Language of document : ECLI:EU:C:2017:129

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

16. Februar 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Selbständige Handelsvertreter – Richtlinie 86/653/EWG – Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten – Belgisches Umsetzungsgesetz – Handelsvertretervertrag – In Belgien ansässiger Unternehmer und in der Türkei ansässiger Handelsvertreter – Rechtswahlklausel zugunsten des belgischen Rechts – Unanwendbares Gesetz – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Vereinbarkeit“

In der Rechtssache C‑507/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank van Koophandel te Gent (Handelsgericht Gent, Belgien) mit Entscheidung vom 3. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2015, in dem Verfahren

Agro Foreign Trade & Agency Ltd

gegen

Petersime NV

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Agro Foreign Trade & Agency Ltd, vertreten durch A. Hansebout und C. Vermeersch, advocaten,

–        der Petersime NV, vertreten durch V. Pede, S. Demuenynck und J. Vanherpe, advocaten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von E. De Gryse, avocat, und E. de Duve, advocaat,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Ronkes Agerbeek, M. Wilderspin und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Oktober 2016

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. 1986, L 382, S. 17) sowie des von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichneten und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Assoziierungsabkommen).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agro Foreign Trade & Agency Ltd (im Folgenden: Agro) mit Sitz in der Türkei und der Petersime NV mit Sitz in Belgien über verschiedene Ausgleichszahlungen, die Petersime infolge ihrer Kündigung des Handelsvertretervertrags zwischen diesen beiden Gesellschaft angeblich schuldet.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 86/653

3        In den Erwägungsgründen 2 und 3 der Richtlinie 86/653 heißt es:

Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der Gemeinschaft spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter in ihren Beziehungen zu ihren Unternehmen sowie die Sicherheit im Handelsverkehr. Diese Unterschiede erschweren im Übrigen auch erheblich den Abschluss und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmer und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.

Der Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten muss unter Bedingungen erfolgen, die denen eines Binnenmarktes entsprechen, weswegen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in dem zum guten Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen Umfang angeglichen werden müssen. Selbst vereinheitlichte Kollisionsnormen auf dem Gebiet der Handelsvertretung können die erwähnten Nachteile nicht beseitigen und lassen daher einen Verzicht auf die vorgeschlagene Harmonisierung nicht zu.“

4        In den Art. 17 und 18 der Richtlinie werden die Bedingungen festgelegt, unter denen der Handelsvertreter Anspruch auf einen Ausgleich oder Ersatz des Schadens hat, der ihm durch die Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer entstanden ist.

5        In Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen dafür, dass der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf Ausgleich … oder Schadensersatz … hat.“

 Assoziierungsabkommen

6        Nach Art. 2 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstands und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.

7        Dazu sieht das Assoziierungsabkommen in Art. 3 eine Vorbereitungsphase, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen, in Art. 4 eine Übergangsphase, in der die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken vorgesehen ist, und in Art. 5 eine auf der Zollunion beruhende Endphase vor, die eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Vertragsparteien einschließt.

8        Art. 14 in Titel II („Durchführung der Übergangsphase“) des Assoziierungsabkommens sieht vor:

„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [51, 52, 54, 56 bis 61 AEUV] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs aufzuheben.“

 Zusatzprotokoll

9        Das dem Assoziierungsabkommen beigefügte und am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. 1972, L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll), das nach seinem Art. 62 Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist, legt nach Art. 1 die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Art. 4 des Abkommens genannten Übergangsphase fest.

10      Das Zusatzprotokoll enthält einen Titel II („Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“), dessen Kapitel II „Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr“ betrifft.

11      Art. 41 Abs. 1 in Titel II Kapitel II des Zusatzprotokolls lautet:

„Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“

 Belgisches Recht

12      Mit der Wet betreffende de handelsagentuurovereenkomst (Gesetz über den Handelsvertretervertrag) vom 13. April 1995 (Belgisch Staatsblad vom 2. Juni 1995, S. 15621, im Folgenden: Gesetz von 1995) soll die Richtlinie 86/653 in belgisches Recht umgesetzt werden.

