Language of document : ECLI:EU:C:2012:801

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

13. Dezember 2012(*)

„Richtlinie 2004/18/EG – Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d – Richtlinie 2004/17/EG – Art. 53 Abs. 3 und Art. 54 Abs. 4 – Öffentliche Aufträge – Sektor für Postdienste – Kriterien für den Ausschluss vom Vergabeverfahren – Schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit – Schutz des öffentlichen Interesses – Erhaltung des lauteren Wettbewerbs“

In der Rechtssache C‑465/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Krajowa Izba Odwoławcza (Polen) mit Entscheidung vom 30. August 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 9. September 2011, in dem Verfahren

Forposta SA,

ABC Direct Contact sp. z o.o.

gegen

Poczta Polska SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Richters K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis, J. Malenovský und T. von Danwitz,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Forposta SA und der ABC Direct Contact sp. z o.o., vertreten durch P. Gruszczyński und A. Starczewska-Galos, radcy prawni,

–        der Poczta Polska SA, vertreten durch P. Burzyński und H. Kornacki, radcy prawni,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, B. Majczyna, M. Laszuk und E. Gromnicka als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und A. Tokár als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114) in Verbindung mit Art. 53 Abs. 3 und Art. 54 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. L 134, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits der Forposta SA, vormals Praxis sp. z o.o., und der ABC Direct Contact sp. z o.o. gegen die Poczta Polska SA (im Folgenden: Poczta Polska) wegen einer Entscheidung von Poczta Polska, mit der sie die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens von einem von ihr eingeleiteten Vergabeverfahren ausgeschlossen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Kapitel VII Abschnitt 2 („Eignungskriterien“) der Richtlinie 2004/18 enthält Art. 45 („Persönliche Lage des Bewerbers bzw. Bieters“). In dessen Abs. 1 werden die Kriterien genannt, die zwingend zu einem Ausschluss des Bewerbers oder Bieters in einem Vergabeverfahren führen, während in Abs. 2 die Kriterien genannt werden, die zu einem solchen Ausschluss führen können. Abs. 2 lautet:

„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

a)      der sich im Insolvenz-/Konkursverfahren oder einem gerichtlichen Ausgleichsverfahren oder in Liquidation befindet oder seine gewerbliche Tätigkeit eingestellt hat oder sich in einem Vergleichsverfahren oder Zwangsvergleich oder aufgrund eines in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen gleichartigen Verfahrens in einer entsprechenden Lage befindet;

b)      gegen den ein Insolvenz-/Konkursverfahren oder ein gerichtliches Ausgleichsverfahren oder ein Vergleichsverfahren oder ein Zwangsvergleich eröffnet wurde oder gegen den andere in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehene gleichartige Verfahren eingeleitet worden sind;

c)      die aufgrund eines nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Landes rechtskräftigen Urteils wegen eines Deliktes bestraft worden sind, das ihre berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellt;

d)      die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde;

e)      die ihre Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, oder des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllt haben;

f)      die ihre Verpflichtung zur Zahlung der Steuern und Abgaben nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, oder des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllt haben;

g)      die sich bei der Erteilung von Auskünften, die gemäß diesem Abschnitt eingeholt werden können, in erheblichem Maße falscher Erklärungen schuldig gemacht oder diese Auskünfte nicht erteilt haben.

Die Mitgliedstaaten legen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.“

4        Abschnitt 1 des Kapitels VII der Richtlinie 2004/17 ist mit „Prüfung und qualitative Auswahl“ überschrieben. Art. 53 („Prüfungssysteme“), der zu diesem Abschnitt gehört, sieht vor:

„(1)      Auftraggeber, die dies wünschen, können ein Prüfungssystem für Wirtschaftsteilnehmer einrichten und verwalten.

Auftraggeber, die ein Prüfungssystem einrichten oder verwalten, stellen sicher, dass die Wirtschaftsteilnehmer jederzeit eine Prüfung verlangen können.

(3)      Die in Absatz 2 genannten Prüfkriterien und ‑regeln können auch die in Artikel 45 der Richtlinie 2004/18/EG aufgeführten Ausschlusskriterien gemäß den darin genannten Bedingungen beinhalten.

Handelt es sich um einen Auftraggeber im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a, umfassen diese Kriterien und Regeln die in Artikel 45 Absatz 1 der Richtlinie 2004/18/EG genannten Ausschlusskriterien.

