien und Kommission/Vereinigtes Königreich(22) eingehend untersucht habe, lädt die Ausgestaltung der in Rede stehenden besonderen Befugnisse dazu ein, auf die in diesen Schlussanträgen aufgestellte These einzugehen.

36.      Ich wiederhole daher meine Ansicht, dass der Begriff „Eigentumsordnung“ in Art. 295 nicht auf die zivilrechtlichen Vorschriften über eigentumsrechtliche Beziehungen, sondern auf die ideelle Gesamtheit aller Rechtsvorschriften gleich welcher Art, seien sie privatrechtlichen oder öffentlich‑rechtlichen Ursprungs, verweist, die die Verfügungsmacht über ein Unternehmen begründen können, die also denjenigen, der die Verfügungsmacht innehat, in die Lage versetzen, auf die Festlegung und Umsetzung aller oder eines Teils der Unternehmensziele einen entscheidenden Einfluss auszuüben; zugleich ergibt die teleologische Auslegung, dass die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen im Sinne des Vertrags nicht allein auf die Zusammensetzung des Aktienbesitzes gegründet werden kann, sondern auch davon abhängt, welche Möglichkeit ein Staat hat, bestimmte wirtschaftspolitische Ziele durchzusetzen, die sich von dem eine private Tätigkeit kennzeichnenden Streben nach maximalem Gewinn unterscheiden.

37.      Ich erinnere daran, dass die in Art. 295 EG niedergelegte Achtung der Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten durch den Vertrag sich auf jede Maßnahme erstreckt, die es dem Staat erlaubt, durch einen Eingriff in den öffentlichen Sektor – im wirtschaftlichem Sinn – zur Gestaltung des Wirtschaftslebens des Landes beizutragen, vor allem bei der Privatisierung von Unternehmen, die sich in als „lebenswichtig“ geltenden Bereichen betätigten, die allmählich liberalisiert wurden(23). Konkret denke ich an die Überwachung der Behörden bei bestimmten Aktivitäten von vitalem nationalem Interesse, mit der die Einführung von wirtschaftspolitischen Strategien verfolgt wird.

38.      In diesem Zusammenhang behält die Kritik in meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen C‑463/00 und C‑98/01 daran, dass die Anwendbarkeit und die Reichweite von Art. 295 EG in den Urteilen ohne Begründung verworfen wurden, in vollem Umfang ihre Geltung, da diese Bestimmung auch in späteren Urteilen nicht ausgelegt wurde; der Gerichtshof hat sich auf den Hinweis beschränkt, dass die Bedenken nicht von der Hand zu weisen seien, die es je nach den Umständen rechtfertigen könnten, dass die Mitgliedstaaten einen gewissen Einfluss auf ursprünglich öffentliche und später privatisierte Unternehmen behalten, wenn diese Unternehmen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder von strategischer Bedeutung erbrächten(24).

39.      Der Gerichtshof hat ergänzt, dass diese Bedenken es den Mitgliedstaaten jedoch nicht erlaubten, sich auf ihre Eigentumsordnung, die Gegenstand von Art. 295 EG ist, zu berufen, um Beeinträchtigungen der im europäischen Recht vorgesehenen Freiheiten zu rechtfertigen, die sich aus Vorrechten ergäben, mit denen ihre Aktionärsstellung in einem privatisierten Unternehmen ausgestattet sei, denn dieser Artikel führe nicht dazu, dass die in den Mitgliedstaaten bestehende Eigentumsordnung den Grundprinzipien des Vertrags entzogen sei(25).

40.      Meine bereits zitierten gemeinsamen Schlussanträge enthalten eine sehr ähnliche Feststellung. Dort weise ich darauf hin, dass die Anwendung der Neutralitätsregel keinesfalls zu einer Befreiung von den zwingenden Vorschriften des Vertrags führt, die ihre Wirkungen entsprechend ihrem Wortlaut entfalten; dies gilt insbesondere für das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Art. 295 EG beinhaltet keine Ausnahme von der Anwendung der Grundregeln des Vertrags. Er bedeutet vielmehr, dass die streitigen Maßnahmen nicht als solche als mit dem Vertrag unvereinbar angesehen werden können, da sie von der Gültigkeitsvermutung gedeckt sind, die ihnen aufgrund der Legitimität des Art. 295 EG zugute kommt(26). 

41.      Es trifft zu, dass nach der von mir vertretenen These die im vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren streitigen besonderen Befugnisse der Behörden Interventionsnormen für den öffentlichen Eingriff in die Tätigkeit bestimmter Unternehmen zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Ziele darstellen und dass sie Formen in der Verfügungsgewalt über Unternehmen gleichzustellen sind, deren Ausgestaltung gemäß Art. 295 EG Sache der Mitgliedstaaten ist; ihr Bestehen verletzt nicht von sich aus die Grundfreiheiten des Vertrags, allerdings kann dies durch ihre konkrete Ausübung erfolgen.

42.      In diesem Rechtsstreit kritisiert die Kommission auf der einen Seite nur die fehlende Verhältnismäßigkeit bestimmter Aspekte des angefochtenen Dekrets hinsichtlich der Ausübung der dem italienischen Staat durch das Decreto-legge Nr. 332 eingeräumten besonderen Befugnisse im Licht des EG-Vertrags; auf der anderen Seite gehört der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, summarisch verstanden als die Prämisse, unter der der Regelungseingriff des Staates mit dem angestrebten Ziel im Einklang steht(27), zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, an der die Rechtmäßigkeit dieser besonderen Rechte in den Händen der Mitgliedstaaten zu messen ist. In früheren Schlussanträgen habe ich vorgeschlagen, dass Regierungen, die Regelungen über „golden shares“ verteidigen, nachweisen müssen, dass die staatliche Beteiligung an den privatisierten Unternehmen dem verfolgten Ziel entspricht(28). Aus Gründen der Kohärenz mit meinen in den vorhergehenden Seiten dargelegten Gedanken komme ich nunmehr zu dem Ergebnis, dass einer Prüfung dieser Regelungen unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nichts entgegensteht.

3.      Art. 43 EG versus Art. 56 EG

43.      Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die italienische Republik die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr verletzt hat.