13      Art. 27 des Gesetzes von 1995 lautet:

„Vorbehaltlich der Anwendung internationaler Vereinbarungen, bei denen Belgien Partei ist, unterliegt jede Tätigkeit eines Handelsvertreters mit Hauptniederlassung in Belgien dem belgischen Gesetz und gehört zum Zuständigkeitsbereich der belgischen Gerichte.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14      Agro ist eine Gesellschaft türkischen Rechts mit Sitz in Ankara (Türkei), die im Import und Vertrieb landwirtschaftlicher Erzeugnisse tätig ist. Petersime ist eine Gesellschaft belgischen Rechts mit Sitz in Olsene (Belgien), die in der Entwicklung, Herstellung und Lieferung von Brutbetrieben und Zubehör für den Geflügelmarkt tätig ist.

15      Am 1. Juli 1992 schloss Petersime einen Handelsvertretervertrag mit der Rechtsvorgängerin von Agro, in deren Rechtsstellung Agro gemäß einem am 1. August 1996 unterzeichneten Vertrag selbst eintrat. Nach diesem Vertrag übertrug Petersime in ihrer Eigenschaft als Unternehmerin Agro in ihrer Eigenschaft als Handelsvertreterin die Exklusivrechte für den Verkauf ihrer Produkte in der Türkei. Der ursprünglich für eine Laufzeit von einem Jahr geschlossene Vertrag sah jedes Jahr seine automatische Verlängerung um jeweils zwölf Monate vor, es sei denn, er würde mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten vor Ablauf der Einjahresfrist von einer der Parteien durch eingeschriebenen Brief gekündigt. Ferner sah der Vertrag vor, dass dieser dem belgischen Recht unterliegen und nur die Gerichte in Gent (Belgien) im Streitfall zuständig sein sollten.

16      Petersime teilte Agro mit Schreiben vom 26. März 2013 die Kündigung des Handelsvertretervertrags zum 30. Juni 2013 mit. Am 5. März 2014 erhob Agro bei der Rechtbank van Koophandel te Gent (Handelsgericht Gent, Belgien) Klage auf Verurteilung von Petersime zur Zahlung einer Entschädigung für die Vertragskündigung und einer Ausgleichsabfindung sowie zur Rücknahme restlichen Lagerbestands und zur Zahlung der noch offenen Forderungen.

17      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass sich Agro zur Stützung ihrer Anträge auf den Schutz beruft, den das Gesetz von 1995 für den Handelsvertreter vorsieht. Hierzu macht Agro geltend, dass die Bestimmungen dieses Gesetzes im vorliegenden Fall anwendbar seien, da die Parteien für den von ihnen geschlossenen Vertrag rechtsgültig das belgische Recht gewählt hätten. Petersime hingegen macht geltend, dass nur das allgemeine belgische Recht anzuwenden sei, da das Gesetz von 1995 nur insoweit anwendbar sei, als der Handelsvertreter in Belgien tätig sei, was vorliegend nicht der Fall sei.

18      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Parteien das anwendbare Recht, im vorliegenden Fall das belgische, ausdrücklich gewählt hätten. Dies beinhalte jedoch nicht die Anwendung des Gesetzes von 1995, da sich der räumliche Anwendungsbereich dieses Gesetzes auf Handelsvertreter mit Hauptniederlassung in Belgien beschränke. Art. 27 des Gesetzes von 1995, wie er im belgischen Recht ausgelegt werde, führe nämlich zu dem Schluss, dass dieses Gesetz selbstbeschränkend sei, so dass es seinen zwingenden Charakter verliere, wenn der Handelsvertreter keine Hauptniederlassung in Belgien habe; dies gelte unabhängig von der Tatsache, dass die Parteien eventuell das belgische Recht im Allgemeinen zum anwendbaren Recht bestimmt hätten.