…“

5        Art. 54 („Eignungskriterien“) der Richtlinie 2004/17, der ebenfalls zu Kapitel VII Abschnitt 1 gehört, bestimmt in seinen Abs. 1 und 4:

„(1)      Auftraggeber, die die Eignungskriterien in einem offenen Verfahren festlegen, müssen dies entsprechend den objektiven Kriterien und Regeln tun, die den interessierten Wirtschaftsteilnehmern zugänglich sind.

(4)      Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Kriterien können die in Artikel 45 der Richtlinie 2004/18/EG genannten Ausschlussgründe gemäß den darin genannten Bedingungen umfassen.

Handelt es sich bei dem Auftraggeber um einen öffentlichen Auftraggeber im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a, so umfassen die in den Absätzen 1 und 2 dieses Artikels genannten Kriterien die in Artikel 45 Absatz 1 der Richtlinie 2004/18/EG aufgeführten Ausschlusskriterien.“

 Polnisches Recht

6        Das Gesetz vom 29. Januar 2004 über das öffentliche Vergaberecht (Dz. U. Nr. 113, Pos. 759, im Folgenden: Vergaberechtsgesetz) legt die Grundsätze und Verfahren für die Vergabe öffentlicher Aufträge fest und bestimmt die dafür zuständigen Behörden. Mit dem Änderungsgesetz vom 25. Februar 2011 (Dz. U. Nr. 87, Pos. 484), das am 11. Mai 2011 in Kraft getreten ist, wurde in Art. 24 Abs. 1 des Vergaberechtsgesetzes die Nr. 1a eingefügt. Dieser Artikel sieht in der geänderten Fassung vor:

„(1)      Von dem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags werden ausgeschlossen:

1a)      Wirtschaftsteilnehmer, denen gegenüber der Auftraggeber wegen vom Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortender Umstände einen Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags aufgelöst oder gekündigt hat oder von dem Vertrag zurückgetreten ist, wenn die Auflösung oder Kündigung des Vertrags oder der Rücktritt vom Vertrag innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren vor der Einleitung des Vergabeverfahrens erfolgt ist und der Wert des nicht ausgeführten Auftrags mindestens 5 % des Vertragswerts beträgt;

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7        Poczta Polska, eine im Bereich der Postdienste tätige staatseigene Gesellschaft, ist öffentlicher Auftraggeber im Sinne der Richtlinie 2004/17. Sie führte ein offenes Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags für die „Zustellung der nationalen und internationalen Postpakete, der Postpakete Plus, der Nachnahmesendungen und der zu besonderen Konditionen angenommenen Postpakete“ durch. Nach den Feststellungen in der Vorlageentscheidung überschreitet der Auftragswert den Schwellenwert, ab dem die Regeln des Vergaberechts der Union greifen.

8        Die öffentliche Auftraggeberin war der Meinung, dass die Forposta SA und die ABC Direct Contact sp. z o.o. die günstigsten Angebote für einige Lose abgegeben hätten, und bot ihnen den Abschluss eines Vertrags an. Diese Auswahl wurde von keinem Teilnehmer des Verfahrens in Frage gestellt. Poczta Polska hob jedoch am 21. Juli 2011, dem für die Vertragsunterzeichnung angesetzten Termin, die Zuschlagserteilung mit der Begründung auf, dass die Wirtschaftsteilnehmer, die die ausgewählten Angebote abgegeben hätten, nach Art. 24 Abs. 1 Nr. 1a des Vergaberechtsgesetzes zwingend vom Vergabeverfahren auszuschließen seien.

9        Gegen diese Entscheidung legten die beiden betroffenen Gesellschaften einen Rechtsbehelf bei der Krajowa Izba Odwoławcza ein und machten einen Verstoß der nationalen Vorschrift gegen Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 geltend. Die in der nationalen Vorschrift aufgestellten Voraussetzungen hätten eine viel größere Tragweite als die im Unionsrecht genannte Voraussetzung, nach der nur eine „schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ ein Ausschlussgrund sei. Eine solche schwere Verfehlung sei aber im Ausgangsrechtsstreit nicht begangen worden.

