Language of document : ECLI:EU:C:2012:153

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 21. März 2012(1)

Rechtssache C‑19/11

Markus Geltl

gegen

Daimler AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs [Deutschland])

„Freier Dienstleistungsverkehr – Finanzdienstleistungen – Insider-Geschäfte und Insider-Informationen – Amtsniederlegung des Vorsitzenden – Vorstandsvorsitzender einer Aktiengesellschaft – Eventuelle Berücksichtigung verschiedener dem Eintritt des Ereignisses vorausgegangener Besprechungen und Tätigkeiten für die Beurteilung, ob eine solche Information präzise ist – Richtlinie 2003/6/EG (Marktmissbrauchsrichtlinie) – Richtlinie 2003/124/EG zur Durchführung der Richtlinie 2003/6“






I –    Einführung

1.        Im vorliegenden Verfahren hat der Bundesgerichtshof der Bundesrepublik Deutschland dem Gerichtshof eine Frage zur Auslegung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch)(2) und der Richtlinie 2003/124/EG der Kommission vom 22. Dezember 2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation(3) vorgelegt.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Gemeinschaftsrecht

2.        Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/6 lautet wie folgt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Definitionen:

1.      ‚Insider-Information‘ ist eine nicht öffentlich bekannte präzise Information, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten von Finanzinstrumenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betrifft und die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen.

…“

3.        Art. 6 der Richtlinie 2003/6 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass alle Emittenten von Finanzinstrumenten Insider-Informationen, die sie unmittelbar betreffen, so bald als möglich der Öffentlichkeit bekannt geben.

Unbeschadet der Maßnahmen, die getroffen werden können, um den Bestimmungen des Unterabsatzes 1 Folge zu leisten, sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass Emittenten alle Insider-Informationen, die sie der Öffentlichkeit mitteilen müssen, während eines angemessenen Zeitraums auf ihrer Internet-Site anzeigen.

(2)      Ein Emittent darf die Bekanntgabe von Insider-Informationen gemäß Absatz 1 auf eigene Verantwortung aufschieben, wenn diese Bekanntgabe seinen berechtigten Interessen schaden könnte, sofern diese Unterlassung nicht geeignet ist, die Öffentlichkeit irrezuführen, und der Emittent in der Lage ist, die Vertraulichkeit der Information zu gewährleisten. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der Emittent die zuständige Behörde unverzüglich von der Entscheidung, die Bekanntgabe der Insider-Informationen aufzuschieben, zu unterrichten hat.

…“

4.        Art. 1 der Richtlinie 2003/124 bestimmt:

„(1)      Für die Anwendung von Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2003/6/EG ist eine Information dann als präzise anzusehen, wenn damit eine Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits existieren oder bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird, und diese Information darüber hinaus spezifisch genug ist, dass sie einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten oder damit verbundenen derivativen Finanzinstrumenten zulässt.

(2)      Für die Anwendung von Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2003/6/EG ist unter einer ‚Insider-Information, die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente spürbar zu beeinflussen‘, eine Information gemeint, die ein verständiger Anleger wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidungen nutzen würde.“

5.        Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2003/124 bestimmt:

„Alle erheblichen Veränderungen im Hinblick auf eine bereits offengelegte Insider-Information sind unverzüglich nach dem Eintreten dieser Veränderungen bekannt zu geben. Dies hat auf demselben Wege zu erfolgen wie die Bekanntgabe der ursprünglichen Information.“

6.        Art. 3 der Richtlinie 2003/124 sieht vor:

„(1)      Für die Anwendung von Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie 2003/6/EG können sich die berechtigten Interessen insbesondere auf folgende nicht erschöpfende Fallbeispiele beziehen:

a)      laufende Verhandlungen oder damit verbundene Umstände, wenn das Ergebnis oder der normale Ablauf dieser Verhandlungen von der Veröffentlichung wahrscheinlich beeinträchtigt werden würde. Insbesondere wenn die finanzielle Überlebensfähigkeit des Emittenten stark und unmittelbar gefährdet ist – auch wenn er noch nicht unter das geltende Insolvenzrecht fällt –, kann die Bekanntgabe von Informationen für einen befristeten Zeitraum verzögert werden, sollte eine derartige Bekanntgabe die Interessen der vorhandenen und potenziellen Aktionäre ernsthaft gefährden, indem der Abschluss spezifischer Verhandlungen vereitelt werden würde, die eigentlich zur Gewährleistung einer langfristigen finanziellen Erholung des Emittenten gedacht sind;

b)      vom Geschäftsführungsorgan eines Emittenten getroffene Entscheidung oder abgeschlossene Verträge, die der Zustimmung durch ein anderes Organ des Emittenten bedürfen, um wirksam zu werden, sofern die Struktur eines solchen Emittenten die Trennung zwischen diesen Organen vorsieht und eine Bekanntgabe der Informationen vor der Zustimmung zusammen mit der gleichzeitigen Ankündigung, dass diese Zustimmung noch aussteht, die korrekte Bewertung der Informationen durch das Publikum gefährden würde.

…“

 B – Nationales Recht

7.        § 13 Abs. 1 Wertpapierhandelsgesetz (im Folgenden: WpHG) dient der Umsetzung des Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/6 und des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 und bestimmt, dass eine Insiderinformation „eine konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände [ist], die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren[(4)] oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen. Eine solche Eignung ist gegeben, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. Als Umstände im Sinne des Satzes 1 gelten auch solche, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden. …“

8.        § 15 Abs. 1 WpHG bestimmt, dass „[e]in Inlandsemittent von Finanzinstrumenten … Insiderinformationen, die ihn unmittelbar betreffen, unverzüglich veröffentlichen [muss] …“.

III – Sachverhalt und Vorlagefragen

9.        Nach der Hauptversammlung der Daimler AG vom 6. April 2005 trug sich Herr Schrempp, der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, mit dem Gedanken, vor Ablauf seiner bis 2008 reichenden Bestellung auszuscheiden, und teilte dies zunächst seiner Ehefrau mit, die sein Büro leitete.

10.      Am 17. Mai 2005 erörterte Herr Schrempp seine Absicht mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden, Herrn Kopper.

11.      Am 1. Juni 2005 wurden zwei weitere Aufsichtsratsmitglieder über die Pläne informiert, und spätestens am 15. Juni 2005 wurde Herr Zetsche, der der Nachfolger von Herrn Schrempp werden sollte, hiervon in Kenntnis gesetzt.

12.      Am 6. Juli 2005 wurde auch die Chefsekretärin informiert.

13.      Ab dem 10. Juli 2005 bereiteten der Kommunikationschef, Frau Schrempp und die Chefsekretärin eine Pressemitteilung, ein externes Statement und einen Brief an die Mitarbeiter des Unternehmens vor.

14.      Am 18. Juli 2005 verständigten sich Herr Schrempp und der Aufsichtsratsvorsitzende darauf, in der Aufsichtsratssitzung, die bereits auf den 28. Juli 2005 einberufen worden war, ohne die in Rede stehende Problematik in der Einladung zu erwähnen, das vorzeitige Ausscheiden von Herrn Schrempp und die Bestimmung von Herrn Zetsche zum Nachfolger vorzuschlagen.

15.      Ferner war auf den 27. Juli 2005, 17.00 Uhr, bereits eine Sitzung des Präsidialausschusses des Aufsichtsrats einberufen worden; die Einladung zu dieser Sitzung enthielt ebenfalls keinen Hinweis auf das Ausscheiden von Herrn Schrempp.

16.      Am 25. Juli 2005 erörterte Herr Schrempp die Frage mit einem Aufsichtsratsmitglied, das zugleich Vorsitzender des Konzern- und Gesamtbetriebsrats war.