19      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank van Koophandel te Gent (Handelsgericht Gent) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist das Gesetz von 1995, das die Richtlinie 86/653 in belgisches nationales Recht umsetzt, mit dieser Richtlinie und/oder den Bestimmungen des Assoziierungsabkommens, das ausdrücklich den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zum Ziel hat, und/oder den Verpflichtungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union zur Beseitigung von Beschränkungen in Bezug auf den freien Dienstleistungsverkehr zwischen ihnen vereinbar, wenn dieses Gesetz bestimmt, dass es nur auf Handelsvertreter mit Hauptniederlassung in Belgien Anwendung findet, und nicht anwendbar ist, wenn ein in Belgien ansässiger Unternehmer und ein in der Türkei ansässiger Handelsvertreter eine ausdrückliche Rechtswahl zugunsten des belgischen Rechts getroffen haben?

 Zur Vorlagefrage

20      Zunächst ist festzustellen, dass die beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen hinsichtlich der Auslegung von Art. 27 des Gesetzes von 1995, das die Richtlinie 86/653 umsetzt, und der Anwendung dieses Gesetzes auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens eine Meinungsverschiedenheit erkennen lassen.

21      Die Parteien des Ausgangsverfahrens sind nämlich wie das vorlegende Gericht der Auffassung, dass das Gesetz von 1995 nach seinem Art. 27, wie er in der belgischen Rechtsordnung ausgelegt werde, auf einen Handelsvertretervertrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht anwendbar sei, bei dem der Unternehmer in Belgien und der Handelsvertreter in der Türkei ansässig sei, wo er die sich aus dem Vertrag ergebende Tätigkeit ausübe, so dass sich der Handelsvertreter unter solchen Umständen nicht auf den Schutz berufen könne, den dieses Gesetz im Fall der Kündigung dieses Vertrags vorsehe, auch wenn die Parteien des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrags das belgische Recht als das für diesen Vertrag geltende Recht bestimmt hätten.

22      Die belgische Regierung hingegen trägt vor, dass Art. 27 des Gesetzes von 1995 nicht den selbstbeschränkenden Charakter habe, den ihm das vorlegende Gericht zuschreibe, so dass dieses Gesetz auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in der ein in Belgien ansässiger Unternehmer und ein in der Türkei ansässiger Handelsvertreter ausdrücklich das belgische Recht als anzuwendendes Recht bestimmt hätten, anwendbar sei.

23      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf die Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts grundsätzlich gehalten ist, die sich aus der Vorlageentscheidung ergebenden Qualifizierungen zugrunde zu legen. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof nämlich nicht befugt, das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats auszulegen (Urteil vom 17. März 2011, Naftiliaki Etaireia Thasou und Amaltheia I Naftiki Etaireia, C‑128/10 und C‑129/10, EU:C:2011:163, Rn. 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Folglich ist die Frage des vorlegenden Gerichts unter Zugrundelegung der Prämissen zu beantworten, die aus der Vorlageentscheidung hervorgehen.

25      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 86/653 und/oder das Assoziierungsabkommen dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, mit der diese Richtlinie in das Recht des betreffenden Mitgliedstaats umgesetzt wird und die einen Handelsvertretervertrag, bei dem der Handelsvertreter in der Türkei ansässig ist, wo er die sich aus dem Vertrag ergebenden Tätigkeiten ausübt, und der Unternehmer in diesem Mitgliedstaat ansässig ist, von ihrem Anwendungsbereich ausschließt, so dass sich der Handelsvertreter unter solchen Umständen nicht auf die Rechte berufen kann, die die Richtlinie Handelsvertretern nach der Beendigung eines solchen Handelsvertretervertrags einräumt.