10      Das vorlegende Gericht führt aus, der nationale Gesetzgeber habe bei Erlass des Art. 24 Abs. 1 Nr. 1a des Vergaberechtsgesetzes darauf hingewiesen, dass er sich auf Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 stütze. Das Gericht äußert Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit der als Grundlage herangezogenen unionsrechtlichen Vorschrift und begründet diese Zweifel mit den nachstehenden Erwägungen.

11      Erstens sei der in Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 vorgesehene Ausschlussgrund eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit, ein Begriff, der in der juristischen Fachsprache eher auf eine Verletzung der Standesregeln, der Würde des Berufsstands oder der beruflichen Zuverlässigkeit hindeute. Eine solche Verletzung ziehe eine berufliche Haftung desjenigen nach sich, der sie begangen habe, insbesondere durch die Einleitung eines Disziplinarverfahrens durch die zuständigen Berufsorganisationen. Über eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit entschieden also diese Berufsorganisationen oder die Gerichte und nicht die öffentlichen Auftraggeber, wie dies in der fraglichen nationalen Vorschrift vorgesehen sei.

12      Zweitens sei der Begriff der „vom Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortenden“ Umstände in Art. 24 Abs. 1 Nr. 1a des Vergaberechtsgesetzes bedeutend weiter als der Begriff der „vom Wirtschaftsteilnehmer begangenen“ schweren Verfehlung in Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 und sollte daher in Bestimmungen mit Sanktionscharakter nicht vorkommen.

13      Da drittens diese Bestimmung der Richtlinie 2004/18 verlange, dass die Verfehlung „schwer“ sein müsse, werfe dies Zweifel auf, ob eine Nichtausführung in Bezug auf 5 % des Vertragswerts als eine schwere Verfehlung gewertet werden könne. Lägen die Voraussetzungen der im Ausgangsverfahren fraglichen Vorschrift vor, sei der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, den betreffenden Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, ohne dessen individuelle Lage berücksichtigen zu können, was einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Folge haben könne.

14      Viertens schließe die Richtlinie 2004/18 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 16. Dezember 2008, Michaniki, C‑213/07, Slg. 2008, I‑9999, und vom 23. Dezember 2009, Serrantoni und Consorzio stabile edili, C‑376/08, Slg. 2009, I‑12169) nicht aus, dass ein Mitgliedstaat andere als die in Art. 45 Abs. 2 genannten Ausschlussgründe vorsehe, die nicht auf objektiven Erwägungen in Bezug auf die berufliche Eignung der Wirtschaftsteilnehmer beruhten, sofern sie im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig seien. Allerdings stehe das Unionsrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 3. März 2005, Fabricom, C‑21/03 und C‑34/03, Slg. 2005, I‑1559, und vom 15. Mai 2008, SECAP und Santorso, C‑147/06 und C-148/06, Slg. 2008, I‑3565) nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die einen automatischen Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren, eine automatische Ablehnung von Angeboten oder das Ergreifen von Maßnahmen vorsähen, die außer Verhältnis zum angestrebten Ziel stünden. Die fragliche nationale Vorschrift finde aber nicht nur automatisch Anwendung, sondern gehe auch über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, das öffentliche Interesse am Ausschluss tatsächlich unzuverlässiger Wirtschaftsteilnehmer zu schützen, erforderlich sei.

15      In Anbetracht dieser Erwägungen hat die Krajowa Izba Odwoławcza beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 – mit dem Wortlaut: „Von der Teilnahme am Vergabeverfahren [können alle] Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden, … die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde“ – in Verbindung mit Art. 53 Abs. 3 und Art. 54 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 dahin auszulegen, dass es als eine solche schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit gewertet werden kann, wenn der öffentliche Auftraggeber wegen vom Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortender Umstände einen mit ihm geschlossenen Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags aufgelöst oder gekündigt hat oder von dem Vertrag zurückgetreten ist, die Auflösung oder Kündigung des Vertrags oder der Rücktritt vom Vertrag innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren vor der Einleitung des Vergabeverfahrens erfolgt ist und der Wert des nicht ausgeführten Auftrags mindestens 5 % des Vertragswerts beträgt?

