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Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n.° 8 de Madrid (Spanien), eingereicht am 13. Februar 2018 – Domingo Sánchez Ruiz/Comunidad de Madrid (Servicio Madrileño de Salud)

(Rechtssache C-103/18)

Verfahrenssprache: Spanisch

Vorlegendes Gericht

Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n.° 8 de Madrid

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kläger: Domingo Sánchez Ruiz

Beklagte: Comunidad de Madrid (Servicio Madrileño de Salud)

Vorlagefragen

Kann eine Situation wie die im vorliegenden Fall beschriebene (der öffentliche Arbeitgeber verstößt gegen die gesetzlich vorgeschriebenen zeitlichen Begrenzungen und ermöglicht so den Abschluss aufeinanderfolgender befristeter Verträge bzw. er behält die Befristung bei und ändert nur die Vertragsart von Aushilfspersonal zu Interims- oder Vertretungspersonal) als missbräuchliche Verwendung aufeinanderfolgender Verträge und somit als in Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG1 beschriebene Situation angesehen werden?

Sind die Bestimmungen der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70 [EG] in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass sie nationalen Verfahrensvorschriften entgegenstehen, die von einem befristet beschäftigten Arbeitnehmer, damit er den Schutz durch die Gemeinschaftsrichtlinie und die von der Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte in Anspruch nehmen kann, eine aktive Anfechtung oder Einlegung eines Rechtsbehelfs (in Bezug auf alle aufeinanderfolgenden Verträge und Entlassungen) fordern?

Unter Berücksichtigung des Umstands, dass im öffentlichen Sektor und bei der Grundversorgung der Beschäftigungsbedarf wegen unbesetzter Stellen, Krankheit, Urlaub etc. im Grunde genommen „ständig“ ist und der Begriff „sachlicher Grund“, der eine befristete Anstellung rechtfertigen würde, umgrenzt werden muss:

Kann davon ausgegangen werden, dass eine Situation, in der bei einem befristet beschäftigten Arbeitnehmer aufeinanderfolgende Interimsverträge ohne Unterbrechung aneinandergereiht werden und dieser aufgrund von aufeinanderfolgenden Anstellungen/Verträgen, die vollkommen stabil über Jahre fortlaufen und stets dem Grund der Anstellung entsprechen, an allen oder fast allen Tagen des Jahres arbeitet, gegen die Richtlinie 1999/70/EG (Paragraf 5 Abs. 1 Buchst. a) verstößt und somit kein sachlicher Grund vorliegt?

Ist davon auszugehen, dass unter den beschriebenen Umständen, d. h. bei unzähligen, über Jahre fortlaufenden Anstellungen/Verträgen und einem strukturellen Mangel, der sich am Prozentsatz des Interimspersonals im fraglichen Sektor [und/oder] daran zeigt, dass dieser Personalbedarf immer und regelmäßig mit befristet beschäftigten Arbeitnehmern gedeckt wird, die so dauerhaft zu einem wesentlichen Faktor bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen werden, ein ständiger und kein vorübergehender Bedarf vorliegt, der folglich nicht als „sachlicher Grund“ im Sinne von Paragraf 5 [Abs.] 1 [Buchst.] a eingestuft werden kann?

Oder kann davon ausgegangen werden, dass für die Festlegung der zulässigen Grenzen der befristeten Beschäftigungsverhältnisse nur auf den Wortlaut der Vorschrift abgestellt werden darf, die die Verwendung der befristeten Arbeitsverträge regelt und der zufolge befristet beschäftigtes Personal aus Gründen der Erforderlichkeit, Dringlichkeit oder zur Durchführung von Programmen zeitlich begrenzter, konjunktureller oder außerordentlicher Art ernannt werden kann, d. h., dass der Einsatz dieses Personals, damit ein sachlicher Grund vorliegt, in Anbetracht dieser außergewöhnlichen Umstände erfolgen muss und dass der sachliche Grund wegfällt und somit ein Missbrauch vorliegt, wenn der Einsatz nicht mehr im Einzelfall, gelegentlich und umstandsgebunden erfolgt?

Ist es mit der Rahmenvereinbarung im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG vereinbar, dass Gründe der Erforderlichkeit oder Dringlichkeit oder die Durchführung von Programmen zeitlich begrenzter, konjunktureller oder außerordentlicher Art als sachliche Gründe für den Abschluss und die aufeinanderfolgende Verlängerung von befristeten Arbeitsverträgen für statutarisches Informatikpersonal angesehen werden, wenn diese öffentlichen Bediensteten ständig und dauerhaft die gewöhnlichen Aufgaben des unbefristet beschäftigten statutarischen Personals wahrnehmen, ohne dass die betreffende Behörde Höchstgrenzen für die Vertragsschlüsse festsetzt, ihre gesetzlichen Pflichten zur Deckung dieses Bedarfs und zur Besetzung dieser Stellen mit unbefristet beschäftigten Beamten erfüllt oder gleichwertige Maßnahmen zur Vorbeugung und Verhinderung der missbräuchlichen Verwendung von aufeinanderfolgenden befristeten Arbeitsverträgen ergreift, mit der Folge, dass die befristete Anstellung des statutarischen Informatikpersonals fortbesteht, im vorliegenden Fall für einen ununterbrochenen Zeitraum von 17 Jahren?