 Richtlinie 86/653

26      Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts in Bezug auf die Richtlinie 86/653 ist zu prüfen, ob ein Handelsvertreter, der die sich aus einem Handelsvertretervertrag, dessen Unternehmer wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens in einem Mitgliedstaat ansässig ist, ergebenden Tätigkeiten in der Türkei ausübt, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.

27      Dieser Fall wird ausdrücklich weder von den Art. 17 und 18 der Richtlinie 86/653 noch von deren anderen Bestimmungen erfasst. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind jedoch bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 20. November 2014, Utopia, C‑40/14, EU:C:2014:2389, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Insoweit steht fest, dass diese Richtlinie die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien eines Handelsvertretervertrags zum Ziel hat (Urteil vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali, C‑465/04, EU:C:2006:199, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Wie sich aus den Erwägungsgründen 2 und 3 der Richtlinie 86/653 ergibt, sollen die von dieser vorgeschriebenen Harmonisierungsmaßnahmen die Interessen der Handelsvertreter gegenüber den Unternehmern schützen, die Beschränkungen der Ausübung des Handelsvertreterberufs aufheben, die Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Union vereinheitlichen, die Sicherheit des Handelsverkehrs fördern und stärken sowie den Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern, indem die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Handelsvertretungen angeglichen werden. Zu diesem Zweck enthält die Richtlinie in den Art. 13 bis 20 u. a. Bestimmungen über Abschluss und Beendigung des Handelsvertretervertrags (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Oktober 2013, Unamar, C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 3. Dezember 2015, Quenon K., C‑338/14, EU:C:2015:795, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass den Art. 17 und 18 der Richtlinie 86/653 entscheidende Bedeutung zukommt, denn sie definieren das Schutzniveau, das der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Schaffung des Binnenmarkts für die Handelsvertreter für angemessen hielt, und dass die zu diesem Zweck mit dieser Richtlinie eingeführte Regelung zwingendes Recht ist (vgl. Urteil vom 17. Oktober 2013, Unamar, C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 39 und 40).

31      Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass die Regelung der Art. 17 bis 19 dieser Richtlinie bezweckt, über die Gruppe der Handelsvertreter die Niederlassungsfreiheit und einen unverfälschten Wettbewerb im Binnenmarkt zu schützen, so dass die Einhaltung dieser Bestimmungen im Unionsgebiet daher für die Verwirklichung dieser Ziele des AEU-Vertrags unerlässlich erscheint (Urteil vom 9. November 2000, Ingmar, C‑381/98, EU:C:2000:605, Rn. 24).

32      Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass es für die Unionsrechtsordnung von grundlegender Bedeutung ist, dass ein Unternehmer mit Sitz in einem Drittstaat, dessen Handelsvertreter seine Tätigkeit innerhalb der Union ausübt, diese Bestimmungen nicht schlicht durch eine Rechtswahlklausel umgehen kann. Der Zweck dieser Bestimmungen erfordert nämlich, dass sie unabhängig davon, welchem Recht der Vertrag nach dem Willen der Parteien unterliegen soll, anwendbar sind, wenn der Sachverhalt einen starken Unionsbezug aufweist, etwa weil der Handelsvertreter seine Tätigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats ausübt (Urteil vom 9. November 2000, Ingmar, C‑381/98, EU:C:2000:605, Rn. 25).

33      Wenn jedoch wie im vorliegenden Fall der Handelsvertreter seine Tätigkeiten außerhalb der Union ausübt, weist die Tatsache, dass der Unternehmer in einem Mitgliedstaat ansässig ist, für die Zwecke der Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie 86/653 in Anbetracht des von dieser verfolgten Ziels, wie es von der Rechtsprechung des Gerichtshofs präzisiert wurde, keinen hinreichend engen Unionsbezug auf.

34      Für die Vereinheitlichung der Wettbewerbsbedingungen für Handelsvertreter innerhalb der Union ist es nämlich nicht erforderlich, den Handelsvertretern, die außerhalb der Union ansässig sind und dort ihre Tätigkeiten ausüben, einen Schutz zu gewähren, der dem derjenigen Vertreter vergleichbar ist, die innerhalb der Union ansässig sind und/oder dort ihre Tätigkeiten ausüben.