2.      Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Falls ein Mitgliedstaat berechtigt ist, andere als die in Art. 45 der Richtlinie 2004/18 aufgezählten Gründe für den Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern von der Teilnahme an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags einzuführen, die er zum Schutz des öffentlichen Interesses und der berechtigten Interessen der öffentlichen Auftraggeber sowie zur Erhaltung des lauteren Wettbewerbs unter den Wirtschaftsteilnehmern für gerechtfertigt hält, ist es dann mit dieser Richtlinie und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vereinbar, Wirtschaftsteilnehmer vom Verfahren auszuschließen, denen gegenüber der Auftraggeber wegen vom Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortender Umstände einen Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags aufgelöst oder gekündigt hat oder von dem Vertrag zurückgetreten ist, wenn die Auflösung oder Kündigung des Vertrags oder der Rücktritt vom Vertrag innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren vor der Einleitung des Vergabeverfahrens erfolgt ist und der Wert des nicht ausgeführten Auftrags mindestens 5 % des Vertragswerts beträgt?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

16      Nach Ansicht von Poczta Polska ist die Krajowa Izba Odwoławcza kein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV, da sie zugleich gerichtliche und beratende Aufgaben wahrnehme.

17      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach seiner ständigen Rechtsprechung zur Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne des Art. 267 AEUV handelt, auf eine Reihe von Merkmalen abstellt, wie z. B. gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (Urteile vom 17. September 1997, Dorsch Consult, C‑54/96, Slg. 1997, I‑4961, Randnr. 23, und vom 19. April 2012, Grillo Star, C‑443/09, Randnr. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass, wie den dem Gerichtshof vorgelegten Akten zu entnehmen ist, die Krajowa Izba Odwoławcza, die ein durch das Vergaberechtsgesetz geschaffenes Organ ist, das mit einer ausschließlichen Zuständigkeit für die erstinstanzliche Entscheidung über Rechtsstreitigkeiten zwischen Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Auftraggebern ausgestattet ist und dessen Arbeitsweise in den Art. 172 bis 198 des Vergaberechtsgesetzes geregelt ist, ein Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV ist, wenn sie wie im Ausgangsverfahren ihre Befugnisse aus den genannten Bestimmungen ausübt. Dass dieses Organ unter Umständen auf der Grundlage anderer Bestimmungen mit beratenden Aufgaben betraut ist, ist insoweit unerheblich.

 Zur Zulässigkeit

19      Die polnische Regierung trägt vor, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, weil es hypothetisch sei und im Wesentlichen auf eine Klärung der Frage abziele, ob die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2004/18 vereinbar sei, und nicht auf eine Auslegung des Unionsrechts zur Erhellung des Gegenstands des Rechtsstreits, der auf der Grundlage des nationalen Rechts zu entscheiden sei. Es sei aber nicht Sache des Gerichtshofs, im Vorabentscheidungsverfahren die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen oder nationale Rechtsvorschriften auszulegen.

20      Hierzu ist zum einen festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof weder um eine Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht noch um eine Auslegung dieser Rechtsvorschriften ersucht. Es bittet lediglich um eine Auslegung des Vergaberechts der Union, um beurteilen zu können, ob im Ausgangsrechtsstreit Art. 24 Abs. 1 Nr. 1a des Vergaberechtsgesetzes unangewandt zu lassen ist. Zum anderen sind die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich, da Poczta Polska die Vergabe des fraglichen Auftrags mit der Begründung aufgehoben hat, dass die Wirtschaftsteilnehmer, die den Zuschlag erhalten hätten, gemäß dieser nationalen Bestimmung zwingend vom Vergabeverfahren auszuschließen seien.

21      Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig, so dass die Vorlagefragen zu beantworten sind.

 Zur ersten Frage

22      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine zum automatischen Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von einem laufenden Vergabeverfahren führende schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit vorliegt, wenn der öffentliche Auftraggeber wegen von diesem Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortender Umstände einen mit ihm geschlossenen Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags aufgelöst oder gekündigt hat oder von dem Vertrag zurückgetreten ist, die Auflösung oder Kündigung des Vertrags oder der Rücktritt vom Vertrag innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren vor der Einleitung des laufenden Verfahrens erfolgt ist und der Wert des nicht ausgeführten Auftrags mindestens 5 % des Vertragswerts beträgt.

