Language of document : ECLI:EU:C:2013:9

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 15. Januar 2013(1)

Rechtssache C‑529/11

Olaitan Ajoke Alarape,

Olukayode Azeez Tijani

gegen

Secretary of State for the Home Department

(Vorabentscheidungsersuchen des Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], London [Vereinigtes Königreich])

„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Recht auf Daueraufenthalt – Art. 16 – Rechtmäßiger Aufenthalt – Auf Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 gestützter Aufenthalt“





1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Voraussetzungen für den Erwerb eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts durch den Elternteil eines Kindes, dem gemäß Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft(2) das Recht eingeräumt wurde, seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat zu absolvieren, und zum anderen die Frage, ob das Kind, das Inhaber eines Aufenthaltsrechts nach dem genannten Art. 12 ist, und sein Elternteil, der Inhaber eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts ist, ein Recht auf Daueraufenthalt gemäß Art. 18 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG(3) erwerben können.

2.        Die Fragen des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London (Vereinigtes Königreich), veranlassen mich insbesondere, auf den Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne der Richtlinie 2004/38 einzugehen, ein zentraler Begriff, da er maßgebend für die Zuerkennung des dauerhaften Aufenthaltsstatus ist, der sicherlich die entscheidende Reform(4) dieser Richtlinie darstellt.

3.        Die Richtlinie 2004/38 kodifiziert die vorhandenen Rechtsinstrumente und integriert die bis zu ihrem Erlass im Bereich des freien Personenverkehrs ergangene Rechtsprechung. Dabei stützt sie die Freizügigkeit auf den Unionsbürgerstatus, der nach einer Formulierung, die der Gerichtshof erstmals im Urteil Grzelczyk(5) benutzt und seither mehrfach wiederholt hat(6), dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein.

4.        Während das frühere Recht das „Recht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben“, nur bestimmten abschließend aufgeführten Personengruppen ansatzweise zuerkannte(7), verleiht die Richtlinie 2004/38 den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die sich fünf Jahre lang rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufgehalten haben, ein Recht auf Daueraufenthalt, das den Migranten einen einzigartigen Vorteil verschafft, indem ihr Aufenthalt, der nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit in Frage gestellt werden kann(8), dauerhaft gesichert wird und die verbleibenden Beschränkungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats beseitigt werden(9).

5.        Die sachlichen Voraussetzungen für den Erwerb des dauerhaften Aufenthaltsstatus sind in Abschnitt I des Kapitels IV der Richtlinie 2004/38 aufgeführt.

6.        Art. 16 („Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1) Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.

(2) Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.

(3) Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.

(4) Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“

7.        Art. 18 der Richtlinie 2004/38 („Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt durch bestimmte Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen“) bestimmt:

„Unbeschadet des Artikels 17 erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, auf die Artikel 12 Absatz 2 und Artikel 13 Absatz 2 Anwendung finden und die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.“

8.        Die Richtlinie 2004/38 hat zwar die meisten früheren Bestimmungen des Unionsrechts über den freien Personenverkehr aufgehoben und kodifiziert. Sie ließ jedoch Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68, die am 16. Juni 2011 durch die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union(10) aufgehoben und ersetzt wurde, unverändert bestehen.

9.        Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 (jetzt Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011) sieht vor:

„Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.

Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.“

10.      Die vorliegende Rechtssache, die einen Rechtsstreit betrifft, den eine Mutter und ihr Sohn – beide Staatsangehörige eines Drittlands –gegen den Secretary of State for the Home Department führen, weil dieser ihren Antrag auf Gewährung eines Rechts auf Daueraufenthalt abgelehnt hat, wirft zwei Fragen mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad auf.

11.      Die erste Frage, die von der Rechtsprechung bereits weitgehend beantwortet worden ist, betrifft die Voraussetzungen, unter denen dem Elternteil eines volljährigen Kindes, das seine Ausbildung absolviert, ein Recht auf Aufenthalt nach Maßgabe des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zustehen kann.

12.      Die zweite Frage, die neu ist, deren Beantwortung meines Erachtens aber durch die jüngere Rechtsprechung weitgehend vorgegeben ist, geht dahin, ob die auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegten Aufenhtaltszeiten ein Recht auf Daueraufenthalt gemäß der Richtlinie 2004/38 begründen können.

13.      Dem Ausgangsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde.

14.      Frau Alarape, geboren am 9. Juli 1970, ist die Mutter des am 28. Februar 1988 geborenen Herrn Tijani. Beide sind nigerianische Staatsangehörige und waren im Jahr 2001 illegal in das Vereinigte Königreich eingereist. Aufgrund der Eheschließung von Frau Alarape mit einem französischen Staatsangehörigen, Herrn Salama, erhielten die Kläger des Ausgangsverfahrens im Vereinigten Königreich einen Aufenthaltstitel als Familienangehörige eines Unionsbürgers, der am 17. Februar 2009 ablief.

15.      Nachdem der Secretary of State for the Home Department am 29. Januar 2010 den Antrag von Frau Alarape und Herrn Tijani auf Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt als Familienangehörige eines Unionsangehörigen, der länger als fünf Jahre seine Rechte wahrgenommen hat, abgelehnt hatte, erhoben sie Klage beim First-tier Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Vereinigtes Königreich), das ihre Klage mit der Begründung abwies, die ihm vorgelegten Dokumente würden nur beweisen, dass Herr Salama zwei Jahre lang Arbeitnehmer gewesen sei.

16.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten daraufhin beim Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, Rechtsmittel ein.

17.      Nach den Feststellungen dieses Gerichts wurde die Ehe zwischen Frau Alarape und Herrn Salama am 16. Februar 2010 geschieden. Frau Alarape übte im Vereinigten Königreich als Selbständige eine Teilzeittätigkeit aus, die ihr ein monatliches Einkommen von ungefähr 1 600 GBP verschaffte; Steuern und Sozialversicherungsbeiträge wurden von ihr entrichtet. Herr Tijani, der von 2006 bis 2008 auf Teilzeitbasis arbeitete, befand sich seit seiner Einreise in das Vereinigte Königreich in vollzeitlicher Ausbildung. Er absolvierte ein Universitätsstudium, erwarb den Bachelor- und den Master-Abschluss und wurde schließlich zur Promotion an der Universität von Edinburgh (Vereinigtes Königreich) zugelassen. Er soll geplant haben, während des Semesters in Edinburgh bei einem Universitätsassistenten zu wohnen.

18.      Das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, vertritt die Auffassung, dass die beweispflichtigen Kläger des Ausgangsverfahrens lediglich hätten nachweisen können, dass Herr Salama von Februar 2004 bis April 2006 Rechte aus dem Unionsrecht wahrgenommen habe. Der Auszug von Herrn Salama aus der Ehewohnung habe zwar die Beschaffung von Nachweisen bezüglich seiner beruflichen Vergangenheit möglicherweise erschwert, doch hätten die Kläger keinen Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung gestellt.