44.      Insoweit habe ich meine Auffassung, dass der natürliche und angemessene Rahmen für die Untersuchung der verschiedenen Beschränkungen, die sich aus den höchst ungenau als „golden shares“ bezeichneten Aktien ergeben, die Niederlassungsfreiheit ist, nicht geändert. Der beklagte Mitgliedstaat ist allenfalls bestrebt, über Rechte zum Eingriff in die Bildung der Aktionärsstruktur, bei der Übertragung von Vermögensgegenständen und bei bestimmten Verwaltungsentscheidungen die Willensbildung der Gesellschafter privatisierter Unternehmen (entweder durch Eingriffe in die Zusammensetzung der Gesellschafter oder hinsichtlich konkreter Verwaltungsentscheidungen) zu kontrollieren; dieser Aspekt hat wenig mit dem freien Kapitalverkehr zu tun(29).

45.      Solche Rechte können Auswirkungen auf das Recht der freien Niederlassung haben, indem sie es sowohl direkt ? wenn sie sich auf den Zugang zum Gesellschaftskapital auswirken ? als auch indirekt ? wenn sie seine Anziehungskraft verringern, indem sie die Freiheit der Entscheidung und der Verwaltung der Gesellschaftsorgane beschränken ? weniger interessant machen(30). Ich betone, dass im Gegensatz zu den Feststellungen des Gerichtshofs(31) die daraus resultierende Beschränkung der Freiheit des Kapitalverkehrs nicht notwendigen, sondern subsidiären Charakter hat. Wenn dies für Maßnahmen, die sich auf die Zusammensetzung des Aktienbesitzes auswirken, zutrifft, gilt es umso mehr hinsichtlich solcher Maßnahmen, die die Beschlussfassung innerhalb der Gesellschaft einschränken (Änderung des Gesellschaftszwecks, Veräußerung von Vermögensgegenständen). Bei ihnen besteht nur ein hypothetischer oder jedenfalls nur sehr schwacher Bezug zum freien Kapitalverkehr(32).

46.      Die Unterscheidung erhält eine praktische Relevanz erster Ordnung, wenn man berücksichtigt, dass die Kapitalverkehrsfreiheit nicht nur zwischen Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen diesen und Drittländern gilt(33). Daraus folgt, dass eine Maßnahme wie ein Veto gegen die Entscheidung über die Auflösung einer Gesellschaft, die in einem strategischen Sektor tätig ist, Aktionären aus Drittländern auch dann entgegengehalten werden kann, wenn sie für unvereinbar mit Art. 43 EG erklärt wird.

47.      Trotz des akzessorischen Charakters der Geldbewegungen aus Drittländern, die für den Erwerb einer Anzahl von Wertpapieren, die die Kontrolle der Verwaltung des Unternehmens ermöglichen, unverzichtbar sind, würde die Annahme, dass ein solches Sonderrecht gegen Art. 56 EG verstößt, den Weg für außergemeinschaftliche Aktionäre freimachen, um zum Nachteil der Interessen des Mitgliedstaats an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Dienstleistung, die das Unternehmen erbrachte, die Auflösung zu vollziehen.

48.      Ich bestreite nicht, dass es eine Reihe von Maßnahmen gibt, die an Hand der Parameter der beiden in Rede stehenden Grundfreiheiten beurteilt werden können; jedoch möchte ich nur auf die Tatsache hinweisen, dass es eine andere Art von besonderen Befugnissen gibt, deren innerer Bezug zur Verwaltung von Unternehmen ihren Bezug zum freien Kapitalverkehr so stark schwächt, dass ihre Nichtigerklärung zu einer zu weitgehenden Konzeption des Art. 56 EG führen würde.

49.      Ich spreche mich daher für eine stärkere Abgrenzung der jeweiligen Anwendungsbereiche der beiden Grundfreiheiten aus, die mit der derzeitigen vis atractiva des freien Kapitalverkehrs, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, kollidiert. Ich belasse es an dieser Stelle bei der Andeutung dieser Feststellung, unbeschadet einer späteren ausführlicheren Darlegung im Rahmen der detaillierten Untersuchung des Dekrets vom 10. Juni 2004. Schon hier sei vorausgeschickt, dass der Grund für die getrennte Prüfung des Verstoßes in Abschnitt B Nr. 2 Buchst. a und b dieser Schlussanträge in der Grundfreiheit liegt, anhand deren das streitige Dekret zu untersuchen ist.

50.      Abschließend ist festzuhalten, dass, wie sich aus den Akten ergibt, gerade die Furcht vor Investitionen im Hinblick auf eine Niederlassung den italienischen Staat dazu veranlasste, die von der Kommission gerügten Bestimmungen zu erlassen. Wenn es auch nicht der einzige Beweggrund ist, liegt dem doch der Wunsch zugrunde, zu verhindern, dass Unternehmen, die in strategischen Sektoren tätig sind, in die Hände von außergemeinschaftlichen Finanzgruppen mit zweifelhafter Solvenz fallen, die möglicherweise Ziele verfolgen, die mit der Politik der Mitgliedstaaten unvereinbar sind.

B –    Zur Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Dekrets

1.      Fragestellung

51.      Die Kommission stützt ihre Klage darauf, dass die Kriterien für die Ausübung der besonderen Befugnisse in dem angefochtenen Dekret nicht ausreichend definiert seien, so dass ein Investor nicht erkennen könne, unter welchen Voraussetzungen die Regierung von ihnen Gebrauch machen wolle. Sie bringt in diesem Zusammenhang vor, dass der Staat, da das Dekret in sehr allgemeinen Begriffen verfasst ist, nur eingreifen würde, wenn ein Investor versuche, ein bedeutendes Paket Aktien von Unternehmen, die in den betroffenen Wirtschaftssektoren (Verteidigung, Verkehr, Telekommunikation, Energie und andere öffentliche Dienstleistungen) tätig sind, zu erwerben(34), was voraussetze, dass die Entscheidung subjektiv und ausschließlich an den Eigenschaften des Investors ausgerichtet sei.