23      In Anbetracht der Ausführungen der polnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof, wonach ein Fall wie derjenige des Ausgangsverfahrens, der in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/17 falle, allein in deren Rahmen zu beurteilen sei, ist darauf hinzuweisen, dass nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts der nationale Gesetzgeber selbst angegeben hat, sich bei Erlass des Art. 24 Abs. 1 Nr. 1a des Vergaberechtsgesetzes, auf dessen Grundlage die betroffenen Gesellschaften vom Vergabeverfahren ausgeschlossen wurden, auf Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 gestützt zu haben. Im Übrigen verweisen Art. 53 Abs. 3 und Art. 54 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 ausdrücklich auf diesen Art. 45.

24      Die Republik Polen hat also offenkundig von der Befugnis aus diesen Bestimmungen der Richtlinie 2004/17 Gebrauch gemacht und die Ausschlussklausel des Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 in die nationale Regelung übernommen.

25      Zwar verweist Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 im Gegensatz zu den Bestimmungen, die die Ausschlussgründe nach Unterabs. 1 Buchst. a, b, e und f betreffen, nicht auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, doch heißt es in Abs. 2 Unterabs. 2, dass die Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Unionsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes festlegen.

26      Folglich können die in Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 enthaltenen Begriffe „im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ begangene „schwere“ „Verfehlung“ im nationalen Recht – aber unter Beachtung des Unionsrechts – präzisiert und erläutert werden.

27      Wie die polnische Regierung zutreffend vorträgt, umfasst der Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ jedes fehlerhafte Verhalten, das Einfluss auf die berufliche Glaubwürdigkeit des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers hat, und nicht nur Verstöße gegen berufsethische Regelungen im engen Sinne des Berufsstands, dem dieser Wirtschaftsteilnehmer angehört, die durch das Disziplinarorgan dieses Berufsstands oder durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung festgestellt werden.

28      Nach Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 sind die öffentlichen Auftraggeber nämlich befugt, eine Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit nachweislich festzustellen. Zudem bedarf es im Gegensatz zu Unterabs. 1 Buchst. c für die Feststellung einer beruflichen Verfehlung im Sinne von Unterabs. 1 Buchst. d keines rechtskräftigen Urteils.

29      Somit kann die Nichterfüllung vertraglicher Pflichten durch einen Wirtschaftsteilnehmer grundsätzlich als eine Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit angesehen werden.

30      Jedoch ist der Begriff der schweren Verfehlung so zu verstehen, dass er sich üblicherweise auf ein Verhalten des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers bezieht, das bei ihm auf Vorsatz oder auf eine Fahrlässigkeit von gewisser Schwere schließen lässt. So kann zwar jede nicht ordnungsgemäße, ungenaue oder mangelhafte Erfüllung eines Vertrags oder eines Vertragsteils unter Umständen von einer geringen fachlichen Eignung des Wirtschaftsteilnehmers zeugen, doch stellt sie nicht automatisch auch eine schwere Verfehlung dar.

31      Die Feststellung einer „schweren Verfehlung“ erfordert darüber hinaus grundsätzlich eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Verhaltensweise des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers.

32      Die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung verpflichtet den öffentlichen Auftraggeber jedoch, einen Wirtschaftsteilnehmer vom Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags auszuschließen, wenn der öffentliche Auftraggeber wegen vom Wirtschaftsteilnehmer „zu verantwortender“ Umstände einen Vertrag aufgelöst oder gekündigt hat, den er mit ihm im Rahmen eines früheren öffentlichen Auftrags geschlossen hatte.

33      In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass der Begriff „zu verantwortende Umstände“ in Anbetracht der Besonderheiten der nationalen Rechtsordnungen im Bereich des Haftungsrechts sehr weit ist und Situationen erfassen kann, die weit über eine Verhaltensweise des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers hinausgehen, die bei ihm auf Vorsatz oder auf eine Fahrlässigkeit von gewisser Schwere schließen lässt. Nach Art. 54 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/17 können indes die in Art. 45 der Richtlinie 2004/18 genannten Ausschlussgründe „gemäß den darin genannten Bedingungen“ angewandt werden, so dass der Begriff der schweren Verfehlung in dem in Randnr. 25 des vorliegenden Urteils genannten Sinne nicht durch den Begriff der vom betreffenden Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortenden Umstände ersetzt werden kann.

34      Ferner bestimmt die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung selbst die Parameter, bei deren Vorliegen ein früheres Verhalten eines Wirtschaftsteilnehmers den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, den Wirtschaftsteilnehmer von einem neu eingeleiteten Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags automatisch auszuschließen, ohne dem öffentlichen Auftraggeber die Möglichkeit zu belassen, die Schwere des dem Wirtschaftsteilnehmer zur Last gelegten Fehlverhaltens bei der Durchführung des früheren Auftrags im Einzelfall zu beurteilen.