19.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, wonach das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen im Fall des Todes oder des Wegzugs des Unionsbürgers aufrechterhalten bleibe, nicht anwendbar sei, da keiner der beiden in dieser Bestimmung angeführten Umstände im vorliegenden Fall eingetreten sei.

20.      Es ist der Ansicht, dass vielmehr zu prüfen sei, ob den Klägern des Ausgangsverfahrens ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zustehe.

21.      Vor diesem Hintergrund hat das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist es Voraussetzung für die Eigenschaft eines Elternteils als die „die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmende Person“ und somit für die Möglichkeit dieses Elternteils, ein Aufenthaltsrecht von einem über 21 Jahre alten Kind ableiten zu können, das ein Recht auf Zugang zu Bildung nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ausübt, dass das Kind i) von diesem Elternteil Unterhalt erhält, ii) im Haushalt dieses Elternteils wohnt und iii) emotionale Unterstützung von diesem Elternteil erhält?

2.      Falls ein Elternteil nicht das Vorliegen aller drei vorgenannten Umstände dartun muss, um ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht beanspruchen zu können, reicht dann der Nachweis aus, dass nur einer dieser Umstände oder dass nur zwei dieser Umstände gegeben sind?

3.      Kann im Hinblick auf den oben in Frage 1 Ziff. ii) bezeichneten Umstand ein fortgesetzter Aufenthalt eines volljährigen, ein Studium absolvierenden Kindes bei seinem Elternteil/seinen Eltern auch dann vorliegen, wenn das Kind während des Studiums (abgesehen von Ferien und gelegentlichen Wochenenden) nicht zu Hause lebt?

4.      Muss im Hinblick auf den oben in Frage 1 Ziff. iii) bezeichneten Umstand die von dem Elternteil geleistete emotionale Unterstützung eine bestimmte Qualität aufweisen (d. h. Enge oder physische Nähe), oder reicht es, wenn sie in der üblichen emotionalen Bindung zwischen einem Elternteil und einem volljährigen Kind besteht?

5.      Wenn einer Person seit mehr als fünf Jahren ununterbrochen ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht aus Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zusteht, ist diese Aufenthaltszeit für die Zwecke des Erwerbs eines Rechts auf Daueraufenthalt nach Kapitel IV („Recht auf Daueraufenthalt“) der Richtlinie 2004/38 und den Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach Art. 19 dieser Richtlinie zu berücksichtigen?

I –    Würdigung

A –    Zu den ersten vier Fragen

22.      Mit seinen ersten vier Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Voraussetzungen der Elternteil eines volljährigen Kindes, das sein Studium absolviert, erfüllen muss, um in den Genuss eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 gelangen zu können.

23.      Diese Vorschrift gewährt den Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, das Recht, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilzunehmen, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen.

24.      Auf der Grundlage dieser Vorschrift, die das Recht der Kinder von Wanderarbeitnehmern auf Gleichbehandlung beim Zugang zur Ausbildung verbürgt, hat der Gerichtshof in seinem Urteil Baumbast und R vom 17. September 2002(11) dem Kind eines Unionsbürgers, der die Eigenschaft eines Wanderarbeitnehmers oder ehemaligen Wanderarbeitnehmers hat, ein selbständiges Aufenthaltsrecht zuerkannt, wenn das Kind seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat absolvieren will. Würde, so der Gerichtshof, dieses Kind durch Versagung einer Aufenthaltserlaubnis am weiteren Schulbesuch im Aufnahmemitgliedstaat gehindert, könnte dies den Unionsbürger von der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit abhalten.

25.      Ferner hat der Gerichtshof nach dem Hinweis, dass das Kind das ihm vom Unionsgesetzgeber zuerkannte Recht verlieren könnte, wenn den Eltern des Kindes, das seine Ausbildung absolviert, die Möglichkeit des Verbleibs im Aufnahmemitgliedstaat versagt würde, anerkannt, dass dem Elternteil, der tatsächlich die elterliche Sorge für dieses Kind ausübt, im Aufnahmemitgliedstaat ein aus Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 abgeleitetes Aufenthaltsrecht zusteht(12).

26.      Später hat der Gerichtshof in seinem Urteil Teixeira vom 23. Februar 2010(13) die Auswirkungen der Volljährigkeit des Kindes auf das Aufenthaltsrecht geprüft, das sein Elternteil aufgrund seiner Eigenschaft als die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmende Person besitzt. Er hat ausgeführt, dass das Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das der Elternteil genießt, der die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers tatsächlich wahrnimmt, während das Kind eine Ausbildung in diesem Staat absolviert, mit dem Eintritt der Volljährigkeit dieses Kindes endet, „sofern es nicht weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können“(14).

27.      Der Gerichtshof hat somit im Urteil Teixeira die ersten vier Fragen des vorlegenden Gerichts bereits grundsätzlich beantwortet, indem er festgestellt hat, dass das Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das der Elternteil genießt, der die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers tatsächlich wahrnimmt, während das Kind eine Ausbildung in diesem Staat absolviert, mit dem Eintritt der Volljährigkeit dieses Kindes endet, sofern es nicht weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge dieses Elternteils bedarf.

28.      Das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, beschränkt seine Fragestellung auf den Fall eines über 21 Jahre alten Kindes und geht somit davon aus, dass die Situation der Eltern eines Kindes, das volljährig, jedoch jünger als 21 Jahre ist, der Situation der Eltern eines minderjährigen Kindes gleichzusetzen ist. Es erscheint mir erforderlich, vorab darauf hinzuweisen, dass diese Annahme angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs unzutreffend ist.

29.      Es ist zu beachten, dass das Recht auf Absolvierung einer Ausbildung nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 eigenständig(15) und im Einklang mit deren spezifischen Zielen der Integration der Arbeitnehmer und ihrer Kinder in das soziale Leben des Aufnahmemitgliedstaats ausgelegt worden ist, woraus der Gerichtshof insbesondere abgeleitet hat, dass die Altersgrenze nach den Art. 10 und 11 der genannten Verordnung, die durch die Richtlinie 2004/38 aufgehoben wurden, nicht anwendbar war(16).

30.      Die vom Gerichtshof im Urteil Teixeira gefundene Lösung gilt somit für das Kind, sobald es die Volljährigkeit erreicht hat. Während der Eintritt der Volljährigkeit keine Auswirkungen auf die eigenen Rechte des Kindes hat, besteht der umgekehrte Grundsatz, der in dieser Entscheidung für das abgeleitete Recht des die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmenden Elternteils aufgestellt wird, im Verlust des Aufenthaltsrechts, und die Verlängerung dieses Rechts über die Volljährigkeit des Kindes hinaus bildet die Ausnahme. Dieser Grundsatz folgt aus der Vermutung, dass das volljährige Kind in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, doch ist diese Vermutung widerlegbar, da der Gegenbeweis erbracht werden kann, dass die Abhängigkeit des Kindes von seinem Elternteil fortbesteht.