17.      Das vorstehend genannte Aufsichtsratsmitglied besprach die Frage mit den übrigen Arbeitnehmervertretern und mit Herrn Zetsche und kündigte am 27. Juli 2005 Herrn Schrempp an, dass die Arbeitnehmerbank für den Wechsel in der Person des Vorstandsvorsitzenden stimmen werde.

18.      Gleichfalls am 27. Juli 2005 wurden die beiden weiteren Mitglieder des Präsidialausschusses informiert, bevor die Sitzung begann.

19.      Der Präsidialausschuss beschloss am 27. Juli 2005, dem Aufsichtsrat am Folgetag vorzuschlagen, dem vorzeitigen Ausscheiden von Herrn Schrempp zum Jahresende und der Bestellung von Herrn Zetsche zu seinem Nachfolger zuzustimmen.

20.      Am 27. Juli 2005 informierte Herr Schrempp um 18.30 Uhr eines der drei Vorstandsmitglieder und um 19.00 Uhr die beiden weiteren Vorstandsmitglieder von dem beabsichtigten Wechsel.

21.      Am 27. Juli 2005 fand um 19.30 Uhr ein Abendessen der Anteilseignervertreter unter den Aufsichtsratsmitgliedern statt, bei dem der Vorschlag des Präsidialausschusses Gesprächsthema war.

22.      Am 28. Juli 2005 beschloss der Aufsichtsrat gegen 9.50 Uhr, dass Herr Schrempp zum Jahresende aus dem Amt ausscheiden und Herr Zetsche neuer Vorstandsvorsitzender werden sollte.

23.      Am 28. Juli 2005 um 10.02 Uhr sandte die Daimler AG eine entsprechende Ad-hoc-Mitteilung an die Geschäftsführungen der Börsen und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin).

24.      Die Ad-hoc-Mitteilung wurde sodann um 10.32 Uhr in der Meldungsdatenbank der Deutschen Gesellschaft für Ad-hoc-Publizität veröffentlicht.

25.      Der Wert der Aktien der Daimler AG, der bei Öffnung der Börse am 28. Juli 2005 bei 36,50 Euro lag, stieg dann zunächst auf 40,40 Euro und schließlich auf 42,95 Euro.

26.      Mehrere Anleger, die ihre Aktien verkauft hatten, bevor die Kurse infolge der Mitteilung über das vorzeitige Ausscheiden von Herrn Schrempp zum Jahresende 2005 stiegen, haben Klage erhoben, mit der sie Schadensersatz wegen der ihrer Ansicht nach verspäteten Ad-hoc-Mitteilung verlangen.

27.      Mit Musterbescheid vom 15. Februar 2007 stellte das Oberlandesgericht Stuttgart fest, dass vorliegend eine Insider-Information erst mit dem Aufsichtsratsbeschluss vom 28. Juli 2005 um 9.50 Uhr entstanden sei und dass diese rechtzeitig veröffentlicht worden sei.

28.      Mit Beschluss vom 25. Februar 2008 hob der Bundesgerichtshof den Musterbescheid auf und verwies die Sache an das Oberlandesgericht Stuttgart zurück.

29.      Mit Beschluss vom 22. April 2009 verneinte das Oberlandesgericht erneut den Schadensersatzanspruch und stellte fest, dass in der Zeit vom 17. Mai 2005 bis zur Beschlussfassung des Aufsichtsrats am 28. Juli 2005 keine Insider-Information des Inhalts entstanden sei, dass Herr Schrempp gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden die einseitige Amtsniederlegung erklärt habe.

30.      Soweit hier von Belang, ging das Oberlandesgericht Stuttgart bei seinem Beschluss u. a. davon aus, dass die einzelnen Zwischenschritte, die schließlich zum einvernehmlichen Ausscheiden von Herrn Schrempp und zur Ernennung von Herrn Zetsche als Nachfolger geführt hatten, keine Insider-Informationen darstellten, da die Verwirklichung der von Herrn Schrempp geäußerten Absicht, auszuscheiden, zwar den Aktienkurs beeinflussen konnte, aus der Sicht eines verständigen Anlegers jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich war.

31.      Der Bundesgerichtshof, der im Rahmen einer gegen den letztgenannten Beschluss des Oberlandesgerichts eingelegten Beschwerde erneut angerufen wurde, sieht ein Problem bei der Auslegung der Richtlinien 2003/6 und 2003/124 und hat daher dem Gerichtshof die folgenden zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.         Ist bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem über mehrere Zwischenschritte ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, für die Anwendung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 nur darauf abzustellen, ob dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis als präzise Information nach diesen Richtlinienbestimmungen anzusehen ist, und demgemäß zu prüfen, ob man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis eintreten wird, oder können bei einem solchen zeitlich gestreckten Vorgang auch Zwischenschritte, die bereits existieren oder eingetreten sind und die mit der Verwirklichung des künftigen Umstands oder Ereignisses verknüpft sind, präzise Informationen im Sinne der genannten Richtlinienbestimmungen sein?

2.         Verlangt hinreichende Wahrscheinlichkeit im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung mit überwiegender oder hoher Wahrscheinlichkeit, oder ist unter Umständen, bei denen mit hin-reichender Wahrscheinlichkeit von ihrer zukünftigen Existenz ausgegangen werden kann, oder Ereignissen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten werden, zu verstehen, dass das Maß der Wahrscheinlichkeit vom Ausmaß der Auswirkungen auf den Emittenten abhängt und es bei hoher Eignung zur Kursbeeinflussung genügt, wenn der Eintritt des künftigen Umstands oder Ereignisses offen, aber nicht unwahrscheinlich ist?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

32.      Der Musterkläger des Ausgangsverfahrens, die Daimler AG, ein Drittbeteiligter sowie die portugiesische, die tschechische, die estnische und die belgische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs, die italienische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben.

33.      An der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2012 haben der Musterkläger des Ausgangsverfahrens, die Daimler AG, der Drittbeteiligte sowie die portugiesische und die estnische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission teilgenommen.

V –    Zur ersten Vorlagefrage

34.      Mit der ersten Vorlagefrage ersucht der Bundesgerichtshof den Gerichtshof im Wesentlichen um Klärung der Frage, ob zu den Informationen, die die Emittenten von Finanzinstrumenten veröffentlichen müssen, weil sie unter den Begriff der Insider-Information nach Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/6 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 fallen, auch die Informationen gehören, die die spezifischen Geschehnisse betreffen, die die Verwirklichung eines zeitlich gestreckten Vorgangs herbeiführen und die daher – als dessen Ursache – zeitlich vor dem Eintritt des von den genannten Richtlinien bezeichneten zukünftigen Umstands oder Ereignisses liegen, sofern sie geeignet sind, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs derivativer Finanzinstrumente spürbar zu beeinflussen.

35.      Die Prüfung der fraglichen Rechtsvorschriften ergibt, dass nicht nur die künftigen Umstände und Ereignisse, die hypothetisch eintreten werden, als Insider-Informationen angesehen werden können, sondern, wenn zudem die übrigen Voraussetzungen der Richtlinien 2003/6 und 2003/124 vorliegen, auch die Informationen über die Zwischenschritte eines Vorgangs, der die Verwirklichung künftiger Umstände oder Ereignisse herbeiführt, die im Sinne der genannten Richtlinien geeignet sind, den Kurs der Finanzinstrumente oder den Kurs derivativer Finanzinstrumente spürbar zu beeinflussen.

