Language of document : ECLI:EU:C:2013:430

Rechtssache C‑575/11

Eleftherios-Themistoklis Nasiopoulos

gegen

Ypourgos Ygeias kai Pronoias

(Vorabentscheidungsersuchen des Symvoulio tis Epikrateias)

„Anerkennung von Diplomen und Befähigungsnachweisen – Richtlinie 2005/36/EG – Beruf des Physiotherapeuten – Partielle und begrenzte Anerkennung der Berufsqualifikationen – Art. 49 AEUV“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 27. Juni 2013

Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Arbeitnehmer – Anerkennung der Diplome und Befähigungsnachweise – Nationale Rechtsvorschriften, die den partiellen Zugang zu einem im Aufnahmemitgliedstaat reglementierten Beruf ausschließen – Beschränkung – Rechtfertigung – Ziele des Gesundheits‑ und des Verbraucherschutzes – Berücksichtigung der erheblichen Unterschiede zwischen den Tätigkeitsbereichen

(Art. 49 AEUV; Richtlinie 2005/36 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2 und 14 Abs. 1)

Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die den partiellen Zugang zu dem im Aufnahmemitgliedstaat reglementierten Beruf des Physiotherapeuten für einen Staatsangehörigen dieses Staates ausschließen, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Befähigungsnachweis wie den des Masseurs und medizinischen Bademeisters erworben hat, mit dem er in dem zweiten Mitgliedstaat bestimmte zum Beruf des Physiotherapeuten gehörende Tätigkeiten auszuüben berechtigt ist, wenn die Unterschiede zwischen den Tätigkeitsbereichen so erheblich sind, dass er in Wirklichkeit eine vollständige Ausbildung absolvieren müsste, um Zugang zum Beruf des Physiotherapeuten zu erhalten.

Denn eine solche Regelung kann die Ausübung der Niederlassungsfreiheit behindern oder weniger attraktiv machen und kann nur durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein. Selbst wenn der Beruf des Physiotherapeuten und damit der eines Masseurs jeglicher Art nicht zu den eigentlichen ärztlichen Berufen, sondern zu den Fachberufen im Gesundheitswesen gehört, so dürfen diese Berufe, die eine große Bandbreite von heterogenen Tätigkeiten umfassen, nicht per definitionem dem unionsrechtlichen System der gegenseitigen Anerkennung der reglementierten Berufe entzogen werden. Der Empfänger der von einem Masseur und medizinischen Bademeister erbrachten Dienstleistungen genießt faktisch die besondere Aufmerksamkeit, die in Bezug auf den Gesundheitsschutz geboten ist. Demnach geht der Ausschluss auch eines partiellen Zugangs zum Beruf des Physiotherapeuten nicht nur über das, was zur Erreichung des Ziels des Verbraucherschutzes, sondern auch über das, was auf der Ebene des Gesundheitsschutzes erforderlich ist, in Fällen hinaus, in denen der Beruf im Herkunftsmitgliedstaat dem im Aufnahmemitgliedstaat so ähnlich ist, dass sie als „vergleichbar“ und daher als „derselbe Beruf“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen bezeichnet werden können. In diesen Fällen können die Lücken, die die Ausbildung des Antragstellers gegenüber derjenigen aufweist, die im Aufnahmemitgliedstaat gefordert wird, durch Anwendung der in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2005/36 vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen geschlossen werden, wodurch eine vollständige Integration des Betroffenen in das Berufswesen des Aufnahmemitgliedstaats sichergestellt wird.

Wenn dagegen bei den von der Richtlinie 2005/36 nicht erfassten Fällen die Unterschiede zwischen den Tätigkeitsbereichen so erheblich sind, dass der Antragsteller in Wirklichkeit eine vollständige Ausbildung absolvieren müsste, um die Tätigkeiten, für die er qualifiziert ist, in einem anderen Mitgliedstaat ausüben zu können, stellt ein solches Erfordernis einen Faktor dar, der objektiv gesehen geeignet ist, den Betroffenen zu veranlassen, diese Tätigkeiten im Aufnahmemitgliedstaat nicht auszuüben.

(vgl. Randnrn. 28-33, 35 und Tenor)