31.      Die Formulierung des Gerichtshofs ist meines Erachtens hinreichend klar. Aus ihr wird deutlich, dass das Aufenthaltsrecht des Elternteils des seine Ausbildung absolvierenden Kindes als ein „bedingtes“ und „zweckgebundenes“ Recht verstanden wird, dessen Verlängerung über die Volljährigkeit des Kindes hinaus nur zulässig ist, wenn sie unerlässlich ist, damit es seine Ausbildung abschließen kann. Die Aufrechterhaltung dieses Rechts hängt somit von der Erforderlichkeit ab, deren Vorliegen die nationalen Behörden zu prüfen haben.

32.      Das bildungsbezogene Ziel, das mit der Aufrechterhaltung des Rechts über die Volljährigkeit des Kindes hinaus verfolgt wird, entspricht der Grundlage, die diesem Recht in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuerkannt wird und die aus der praktischen Wirksamkeit des Rechts auf Ausbildung der Kinder hergeleitet wird, das Gefahr liefe, ausgehöhlt zu werden, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, sich während der Ausbildung der Kinder persönlich um diese zu kümmern(17).

33.      Die nationalen Gerichte haben letztlich im Licht dieses bildungsbezogenen Ziels zu beurteilen, ob das Kind der Anwesenheit und der Fürsorge seines Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können.

34.      Die Frage, ob das volljährige Kind weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge seines Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können, ist meines Erachtens eine Sachverhaltsfrage, die das nationale Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu klären hat.

35.      Meiner Auffassung nach hat daher der Gerichtshof die ersten vier Fragen nicht zu beantworten, da sie ihn nötigen würden, das Gebiet des Rechts zu verlassen und sich auf das Gebiet der Tatsachen zu begeben, für das das nationale Gericht zuständig ist, dessen Freiheit bei der Würdigung der ihm vorgelegten Beweise durch die Vorgabe bestimmter Kriterien weder eingeschränkt werden kann noch eingeschränkt werden darf.

36.      In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die verschiedenen Faktoren, die berücksichtigt werden können, letztlich keine Kriterien oder Voraussetzungen sind, bei deren Nichterfüllung ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nicht erworben werden könnte, sondern bloße Indizien, anhand deren festgestellt werden kann, ob das Kind trotz Volljährigkeit weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge seines Elternteils bedarf.

37.      Eine abschließende Aufstellung dieser Indizien, die nicht einzeln, sondern im Zusammenhang zu sehen und zu gewichten sind, ist nicht möglich.

38.      Ich beschränke mich daher auf den Hinweis, dass die drei vom vorlegenden Gericht angeführten Faktoren meines Erachtens erheblich sind.

39.      So ist die erwiesene, über die Volljährigkeit des Kindes hinaus andauernde finanzielle Abhängigkeit von seinem Elternteil ein Umstand, der zu berücksichtigen ist. Entgegen der Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs wird die Annahme, dass der die elterliche Sorge für das Kind wahrnehmende Elternteil sein Kind von einem Drittland aus weiter finanziell unterstützen könne, meines Erachtens der Realität nicht gerecht. Wie der Vertreter von Frau Alarape in seinen mündlichen Ausführungen dargelegt hat, liegt es keinesfalls auf der Hand, dass der Elternteil in seinem Herkunftsstaat oder in einem anderem Drittland eine Arbeit finden könnte, die ihm ein Entgelt in der Höhe bieten würde, dass er im Aufnahmemitgliedstaat für den Unterhalt des sich in der Ausbildung befindlichen Kindes sorgen könnte. Ich sehe im Übrigen nicht das Interesse, das der Aufnahmemitgliedstaat daran haben könnte, dem Studenten eine finanzielle Unterstützung durch die eigene Familie zu entziehen und ihn zu veranlassen, das Sozialhilfesystem dieses Staats in Anspruch zu nehmen.

40.      Der Grad der emotionalen Nähe zwischen dem Elternteil und seinem volljährigen Kind kann ebenfalls berücksichtigt werden, ohne dass es erforderlich wäre, dass diese emotionale Unterstützung eine besondere Qualität, Nähe oder Intensität aufweist(18).

41.      Das Kriterium des gemeinsamen Wohnsitzes schließlich kann berücksichtigt werden, ohne dass es als entscheidend anzusehen wäre. Das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, weist zwar darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil Baumbast und R festgestellt habe, dass es der die Personensorge für das Kind tatsächlich wahrnehmenden Person ermöglicht werden müsse, mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen, doch hat der Gerichtshof meines Erachtens den gemeinsamen Wohnsitz nicht zu einer Voraussetzung für den Erwerb des Aufenthaltsrechts gemacht, sondern ist in jenem Fall, der minderjährige Kinder betraf, lediglich davon ausgegangen, dass der die elterliche Sorge der Kinder wahrnehmende Elternteil zusammen mit den Kindern wohne. Ferner hat der Gerichtshof unter den Umständen der dem Urteil Teixeira zugrunde liegenden Rechtssache, die, wie die Europäische Kommission zu Recht ausführt, der vorliegenden Rechtssache näher kommen, das abgeleitete Aufenthaltsrecht nur von der „Anwesenheit“ des Elternteils und der Leistung von „Fürsorge“ abhängig gemacht. Dass ein Kind der Anwesenheit und der Fürsorge seiner Eltern bedarf, kann aber meiner Ansicht nach nicht von vornherein deswegen ausgeschlossen werden, weil es das Elternhaus verlassen musste, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können.

42.      Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass auf die ersten vier Fragen des vorlegenden Gerichts nicht zu antworten ist, da die Beurteilung der Frage, ob es für das Kind eines Wanderarbeiters erforderlich ist, dass es nach Erreichen seiner Volljährigkeit weiter in den Genuss der Anwesenheit und Fürsorge seines die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmenden Elternteils kommt, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können, eine Tatsachenfrage ist, die ausschließlich in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt, das anhand der besonderen Umstände des Falles zu entscheiden hat.

B –    Zur fünften Frage

43.      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Kind, das das Recht ausübt, seine Ausbildung gemäß Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 im Aufnahmemitgliedstaat zu absolvieren, und der Elternteil, der die elterliche Sorge tatsächlich wahrnimmt, das in der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Recht auf Daueraufenthalt erwerben, wenn sie sich auf der Grundlage der genannten Bestimmung länger als fünf Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten haben.

44.      Die Voraussetzungen für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt durch die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, werden in den Art. 16 Abs. 2, 17 und 18 der Richtlinie 2004/38 genannt.