Sind die Bestimmungen der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70[/EG] und ihre Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union mit der Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vereinbar, in der für das Vorliegen eines sachlichen Grundes – ohne Beachtung weiterer Parameter – darauf abgestellt wird, ob der Anstellungsgrund und die damit verbundene zeitliche Begrenzung beachtet werden, oder festgestellt wird, dass ein Vergleich mit einem Berufsbeamten aufgrund der unterschiedlichen Rechtsvorschriften und Zugangssysteme sowie der Dauerhaftigkeit der Aufgaben der Berufsbeamten und der zeitlichen Begrenzung der Aufgaben des Interimspersonals nicht möglich sei?

Wenn das nationale Gericht eine missbräuchliche Verwendung von aufeinanderfolgenden Verträgen mit Interimskräften (für eine Übergangszeit befristet beschäftigtes statutarisches Personal) im Dienst des Servicio Madrileño de la Salud der Comunidad de Madrid, die zur Deckung des ständigen und strukturellen Bedarfs hinsichtlich der Erbringung der Dienstleistungen der unbefristet beschäftigten statutarischen Bediensteten eingesetzt werden, feststellt und in der nationalen Rechtsordnung keine wirksamen Maßnahmen existieren, um diesen Missbrauch zu ahnden und die Folgen des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beseitigen, ist dann Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung im Anhang an die Richtlinie 1999/70/EG dahin auszulegen, dass er das nationale Gericht verpflichtet, effektive und abschreckende Maßnahmen zu ergreifen, die die praktische Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung sicherstellen, und somit diesen Missbrauch zu ahnden und die Folgen des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beseitigen, indem es die nationale Vorschrift, die dies verhindert, unangewendet lässt?

Falls die Frage bejaht wird, entsprechend dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 14. September 2016, Rn. 41 (Rechtssachen C-184/15 und C-197/15)2 :

Wäre es mit den Zielen der Richtlinie 1999/70/EG vereinbar, wenn das befristete öffentliche Interims-/Aushilfs-/Vertretungsanstellungsverhältnis als Maßnahme zur Verhinderung und Ahndung der missbräuchlichen Verwendung aufeinanderfolgender befristeter Verträge und zur Beseitigung der Folgen des Verstoßes gegen das Unionsrecht in ein dauerhaftes öffentliches Anstellungsverhältnis umgewandelt wird, unabhängig davon, ob dieses als festes oder unbefristetes öffentliches Anstellungsverhältnis bezeichnet wird, sofern es ein ebenso festes Beschäftigungsverhältnis darstellt wie bei den vergleichbaren unbefristet beschäftigten statutarischen Bediensteten?

Kann im Fall einer missbräuchlichen Verwendung von aufeinanderfolgenden befristeten Verträgen in Bezug auf die Umwandlung des befristeten öffentlichen Interimsbeschäftigungsverhältnisses in ein unbefristetes oder festes Beschäftigungsverhältnis davon ausgegangen werden, dass nur dann die Ziele der Richtlinie 1999/70/EG und ihrer Rahmenvereinbarung erfüllt sind, wenn dem befristet beschäftigten statutarischen Bediensteten, bei dessen Anstellung der Missbrauch erfolgte, dieselben Arbeitsbedingungen gewährt werden wie den unbefristet beschäftigten statutarischen Bediensteten (in Bezug auf sozialen Schutz, Beförderungen, Stellenbesetzungen, berufliche Weiterbildung, Beurlaubungen, dienstrechtliche Stellung, Urlaub und Freistellungen, Pensionsansprüche, Ansprüche bei Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses sowie Teilnahme an Ausschreibungen zur Besetzung freier Stellen und Beförderung), unter Geltung der Grundsätze der Dauerhaftigkeit und Unversetzbarkeit und mit allen entsprechenden Rechten und Pflichten und unter Gleichstellung mit den unbefristet beschäftigten statutarischen Informatikern?

Verpflichtet das Gemeinschaftsrecht unter diesen Umständen dazu, rechtskräftige Gerichtsurteile bzw. bestandskräftige Verwaltungsakte zu revidieren, wenn die folgenden vier im Urteil Kühne & Heitz NV (C-453/00 vom 13. Januar 20043 ) geforderten Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Die Behörden und die Gerichte sind nach spanischem Recht befugt, die betreffende Entscheidung zu revidieren, jedoch mit den genannten Einschränkungen, die dies sehr erschweren oder unmöglich machen; 2. die betreffenden Entscheidungen sind infolge eines Urteils eines in letzter/einziger Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig/rechtskräftig geworden; 3. dieses Urteil beruht auf einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verstößt und erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde; und [4]. der Betroffene hat sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von dieser Rechtsprechung erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt?

Sind die nationalen Gerichte, die als europäische Gerichte die volle Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten haben, befugt oder verpflichtet, die nationale Behörde eines Mitgliedstaats anzuweisen und dazu zu verurteilen, – innerhalb ihrer jeweiligen Zuständigkeiten – die entsprechenden Vorschriften zur Aufhebung der gegen das Unionsrecht im Allgemeinen und die Richtlinie 1999/70/EG und ihre Rahmenvereinbarung im Besonderen verstoßenden nationalen Vorschriften zu erlassen?

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1     Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. 1999, L 17, S. 443).

2     Urteil vom 14. September 2016, Martínez Andrés und Castrejana López (C-184/15 und C-197/15, EU:C:2016:680).

3     Urteil vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C-453/00, EU:C:2004:17).