36.      Erstens, Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/6 stellt in Übereinstimmung mit dem 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie in seiner Definition des Begriffs Insider-Information vor allem darauf ab, dass eine Information dieser Definition nur entspricht, wenn sie präzise ist(5), nicht öffentlich bekannt ist und darüber hinaus geeignet ist, im Fall ihrer Veröffentlichung den Kurs der Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen.

37.      Nicht erforderlich ist daher, dass die bekannt zu gebende Tatsache abschließend ist; es ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass Umstände relevant sind, die im Verlauf eines in mehreren Schritten entstehenden Vorgangs bereits eingetreten sind, sondern es wird lediglich verlangt, dass jede Information bekannt zu geben ist, die – selbstverständlich auch im Rahmen eines zeitlich gestreckten Vorgangs – präzise sowie geeignet ist, den Kurs der Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen, wenn sie öffentlich bekannt würde.

38.      Nicht die zeitliche Stellung der Information innerhalb des Entstehungsprozesses eines Ereignisses ist für die gebotene Verbreitung entscheidend, sondern die präzise Natur der Information sowie – über die fehlende öffentliche Kenntnis hinaus – die Eignung zur spürbaren Beeinflussung der Marktnotierungen.

39.      Zu beachten ist nämlich, dass der Wert der von einem Wirtschaftsteilnehmer emittierten Finanzinstrumente nicht zwangsläufig nur von einem einzigen Faktor beeinflusst wird, sondern von einer Reihe von Tatsachen abhängig sein kann, die häufig zeitlich aufeinanderfolgen.

40.      Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 seinerseits bezieht sich bei der Bestimmung dessen, was eine präzise Information ist, nicht nur auf einzelne Ereignisse, die eingetreten sind, sondern auch auf „eine Reihe von Umständen …, die bereits existieren oder bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden“, und auf eine Information, die „spezifisch genug ist, dass sie einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen [zulässt]“.

41.      Damit stellt die Vorschrift für die Entstehung der Mitteilungspflichten auch auf die einzelnen Schritte ab, die die Verwirklichung der zeitlich gestreckten Vorgänge herbeiführen, da sie sowohl die einzelnen Ereignisse und die Reihe von Umständen, die diesen vorangehen können, als auch die bereits existierenden und zukünftigen Umstände gleichsetzt und den einen wie den anderen die gleiche Bedeutung beimisst.

42.      Dasselbe gilt auch für Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2003/124, wonach alle erheblichen Veränderungen im Hinblick auf eine bereits offengelegte Insider-Information unverzüglich nach dem Eintreten dieser Veränderungen bekannt zu geben sind, und dies auf demselben Wege zu erfolgen hat wie die Bekanntgabe der ursprünglichen Information.

43.      Diese Feststellungen werden auch durch Art. 3 der Richtlinie 2003/124 bestätigt, der entsprechend dem fünften Erwägungsgrund der genannten Richtlinie und zur Durchführung des Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2003/6 als berechtigte Interessen, die die unterlassene Veröffentlichung von Insider-Informationen rechtfertigen, eine Reihe von Umständen nennt, die eindeutig überwiegend einzelne Schritte eines zeitlich gestreckten Verfahrens betreffen wie laufende Verhandlungen und vom Geschäftsführungsorgan eines Emittenten getroffene Entscheidungen oder abgeschlossene Verträge, die der Zustimmung durch ein anderes Organ des Emittenten bedürfen, um wirksam zu werden, sofern die Struktur eines solchen Emittenten die Trennung zwischen diesen Organen vorsieht.

44.      Die Tatsache, dass die Richtlinie 2003/124 dem Emittenten gestattet, die Umstände, die Zwischenschritte eines Vorgangs darstellen, der unter Umständen erst in Zukunft abgeschlossen sein wird (in den vorstehend genannten Fällen nur, wenn die Verhandlungen positiv abgeschlossen sind oder wenn der vom Geschäftsführungsorgan des Emittenten getroffenen Entscheidung oder den von ihm abgeschlossenen Verträgen durch ein anderes Organ des Emittenten zugestimmt worden ist), nicht bekannt zu geben, beweist, dass normalerweise derartige Informationen offenbart werden müssen, sofern sie die in den fraglichen Richtlinien genannten sonstigen Voraussetzungen erfüllen.

45.      Eine Auslegung des Begriffs Insider-Information, die es nicht zulässt, dass unter diesen Begriff – sofern auch die erwähnten sonstigen Voraussetzungen der Richtlinien 2003/6 und 2003/124 vorliegen – auch eine Information über Umstände fällt, die Zwischenschritte eines Vorgangs sind, der gegebenenfalls erst in Zukunft abgeschlossen sein wird, findet daher im Wortlaut der genannten Richtlinien keinerlei formale Rechtfertigung.

46.      Eine andere Auffassung lässt sich dem Ziel der Richtlinien 2003/6 und 2003/124 und den von ihnen zur Verwirklichung dieses Ziels vorgesehen Instrumenten nicht entnehmen.

47.      Das genannte Ziel ergibt sich in erster Linie aus dem zweiten und dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/6, in denen erläutert wird, dass die Vorschriften zur Bekämpfung des Marktmissbrauchs, zu dem Insider-Geschäfte und Marktmanipulation gehören, das Ziel haben, die Integrität der Finanzmärkte der Gemeinschaft sicherzustellen und das Vertrauen der Anleger in diese Märkte zu stärken, da diese Faktoren Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand sind.

48.      Wie im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/6 hervorgehoben, ist die unverzügliche und angemessene öffentliche Bekanntgabe von Informationen das geeignete Mittel, um die Integrität des Marktes zu fördern, während umgekehrt die selektive Weitergabe von Informationen durch Emittenten als mögliche Ursache dafür gesehen wird, dass das Vertrauen der Anleger in die Integrität der Finanzmärkte schwindet.

49.      Der Gerichtshof hat die vorstehend in den Nrn. 47 und 48 gemachten Ausführungen insbesondere im Urteil Spector Photo Group-Van Raemdonck(6) bestätigt, wo er feststellte, dass die Zielsetzung der Richtlinie 2003/6 darin besteht, die Integrität der Finanzmärkte zu schützen und das Vertrauen der Investoren zu stärken, und dabei klarstellte, dass dieses Vertrauen insbesondere auf der Gewissheit beruht, dass die Investoren einander gleichgestellt und gegen die unrechtmäßige Verwendung einer Insider-Information geschützt sind.

50.      In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass das Verbot von Insider-Geschäften verhindern soll, dass einer von ihnen, der über vertrauliche Informationen verfügt, daraus zum Nachteil der anderen, die diese Information nicht kennen, einen Nutzen zieht(7), ohne wegen des zu seinen Gunsten bestehenden Informationsgefälles dieselben Risiken einzugehen.

51.      Wie vorstehend in den Nrn. 47 und 48 näher ausgeführt und im Urteil Spector Photo Group‑Van Raemdonck dargelegt, entspräche es folglich nicht dem Ziel der Richtlinie 2003/6 und stände mit den von der Richtlinie zur Verwirklichung dieses Ziels vorgesehenen Instrumenten in keinem logischen Zusammenhang, den Begriff Insider-Information unter Bezugnahme auf den vorliegenden Fall dahin auszulegen, dass der Besitzer von vertraulichen Informationen, die mit der Verwirklichung künftiger, zur Beeinflussung des Aktienkurses geeigneter Umstände verknüpft sind, diese nicht zu offenbaren braucht.