45.      Nach Art. 16 Abs. 2 dieser Richtlinie haben die genannten Personen das Recht, sich auf Dauer im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufzuhalten, sofern sie sich dort fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger „rechtmäßig aufgehalten“ haben.

46.      Abweichend von dem Erfordernis eines rechtmäßigen ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren zusammen mit dem Unionsbürger bestimmt Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, dass die Familienangehörigen eines Arbeitnehmers oder eines Selbständigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat haben, wenn der Unionsbürger für sich das Recht auf Daueraufenthalt vor Ablauf des ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren durch den Nachweis erwerben konnte, dass er das Rentenalter erreicht hat, seine Erwerbstätigkeit infolge einer dauernden Arbeitsunfähigkeit aufgegeben hat oder eine Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, seinen Wohnsitz jedoch im Aufnahmemitgliedstaat beibehält. Stirbt der Unionsbürger, bevor er das Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, können seine Familienangehörigen gleichwohl das Recht erwerben, sich dort dauerhaft aufzuhalten, sofern der Arbeitnehmer oder Selbständige sich seit zwei Jahren im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufgehalten hat oder der Tod infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit eingetreten ist oder sein überlebender Ehegatte die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats durch Eheschließung mit dem Arbeitnehmer oder dem Selbständigen verloren hat.

47.      Unbeschadet der Bestimmungen des Art. 17 der Richtlinie 2004/38 sieht Art. 18 der Richtlinie schließlich vor, dass bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, bei Scheidung, bei Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft die Familienangehörigen des Unionsbürgers das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, sofern sie die Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 2 und des Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie erfüllen. Diese Bestimmungen verlangen von den Betroffenen u. a., dass sie vor dem Erwerb nachweisen können, dass sie selbst die Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder d der Richtlinie erfüllen.

48.      Der Gerichtshof hat erläutert, welche Zeiten für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 der Richtlinie 2004/38 berücksichtigt werden können.

49.      In seinem Urteil Lassal vom 7. Oktober 2010(19) das eine französische Staatsangehörige betraf, die von Januar 1999 bis Februar 2005 „Arbeitnehmerin“ im Sinne des Unionsrechts gewesen war, stellte der Gerichtshof fest, dass die Erlangung eines Rechts auf Daueraufenthalt vor der Richtlinie 2004/38 in den Rechtsvorschriften der Union zur Durchführung von Art. 18 EG nicht vorgesehen war, vertrat jedoch die Auffassung, dass bei der Berechnung der ununterbrochenen Aufenthaltszeiten von fünf Jahren, die für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlich sind, nicht nur die Aufenthaltszeiten nach dem Datum der Umsetzung der Richtlinie zu berücksichtigen sind, sondern auch die Aufenthaltszeiten, die vorher „in Einklang mit … geltenden Rechtsvorschriften der Union“ zurückgelegt wurden.

50.      Der Gerichtshof hat später klargestellt, dass Aufenthaltszeiten, die bis zum 30. April 2006 allein auf der Grundlage einer nach der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft(20) rechtsgültig erteilten Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt wurden, ohne dass die Voraussetzungen für die Geltendmachung irgendeines Aufenthaltsrechts erfüllt wären, im Hinblick auf den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nicht als rechtmäßiger Aufenthalt anzusehen sind(21).

51.      In seinem Urteil Ziolkowski und Szeja vom 21. Dezember 2011(22) untersuchte der Gerichtshof die Struktur der Richtlinie 2004/38 und gelangte zu dem Ergebnis, dass „der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts, den die Wendung ‚der sich rechtmäßig … aufgehalten hat‘ in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 enthält, als ein im Einklang mit den in dieser Richtlinie vorgesehenen, insbesondere mit den in deren Art. 7 Abs. 1 aufgeführten Voraussetzungen stehender Aufenthalt zu verstehen [ist]“(23), woraus er den Schluss zog, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur auf der Grundlage des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt erworben.

52.      Der Gerichtshof hat somit die Anerkennung des Rechts auf Daueraufenthalt an die Erfüllung der Voraussetzungen geknüpft, die Art. 7 der Richtlinie 2004/38 für die Verlängerung des Rechts auf Aufenthalt über drei Monate hinaus vorsieht.

53.      Der genannte Artikel verlangt von den Betroffenen den Nachweis, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt.

54.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs, die dänische Regierung sowie die Kommission einerseits und die Organisation AIRE Centre for Advice on Individual Rights in Europe(24) sowie Frau Alarape andererseits tragen diametral entgegengesetzte Auslegungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs vor.

55.      Die Erstgenannten entnehmen dem Urteil Ziolkowski und Szeja, dass der Staatsangehörige eines Drittlands, dem fünf Jahre lang ununterbrochen ein Aufenthaltsrecht nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zustand, aus diesem Umstand allein kein Recht auf Daueraufenthalt gemäß der Richtlinie 2004/38 ableiten könne.

56.      Sie sind im Wesentlichen der Auffassung, dass das auf Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 gestützte Aufenthaltsrecht nur zum Tragen komme, soweit es erforderlich sei, um dem Kind den Abschluss seiner Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen, dass dieses Recht, das sich von den auf die Richtlinie 2004/38 gestützten Aufenthaltsrechten unterscheide, nicht die in Art. 7 der Richtlinie aufgeführten Voraussetzungen erfülle und dass bestimmte auf der Grundlage dieser Richtlinie zurückgelegte Aufenthaltszeiten für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt nicht berücksichtigt würden, wenn die Voraussetzungen bezüglich der Ausübung einer entgeltlichen Tätigkeit oder des Besitzes ausreichender Existenzmittel nicht erfüllt seien(25).

57.      AIRE Centre ist dagegen der Ansicht, dass eine Person, der fünf Jahre lang ununterbrochen ein Aufenthaltsrecht nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/38 zugestanden habe, unter entsprechender Anwendung des Art. 16 der Richtlinie 2004/38 ein Recht auf Daueraufenthalt im betreffenden Mitgliedstaat erwerbe. AIRE Centre trägt vor, dass diese Bestimmung letztlich die Integration der Arbeitnehmer mit Unionsbürgerschaft und ihrer Familie im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen solle und dass ein Aufenthalt von fünf Jahren als ein ausreichender Hinweis auf eine sichere Integration anzusehen sei. Zur Begründung dieser Auffassung führt AIRE Centre aus, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1612/38, die nach dem Erlass der Richtlinie 2004/38 in Kraft geblieben seien, zusammen mit der Richtlinie als Teil einer Gesamtregelung anzusehen seien und dass die entsprechende Anwendung des Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie zu dem vom Gerichtshof gewollten Ergebnis führe, d. h. zu einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, die den Unwägbarkeiten der verschiedenen einzelstaatlichen Rechtsordnungen entzogen sei.