35      Daher ist festzustellen, dass sich die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung nicht darauf beschränkt, den allgemeinen Rahmen für die Anwendung von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 festzulegen, sondern den öffentlichen Auftraggebern insoweit zwingende Voraussetzungen und aus bestimmten Umständen automatisch zu ziehende Schlussfolgerungen vorgibt und damit das Ermessen überschreitet, über das die Mitgliedstaaten nach Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie bei der Festlegung der Bedingungen für die Anwendung des Ausschlussgrundes nach Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d unter Beachtung des Unionsrechts verfügen.

36      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine zum automatischen Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von einem laufenden Vergabeverfahren führende schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit vorliegt, wenn der öffentliche Auftraggeber wegen von diesem Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortender Umstände einen mit ihm geschlossenen Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags aufgelöst oder gekündigt hat oder von dem Vertrag zurückgetreten ist, die Auflösung oder Kündigung des Vertrags oder der Rücktritt vom Vertrag innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren vor der Einleitung des laufenden Verfahrens erfolgt ist und der Wert des nicht ausgeführten Auftrags mindestens 5 % des Vertragswerts beträgt.

 Zur zweiten Frage

37      Mit dieser Frage, die für den Fall gestellt worden ist, dass die erste Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsätze und Regeln des Vergaberechts der Union rechtfertigen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche zum Schutz des öffentlichen Interesses und der berechtigten Interessen der öffentlichen Auftraggeber sowie zur Erhaltung des lauteren Wettbewerbs unter den Wirtschaftsteilnehmern einen öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, einen Wirtschaftsteilnehmer in einer Fallgestaltung, wie sie in der ersten Frage dargestellt wird, von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags automatisch auszuschließen.

38      Zwar geht aus Art. 54 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 hervor, dass die öffentlichen Auftraggeber über die Ausschlusskriterien des Art. 45 der Richtlinie 2004/18 hinaus Eignungskriterien festlegen dürfen, doch nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nennt Art. 45 Abs. 2 der letztgenannten Richtlinie erschöpfend die Gründe, mit denen der Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von der Beteiligung an einem Vergabeverfahren aus Gründen gerechtfertigt werden kann, die sich, gestützt auf objektive Anhaltspunkte, auf seine berufliche Eignung beziehen, und hindert folglich die Mitgliedstaaten daran, die in ihm enthaltene Aufzählung durch weitere auf berufliche Eignungskriterien gestützte Ausschlussgründe zu ergänzen (vgl. Urteile vom 9. Februar 2006, La Cascina u. a., C‑226/04 und C‑228/04, Slg. 2006, I‑1347, Randnr. 22, Michaniki, Randnr. 43, und vom 15. Juli 2010, Bâtiments et Ponts Construction und WISAG Produktionsservice, C‑74/09, Slg. 2010, I‑7271, Randnr. 43).

39      Nur wenn der betreffende Ausschlussgrund nicht die berufliche Eignung des Wirtschaftsteilnehmers betrifft und somit nicht unter diese erschöpfende Aufzählung fällt, kann eventuell in Erwägung gezogen werden, diesen Ausschlussgrund im Hinblick auf die Grundsätze und anderen Regeln des Vergaberechts der Union zuzulassen (vgl. hierzu Urteile Fabricom, Randnrn. 25 bis 36, Michaniki, Randnrn. 44 bis 69, und vom 19. Mai 2009, Assitur, C‑538/07, Slg. 2009, I‑4219, Randnrn. 21 bis 33).

40      Im vorliegenden Fall sieht aber Art. 24 Abs. 1 Nr. 1a des Vergaberechtsgesetzes einen Ausschlussgrund vor, der sich auf die fachliche Eignung des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers bezieht, was durch die in den Randnrn. 10 und 23 des vorliegenden Urteils angeführte Tatsache bestätigt wird, dass sich der polnische Gesetzgeber für den Erlass dieser nationalen Vorschrift auf Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 gestützt hat. Ein solcher Ausschlussgrund, der, wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, über den Rahmen der erschöpfenden Aufzählung in Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie hinausgeht, ist daher auch im Hinblick auf die Grundsätze und anderen Regeln des Vergaberechts der Europäischen Union nicht zulässig.