52.      Damit wäre nämlich die unverzügliche und ordnungsgemäße öffentliche Bekanntgabe von zur Beeinflussung der Finanzmärkte geeigneten Informationen behindert, und sowohl die Integrität der Finanzmärkte als auch das Vertrauen der Anleger wären ohne Schutz, da normalerweise gerade der Gebrauch von Informationen, die den Eintritt künftiger Ereignisse mit Eignung zur Kursbeeinflussung zum Inhalt haben, bezeichnend für den Missbrauch von Insider-Informationen ist, den die fraglichen Vorschriften verbieten.

53.      Da die Richtlinien 2003/6 und 2003/124 den Schutz der Integrität des Marktes und das Vertrauen der Anleger bezwecken, müssen die Letzteren die Möglichkeit haben, ihre Entscheidungen in eigener Verantwortung zu treffen, nachdem sie alle relevanten und zur Beeinflussung der Börsenwerte geeigneten Informationen erhalten und beurteilt haben.

54.      Ausgeschlossen ist daher eine Auslegung des Begriffs Insider-Information, die angesichts der bestehenden engen Verbindung zwischen diesem Begriff und dem Verbot von Insider-Geschäften den Rahmen nicht mitteilungspflichtiger Informationen erweitern und die Anzahl der nach den Richtlinien 2003/6 und 2003/124 verbotenen missbräuchlichen Verhaltensweisen herabsetzen würde.

55.      Der Ausschuss der Europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR(8)) stellte im Übrigen in seinen Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2003/6 vom Juli 2007(9) in Nr. 1.6 fest, dass, wenn die Information einen Vorgang betrifft, der sich über mehrere Stufen erstreckt, jede einzelne Stufe des Vorgangs ebenso wie der Gesamtvorgang selbst eine präzise Information sein kann (if the information concerns a process which occurs in stages, each stage of the process as well as the overall process could be information of a precise nature), und in Nr. 1.7, dass außerdem auch eine Information, die nicht vollständig ist, als präzise angesehen werden kann (In addition, it is not necessary for a piece of information to be comprehensive to be considered precise).

56.      Abschließend schlage ich dem Gerichtshof daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/6 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 dahin auszulegen sind, dass, wenn bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem über mehrere Zwischenschritte ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, auch Tatsacheninformationen über Zwischenschritte, die bereits existieren oder eingetreten sind und die mit der Verwirklichung des künftigen Umstands oder Ereignisses verknüpft sind, als präzise Informationen und damit Insider-Informationen anzusehen sein können, sofern sie alle sonstigen Voraussetzungen der genannten Richtlinien erfüllen.

VI – Zur zweiten Vorlagefrage

57.      Mit der zweiten Vorlagefrage hat der Bundesgerichtshof dem Gerichtshof im Wesentlichen zwei eng miteinander zusammenhängende Teilfragen vorgelegt:

a)      Er begehrt zum einen die Feststellung, ob „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung mit überwiegender oder hoher Wahrscheinlichkeit verlangt;

b)      zum anderen möchte er wissen, ob unter Umständen, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von ihrer zukünftigen Existenz ausgegangen werden kann, oder Ereignissen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten werden, zu verstehen ist, dass das Maß der Wahrscheinlichkeit vom Ausmaß der Auswirkungen auf den Emittenten abhängt und es bei hoher Eignung zur Kursbeeinflussung genügt, wenn der Eintritt des künftigen Umstands oder Ereignisses nicht unwahrscheinlich, wenn auch offen ist.

58.      Die erste der beiden in Nr. 57 genannten Teilfragen ist für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens relevant, da sie die Feststellung betrifft, wann bei einem zeitlich gestreckten Vorgang wie dem vorliegenden für die Anwendung des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 davon auszugehen ist, dass das Ereignis, dessen Eintritt von der vertraulich behandelten Information vorweggenommen wird, konkret wird eintreten können.

59.      Wird nämlich eine hohe oder überwiegende Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ereignisses verlangt (wie dies im Wesentlichen der Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart entspricht), hätte der Umstand, dass Herr Schrempp die Amtsniederlegung plante, erst bekannt gegeben werden müssen, nachdem der Aufsichtsrat der Amtsniederlegung zugestimmt hatte – dieser hatte einen dahin gehenden Beschluss am 28. Juli 2005 gefasst – oder jedenfalls nachdem die Amtsniederlegung vom Präsidialausschuss am 27. Juli 2005 gebilligt worden war – dieser hatte am 28. Juli 2005 dem Aufsichtsrat vorgeschlagen, dem Wunsch von Herrn Schrempp zuzustimmen.

60.      Erst aufgrund dieser Beschlüsse hätte davon ausgegangen werden dürfen, dass die Information über das Ausscheiden von Herrn Schrempp präzise war, und die Daimler AG wäre daher nicht verpflichtet gewesen, bereits vorher den laufenden internen Vorgang bekannt zu geben.

61.      Der Fall läge anders, ginge man davon aus, dass es für das Entstehen einer Insider-Information ausreicht, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund deren ein künftiges Ereignis nicht unwahrscheinlich, wenn auch unsicher ist.

62.      In diesem Fall hätte nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts – auch angesichts der erheblichen Kursbewegungen nach Bekanntwerden der Amtsniederlegung von Herrn Schrempp – eine Insider-Information bereits in dem Augenblick entstehen können, in dem Herr Schrempp am 17. Mai 2005 dem Aufsichtsratsvorsitzenden seine Absicht mitteilte, zum Ende des Jahres als Vorstandsvorsitzender auszuscheiden; dies hätte zur Folge gehabt, dass Aktionäre wie Herr Geltl zu diesem Zeitpunkt über die Vorgänge hätten informiert werden müssen und dass sie vernünftigerweise ihre Aktien zu einem höheren als dem tatsächlich erzielten Preis verkauft oder sie gegebenenfalls behalten hätten.

63.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Zweifel des nationalen Gerichts ihren Grund im Wortlaut der deutschen Sprachfassung des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 haben könnten, die im Hinblick auf den Eintritt künftiger Umstände oder Ereignisse auf die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ Bezug nimmt („… man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann“) und sich damit von den meisten anderen Sprachfassungen des genannten Artikels(10) unterscheidet, die im Wesentlichen das Kriterium „ragionevolmente ritenere“ (vernünftigerweise davon ausgehen) benutzen.

64.      Ferner bin ich der Ansicht, dass – anders als das nationale Gericht und zahlreiche Beteiligte meinen, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen abgegeben haben – die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 sich nicht ausschließlich um das Kriterium der „Wahrscheinlichkeit“ drehen sollte.

65.      Wie nämlich zu Recht auch von der estnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, kann nach ständiger Rechtsprechung die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder insoweit Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen, da eine solche Vorgehensweise mit dem Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts unvereinbar wäre(11).

66.      Bei der Beantwortung der in Rede stehenden ersten Teilfrage ist zu berücksichtigen, dass der Ausdruck, den es im Rahmen des vorliegenden Verfahrens auszulegen gilt, in Richtlinien enthalten ist, die die Behandlung der Insider-Informationen und deren Bekanntgabe regeln.

67.      Hieraus folgt, dass der Begriff „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ in Verbindung mit allen sonstigen Faktoren zu sehen ist, anhand deren eine Information als Insider-Information beurteilt werden kann.

68.      Erstens ist zu berücksichtigen, dass nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 der in Rede stehende Ausdruck in einem Kontext steht, in dem festgelegt wird, dass eine Information als präzise anzusehen ist, wenn gleichzeitig die folgenden zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich

a)      wenn damit eine Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits existieren oder bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird;

b)      wenn diese Information darüber hinaus spezifisch genug ist, dass sie einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten oder damit verbundenen derivativen Finanzinstrumenten zulässt.