58.      In ihren mündlichen Ausführungen in der Sitzung hat Frau Alarape den Ausführungen der Organisation AIRE Centre zugestimmt, jedoch ergänzt, dass kein Grund bestehe, die Rechtsprechung Lassal umzustoßen, wonach die gesamte Aufenthaltszeit zu berücksichtigen sei, die gemäß einer vor der Richtlinie 2004/38 erlassenen Regelung zurückgelegt worden sei. Im vorliegenden Fall gebe es eine vor April 2006 liegende Aufenthaltszeit, die somit zu berücksichtigen sei, und es bestehe kein Anlass, anzunehmen, dass ein Aufenthalt, der vor 2006 als „rechtmäßig“ eingestuft worden sei, es danach nicht mehr sei. Das Urteil Ziolkowski und Szeja sei zu einem völlig anderen Sachverhalt ergangen, in dem der Kläger sich auf ein Aufenthaltsrecht nach seinem nationalen Recht berufen habe.

59.      Eine Versagung des dauerhaften Aufenthaltsstatus würde nach Auffassung von Frau Alarape abschreckend wirken, insbesondere, weil die im Aufnahmemitgliedstaat erlangten Qualifikationen in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitze, von geringerem Nutzen sein könnten und weil ein Kind sich nicht integriert fühlen könne, wenn es von vornherein wisse, dass es niemals – auch nicht, wenn es sich lange in der Ausbildung befinde – die Berechtigung zum Daueraufenthalt erhalten werde.

60.      Schließlich weist Frau Alarape darauf hin, dass in jedem Fall ihr Sohn und sie selbst die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38 erfüllten.

61.      Den Ausführungen von Frau Alarape liegen somit zwei Annahmen zugrunde: Zum einen habe das Urteil Ziolkowski und Szeja die auf der Grundlage des nationalen Rechts zurückgelegten Aufenthaltszeiten außer Betracht gelassen, und zum anderen erlaube das Urteil Lassal die Berücksichtigung jeder Aufenthaltszeit, die gemäß einer vor der Richtlinie 2004/38 erlassenen Regelung zurückgelegt worden sei.

62.      Diese beiden Annahmen sind meines Erachtens unzutreffend.

63.      Aus dem Urteil Ziolkowski und Szeja geht eindeutig hervor, dass der Gerichtshof zwischen den Aufenthaltszeiten, die den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt zulassen, und denen, die diesen Erwerb nicht zulassen, nicht anhand des Ursprungs dieses Rechts, sondern anhand seiner Natur unterschieden hat. Der Gerichtshof hat mit anderen Worten nicht das Unionsrecht dem nationalen Recht gegenübergestellt, sondern die Aufenthaltszeiten, die die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 aufgeführten wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen, den Aufenthaltszeiten, die diesen Voraussetzungen nicht genügen.

64.      Der Gerichtshof hat daher in seiner Antwort auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts klargestellt, dass ein Unionsbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur auf der Grundlage des nationalen Rechts zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt erworben, „wenn er während dieser Aufenthaltszeit die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht erfüllt hat“(26), woraus e contrario zu entnehmen ist, dass der Betroffene ein Recht auf Daueraufenthalt hätte erwerben können, wenn seinem Aufenthalt zwar das nationale Recht zugrunde gelegen hätte, er jedoch im Übrigen die genannten Voraussetzungen erfüllt hätte.

65.      Überdies hat der Gerichtshof in seiner Antwort auf die zweite Frage erläutert, dass für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Europäischen Union zu berücksichtigen sind, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zurückgelegt wurden. Diese Aufenthaltszeiten können aber auf jeden Fall nur gemäß dem nationalen Recht des Aufnahmemitgliedstaats zurückgelegt worden sein(27).

66.      Im Licht dieses Urteils, dessen Ansatz im Urteil Czop und Punakova vom 6. September 2012(28) übernommen worden ist, wird somit deutlich, dass Aufenthaltszeiten, die nur auf der Grundlage des nationalen Rechts, jedoch unter Voraussetzungen zurückgelegt wurden, die denen der Richtlinie 2004/38 entsprechen, für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt berücksichtigt werden können. Es wird sich in der Praxis um Aufenthaltszeiten handeln, die ein Unionsbürger oder ein Angehöriger seiner Familie vor der Umsetzung der Richtlinie 2004/38 oder ein Drittstaatsangehöriger vor dem Beitritt dieses Staats zur Union zurückgelegt hat.

67.      Es bleibt die Frage, ob umgekehrt Aufenthaltszeiten berücksichtigt werden können, die auf der Grundlage des Unionsrechts zurückgelegt wurden, jedoch nicht die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38 erfüllen.

68.      Das Urteil Lassal für sich allein könnte auf den ersten Blick für eine Bejahung dieser Frage sprechen, da es zulässt, dass jede Aufenthaltszeit, die „in Einklang mit [vor dem Datum für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38] geltenden Rechtsvorschriften der Union“ zurückgelegt wurde, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt berücksichtigt wird, ohne diese Berücksichtigung auf bestimmte Fälle wie die, in denen das frühere Recht bereits ein Recht auf Daueraufenthalt vorsah, zu beschränken.

69.      Die Tragweite dieses Urteils ist jedoch unter Berücksichtigung der Angaben des Gerichtshofs zum Sachverhalt und der Erläuterungen im Urteil Ziolkowski und Szeja zu beurteilen. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass Frau Lassal „Arbeitnehmerin“ im Sinne des Unionsrechts war(29), woraus sich ergibt, dass sie vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2004/38 dieselben Voraussetzungen erfüllte, wie sie später in Art. 7 der Richtlinie aufgestellt wurden. Im Licht des Urteils Ziolkowski und Szeja ist kein anderes Ergebnis als die Feststellung möglich, dass der vor dem Datum der Umsetzung der Richtlinie zurückgelegte Aufenthalt, um rechtmäßig zu sein, im Einklang mit den Rechtsvorschriften der Union stehen musste, die das Aufenthaltsrecht an Voraussetzungen knüpften, die den in Art. 7 der Richtlinie angeführten entsprachen.

70.      Es ist noch zu klären, ob eine entsprechende Anwendung des Art. 16 der Richtlinie 2004/38 geboten ist, weil Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zusammen mit der Richtlinie eine kohärente „Gesamtregelung“ darstellt.

71.      Die Anerkennung der Eigenständigkeit des Aufenthaltsrechts durch die Rechtsprechung steht meines Erachtens im Mittelpunkt der Untersuchung, die zur Beantwortung dieser Frage vorzunehmen ist.