52.      Sie fügt hinzu, dass die Begriffe „schwere tatsächliche Gefahr“ oder „Krisenfall im Gesundheitswesen“ nicht hinreichend objektiv und spezifisch seien, um die Voraussetzungen zu beschreiben, unter denen diese besonderen Befugnisse wirksam würden, und dadurch den italienischen Behörden einen weiten Ermessensspielraum einräumen und Investoren bremsen bzw. entmutigen würden, insbesondere solche, die die Absicht hätten, sich in Italien niederzulassen, um Einfluss auf die Verwaltung des Unternehmens zu nehmen.

53.      Weiter führt die Kommission aus, dass ein nationales Gericht, das über eine mögliche Anfechtung der Ausübung der besonderen Befugnisse in einem konkreten Fall zu entscheiden habe, ebenso wenig Anhaltspunkte finden würde, auf die es die Kontrolle des Ermessens der Behörde stützen könnte.

54.      Schließlich stellt die Kommission das Fehlen eines Kausalzusammenhangs zwischen der unverzichtbaren Gewährleistung der Versorgung mit Energieerzeugnissen, dem Erbringen öffentlicher Dienstleistungen und der Kontrolle des Aktienbesitzes an dem Unternehmen, insbesondere in Bezug auf nicht harmonisierte Sektoren, fest. Für Tätigkeitszweige, die einen gewissen Grad der Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen aufweisen, nennt die Kommission die Richtlinien 2003/54/EG(35), 2003/55/EG(36) und 2002/21/EG(37) (im Folgenden: Elektrizitätsrichtlinie, Gasrichtlinie und Telekommunikationsrichtlinie), und weist darauf hin, dass sie die Maßnahmen zum Schutz der ununterbrochenen Versorgung auf nationaler Ebene in diesen Wirtschaftsbereichen regelten.

55.      Neben dem bereits dargestellten Vorbringen zum Streitgegenstand besteht die italienische Regierung darauf, die Diskussion im Bereich der Niederlassungsfreiheit und nicht des freien Kapitalverkehrs anzusiedeln, da die streitigen Handlungen darauf gerichtet seien, auf entscheidende Weise in die Verwaltung der Unternehmen einzugreifen.

56.      Sie verneint zudem die Anwendbarkeit der Richtlinien über den Elektrizitäts- und den Gasmarkt, da durch das angefochtene Dekret keine Strukturmaßnahme eingeführt worden sei.

57.      Sie führt weiterhin den Grundsatz der Subsidiarität an, um ihre Behauptung zu stützen, die nationale Rechtsordnung sei besser in der Lage, sich Situationen zu stellen, die den nationalen Interessen schweren Schaden zufügen können, sowohl im Hinblick auf öffentliche Dienstleistungen als auch auf Verteidigungsangelegenheiten.

2.      Würdigung

a)      Vorbemerkungen

58.      Bevor in die Untersuchung der Vertragsverletzungsgründe eingetreten wird, sind die Parameter, anhand deren sie durchgeführt werden soll, kurz darzustellen.

59.      An erster Stelle wiederhole ich, dass davon auszugehen ist, dass die besonderen Befugnisse des Art. 2 Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 332 mit der Niederlassungsfreiheit und dem freien Kapitalverkehr, die der EG-Vertrag garantiert, vereinbar sind, da sie von der Klage der Kommission nicht umfasst sind. Darüber hinaus ist, da ausschließlich die fehlende Verhältnismäßigkeit der in dem Dekret geregelten Ziele gerügt wird, ihre Rechtfertigung im Verhältnis zu diesen Freiheiten abzuwägen.

60.      Insoweit enthält die hier in Rede stehende italienische Vorschrift eine Reihe von Vorkehrungen, um eine Verzerrung zu vermeiden, die die Ausübung der besonderen Befugnisse auf dem Binnenmarkt nach sich ziehen könnte, denn sie nimmt ausdrücklich Bezug auf die Aufrechterhaltung der Energieversorgung und das Erbringen öffentlicher Dienstleistungen, die Sicherheit der Einrichtungen, auf die sie sich stützt, auf die Landesverteidigung und die öffentliche Ordnung sowie auf Krisenfälle im Gesundheitswesen(38).

61.      Zweitens dient der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn es um die Beurteilung der Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen, die Auswirkungen auf die Grundfreiheiten haben, mit dem Vertrag geht, der Förderung der Integration der Märkte, und der Gerichtshof wendet ihn strenger an, als er es im Hinblick auf Bestimmungen der Gemeinschaftsorgane tut(39).

62.      Hinsichtlich meiner Methodologie betone ich, dass die Modalitäten der Ausübung der besonderen Befugnisse aus dem angefochtenen Dekret im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des Decreto-legge Nr. 332 einerseits und Buchst. c dieser Bestimmung andererseits angesprochen werden, weil die Gültigkeit der ersten beiden Buchstaben an Art. 56 EG, die Rechtmäßigkeit von Buchst. c hingegen an Art. 43 EG zu messen ist.

b)      Die Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Dekrets im Hinblick auf die Befugnisse nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des Decreto-legge Nr. 332

63.      In diesen beiden Buchstaben der zitierten Vorschrift ist das Vorrecht des Wirtschaftsministeriums geregelt, im Einklang mit dem Ministerium für Produktionstätigkeiten Einspruch dagegen zu erheben, dass Investoren bedeutende Beteiligungen an Gesellschaften, die in den zuvor genannten Sektoren tätig sind, in Höhe von mindestens 5 % der Stimmrechte zu erwerben (Buchst. a), sowie gegen Vereinbarungen oder Absprachen zwischen Anteilseignern, die über mindestens 5 % der Stimmrechte verfügen (Buchst. b)(40).

64.      Bis jetzt hat die Rechtsprechung in Ermangelung einer Definition des Begriffs „Kapitalverkehr“ im EG-Vertrag den Hinweischarakter der Nomenklatur im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG anerkannt(41). Danach fallen unter diesen Begriff die Direktinvestitionen in Form der Beteiligung an einem Unternehmen durch den Erwerb von Aktien, die durch die Möglichkeit gekennzeichnet ist, sich tatsächlich an der Verwaltung einer Gesellschaft und an deren Kontrolle zu beteiligen, und die indirekten Investitionen wie der Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt in der Absicht, Geld anzulegen, ohne sich an der Verwaltung und der Kontrolle des Unternehmens beteiligen zu wollen (auch bezeichnet als „Portefeuille“)(42).