69.      Auch wenn der Ausdruck „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ somit im Rahmen der ersten Voraussetzung des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 (Buchst. a der Nr. 68 dieser Schlussanträge) vorgesehen ist, ist er, obwohl er von ihr logisch getrennt bleibt, zusammen und nicht getrennt von der weiteren Voraussetzung des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 zu beurteilen, nämlich der Möglichkeit, angesichts der hinreichenden Spezifität der Information Schlüsse auf die Auswirkung der gesamten Umstände und des Ereignisses auf die Kurse der fraglichen Finanzinstrumente oder der damit verbundenen derivativen Finanzinstrumente zu ziehen (Buchst. b der Nr. 68 dieser Schlussanträge).

70.      Jede dieser beiden Voraussetzungen kann im konkreten Fall gegenüber der jeweils anderen größere Bedeutung gewinnen, auch im Rahmen einer eventuellen Abwägung beider Voraussetzungen, vorausgesetzt, dass keine von ihnen gar nicht erfüllt wird, so dass bezüglich des Ausdrucks „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ zumindest vernünftigerweise anzunehmen ist, dass der fragliche Umstand oder das fragliche Ereignis in Zukunft eintreten wird, und die Information ein Mindestmaß an Spezifität behält, so dass sie als eine präzise Information gewertet werden kann.

71.      Darüber hinaus erfolgt die Definition des in einem Fall wie dem vorliegenden anwendbaren Begriffs der Vernünftigkeit(12) unter Bezugnahme auf die Figur des sogenannten verständigen Anlegers (der ausdrücklich in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2003/124 erwähnt wird), d. h. des Anlegers, der die Informationen über den Eintritt künftiger Umstände oder Ereignisse nach einem objektiven Kriterium der Vernünftigkeit, nicht in Verfolgung rein spekulativer Ziele beurteilt.

72.      In Anbetracht der vorangehenden Erwägungen über die enge Verbindung(13) zwischen der ersten und der zweiten Voraussetzung des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124(14) sowie über die Bedeutung, in der die Richtlinie den Begriff des verständigen Anlegers gebraucht, ist davon auszugehen, dass eine präzise Information vorliegt und damit die Voraussetzung der in Rede stehenden Vernünftigkeit erfüllt ist, wenn sich die Information auf die Entscheidungsfindung des Anlegers ausgewirkt hätte, sofern sie ihm bekannt gegeben worden wäre, und von ihm als Hinweis auf den wahrscheinlichen Eintritt eines Ereignisses oder einer Reihe von Umständen(15) und als konkret genug bewertet worden wäre, um aus ihr Konsequenzen bezüglich der möglichen Auswirkungen auf die Kurse der fraglichen Finanzinstrumente oder der damit verbundenen derivativen Finanzinstrumente zu ziehen.

73.      Die Richtlinie 2003/124 stellt lediglich die Mindestvoraussetzungen auf, bei deren Fehlen eine Information nicht als präzise angesehen werden kann, und verlangt weder für die Auslegung des Ausdrucks „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ eine hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts des betreffenden Umstands noch, dass die Information so präzise ist, dass sie sichere oder fast sichere Schlussfolgerungen über mögliche Auswirkungen auf die Kurse der fraglichen Finanzinstrumente oder der damit verbundenen derivativen Finanzinstrumente zulässt(16).

74.      Wie sich aus dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/124 ergibt, stützt der verständige Anleger seine Anlageentscheidungen auf Informationen, die ihm vorab zur Verfügung stehen (verfügbare Ex-ante-Informationen), und zieht die möglichen Auswirkungen der Information unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstiger Marktvariablen in Betracht, die unter den gegebenen Umständen das entsprechende Finanzinstrument oder das damit verbundene derivative Finanzinstrument beeinflussen dürften(17).

75.      Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/124 stellt sodann klar, dass auch im Nachhinein vorliegende Informationen (Ex-post-Informationen) genutzt werden können, wenn auch nur zur Überprüfung der Annahme, dass die Ex-ante-Information kurserheblich war.

76.      Die Ex-ante-Bewertung der Information erfüllt eine wichtige Aufgabe sowohl zugunsten der Anleger, indem sie diese formal gleichstellt, als auch zugunsten derjenigen, die Insider-Geschäfte vornehmen, denn diese können so das eigene Verhalten steuern und optimal und rechtmäßig auf dem Markt tätig sein, da sie im Voraus den Inhalt verbotener Verhaltensweisen erfahren und die entsprechenden Sanktionen vermeiden können(18), während der Ex-post-Bewertung eine andere Rolle zukommt, da sie nur dazu dient, die Ex-ante-Bewertung zu bestätigen oder zu verneinen.

77.      Die betreffende Feststellung seitens der Wirtschaftsteilnehmer wird von Fall zu Fall getroffen (z. B. hat die estnische Regierung in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass auch die Dimensionen des Referenzmarkts von Bedeutung sein können), und es ist zwangsläufig unmöglich, ein Bild von einem verständigen Anleger und einen Begriff von der Vernünftigkeit festzulegen, die jeweils für alle möglichen Fallkonstellationen gültig sind.

78.      Im Fall einer Streitigkeit muss das Gericht unter Heranziehung der oben dargelegten Kriterien entscheiden, ob die Besitzer von Informationen zur Veröffentlichung verpflichtet sind.

79.      Das Gericht muss sich somit fragen, ob ein verständiger Anleger aufgrund der verfügbaren Ex-ante-Informationen(19) die Information als Hinweis auf den zumindest vernünftigerweise anzunehmenden Eintritt eines Ereignisses oder einer Reihe von Umständen und als konkret genug bewertet hätte, um aus ihr Konsequenzen bezüglich der möglichen Auswirkungen auf die Kurse der fraglichen Finanzinstrumente oder der damit verbundenen derivativen Finanzinstrumente zu ziehen.

80.      Der Gesetzgeber der Union hat sich bewusst auf den Begriff der Vernünftigkeit und nicht auf den der Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit bezogen, und zwar gerade um zu bekräftigen, dass bei der Feststellung der Insider-Informationen und bei ihrer Unterscheidung von solchen, die keine Insider-Informationen sind, besondere Aufmerksamkeit auf sämtliche Umstände des Einzelfalls zu richten ist.

81.      Entgegen der von einigen Beteiligten (z. B. der Kommission) vertretenen Auffassung ist es für die Entscheidung von Fällen wie dem vorliegenden nicht von Nutzen, abstrakt einen spezifischen Prozentsatz festzulegen, unterhalb dessen vernünftigerweise nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass ein Ereignis eintreten wird(20).

82.      Die Richtlinien verlangen nämlich nur, dass die Insider-Information präzise ist, und beziehen sich auf das bewusst unbestimmte Kriterium der Vernünftigkeit, das nicht anhand bloßer statistisch errechneter Prozentsätze des Eintritts eines Ereignisses anzuwenden ist, sondern mit einer sehr viel differenzierteren und komplexeren Beurteilung(21).

83.      Diese Beurteilung muss sich auf ähnliche Erfahrungen in der Vergangenheit stützen und soll feststellen, ob der Eintritt dieses Ereignisses vernünftigerweise allgemein zu erwarten war und somit ob die Möglichkeit seines Eintritts von einem verständigen Anleger in Erwägung gezogen worden wäre angesichts der möglichen Auswirkungen der Information unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstiger Marktvariablen, die unter den gegebenen Umständen das Finanzinstrument oder das damit verbundene derivative Finanzinstrument beeinflussen dürften.