72.      Die Eigenständigkeit des Aufenthaltsrechts kann Anlass zu zwei widerstreitenden Erwägungen sein.

73.      Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs, die dänische Regierung und die Kommission vortragen, scheint es die Eigenständigkeit des auf Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 gestützten Aufenthaltsrechts zu verbieten, aus ihm im Wege der Analogie ein Äquivalent des zweiten Grades – Aufenthalt von mehr als drei Monaten – in der schrittweisen Integration nach der Richtlinie 2004/38 zu machen.

74.      Das Argument, das aus der Eigenständigkeit des Aufenthaltsrechts der die Ausbildung absolvierenden Kinder hergeleitet wird, lässt sich jedoch umkehren, und es kann eine völlig entgegengesetzte Auffassung vertreten werden. Die Rechtsprechung hat dieses Aufenthaltsrecht von dem Erfordernis des Besitzes von Existenzmitteln und einer Krankenversicherung befreit, da es „nicht auf … wirtschaftliche Autonomie gestützt [ist], sondern darauf, dass das Ziel der Verordnung Nr. 1612/68, nämlich die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, bestmögliche Bedingungen für die Integration der Familie des Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat erfordert“(30). Da den Kindern und den die elterliche Sorge für sie wahrnehmenden Elternteilen ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate zusteht, das dem in Art. 7 der Richtlinie 2004/38 geregelten Aufenthaltsrecht entspricht, die Ausübung dieses Aufenthaltsrechts jedoch nicht von den Voraussetzungen dieses Artikels abhängt, wäre es widersinnig, wenn für den Erwerb des dauerhaften Aufenthaltsstatus die genannten Voraussetzungen wieder eingeführt würden. Dieser Widerspruch wäre umso frappierender, als sich der Grundsatz der Eigenständigkeit des Aufenthaltsrechts, der aufgestellt wurde, um das Kind durch Befreiung vom Erfordernis der finanziellen Unabhängigkeit zu begünstigen, letztlich gegen den Begünstigten wenden würde, indem ihm der Zugang zum dauerhaften Aufenthaltsstatus verschlossen würde(31).

75.      Darüber hinaus erscheint die Wiedereinführung des Erfordernisses der finanziellen Unabhängigkeit, die ein hinreichendes Band der Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats beweisen soll, kaum vereinbar mit dem Gedanken, dass dem Aufenthaltsrecht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen die Vermutung der Integration zugrunde liegt, die darauf beruht, dass sie Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil Kommission/Niederlande vom 14. Juni 2012(32) zunächst auf die Unterscheidung zwischen Wanderarbeitnehmern und ihren Familienangehörigen einerseits und den wirtschaftlich nicht tätigen Unionsbürgern andererseits hingewiesen und sodann festgestellt, dass sich vor allem bezüglich der Wanderarbeitnehmer das Band der Integration insbesondere daraus ergibt, dass der Wanderarbeitnehmer mit den Sozialabgaben, die er im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihm ausgeübten Tätigkeit entrichtet, auch zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staates beiträgt und davon unter den gleichen Bedingungen profitieren muss wie die inländischen Arbeitnehmer(33).

76.      Würde das Band der Integration nicht vermutet, sondern müsste es nachgewiesen werden, wäre im Übrigen auch die Auffassung möglich, dass ein hinreichendes Maß an Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats geschaffen ist, wenn ein Kind, nachdem es sich in diesem Staat als Familienangehöriger eines Wanderarbeitnehmers niedergelassen hat, dort seine gesamte Grundschul- und Sekundarstufenausbildung absolviert und anschließend dort ein Hochschuldstudium aufnimmt.

77.      Zwar bin ich empfänglich für das Argument, das auf den tatsächlichen Grad der Integration in den Aufnahmemitgliedstaat abstellt und das mich veranlasst hat, in meinen Schlussanträgen in der dem Urteil Ziolkowski und Szeja zugrunde liegenden Rechtssache vorzuschlagen, in den Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts die allein nach nationalem Recht zurückgelegten Aufenthaltszeiten einzubeziehen, indem der „rechtmäßige Aufenthalt“ im Sinne der Richtlinie 2004/38 mit einem ordnungsgemäßen Aufenthalt gleichgesetzt wird. Angesichts des genannten Urteils bin ich jedoch der Auffassung, dass die gemäß Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegten Aufenthaltszeiten nicht für Zwecke des Erwerbs des dauerhaften Aufenthaltsstatus berücksichtigt werden dürfen.

78.      Zu dieser Auffassung bin ich aus folgenden Erwägungen gelangt.

79.      Erstens handelt es sich weder bei dem Umstand, dass die Verordnung Nr. 1612/68 auf der Vermutung der Integration beruht, noch bei dem Umstand, dass das Kind, das seine Ausbildung absolviert, meist den Beweis für ein tatsächlich bestehendes Band der Integration in den Aufnahmemitgliedstaat erbringen kann, um Faktoren, die für den Erwerb des dauerhaften Aufenthaltsstatus erheblich sind.

80.      Die Ratio des Urteils Ziolkowski und Szeja kann meines Erachtens in der Notwendigkeit gesehen werden, das vom Gesetzgeber der Union gewollte Gleichgewicht zwischen den Erfordernissen der Freizügigkeit und der Integration einerseits und den finanziellen Belangen der Mitgliedstaaten andererseits aufrechtzuerhalten. Dieses Bemühen um Gleichgewicht äußert sich in einem anspruchsvollen Verständnis vom Grad der Integration, denn der Gerichtshof hat festgestellt, dass „der Integrationsgedanke, der dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts … zugrunde liegt, nicht nur auf territoriale und zeitliche Umstände, sondern auch auf qualitative Elemente im Zusammenhang mit dem Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat abstellt“(34). Da die „Qualität“ der Integration ausschließlich an der Voraussetzung der finanziellen Unabhängigkeit gemessen wird, wäre es nach meinem Eindruck allerdings realitätsgerechter, hieraus den Schluss zu ziehen, dass die Voraussetzungen für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt letztlich unabhängig vom Grad der Integration des Antragstellers im Aufnahmemitgliedstaat sind.

81.      Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68, der es dem Kind eines Wanderarbeitnehmers ermöglichen soll, seine Ausbildung fortzusetzen und abzuschließen, so dass der Arbeitnehmer nicht von der Ausübung seiner Freizügigkeit abgehalten wird, gilt auch für die Kinder ehemaliger Wanderarbeitnehmer(35) und verlangt nur, dass das Kind mit seinen Eltern oder einem Elternteil in der Zeit in einem Mitgliedstaat lebte, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte(36). Der Zusammenhang mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, der als Rechtfertigung der Vermutung eines hinreichenden Maßes an Integration angesehen wird, kann sich daher als sehr schwach erweisen, insbesondere wenn der Unionsbürger, von dem das Kind seine Rechte ableitet, mehrere Jahre zuvor und nur sehr kurze Zeit gearbeitet hat. Es liegt somit nahe, von den Kindern, die ihre Ausbildung absolvieren, zu verlangen, dass sie selbst die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllen.