65.      Der Gerichtshof hat diese beiden Kategorien von Geschäften untersucht und nationale Maßnahmen, die den Erwerb von Anteilen an den betreffenden Unternehmen verhindern oder erschweren oder Anleger aus anderen Mitgliedstaaten davon abhalten, in das Kapital dieser Unternehmen zu investieren, als „ Beschränkungen“ eingestuft(43).

66.      Obwohl ich bereits darauf hingewiesen habe, dass im Rahmen dieser Klage die besonderen Befugnisse, die den genannten Ministerien eingeräumt werden, nicht Gegenstand der Prüfung sind, bestätigen die vorstehenden Feststellungen doch, dass sowohl der Einspruch gegen den Kauf von Aktienpaketen in Höhe von mindestens 5 % des Kapitals eines Unternehmens als auch die Behinderung von Vereinbarungen zwischen den Inhabern solcher Aktien im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht im Licht des Art. 56 EG zu beurteilen sind, denn die Störungen, die sie, selbst wenn sie nur rein abschreckenden Charakter haben, beim Aktienkauf verursachen, sind offensichtlich.

67.      Der Besitz einer solchen Anzahl von Wertpapieren reicht für sich nicht aus, um sich die Kontrolle über die Gesellschaft zu sichern, wenngleich die Streuung des Aktienbesitzes in großen Aktiengesellschaften es Investorengruppen mit relativ niedrigen prozentualen Aktienbeteiligungen erleichtert, an der Verwaltung des Unternehmens teilzunehmen.

68.      Konzentriert man diese Analyse auf die Verhältnismäßigkeit des italienischen Dekrets, fällt es nicht schwer, zu erraten, dass es nicht einmal den Test der Geeignetheit besteht(44), denn es ist, wie die Kommission vorbringt, keine logische Beziehung zwischen den Einspruchsrechten nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b des Decreto-legge Nr. 332 und den Voraussetzungen für ihre Ausübung nach diesem Dekret erkennbar.

69.      So ist nicht nachvollziehbar, wie der Erwerb von Aktien oder eine Vereinbarung zwischen Aktieninhabern eine schwere und tatsächliche Gefahr der Unterbrechung der Versorgung mit Energieerzeugnissen oder eine schwere und tatsächliche Störung der Kontinuität der öffentlichen Dienstleistungen hervorrufen können; ebenso wenig ist nachvollziehbar, dass sie eine schwere und tatsächliche Gefahr für die Sicherheit der grundlegenden öffentlichen Dienstleistungseinrichtungen und -netze, die Landesverteidigung oder die öffentliche Sicherheit und, wenn auch in einem geringeren Umfang, einen Krisenfall im Gesundheitswesen hervorrufen können, so krank die erwerbenden Investoren oder die an der Vereinbarung zwischen Anteilseignern beteiligten Parteien auch sein mögen.

70.      Die italienische Regierung hat weder Beweise noch Indizien beigebracht, die geeignet wären, die Zweifel der Kommission zu widerlegen, die somit gut begründet erscheinen. Das Urteil fällt noch negativer aus, weil die zuständigen Ministerien ohne irgendeine Rechtfertigung befugt sind, den Prozentsatz von 5 % herabzusetzen, denn unterhalb dieser prozentualen Schwelle verstärkt sich der Eindruck vollständiger Willkür, die der Ausübung derartiger Vetobefugnisse zugrunde liegt(45).

71.      Folglich erübrigt sich die Untersuchung des Vorbringens hinsichtlich der Anwendbarkeit der Elektrizitäts-, Gas- und Telekommunikationsrichtlinien, denn der ursprüngliche Makel der fehlenden Kongruenz zwischen den Befugnissen und der Regelung ihrer Ausübung in dem angefochtenen Dekret würde nicht beseitigt; darüber hinaus bestehen Zweifel an der Anwendbarkeit dieser Richtlinien, denn sie beschränken sich auf Aspekte der Regulierung des Wettbewerbs auf den jeweiligen Märkten und enthalten lediglich gemeinsame Mindestvorschriften über die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen(46). 

72.      In Bezug auf die These der italienischen Regierung zur Rettung der Gültigkeit des Dekrets unter Rückgriff auf den Grundsatz der Subsidiarität als Garantie für die Intervention der Mitgliedstaaten zur Verteidigung ihrer vitalen Interessen ist anzumerken, dass seine praktische Umsetzung in den Worten des EG-Vertrags unter Beachtung seiner allgemeinen Bestimmungen und Ziele, insbesondere unter voller Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands, zu erfolgen hat(47). 

73.      Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten zwar frei bestimmen können, was für die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit erforderlich ist, diese Erfordernisse im europäischen Kontext jedoch eng zu verstehen sind, so dass ihre Tragweite nicht einseitig ohne Nachprüfung durch die Organe der Gemeinschaft bestimmt werden darf(48).

74.      Er hat ergänzt, dass Systeme der vorherigen Genehmigung für ausländische Direktinvestitionen(49) und des nachträglichen Vetos(50), die sich darauf beschränken, die betroffenen finanziellen Operationen, auf die sie angewendet werden, weil sie die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden, nur allgemein als Investitionen zu definieren, es den Betroffenen nicht ermöglichen, zu erkennen, unter welchen besonderen Umständen eine vorherige Genehmigung erforderlich ist bzw. von dem Einspruchsrecht Gebrauch gemacht wird; der Gerichtshof hatte diese Unbestimmtheit der Rechte und Pflichten Privater aus Art. 56 EG gerügt, da sie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt.

75.      Zusammenfassend würde eine Anwendung des Grundsatzes der Subsidiarität bei einem derart unbestimmten Wortlaut mit der Rechtssicherheit kollidieren, die der Gerichtshof verlangt, wollen die Mitgliedstaaten den im Vertrag von ihnen eingegangenen Verpflichtungen entgehen.