84.      Dieses Ergebnis wird von den Ausführungen der Daimler AG in ihren Erklärungen nicht in Frage gestellt.

85.      Die Daimler AG widerspricht(22) u. a. der Auslegung des Urteils Spector Photo Group-Van Raemdonck(23) durch das vorlegende Gericht, wonach „sich ein Insider unter Umständen geringeren Marktrisiken [aussetzt] als ein Anleger, dem noch gar nicht bekannt ist, dass die Absicht besteht, bestimmte Umstände oder Ereignisse herbeizuführen, und dass ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt ist“(24).

86.      Die Daimler AG macht geltend, das vorlegende Gericht habe mit der Annahme, dass eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit nicht erforderlich sei, die sich aus dem genannten Urteil ergebenden Grundsätze verkannt, da es seinen Erwägungen nicht das abstrakt von einem verständigen Anleger an den Tag gelegte Verhalten, sondern das Verhalten eines spekulativ agierenden Anlegers zugrunde gelegt habe, obwohl die Richtlinie 2003/6 den verständigen Anleger schützen, nicht aber spekulativem Handeln vorbeugen solle(25).

87.      Die Daimler AG führt aus, die Besitzer von Insider-Informationen neigten zu Verhaltensweisen, die sich von denen eines gewöhnlichen verständigen Anlegers unterschieden, auch deshalb, weil sie aus unterschiedlichen Motiven und auf unterschiedliche Art und Weise handelten, indem insbesondere die Ersteren eher als der Letztere zu rein spekulativen Zwecken auch Ereignisse berücksichtigten, deren Eintritt unwahrscheinlich sei.

88.      Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden, da die ihnen zugrunde liegende Auslegung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der in Rede stehenden Rechtsvorschriften nicht dem Ziel der betreffenden Richtlinien entspricht.

89.      Wie bereits in Nr. 49 dieser Schlussanträge dargelegt, wurde im Urteil Spector Photo Group-Van Raemdonck(26) festgestellt, dass das Ziel der Richtlinie 2003/6 darin besteht, die Integrität der Finanzmärkte zu schützen und das Vertrauen der Anleger zu stärken, das insbesondere darauf beruht, dass sie einander gleichgestellt und gegen die unrechtmäßige Verwendung einer Insider-Information durch deren Besitzer zum Nachteil derjenigen, die nicht über sie verfügen, geschützt sind.

90.      Es soll somit auf jeden Fall verhindert werden, dass der Besitzer der Insider-Information, der sich in einer vorteilhafteren Lage als die anderen Marktteilnehmer befindet, die die Insider-Information nicht kennen, einen Nutzen aus wirtschaftlichen Vorhaben zieht, die unter Verwertung der betreffenden Information verwirklicht werden, ohne dieselben Risiken wie die der übrigen potenziellen Anleger einzugehen(27).

91.      Daraus folgt, dass es entgegen den Ausführungen der Daimler AG auf die hypothetischen psychologischen und verhaltensmäßigen Unterschiede zwischen einerseits den Besitzern der Insider-Informationen, die rein spekulative Investitionen vorziehen könnten, und andererseits den verständigen Anlegern nicht ankommt, da sie alle – von den zwischen ihnen bestehenden Unterschieden abgesehen – ohnehin einander gleichgestellt sein sollen, um den Schutz der Integrität der Finanzmärkte und die Stärkung des Vertrauens der Anleger zu garantieren.

92.      Die betreffenden Richtlinien verbieten somit den Missbrauch der Insider-Informationen zum Schutz der Integrität der Finanzmärkte und zur Stärkung des Vertrauens der Anleger, und zur Erreichung dieses Ziels darf der Begriff Wahrscheinlichkeit nicht im Sinne einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgelegt werden, da eine solche Auslegung im konkreten Fall die Nichtveröffentlichung von Informationen zulassen würde, die häufig die Konturen künftiger Ereignisse mit Eignung zur Beeinflussung der Aktienkurse erkennen lassen, und damit die hoch spekulativen Insider-Geschäfte fördern würde.

93.      Keine Berücksichtigung kann auch die angesprochene Gefahr eines information overload(28) finden, die bestünde, wenn der Kapitalmarkt infolge einer zu weiten Auslegung des Begriffs Insider-Information von so vielen unsicheren Informationen überflutet würde, dass es zu einer Irreführung der Marktteilnehmer käme.

94.      Das von den Richtlinien 2003/6 und 2003/124 geschaffene System will nämlich allen Anlegern die Möglichkeit geben, ihre Entscheidungen in eigener Verantwortung zu treffen, wenn auch mit dem Risiko, Fehler zu begehen, nachdem sie alle relevanten und zur Beeinflussung der Börsenwerte geeigneten Informationen erhalten und beurteilt haben, mit der Folge, dass im Zweifel einer Auslegung der fraglichen Richtlinien der Vorzug zu geben ist, die den Kreis der bekannt zu machenden Informationen vergrößert, nicht aber verkleinert.

95.      Bezüglich des ersten Teils der zweiten Vorlagefrage schlage ich dem Gerichtshof somit vor, diese wie folgt zu beantworten:

–        Der Ausdruck „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 verlangt nicht, dass mit überwiegender oder hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass das betreffende Ereignis oder die betreffenden Umstände eintreten werden;

–        das von den Richtlinien 2003/124 und 2003/6 eingeführte System verlangt nur, dass – ohne dass eine der beiden in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 genannten Voraussetzungen vollständig fehlt – eine präzise Information auf der Grundlage einer Ex-ante-Bewertung vorliegt, die anhand der möglichen Auswirkungen der Information vorgenommen wird, unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstiger Marktvariablen, die unter den gegebenen Umständen die Kurse des entsprechenden Finanzinstruments oder des damit verbundenen derivativen Finanzinstruments beeinflussen könnten.

96.      Darüber hinaus möchte das vorlegende Gericht mit dem zweiten Teil der zweiten Vorlagefrage insbesondere wissen, ob unter Umständen, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von ihrer zukünftigen Existenz ausgegangen werden kann, oder Ereignissen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten werden, zu verstehen ist, dass das Maß der Wahrscheinlichkeit vom Ausmaß der Auswirkungen auf den Emittenten abhängt und es bei hoher Eignung zur Kursbeeinflussung genügt, wenn der Eintritt des künftigen Umstands oder Ereignisses offen, aber nicht unwahrscheinlich ist.

97.      Für die Beantwortung dieser Frage ist zu berücksichtigen, dass nach Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/6 eine Insider-Information vorliegt, wenn – außer dass sie einen oder mehrere Emittenten von Finanzinstrumenten betrifft – drei Voraussetzungen erfüllt sind:

a)      Sie muss präzise sein;

b)      sie darf nicht öffentlich bekannt sein;

c)      sie muss geeignet sein, den Kurs der betreffenden Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen.

98.      Abgesehen von dem fehlenden öffentlichen Bekanntsein, das nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, sind die präzise Natur und die Eignung, die Kurse der betreffenden Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen, die wesentlichen Voraussetzungen, auf denen der Begriff Insider-Information beruht(29). Die erste Voraussetzung (Buchst. a der Nr. 97 dieser Schlussanträge) bezeichnet das Wesen der Information – sie muss präzise sein – und wird in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 definiert(30). Die zweite Voraussetzung (Buchst. c der Nr. 97 dieser Schlussanträge) bezeichnet die Außenwirkungen der Information, d. h. ihre potenzielle Wirkung, und wird in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2003/124 näher bestimmt.

99.      Das Vorliegen der beiden genannten Voraussetzungen und ihr Verhältnis zueinander wird unter Berücksichtigung des Insider-Charakters der Information geprüft(31).