82.      Wollte man die Berücksichtigung der auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegten Aufenthaltszeiten zulassen, würde man zudem Gefahr laufen, ohne triftigen Grund die Kluft zwischen zwei Gruppen von Nichterwerbstätigen zu verstärken, nämlich zwischen denen, denen Rechte nur zustehen, wenn sie finanziell unabhängig sind, und denen, die dieser Voraussetzung nur deswegen nicht unterliegen, weil ihr Aufenthaltsrecht in dem Aufenthaltsrecht eines Wanderarbeitnehmers begründet ist.

83.      Zweitens entspricht die Berücksichtigung der auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegten Aufenthaltszeiten nicht der allgemeinen Systematik der Bestimmungen der Richtlinie 2004/38, die die Voraussetzungen regeln, denen der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts unterliegt, wenn das Aufenthaltsrecht trotz Eintritt eines Ereignisses aufrechterhalten bleibt, durch das den Betreffenden ihre Eigenschaft als Familienangehörige eines Unionsbürgers genommen wird.

84.      Nach Art. 12 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 können zwar die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, unter bestimmten Voraussetzungen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers, bei Scheidung, bei Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft erwerben, doch werden die in Ausübung dieses Rechts zurückgelegten Zeiten für die Zwecke des Erwerbs eines Rechts auf Daueraufenthalt nur berücksichtigt, wenn die Betreffenden selbst die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen.

85.      Wichtiger noch ist die Feststellung, dass in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38, der im besonderen Fall des Wegzugs oder des Todes des Unionsbürgers die Situation der in einer Bildungseinrichtung eingeschriebenen Kinder und ihrer die elterliche Sorge für sie tatsächlich wahrnehmenden Elternteile regeln soll, jeder Hinweis auf den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts fehlt.

86.      Die genannte Bestimmung sieht vor, dass trotz des Wegzugs oder des Todes des Unionsbürgers das Aufenthaltsrecht der Kinder und der Eltern, die die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnehmen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit „bis zum Abschluss der Ausbildung[(37)] [fortbesteht], wenn sich die Kinder im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschrieben sind“.

87.      Der mit Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 verfolgte Zweck wird im Licht des von der Kommission am 23. Mai 2001 vorgelegten Richtlinienvorschlags(38) deutlich, in dem es heißt, dass „[i]n diesen Absatz … ein Grundsatz festgeschrieben [ist], der sich aus dem Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen 389/87 und 390/87, Echternach und Moritz, vom 15. März 1989[(39)] ergibt. Er stellt auf die Situation der Kinder von Unionsbürgern ab, die selbst nicht EU-Bürger sind, die zur Schule gehen, sich in das Schulsystem im Aufnahmestaat integriert haben und sich aufgrund sprachlicher, kultureller oder anderer Gründe schwierig in ein neues Schulsystem einfügen könnten: [F]ür diese Personen kann es sich nachteilig auswirken, dass ein Elternteil, der Unionsbürger ist, aus beruflichen oder anderen Gründen das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verlässt. Ihr Aufenthaltsrecht, das auf die Dauer des Studiums begrenzt werden kann, ist an die Bedingung geknüpft, dass sie in einer weiterführenden oder darauf aufbauenden Bildungseinrichtung eingeschrieben sind, da es in diesem Stadium der Ausbildung viel schwieriger wird, sich in ein neues Schulsystem zu integrieren.“(40)

88.      Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 schafft zwar kein eigenständiges und umfassendes Aufenthaltsrecht, das dem des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 gleichwertig wäre(41), doch orientiert sich die erstgenannte Bestimmung, die die besondere Bedeutung veranschaulicht, die die Richtlinie der Lage der im Aufnahmemitgliedstaat eine Ausbildung absolvierenden Kinder und der die elterliche Sorge für sie wahrnehmenden Elternteile beimisst(42), unmittelbar an der Rechtsprechung, die sie – sei es auch nur teilweise – konsolidieren soll.

89.      Art. 18 der Richtlinie 2004/38, der den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt durch Familienangehörige regelt, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, betrifft jedoch nur die in Art. 12 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie genannten Familienangehörigen eines Unionsbürgers, nicht aber die in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschriebenen Kinder gemäß Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie, die somit ein Recht auf Daueraufenthalt nicht erwerben können.

90.      Würde man daher die auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegten Aufenthaltszeiten für die Zwecke des Erwerbs des dauerhaften Aufenthaltsstatus berücksichtigen, würde sich daraus eine Ungleichbehandlung ergeben, die kaum zu rechtfertigen wäre.

91.      So könnte z. B. ein Kind, das vier Jahre lang mit seinem Vater gelebt hat, der Unionsbürger ist und zwar wirtschaftlich nicht tätig ist, aber über ausreichende Existenzmittel und eine Krankenversicherung verfügt, nach dem Tod des Vaters keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus erwerben, obwohl es mehrere Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats seine Ausbildung absolviert hat, während das Kind des Ehegatten eines Unionsbürgers, der sich hat scheiden lassen und seine Familie nach sechs Monaten Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat verlassen hat, die Berücksichtigung der seinem Schulbesuch entsprechenden Aufenthaltszeiten verlangen könnte.

92.      Zwar hat sich das Aufenthaltsrecht des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68, auch wenn es seinen Ursprung darin hat, dass ein Elternteil Wanderarbeitnehmer ist, davon gelöst, um u. a. nicht der Voraussetzung der finanziellen Unabhängigkeit zu unterliegen, doch bin ich angesichts der vom Gerichtshof gewählten Auslegung des Begriffs des rechtmäßigen Aufenthalts im Ergebnis der Auffassung, dass die Befreiung von dieser Voraussetzung nicht auf den Erwerb des dauerhaften Aufenthaltsstatus ausgedehnt werden kann.

93.      Diese Lösung bringt freilich Nachteile für die Personen mit sich, die ihre Rechte ausschließlich aus Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ableiten, ohne darüber hinaus nachweisen zu können, dass sie die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38 erfüllen. Die Lage dieser Personen wird nach Abschluss ihrer Ausbildung – an deren Fortdauer sie überdies ein Interesse haben werden – prekär, da sie Ausweisungsmaßnahmen ausgesetzt sein können, auch wenn die Durchführung dieser Maßnahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen ihr Recht auf Privat- und Familienleben unterzogen werden kann.