76.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Italienische Republik durch das Einfügen von Vorschriften in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats vom 10. Juni 2004 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 227 Buchst. a und b des Finanzgesetzes gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 EG verstoßen hat.

c)      Zur Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Dekrets im Hinblick auf die Befugnisse aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Decreto-legge Nr. 332

77.      Zur Erinnerung: Die streitige Vorschrift unterstellt Entscheidungen über die Auflösung, den Übergang, den Zusammenschluss, die Aufspaltung, die Verlagerung des Geschäftssitzes ins Ausland oder Änderungen des Gesellschaftszwecks oder der Satzung, durch die die besonderen Befugnisse in den in Rede stehenden öffentlichen Unternehmen aufgehoben oder verändert werden, dem Veto des Finanzministeriums und des Ministeriums für Produktivtätigkeiten.

78.      In Nr. 49 dieser Schlussanträge habe ich mich dafür ausgesprochen, die Fälle, in denen der freie Kapitalverkehr betroffen ist, von denen, die den Bereich der Niederlassungsfreiheit berühren, klarer abzugrenzen, und damit ihre automatische Gleichstellung bei ihrer Untersuchung im Licht der durch den EG‑Vertrag garantierten Grundfreiheiten verneint.

79.      In diesem Zusammenhang bin ich davon überzeugt, dass die Maßnahmen, auf die sich Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Decreto-legge Nr. 332 bezieht, der Niederlassungsfreiheit zuzuordnen sind. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird darauf hingewiesen, das auf das Ziel einer nationalen Vorschrift abzustellen ist, um feststellen zu können, ob sie der einen oder der anderen Freiheit zuzuordnen ist(51). Nationale Vorschriften, die anzuwenden sind, wenn ein Angehöriger eines Mitgliedstaats am Kapital einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Beteiligung hält, die es ihm ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, fallen unter die Niederlassungsfreiheit(52).

80.      Allerdings muss derjenige, der derartige Entscheidungen vorschlägt oder fördert, über eine ausreichende Anzahl an Aktien verfügen, um einen Beschluss der Aktionärsversammlung in seinem Sinne herbeiführen zu können, denn nur in dieser Position kann die Mehrheit erreicht werden, die erforderlich ist, um derart nachdrücklich Einfluss auf das Leben eines Unternehmens zu nehmen; tatsächlich könnten bestimmte Entscheidungen sogar das Bestehen der Gesellschaft gefährden, weshalb die nationalen Gesetzgeber Schutzbestimmungen eingeführt haben, nach denen für derartige Beschlüsse eine qualifizierte Mehrheit des in der Aktionärsversammlung vertretenen Kapitals erforderlich ist(53).

81.      Jedenfalls fand die grenzüberschreitende Geldbewegung, die zum Erwerb des Wertpapierpakets führte, vorher und ohne irgendeine Störung statt, so dass der Zusammenhang mit dem freien Kapitalverkehr vollständig zur Schulhypothese wird. Darüber hinaus wurde, wenngleich eine gewisse abschreckende Wirkung der Bestimmungen nicht auszuschließen ist (die dazu führt, dass ein ausländischer Investor sein Interesse an einem Unternehmen verliert, das in seine Satzung eine Bestimmung aufnimmt, die der hier untersuchten entspricht), ein Großteil der einschlägigen Maßnahmen in der Gemeinschaft im Sinne der Niederlassungsfreiheit, konkret gemäß Art. 44 Abs. 2 Buchst. b EG, harmonisiert(54). Dies ist nur logisch, wenn man den Bezug zwischen den Entscheidungen nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Decreto-legge Nr. 332 und dieser Grundfreiheit des Vertrags berücksichtigt.

82.      In jedem Fall lohnt es nicht, näher auf die Einordnung der Maßnahme einzugehen, denn nicht ihre Gültigkeit steht in Frage, sondern die der Kriterien für ihre Ausübung nach dem angefochtenen Dekret. Ungeachtet dessen möchte ich meine volle Überzeugung wiederholen, dass diese Art von Handlungen der Gesellschaftsorgane dem Bereich der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG zuzuordnen ist und nicht dem freien Kapitalverkehr, dessen Einschlägigkeit ich wegen des nur schwachen Bezugs zu diesem nicht erkennen kann, nicht einmal, wenn eine vermeintliche Abschreckungswirkung auf ausländische Fonds gegeben ist.

83.      Um auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Dekrets zurückzukommen: Ich bin der Auffassung, dass mit Ausnahme der Änderung der Gesellschaftssatzung zur Aufhebung oder Änderung besonderer Befugnisse in öffentlichen Unternehmen das Veto gegenüber den sonstigen Handlungen geeignet erscheint, das verfolgte Ziel zu erreichen, denn die Auflösung des Unternehmens und die Änderung seines Gesellschaftszwecks sind z. B. geeignet, die Sicherheit der Energieversorgung und/oder die Erbringung anderer öffentlicher Dienstleistungen entgegen dem legitimen und vitalen Interesse des Mitgliedstaats, der dem Wohlstandsniveau seiner Bürger verpflichtet ist, zu unterbrechen.

84.      Jedoch hege ich ernsthafte Zweifel im Hinblick auf seine Notwendigkeit, denn es gibt Lösungen, die für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes weniger belastend sind, und die die Handlungen der ausländischen Investoren vorhersehbarer machen: Konkret denke ich daran, dass der italienische Staat eine Sperrminorität in den Gesellschaften beibehalten kann, in denen er die Aufrechterhaltung seiner Präsenz für erforderlich hält.

85.      Ich habe bereits das einstimmige Kriterium im europäischen Gesellschaftsrecht erwähnt, das die Wirksamkeit von Entscheidungen wie den in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Decreto-legge Nr. 332 geregelten nicht nur von einer verstärkten oder qualifizierten Mehrheit in der – im allgemeinen außerordentlichen – Aktionärsversammlung abhängig macht, sondern auch von einer Mindeststimmenzahl.