100. Das angerufene Gericht darf nicht jeweils bei einer einzelnen Voraussetzung stehen bleiben – bei der präzisen Natur der Information bzw. deren potenzieller Wirkung – und dabei völlig die Feststellung der anderen Voraussetzung außer Acht lassen, sondern es muss anhand einer umfassenden Beurteilung aller ihm zur Verfügung stehenden Tatsachen feststellen, ob die Information Insider-Charakter hat.

101. Diese Voraussetzungen sind in ihrer Gesamtheit zu betrachten, auch wenn sie von der Logik her bei ihrer Feststellung zu trennen sind, weshalb eine der beiden fraglichen Voraussetzungen im konkreten Fall gewichtiger als die andere sein kann(32), vorausgesetzt, die zweite Voraussetzung wird auch erfüllt und die Information ist so beschaffen, dass sie aufgrund einer angemessenen Abwägung zwischen der präzisen Natur der Information und ihrer potenziellen Wirkung als Insider-Information angesehen werden kann.

102. Was das vorliegende Verfahren betrifft, verlangen nämlich die Richtlinien 2003/6 und 2003/124 weder – wie dargelegt – eine hohe Wahrscheinlichkeit des Eintritts des betreffenden Umstands noch einen tatsächlichen Einfluss auf die Aktienkurse.

103. Insbesondere nach dem Urteil Spector Photo Group‑Van Raemdonck(33) ist gemäß der Zielsetzung der Richtlinie 2003/6 die Eignung zur spürbaren Kursbeeinflussung a priori anhand des Inhalts der fraglichen Information und des Kontexts zu beurteilen, in den sie sich einfügt, weshalb – um festzustellen, ob eine Information eine Insider-Information ist – nicht geprüft zu werden braucht, ob ihr Bekanntwerden den Kurs der Finanzinstrumente tatsächlich spürbar beeinflusst hat.

104. Die in Frage stehende Rechtsvorschrift stellt somit lediglich Mindestvoraussetzungen auf, bei deren Fehlen eine Information nicht als Insider-Information angesehen werden kann.

105. Dies kann im Hinblick auf das Ausgangsverfahren der Fall sein, wenn man zu der Feststellung gelangt, dass unter Zugrundelegung eines Rationalitätskriteriums der Eintritt eines Ereignisses als unmöglich oder unwahrscheinlich anzusehen ist, so dass die Information nicht hinreichend präzise wäre (und damit die erste Voraussetzung nicht erfüllen würde) oder ihre potenzielle Eignung zur Kursbeeinflussung auszuschließen wäre (und damit die zweite Voraussetzung fehlen würde).

106. Daraus folgt, dass, sofern die Information in hohem Maße geeignet ist, die Aktienkurse zu beeinflussen, es ausreicht, dass der Eintritt des künftigen Umstands oder Ereignisses weder unmöglich noch unwahrscheinlich, wenn auch offen ist.

107. Bei der fraglichen Beurteilung ist das Ausmaß der Auswirkungen auf den Emittenten(34) insofern von Bedeutung, als dieses zu den verfügbaren Ex-ante-Informationen gehört, da der verständige Anleger seine Entscheidungen auf die möglichen Auswirkungen der Information unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstiger Marktvariablen stützt, die unter den gegebenen Umständen das entsprechende Finanzinstrument oder das damit verbundene derivative Finanzinstrument beeinflussen könnten.

108. Auf jeden Fall können auch im Nachhinein vorliegende Informationen (Ex-post-Informationen) zur Überprüfung der Annahme genutzt werden, dass die Ex-ante-Informationen kurserheblich waren(35).

109. Bezüglich des zweiten Teils der zweiten Vorlagefrage schlage ich dem Gerichtshof daher vor, diesen wie folgt zu beantworten:

–      Sofern die Information in hohem Maße geeignet ist, die Aktienkurse zu beeinflussen, reicht es aus, dass der Einritt des künftigen Umstands oder Ereignisses weder unmöglich noch unwahrscheinlich, wenn auch offen ist;

–      die Auswirkungen auf den Emittenten sind insofern von Bedeutung, als sie zu den verfügbaren Ex-ante-Informationen gehören, während eventuelle Ex-post-Informationen zur Überprüfung der Annahme genutzt werden können, dass die Ex-ante-Informationen kurserheblich waren.

VII – Ergebnis

110. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof daher vor, die Fragen des Bundesgerichtshofs wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG der Kommission vom 22. Dezember 2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation sind dahin auszulegen, dass, wenn bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem über mehrere Zwischenschritte ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, auch Tatsacheninformationen über Zwischenschritte, die bereits existieren oder eingetreten sind und die mit der Verwirklichung des künftigen Umstands oder Ereignisses verknüpft sind, als präzise Informationen und damit Insider-Informationen anzusehen sein können, sofern sie alle sonstigen Voraussetzungen der genannten Richtlinien erfüllen.

2. a)      Der Ausdruck „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 verlangt nicht, dass mit überwiegender oder hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass das betreffende Ereignis oder die betreffenden Umstände eintreten werden;

b)      das von den Richtlinien 2003/124 und 2003/6 eingeführte System verlangt nur, dass – ohne dass eine der beiden in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 genannten Voraussetzungen vollständig fehlt – eine präzise Information auf der Grundlage einer Ex-ante-Bewertung vorliegt, die anhand der möglichen Auswirkungen der Information vorgenommen wird, unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der Verlässlichkeit der Informationsquelle und sonstiger Marktvariablen, die unter den gegebenen Umständen die Kurse des entsprechenden Finanzinstruments oder des damit verbundenen derivativen Finanzinstruments beeinflussen könnten;

c)      sofern die Information in hohem Maße geeignet ist, die Aktienkurse zu beeinflussen, reicht es aus, dass der Einritt des künftigen Umstands oder Ereignisses weder unmöglich noch unwahrscheinlich, wenn auch offen ist;

d)      die Auswirkungen auf den Emittenten sind insofern von Bedeutung, als sie zu den verfügbaren Ex-ante-Informationen gehören, während eventuelle Ex-post-Informationen zur Überprüfung der Annahme genutzt werden können, dass die Ex-ante-Informationen kurserheblich waren.


1 – Originalsprache: Italienisch.


2 –      ABl. L 96, S. 16.


3 –      ABl. L 339, S. 70.


4 – Wertpapiere, die derjenige, der über Insider-Informationen verfügt, weder kaufen noch verkaufen darf.


5 – Dieser Begriff wird bei der Prüfung der zweiten Vorfrage speziell untersucht.


6 – Urteil vom 23. Dezember 2009 (C‑45/08, Slg. 2009, I‑12073, Randnrn. 37, 47, 61 und 62), in dem die bereits in den Urteilen vom 10. Mai 2007, Georgakis (C‑391/04, Slg. 2007, I‑3741, Randnr. 38), und vom 22. November 2005, Grøngaard-Bang (C‑384/02, Slg. 2005, I‑9939, Randnrn. 22 und 33), dargelegten Erwägungen übernommen wurden.


7 – Urteil Spector Photo Group-Van Raemdonck (Randnrn. 47 und 48).


8 – An dessen Stelle trat mit Wirkung vom 1. Januar 2011 die Europäische Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA).


9 – Second set of CESR guidance and information on the common operation of the Directive to the market (Erste Reihe von CESR-Anleitungen und Informationen zur gemeinschaftlichen Anwendung der Richtlinie für den Markt).


10 – Vgl. insbesondere die französische („on peut raisonnablement penser“), die englische („may reasonably be expected“), die italienische („si possa ragionevolmente ritenere“), die spanische („pueden darse razanablemente“), die niederländische („waarvan redelijkerwijze mag worden aangenomen“), die maltesische („b’mod raġjonevoli jiġi“), die rumänische („există motive raționale de a crede“), die estnische („mõistliku eelduse kohaselt“), die finnische („kohtuudella olettaa toteutuvan“), die lettische („ir pamats uzskatīt“), die schwedische („rimligtvis“), die polnische („uzasadniony przewidywać“), die slowakische („odôvodnene predpokladat“) und die portugiesische („razoavelmente previsíveis“) Sprachfassung.