41      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Grundsätze und Regeln des Vergaberechts der Union nicht rechtfertigen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche zum Schutz des öffentlichen Interesses und der berechtigten Interessen der öffentlichen Auftraggeber sowie zur Erhaltung des lauteren Wettbewerbs unter den Wirtschaftsteilnehmern einen öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, einen Wirtschaftsteilnehmer in einer Fallgestaltung, wie sie in der Antwort auf die erste Vorlagefrage dargestellt wird, von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags automatisch auszuschließen.

 Zu den zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils

42      Die polnische Regierung hat den Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung ersucht, die Wirkungen des vorliegenden Urteils für den Fall zeitlich zu begrenzen, dass er Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auslegt, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht.

43      Die polnische Regierung trägt zur Stützung ihres Antrags vor, dass diese vom Gerichtshof noch nicht ausgelegte Bestimmung des Unionsrechts unklar sei und dass eine solche Auslegung die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen auf nationaler Ebene begründe.

44      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre, und dass der Gerichtshof nur ganz ausnahmsweise aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken kann, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Mai 2012, Santander Asset Management SGIIC u. a., C‑338/11 bis C‑347/11, Randnrn. 58 und 59, sowie vom 18. Oktober 2012, Mednis, C‑525/11, Randnrn. 41 und 42).

45      Der Gerichtshof hat auf diese Lösung nur unter ganz bestimmten Umständen zurückgegriffen, namentlich wenn eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, und wenn sich herausstellte, dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit dem Unionsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine erhebliche objektive Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Bestimmungen des Unionsrechts bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission beigetragen hatte (vgl. u. a. Urteil Santander Asset Management SGIIC u. a., Randnr. 60, und Mednis, Randnr. 43).

46      Die behauptete erhebliche objektive Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der betreffenden Bestimmungen des Unionsrechts ist im Ausgangsverfahren nicht anzunehmen. Zum einen fällt nämlich der in Art. 24 Abs. 1 Nr. 1a des Vergaberechtsgesetzes vorgesehene Ausschlussgrund offensichtlich nicht unter die „schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ im Sinne von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18. Zum anderen geht aus einer zum Zeitpunkt des Erlasses dieser nationalen Vorschrift bereits gefestigten Rechtsprechung hervor, dass ein solcher Ausschlussgrund nicht nach den Grundsätzen und anderen Regeln des Vergaberechts der Europäischen Union gerechtfertigt werden kann.

47      Die finanziellen Folgen, die sich aus einem im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs für einen Mitgliedstaat ergeben könnten, rechtfertigen für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen dieses Urteils (Urteile Santander Asset Management SGIIC u. a., Randnr. 62, und Mednis, Randnr. 44).

48      Jedenfalls hat die polnische Regierung keine Daten vorgelegt, anhand deren der Gerichtshof beurteilen könnte, ob der Republik Polen durch das vorliegende Urteil schwerwiegende wirtschaftliche Folgen drohen.

49      Folglich sind die zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils nicht zu begrenzen.

 Kosten

50      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine zum automatischen Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von einem laufenden Vergabeverfahren führende schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit vorliegt, wenn der öffentliche Auftraggeber wegen von diesem Wirtschaftsteilnehmer zu verantwortender Umstände einen mit ihm geschlossenen Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags aufgelöst oder gekündigt hat oder von dem Vertrag zurückgetreten ist, die Auflösung oder Kündigung des Vertrags oder der Rücktritt vom Vertrag innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren vor der Einleitung des laufenden Verfahrens erfolgt ist und der Wert des nicht ausgeführten Auftrags mindestens 5 % des Vertragswerts beträgt.

2.      Die Grundsätze und Regeln des Vergaberechts der Union rechtfertigen nicht, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche zum Schutz des öffentlichen Interesses und der berechtigten Interessen der öffentlichen Auftraggeber sowie zur Erhaltung des lauteren Wettbewerbs unter den Wirtschaftsteilnehmern einen öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, einen Wirtschaftsteilnehmer in einer Fallgestaltung, wie sie in der Antwort auf die erste Vorlagefrage dargestellt wird, von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags automatisch auszuschließen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Polnisch.