86.      Insoweit und sofern kein Missbrauch betrieben wird, hat das Halten eines Wertpapierpakets, das ausreicht, um jeden Versuch zu unterbinden, in Gesellschaften, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, einen Beschluss mit den hier in Rede stehenden Folgen zur Abstimmung zu stellen, den unzweifelhaften Vorteil, die allgemeinen Interessen, die die jeweiligen Verwaltungsvorschriften verfolgen, dem Modell des nationalen Gesellschaftsrechts anzupassen, ohne dabei das Gemeinschaftsrecht zu verletzen. In fast allen Fällen bringt eine solche Lösung keine zusätzlichen Kosten für den Staat mit sich, denn es geht nicht um den Erwerb eines konkreten Kapitalvolumens, sondern darum, dass sich die Behörden wegen der Besonderheiten solcher Gesellschaften, die bis vor Kurzem unter der vollständigen Kontrolle der Regierung standen, nur von einer Aktienmenge trennen, die nicht über das hinausgeht, was es ihnen erlaubt, weiterhin das Schicksal dieser Unternehmen zu bestimmen.

87.      Da es legitim ist, dass sich der Staat verpflichtet fühlt, die Kontinuität und die Stabilität der Versorgung und der Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen zu kontrollieren, hindert ihn auch nichts daran, die Regulierungsbehörden für den Energiemarkt, den Markt für Telekommunikation und für andere Märkte mit den nötigen Befugnissen auszustatten, um beispielsweise darüber zu wachen, dass die Auflösung einer Elektrizitätsgesellschaft, die zum Verschwinden eines Lieferanten derart wichtiger Güter und Dienstleistungen führt, keine Folgen für die Bürger hat.

88.      Zusammenfassend ist das angefochtene Dekret weder verhältnismäßig in Bezug auf die Befugnisse, deren Ausübung es regeln soll, noch im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht. Demzufolge schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Italienische Republik durch das Einfügen von Vorschriften in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats vom 10. Juni 2004 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 227 Buchst. c des Finanzgesetzes gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen hat.

d)      Schlusswort

89.      Die Klage der Kommission gegen die Italienische Republik betrifft insbesondere den Erwerb von Anteilen von gewisser Relevanz an Gesellschaften, die in Sektoren tätig sind, die als strategisch oder als öffentliche Dienstleistungssektoren betrachtet werden, durch Investoren aus Drittländern, die gelegentlich das Misstrauen der europäischen Regierungen wecken. Dieser Gesichtspunkt wird in der Klagebeantwortung der italienischen Regierung offenkundig, wenn sie darauf hinweist, dass die Kriterien (des angefochtenen Dekrets) nur im Hinblick auf die Eigenschaften des Erwerbers der Aktien konkretisiert werden können(55).

90.      Es wurde sogar vorgebracht, dass sich der zentrale Gedanke der Gesetzgebung zu den „golden shares“ um die Bedingungen dreht, unter denen nichteuropäische Gesellschaften die Vorteile aus dem Eigentum an Unternehmen der sensibelsten Sektoren in Anspruch nehmen dürfen; dabei werden Lösungen wie die Gegenseitigkeit und Vereinbarungen über die Aufnahme von „golden shares“ in die Satzung mit dem Plazet der Aktienmehrheit verworfen(56).

91.      Vor diesem Hintergrund scheint mir die von mir vorgeschlagene These recht gut auf die Sorgen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf Investorengruppen aus Drittländern einzugehen. Wird das nationale Dekret über die Ausübung der besonderen Befugnisse nach Art. 4 Abs. 227 Buchst. a und b des Finanzgesetzes als unverhältnismäßig und damit gegen Art. 56 EG verstoßend disqualifiziert, kann die Italienische Republik die angefochtene Bestimmung weder den Angehörigen der Mitgliedstaaten noch ? wie dargelegt ? wegen der außergemeinschaftlichen Anwendbarkeit des freien Kapitalverkehrs denen von Drittländern entgegenhalten.

92.      Hingegen behalten die Regierungen einen gewissen Bewegungsspielraum, um Investoren von außerhalb der Gemeinschaft mit fragwürdigen Absichten bremsen zu können, indem sie die in Art. 4 Abs. 227 Buchst. c des Finanzgesetzes aufgezählten Handlungen im Hinblick auf diese beschränken; da auf sie Art. 43 EG Anwendung findet, hindert die Unvereinbarkeit des Vetos gegen diese für das Leben des Unternehmens strukturellen Entscheidungen mit der Niederlassungsfreiheit die Mitgliedstaaten nicht daran, es gegenüber den großen außergemeinschaftlichen Anteilseignern auszuüben, denn diese können die Grundfreiheit des Niederlassungsrechts nicht für sich in Anspruch nehmen.

VI – Kosten

93.      Die unterliegende Partei ist nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission einen entsprechenden Antrag gestellt hat und die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

VII – Ergebnis

94.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.      festzustellen, dass die Italienische Republik durch das Einfügen von Vorschriften in Art. 1 Abs. 2 des Dekrets vom 10. Juni 2004 zur Festlegung der Kriterien für die Ausübung der besonderen Befugnisse im Sinne des Art. 2 des Decreto-legge Nr. 332 vom 31. Mai 1994, mit Änderungen umgewandelt in das Gesetz Nr. 474 vom 30. Juli 1994, in der durch das Finanzgesetz geänderten Fassung, in Bezug auf Art. 4 Abs. 227 Buchst. a und b des Finanzgesetzes gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 EG und in Bezug auf Art. 4 Abs. 227 Buchst. c dieses Gesetzes gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG verstoßen hat,

2.      der Italienischen Republik die Kosten aufzuerlegen.


1 – Originalsprache: Spanisch.


2 – Shakespeare, W., Der Kaufmann von Venedig, 2. Akt, 7. Szene.


3 – Urteil vom 23. Oktober 2007 (C‑112/05, Slg. 2007, I‑8995) und meine am 13. Februar 2007 verlesenen Schlussanträge.


4 – Van Bekkum, J., Kloosterman, J., Winter, J., „Golden Shares and European Company Law: the Implications of Volkswagen“, European Company Law, Band 5/1, Februar 2008, S. 8.


5 – Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages (ABl. L 178, S. 5).