11 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. März 2010, Helmut Müller (C‑451/08, Slg. 2010, I‑2673, Randnr. 38), und vom 3. März 2011, Kommission/Niederlande (C‑41/09, Slg. 2011, I‑831, Randnr. 44).


12 – Mit den Folgen, die sich aus den in den Nrn. 68 bis 70 dieser Schlussanträge genannten Gründen für die Einstufung als präzise Information ergeben.


13 – Diese Verbindung ist Ausdruck der Tatsache, dass der verständige Anleger unter den für die eigenen Investitionsentscheidungen heranzuziehenden Faktoren zwangsläufig vor allem die Möglichkeit berücksichtigt, Schlussfolgerungen bezüglich der Auswirkungen dieser Umstände oder Ereignisse auf die Kurse der Finanzinstrumente zu ziehen.


14 –      Vgl. Nr. 68 dieser Schlussanträge.


15 – So wird auf ein Kriterium abgestellt, das große Ähnlichkeit mit dem von der Lehre und der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten von Amerika entwickelten Kriterium des sogenannten total mix hat, mit dem einzigen aber grundlegenden Unterschied, dass die betreffende Information auch einen von mehreren Umständen mit Eignung zur Anlegerbeeinflussung beinhalten kann.


      Nach der Rechtsprechung des US-amerikanischen Supreme Court (der sich 1976 in der Sache TSC Industries, Inc. v. Northway, Inc., 426 U.S. 438, 1976, mit der Frage befasste) ist eine Information eine Insider-Information und damit material (wesentlich), d. h. Trägerin eines Vorteils, wenn die Offenlegung nach dem Urteil eines verständigen Anlegers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gesamtmenge (total mix) der zur Verfügung stehenden Informationen wesentlich verändert hätte (there must be a substantial likelihood that the disclosure of the omitted fact would have been viewed by the reasonable investor as having significantly altered the total mix of information made available).


16 – Eine Information wird daher nicht präzise sein, wenn ein Ereignis gemessen an einem Rationalitätskriterium mangels der betreffenden Vernünftigkeit als unmöglich oder unwahrscheinlich anzusehen ist, da es z. B. die Ebene bloßer rumeurs (Gerüchte) nicht verlassen hat, oder so wenig spezifisch ist, dass es Schlussfolgerungen über die möglichen Auswirkungen auf die Kurse der fraglichen Finanzinstrumente oder der damit verbundenen derivativen Finanzinstrumente nicht zulässt.


17 – Die estnische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung z. B. den rechtlichen Kontext, die Handelspraktiken und das Verhalten der örtlichen Anleger angeführt (im vorliegenden Fall mit Bezug auf den deutschen Markt).


18 – Bezüglich der Erwägungen, die die Daimler Benz AG in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat und die die Risiken betreffen, die sich in strafrechtlicher Hinsicht aus einem zu weit gefassten Begriff Insider-Information ergeben würden, ist, soweit hier erheblich, darauf hinzuweisen, dass gerade die Ex-ante-Bewertung der Information eine angemessene Bestimmtheit der in den Richtlinien geregelten Institute und mittelbar der nationalen Strafnormen garantiert, die sie aufnehmen müssten. Außerdem ist hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14 der Richtlinie 2003/6 jedenfalls die Möglichkeit, nicht die Pflicht haben, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen, da sie nur dafür zu sorgen haben, dass entsprechend ihrem jeweiligen innerstaatlichen Recht bei Verstößen gegen die nach der Richtlinie erlassenen Vorschriften gegen die verantwortlichen Personen geeignete administrative Maßnahmen und Sanktionen ergriffen werden können. Dies betrifft einen im Wesentlichen zivilrechtlichen Gegenstand, weshalb die Fragen, die sich mit den Modalitäten der Formulierung eventueller Strafnormen im vorliegenden Fall befassen, die Mitgliedstaaten betreffen und nach deren innerstaatlichem Recht zu beantworten sind.


19 –      Vgl. hierzu Nr. 74 dieser Schlussanträge.


20 – Wie die estnische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, verbliebe in diesem Fall kein Beurteilungsspielraum, der erforderlich wäre, um die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.


21 – In der mündlichen Verhandlung ist von der estnischen Regierung darauf hingewiesen worden, dass man sich bei der Abfassung der fraglichen Richtlinien bewusst für einen flexiblen Wortlaut entschieden habe, ohne im Wesentlichen Prozentsätze und starre Bewertungskriterien vorzuschreiben.


22 –      Randnr. 153 des Schriftsatzes der Daimler AG.


23 –      Oben in Fn. 6 angeführt.


24 –      Vgl. Nr. 20 des Vorlagebeschlusses.


25 – Randnr. 154 des Schriftsatzes der Daimler AG.


26 –      Oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 47.


27 –      Vgl. Nr. 50 dieser Schlussanträge.


28 – Vgl. Randnr. 168 des Schriftsatzes der Daimler AG.


29 –      Wie sich aus dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/124 ergibt, soll die Rechtssicherheit für die Marktteilnehmer durch eine genauere Bestimmung von zwei wesentlichen Tatbestandsmerkmalen der Insider-Information erhöht werden, nämlich die präzise Natur dieser Information und die Frage, ob diese Information möglicherweise den Kurs der Finanzinstrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich beeinflussen wird.


30 – Gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 ist die Information präzise,


      a)      wenn sie eine Reihe von Umständen betrifft, die existieren (oder ein Ereignis, das eingetreten ist) oder bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden (oder eintreten wird);


      b) wenn sie präzise genug ist, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse der betreffenden Finanzinstrumente oder der damit verbundenen derivativen Finanzinstrumente zuzulassen.


31 –      Vgl. Nr. 98 dieser Schlussanträge.


32 – Es ist darauf hinzuweisen, dass in der mündlichen Verhandlung der Einfluss der US-amerikanischen Rechtsprechung auf die Gemeinschaftsregelung erörtert worden ist (insbesondere die des US-amerikanischen Supreme Court in Basic Inc. v. Levinson, 485 US, 224, 1988); die genannte Rechtsprechung beurteilt das Verhalten des verständigen Anlegers nach dem sogenannten Probability-magnitude-Ansatz, aufgrund dessen sich die Bedeutung der Information bemisst, indem die Wahrscheinlichkeit (probability), dass ein Ereignis eintritt, und die Tragweite (magnitude), die das Ereignis voraussichtlich vor dem Hintergrund der gesamten Tätigkeiten des Unternehmens haben wird, gegeneinander abgewogen werden (will depend at any given time upon a balancing of both the indicated probability that the event will occur and the anticipated magnitude of the event in light of the totality of the company activity).


      Diese Rechtsprechung könnte die Wahl des Begriffs verständiger Anleger und die Fassung des ersten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2003/124 beeinflusst haben, wonach verständige Investoren ihre Anlageentscheidungen auf Informationen stützen, die ihnen vorab zur Verfügung stehen (verfügbare Ex-ante-Informationen), „insbesondere unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten“, wodurch ausdrücklich auf die vorstehend genannten Erwägungen der US-amerikanischen Gerichte verwiesen wird (in light of the totality of the company activity).


33 –      Oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 69.


34 – Der erste Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/124 bezieht sich ausdrücklich auf die möglichen Auswirkungen der Information unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten.


35 – Wie sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/124 ergibt.