35      Unter diesen Umständen fällt ein Handelsvertreter, der wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens die sich aus einem Handelsvertretervertrag ergebenden Tätigkeiten in der Türkei ausübt, unabhängig von der Tatsache, dass der Unternehmer in einem Mitgliedstaat ansässig ist, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 86/653 und muss daher nicht zwingend in den Genuss des Schutzes kommen, der Handelsvertretern durch diese Richtlinie eingeräumt wird.

36      Folglich sind die Mitgliedstaaten nicht schon allein aufgrund der Richtlinie 86/653 dazu verpflichtet, in Bezug auf Handelsvertreter, die sich in einer wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Lage befinden, Harmonisierungsmaßnahmen zu erlassen, weshalb diese Richtlinie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht.

 Zum Assoziierungsabkommen

37      Soweit sich das vorlegende Gericht fragt, ob im Licht der im Rahmen des Assoziierungsabkommens bestehenden Verpflichtungen der Republik Türkei und der Union, zwischen ihnen die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zu beseitigen, die von der Richtlinie 86/653 vorgesehene Schutzregelung auf einen in der Türkei ansässigen Handelsvertreter, dessen Unternehmer in einem Mitgliedstaat ansässig ist, anwendbar ist, ist zu prüfen, ob sich die Anwendung der Richtlinie 86/653 auf in der Türkei ansässige Handelsvertreter aus den Bestimmungen des Assoziierungsabkommens, die solche Verpflichtungen betreffen, nämlich Art. 14 dieses Abkommens und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, ergibt.

38      Was Art. 14 des Assoziierungsabkommens anbelangt, geht zwar aus dem Wortlaut dieser Bestimmung sowie aus dem Zweck dieses Abkommens hervor, dass die im Rahmen der Art. 45 und 46 AEUV sowie im Rahmen der Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Staatsangehörigen übertragen werden sollen, um zwischen den Vertragsparteien die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zu beseitigen (Urteil vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a., C‑317/01 und C‑369/01, EU:C:2003:572, Rn. 112 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Jedoch kann die den unionsrechtlichen Vorschriften über den Binnenmarkt, einschließlich der Vertragsbestimmungen, gegebene Auslegung nicht automatisch auf die Auslegung eines von der Union mit einem Drittstaat geschlossenen Abkommens übertragen werden, sofern dies nicht im Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen ist (Urteil vom 24. September 2013, Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Verwendung des Verbs „sich leiten lassen“ in Art. 14 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien nicht verpflichtet, die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr oder die zu ihrer Durchführung erlassenen Bestimmungen als solche anzuwenden, sondern nur, sie als Inspirationsquelle für die Maßnahmen zu betrachten, die zur Erreichung der in diesem Abkommen festgelegten Ziele zu erlassen sind (Urteil vom 24. September 2013, Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 45).

41      Ferner hat der Gerichtshof speziell hinsichtlich der Assoziation zwischen der Union und der Republik Türkei bereits entschieden, dass zur Feststellung, ob sich eine Vorschrift des Unionsrechts für eine entsprechende Anwendung im Rahmen dieser Assoziation eignet, Zweck und Kontext des Assoziierungsabkommens mit Zweck und Kontext des betreffenden Unionsrechtsakts zu vergleichen sind (Urteil vom 24. September 2013, Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 48).

42      Es ist indes darauf hinzuweisen, dass das Assoziierungsabkommen und das Zusatzprotokoll im Wesentlichen die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei begünstigen sollen und somit einen ausschließlich wirtschaftlichen Zweck verfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2013, Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 50).