6 – Abschnitt I Nr. 2 des Anhangs.


7 – Abschnitt III Buchst. A Nr.1 des Anhangs.


8 – Gesetz Nr. 350/2003 vom 24. Dezember 2003 (GURI Nr. 299 vom 27. Dezember 2003).


9 – GURI Nr. 126 vom 1. Juni 1994.


10 – GURI Nr. 177 vom 30. Juli 1994.


11 – GURI Nr. 139 vom 16. Juni 2004.


12 – Urteil vom 23. Mai 2000, Kommission/Italien (C‑58/99, Slg. 2000, I‑3811).


13 – Konkret in den Nrn. 4 und 14 e contrario der Klagebeantwortung sowie 2, 4 und 43 a. E. der Gegenerwiderung.


14 – Nrn. 3 ff. dieses Schriftsatzes.


15 – In Nr. 5 der Erwiderung.


16 – Zum Beispiel die Urteile vom 11. Mai 1989, Kommission/Deutschland (76/86, Slg. 1989, 1021, Randnr. 8), vom 20. März 1997, Kommission/Deutschland (C-96/95, Slg. 1997, I‑1653, Randnr. 22), vom 11. Juni 1998, Kommission/Luxemburg (C‑206/96, Slg. 1998, I‑3401, Randnr. 13), und vom 24. Juni 2004, Kommission/Niederlande (C‑350/02, Slg. 2004, I‑6213, Randnrn. 19 und 20).


17 – Schreiben der Kommission an die Ständige Vertretung der Italienischen Republik vom 6. Februar 2003.


18 – Schreiben der Kommission an die Ständige Vertretung vom 18. Oktober 2005.


19 – S. 7, vorletzter Absatz, des Mahnschreibens, und S. 6, letzter Absatz, der mit Gründen versehenen Stellungnahme.


20 – Urteil vom 16. September 1997, Kommission/Italien (C‑279/94, Slg. 1997, I‑4743, Randnr. 25).


21 – Urteile vom 4. Juni 2002, Kommission/Portugal (C‑367/98, Slg. 2002, I‑4731), Kommission/Frankreich (C‑483/99, Slg. 2002, I‑4781) und Kommission/Belgien (C‑503/99, Slg. 2002, I‑4809); die Schlussanträge in diesen Rechtssachen wurden am 3. Juli 2001 verlesen.


22 – Urteile vom 13. Mai 2003, Kommission/Spanien (C‑463/00, Slg. 2003, I‑4581) und Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑98/01, Slg. 2003, I‑4641); die Schlussanträge in diesen Rechtssachen wurden am 6. Februar 2003 verlesen.


23 – Auch meine Schlussanträge in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Deutschland, in Fn. 3 angeführt, erging, Nrn. 47 ff.


24 – Zum Beispiel in den Urteilen Kommission/Spanien, Randnr. 66, und vom 6. Dezember 2007, Federconsumatori u. a. (C‑463/04 und C‑464/04, Slg. 2007, I‑10479, Randnr. 41).


25 – Urteile Kommission/Spanien, Randnr. 67, Kommission/Frankreich, Randnr. 44, und Kommission/Belgien, Randnr. 44.


26 – Schlussanträge in den Rechtssachen Kommission/Portugal, Kommission/Frankreich und Kommission/Belgien, Nr. 67, sowie in den Rechtssachen Kommission/Spanien und Kommission/Vereinigtes Königreich, Nr. 37.


27 – Schwarze, J., European Administrative Law, Ed. Sweet & Maxwell, 1. überarbeitete Aufl., London, 2006, S. 679.


28 – Kommission/Spanien und Kommission/Vereinigtes Königreich, Nr. 37.


29 – Schlussanträge in den Rechtssachen Kommission/Spanien und Kommission/Vereinigtes Königreich, Nr. 36; ebenso meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Deutschland, in Fn. 3 angeführt, Nrn. 58 und 59.


30 – Urteile Kommission/Portugal und Kommission/Frankreich, Randnr. 56. Ebenso das Urteil Kommission/Niederlande, Randnr. 43.


31 – Schlussanträge in den Rechtssachen Kommission/Spanien und Kommission/Vereinigtes Königreich, Nr. 36.


32 – Velasco San Pedro, L. A., und Sánchez Felipe, J. M., La libertad de establecimiento de las sociedades en la UE. El Estado de la cuestión después de la SE, Revista de derecho de sociedades, Nr. 19, Jahrgang 2002-2, S. 31.


33 – Zum Beispiel das Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Spanien (C‑207/07, Slg. 2008, I‑0000, Randnr. 31).


34 – Der Kommission zufolge, die von der italienischen Regierung in diesem Punkt nicht widerlegt wurde, wurde die Klausel bezüglich der Ausübung der besonderen Befugnisse den Satzungen der Gesellschaften ENI Spa (Energie und Petrochemie), Telecom Italia (Telekommunikation), Enel Spa (Elektrizität) und Finameccanica Spa (Verteidigung) hinzugefügt.


35 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG – Erklärungen zu Stilllegungen und Abfallbewirtschaftungsmaßnahmen (ABl. L 176, S. 37).


36 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57).


37 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und ‑dienste (Rahmenrichtlinie) (ABl. L 108, S. 33), die die Kommission gemeinsam mit der Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie) (ABl. L 108, S. 51) zitiert.


38 – Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, b, c, d und e des angefochtenen Dekrets.


39 – Tridimas, T., The General Principles of EU Law, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2006, S. 193; Galetta, D.‑U., Principio di proporzionalità e sindacato giurisdizionale nel diritto amministrativo, Giuffrè Editore, Mailand, 1998, S. 103 ff.


40 – In beiden Fällen kann das Wirtschaftsministerium diesen Prozentsatz durch Dekret herabsetzen.


41 – Richtlinie des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages.


42 – Urteil vom 16. März 1999, Trummer und Mayer (C‑222/97, Slg. 1999, I‑1661, Randnr. 21), und die bereits zitierten Urteile Kommission/Frankreich, Randnrn. 36 und 37, und Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnrn. 39 und 40.