94.      Es erscheint jedoch nicht unlogisch, anzunehmen, dass der Bedeutung der Rechte, die der dauerhafte Aufenthaltsstatus verleiht, der, wenn er einmal erlangt ist, ohne jegliche Bedingungen einen Anspruch auf Sozialhilfe begründet, als Ausgleich die Strenge der für seinen Erwerb aufgestellten Voraussetzungen gegenüberstehen muss. Die Aufstellung strenger, aber eindeutiger Voraussetzungen für den Erwerb des dauerhaften Aufenthaltsstatus entsprechen zudem zweifellos einem Gebot der Rechtssicherheit, das ernsthaft in Frage gestellt wäre, wenn der Gerichtshof seine jüngste im Urteil Ziolkowski und Szeja entwickelte Rechtsprechung abändern würde.

95.      Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die fünfte Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass die Aufenthaltszeiten, die allein auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegt wurden, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erfüllt wurden, nicht für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt berücksichtigt werden können.

II – Ergebnis

96.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, vorgelegte fünfte Frage wie folgt zu beantworten:

Die Aufenthaltszeiten, die allein auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft zurückgelegt wurden, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG erfüllt wurden, dürfen für die Zwecke des Erwerbs des in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechts auf Daueraufenthalt nicht berücksichtigt werden.


1 – Originalsprache: Französisch.


2–      ABl. L 257, S. 2.


3–      ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35, und im ABl. L 204, S. 28.


4 – Vgl. in diesem Sinne J.‑Y. Carlier, „Le devenir de la libre circulation des personnes dans l’Union européenne: regard sur la directive 2004/38“, Cahiers de droit européen, 2006, S. 13 ff., S. 23 und 28, sowie A. Iliopoulou, „Le nouveau droit de séjour des citoyens de l’Union et des membres de leur famille: la directive 2004/38/CE“, Revue de droit de l’Union européenne, 2004, S. 523 ff. und S. 539.


5–      Urteil vom 20. September 2001 (C‑184/99, Slg. 2001, I‑6193, Randnr. 31).


6–      Vgl. Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, Slg. 2011, I-11315, Randnr. 62).


7–      Vgl. die Art. 2 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben (ABl. L 142, S. 24), und der Richtlinie 75/34/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben (ABl. 1975, L 14, S. 10).


8–      Vgl. Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.


9–      Vgl. Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.


10–      ABl. L 141, S. 1.


11–      C‑413/99, Slg. 2002, I‑7091.


12–      Randnr. 73 des Urteils Baumbast und R.


13–      C‑480/08, Slg. 2010, I‑1107.


14–      Randnrn. 86 f. des Urteils Teixeira.


15 – Urteil vom 23. Februar 2010, Ibrahim und Secretary of State for the Home Department (C‑310/08, Slg. 2010, I‑1065, Randnr. 35). Vgl. auch Urteil Teixeira (Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16–      Urteil vom 4. Mai 1995, Gaal (C‑7/94, Slg. 1995, I‑1031, Randnr. 25). Vgl. auch Urteile Ibrahim und Secretary of State for the Home Department (Randnr. 35) sowie Teixeira (Randnrn. 82 f.).


17–      Vgl. in diesem Sinne Urteil Teixeira (Randnr. 71).


18 – Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der sich wiederholt auf den Standpunkt gestellt hat, dass die Beziehungen zwischen jungen Erwachsenen, die noch keine eigene Familie gegründet haben, und ihren Eltern ein Familienleben darstellen können, nicht verlangt, dass diese Beziehungen eine besondere Intensität aufweisen. So berief sich in der Rechtssache Bousarra/Frankreich (vgl. EGMR, Urteil Boussara/Frankreich vom 23. September 2010) die französische Regierung zwar darauf, dass der volljährige, unverheiratete und kinderlose Beschwerdeführer nicht nachgewiesen habe, dass er mit seinen Eltern „andere als normale emotionale Beziehungen“ unterhalten habe (Randnr. 34); gleichwohl bejahte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Recht auf Schutz des Familienlebens, ohne dass der Nachweis besonderer emotionaler Beziehungen festgestellt wurde.


19–      C‑162/09, Slg. 2010, I‑9217.


20–      ABl. L 257, S. 13.


21–      Vgl. Urteil vom 21. Juli 2011, Dias (C‑325/09, Slg. 2011, I-6387, Randnr. 66).


22–      C‑424/10 und C‑425/10, Slg. 2011, I-14035.


23–      Randnr. 46.


24 – Im Folgenden: AIRE Centre.


25 – Die Kommission nennt beispielhaft Art. 12 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, die die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts von Drittstaatsangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers und bei Beendigung der Ehe betreffen.


26 – Vgl. Urteil Ziolkowski und Szeja (Randnr. 28).


27 – Wie der Gerichtshof im Übrigen ausdrücklich in Randnr. 61 des Urteils Ziolkowski und Szeja feststellt.


28–      C‑147/11 und C‑148/11.


29–      Urteil Lassal (Randnr. 18).


30–      Urteil Teixeira (Randnr. 66).


31 – Vgl. zu einer ähnlich paradoxen Situation Urteil Dias. Die Auffassung, dass das Ausstellen eines Aufenthaltstitels ein deklaratorischer und kein konstitutiver Akt ist, die für den Unionsbürger im Allgemeinen vorteilhaft ist, weil der Aufenthalt eines Unionsbürgers nicht allein deshalb als illegal im Sinne des Unionsrechts eingestuft werden darf, weil er keine Aufenthaltskarte besitzt, gereicht ihm insofern zum Nachteil, als sie ausschließt, dass der Aufenthalt eines Unionsbürgers allein deshalb als legal im Sinne des Unionsrechts angesehen werden darf, weil dem Unionsbürger ein solcher Aufenthaltstitel rechtsgültig ausgestellt wurde. Vgl. auch die Kommentierung dieses Urteils durch F. Kauff-Gazin, Revue Europe, 2011, Nr. 10, Kommentar 337.


32–      C‑542/09.


33–      Randnr. 66 des Urteils Kommission/Niederlande.


34–      Urteil Dias (Randnr. 64).


35–      Vgl. Urteil Kommission/Niederlande (Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36–      Ebd. (Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


37–      Hervorhebung nur hier.


38 – Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (KOM[2001] 257 endg., S. 16).


39–      Slg. 1989, 723.


40 – S. 15, Nr. 3 des oben genannten Richtlinienvorschlags.


41–      Vgl. hierzu Nr. 52 der Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache, in der das Urteil Teixeira ergangen ist. Vgl. für eine weite Auslegung dieser Bestimmung, die über den Wortlaut hinausgeht, so dass insbesondere auch der Fall der Scheidung erfasst wird, P. Starup und M.-J. Elsmore, „Taking a logical or giant step forward? Comment on Ibrahim and Teixeira“, European Law Review 2010, S. 571, insbesondere S. 583.


42 – Vgl. in diesem Sinne Urteile Ibrahim und Secretary of State for the Home Department (Randnr. 58) sowie Teixeira (Randnr. 69).