43      Die Entwicklung der wirtschaftlichen Freiheiten zur Ermöglichung einer generellen Freizügigkeit, die mit der nach Art. 21 AEUV für die Unionsbürger geltenden vergleichbar wäre, ist nicht Gegenstand des Assoziierungsabkommens. Ein allgemeiner Grundsatz der Freizügigkeit zwischen der Türkei und der Union ist nämlich weder in diesem Abkommen noch im Zusatzprotokoll vorgesehen. Das Assoziierungsabkommen garantiert im Übrigen die Inanspruchnahme bestimmter Rechte nur im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2013, Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 53).

44      Dagegen beruht im Rahmen des Unionsrechts der Schutz der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit mittels der von der Richtlinie 86/653 vorgesehenen Regelung für Handelsvertreter auf dem Ziel, einen als Raum ohne Binnengrenzen konzipierten Binnenmarkt zu schaffen, indem alle der Schaffung eines solchen Marktes entgegenstehenden Hemmnisse abgebaut werden.

45      Somit verhindern die zwischen den Verträgen und dem Assoziierungsabkommen bestehenden Unterschiede hinsichtlich des von ihnen verfolgten Ziels, dass davon ausgegangen werden kann, dass sich im Rahmen dieses Abkommens die von der Richtlinie 86/653 vorgesehene Schutzregelung für Handelsvertreter auf in der Türkei ansässige Handelsvertreter erstreckt.

46      Die Tatsache, dass – wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht – die Republik Türkei diese Richtlinie in ihr nationales Recht umgesetzt hat, ändert nichts an der vorstehenden Schlussfolgerung, da sich diese Umsetzung nicht aus einer durch das Assoziierungsabkommen auferlegten Verpflichtung ergibt, sondern aus dem Willen dieses Drittstaats.

47      Was Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls betrifft, verbieten nach ständiger Rechtsprechung die Stillhalteklauseln, die in Art. 13 des dem Assoziierungsabkommen beigefügten Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation und in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthalten sind, allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit durch einen türkischen Staatsangehörigen in dem betreffenden Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses oder des Zusatzprotokolls in diesem Mitgliedstaat galten (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C‑561/14, EU:C:2016:247, Rn. 33).

48      Daraus folgt, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nur die türkischen Staatsangehörigen betrifft, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen oder dort Dienstleistungen zu erbringen.

49      Folglich fällt ein in der Türkei ansässiger Handelsvertreter, der wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens im betreffenden Mitgliedstaat keine Dienstleistungen erbringt, nicht in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmung.

50      Es ist daher nicht erforderlich zu prüfen, ob das Gesetz von 1995 eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellt.

51      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das Assoziierungsabkommen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen auch nicht entgegensteht.

52      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 86/653 und das Assoziierungsabkommen dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, mit der diese Richtlinie in das Recht des betreffenden Mitgliedstaats umgesetzt wird und die einen Handelsvertretervertrag, bei dem der Handelsvertreter in der Türkei ansässig ist, wo er die sich aus dem Vertrag ergebenden Tätigkeiten ausübt, und der Unternehmer in diesem Mitgliedstaat ansässig ist, von ihrem Anwendungsbereich ausschließt, so dass sich der Handelsvertreter unter solchen Umständen nicht auf die Rechte berufen kann, die die Richtlinie Handelsvertretern nach der Beendigung eines solchen Handelsvertretervertrags einräumt.

 Kosten

53      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter sowie das von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, mit der diese Richtlinie in das Recht des betreffenden Mitgliedstaats umgesetzt wird und die einen Handelsvertretervertrag, bei dem der Handelsvertreter in der Türkei ansässig ist, wo er die sich aus dem Vertrag ergebenden Tätigkeiten ausübt, und der Unternehmer in diesem Mitgliedstaat ansässig ist, von ihrem Anwendungsbereich ausschließt, so dass sich der Handelsvertreter unter solchen Umständen nicht auf die Rechte berufen kann, die die Richtlinie Handelsvertretern nach der Beendigung eines solchen Handelsvertretervertrags einräumt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.