43 – Urteile Kommission/Frankreich, Randnr. 41, vom 2. Juni 2005, Kommission/Italien (C‑174/04, Slg. 2006, I‑4933, Randnrn. 30 und 31), und vom 19. Januar 2006, Bouanich (C‑265/04, Slg. 2006, I‑923, Randnrn. 34 und 35).


44 – Ich gehe von der allgemein akzeptierten Annahme aus, dass die Untersuchung der Verhältnismäßigkeit zwei Prüfungen umfasst: die der Geeignetheit der zu prüfenden Bestimmung im Hinblick auf die verfolgten Ziele und die der Erforderlichkeit der Bestimmung, die im Gemeinschaftsrecht üblicherweise als „weniger restriktive Maßnahme“ bezeichnet wird; auf dieser Linie Sarmiento Ramírez-Escudero, D., El control de proporcionalidad de la actividad administrativa, Ed. Tirant lo Blanch, Valencia, 2004, S. 641 ff.


45 – Dass diese Feststellung überhaupt erforderlich ist, erstaunt angesichts dessen, dass nach Fromont, M., Droit administratif des États européens, Thémis droit puf, Paris, 2006, S. 294, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im italienischen Recht im Allgemeinen mit dem Grundsatz der Angemessenheit assoziiert wird.


46 – Art. 3 Abs. 2 in Verbindung mit dem 27. Erwägungsgrund der Gasrichtlinie und Art. 3 in Verbindung mit dem 26. Erwägungsgrund der Elektrizitätsrichtlinie; darüber hinaus regelt die Richtlinie 2002/22/EG den Universaldienst und die sich aus ihm ergebenden Pflichten; dies stellt nur einen Bereich des öffentlichen Dienstes dar. Vgl. auch Pießcalla, M., Goldene Aktien aus EG‑rechtlicher Sicht – Eine Untersuchung staatlicher und privater Sonderrechte in Wirtschaftsgesellschaften unter besonderer Berücksichtigung der Kapitalverkehrsfreiheit, Verlag Dr. Kovac, Hamburg, 2006, S. 202.


47 – Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, das dem EG-Vertrag durch den Vertrag von Amsterdam beigefügt worden ist; Punkt 2.


48 – Urteil vom 28. Oktober 1975, Rutili (36/75, Slg. 1975, 1219, Randnrn. 26 und 27).


49 – Urteil vom 14. März 2000, Église de scientologie und Scientology International (C‑54/99, Slg. 2000, I‑1335, Randnrn. 19 bis 23).


50 – Rechtssachen C‑483/99, Kommission/Frankreich, Randnrn. 50 und 52, und C‑463/00, Kommission/Spanien, Randnr. 74.


51 – Urteile vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (C‑196/04, Slg. 2006, I‑7995, Randnrn. 31 bis 33), vom 3. Oktober 2006, Fidium Finanz (C‑452/04, Slg. 2006, I‑9521, Randnrn. 34 und 44 bis 49), vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C‑374/04, Slg. 2006, I‑11673, Randnrn. 37 und 38), und vom 17. Juli 2008, Kommission/Spanien, Randnr. 35.


52 – Urteile vom 13. April 2000, Baars (C‑251/98, Slg. 2000, I‑2787, Randnr. 22), vom 21. November 2002, X und Y (C‑436/00, Slg. 2002, I‑10829, Randnr. 37), und vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, Randnr. 31.


53 – Art. 59 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) (ABl. L 294, S. 1), Art. 39 Abs. 1 des dritten Vorschlags für die fünfte Richtlinie von 1991 über den Aufbau der Aktiengesellschaften und die Befugnisse und Pflichten ihrer Organe, gestützt auf Art. 54 des EG-Vertrags (KOM[1991] 372 endg.); als Beispiele aus den nationalen Rechtsordnungen auch Art. 153 und 239 des französischen Gesetzes Nr. 66‑537 über Handelsgesellschaften vom 24. Juli 1966, u. a. §§ 179 Abs. 2, 182 Abs. 1, 193 Abs. 1 und 262 Abs. 1 Nr. 2 des deutschen Aktiengesetzes vom 6. September 1965 (BGBl. I S. 1089), Art. 2364 und 2368 bis 2369a des italienischen Zivilgesetzbuchs sowie Art. 144 Abs. 1 und 260 Abs. 1 Unterabs. 1 des spanischen Texto Refundido de la Ley de Sociedades Anónimas (kodifizierte Fassung des Gesetzes über Aktiengesellschaften), der durch das Real Decreto Legislativo 1564/1989 vom 22. Dezember 1989 gebilligt worden ist.


54 – Es sind im Wesentlichen die folgenden Regelungen, deren genaue Bezeichnung nicht wiedergegeben wird, um zu vermeiden, dass diese Fußnote übermäßig lang wird; ich beschränke mich auf die Angabe ihrer Nummer und der Fundstelle im Amtsblatt: Richtlinie 68/151/EWG (ABl. L 65, S. 8), Richtlinie 77/91/EWG (ABL. L 26, S. 1), Richtlinie 78/855/EWG (ABl. L 295, S. 36), Richtlinie 78/660/EWG (ABl. L 222, S. 11), Richtlinie 82/891/EWG (ABl. L 378, S. 47), Richtlinie 83/349/EWG (ABl. L 193, S. 1), Richtlinie 84/253/EWG (ABl. L 126, S. 20), Richtlinie 89/666/EWG (ABl. L 395, S. 36), Richtlinie 89/667/EWG (ABl. L 395, S. 40), Richtlinie 2004/25/EG (ABl. L 142, S. 12), Richtlinie 2005/56/EG (ABl. L 310, S. 1), Richtlinie 2007/36/EG (ABl. L 184, S. 17), und Richtlinie 2007/63/EG (ABl. L 300, S. 47).


55 – Nrn. 26 ff. der Klagebeantwortung.


56 – Goldschmidt, P. N., „Editorial – Golden Shares“, Cahiers de droit européen, 2007, Nr. 3/4, S. 297. Für die Gegenseitigkeit hingegen Weiss, M., „Staatlicher Schutz vor Investitionen nach dem Urteil zum VW‑Gesetz“, EWS, 2008, Nr. 1/2, S. 20.