Language of document : ECLI:EU:C:2010:626

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

21. Oktober 2010(*)

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten –Art. 4 – Gründe, aus denen eine Vollstreckung des Haftbefehls abgelehnt werden kann – Art. 4 Nr. 6 – Haftbefehl zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe – Art. 5 – Vom Ausstellungsmitgliedstaat zu gewährende Garantien – Art. 5 Nr. 1 – Verurteilung in Abwesenheit – Art. 5 Nr. 3 – Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung – Übergabe unter der Bedingung, dass die gesuchte Person in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird – Gemeinsame Anwendung von Art. 5 Nrn. 1 und 3 – Vereinbarkeit“

In der Rechtssache C‑306/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht von der Cour Constitutionnelle (Belgien) mit Entscheidung vom 24. Juli 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2009, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

I. B.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richterinnen C. Toader und M. Berger,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Mai 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von I. B., vertreten durch P. Huget, avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigten im Beistand von J. Bourtembourg und F. Belleflamme, avocats,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und J. Kemper als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und C. Meyer-Seitz als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch I. Rao als Bevollmächtigte,

–        des Rates der Europäischen Union, vertreten durch O. Petersen und I. Gurov als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juli 2010

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3, 4 Nr. 6 und 5 Nrn. 1 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) sowie die Gültigkeit der genannten Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch das Tribunal de première instance de Nivelles (Belgien), der am 13. Dezember 2007 vom Tribunalul București (Landgericht Bukarest) (Rumänien) (im Folgenden auch: rumänische ausstellende Justizbehörde) gegen I. B., einen rumänischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Belgien, zum Zweck der Vollstreckung einer Gefängnisstrafe von vier Jahren, die durch eine in Abwesenheit ergangene gerichtliche Entscheidung verhängt worden war, ausgestellt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Aus der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 (ABl. L 114, S. 56) veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam geht hervor, dass das Königreich Belgien eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben hat, mit der es die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Entscheidungen gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkannt hat.

4        Gemäß Art. 10 Abs. 1 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen, das einen Anhang zum AEU-Vertrag bildet, bleiben die Befugnisse des Gerichtshofs nach Titel VI des EU-Vertrags bei Rechtsakten der Union, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurden, unverändert, einschließlich in den Fällen, in denen sie nach Art. 35 Abs. 2 EU anerkannt wurden.

 Rahmenbeschluss 2002/584

5        Die Erwägungsgründe 1, 5, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:

„(1)      Nach den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999 … sollten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander die förmlichen Verfahren zur Auslieferung von Personen, die sich nach einer rechtskräftigen Verurteilung der Justiz zu entziehen suchen, abgeschafft und die Verfahren zur Auslieferung von Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig sind, beschleunigt werden.

(5)      Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(10)      Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.

(12)      Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EU] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. …

…“

6        Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

7        Art. 2 („Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt in Abs. 1:

„Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Hoechstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.“

8        Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nennt drei „Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“.

9        Art. 4 des Rahmenbeschlusses ist überschrieben mit „Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“, und zählt diese Gründe in sieben Nummern auf. Nr. 6 lautet:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

6.      wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken“.

10      Art. 5 („Vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährende Garantien“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

1.      Ist der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung ausgestellt worden, die in einem Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, und ist die betroffene Person nicht persönlich vorgeladen oder nicht auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zum Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden, so kann die Übergabe an die Bedingung geknüpft werden, dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein.

3.      Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“

11      Art. 8 („Inhalt und Form des Europäischen Haftbefehls“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„(1)      Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

c)      die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

f)      im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen;

…“

12      Art. 15 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses lautet:

„(2)      Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; …“

13      Art. 32 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„Für die vor dem 1. Januar 2004 eingegangenen Auslieferungsersuchen gelten weiterhin die im Bereich der Auslieferung bestehenden Instrumente. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen. Jeder Mitgliedstaat kann jedoch zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses eine Erklärung abgegeben, dass er als Vollstreckungsmitgliedstaat auch weiterhin Ersuchen im Zusammenhang mit Handlungen, die vor einem von ihm festzulegenden Zeitpunkt begangen wurden, nach der vor dem 1. Januar 2004 geltenden Auslieferungsregelung behandeln wird. Der betreffende Zeitpunkt darf nicht nach dem 7. August 2002 liegen. Diese Erklärung wird im Amtsblatt veröffentlicht. Sie kann jederzeit zurückgezogen werden.“

 Rahmenbeschluss 2009/299/JI

14      Durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. L 81, S. 24), der nach seinem Art. 8 Abs. 1 von den Mitgliedstaaten bis zum 28. März 2011 umgesetzt werden muss, wurde Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gestrichen und in diesen ein neuer Art. 4a eingefügt.

15      Dieser Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist“) findet jedoch auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war, erst ab dem 28. März 2011 Anwendung.

 Nationales Recht

 Belgisches Recht

16      Das Gesetz vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl (Moniteur belge vom 22. Dezember 2003, S. 60075, im Folgenden: Gesetz über den Europäischen Haftbefehl) setzt den Rahmenbeschluss 2002/584 in nationales Recht um.

17      Erstens bestimmt Art. 4 dieses Gesetzes zu den zwingenden Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls:

„Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wird in den folgenden Fällen verweigert:

5.      wenn ernsthafte Gründe zur Annahme bestehen, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Grundrechte der betroffenen Person verletzen würden, so wie sie durch Artikel 6 [EU] gewährleistet werden“.

18      Zweitens bestimmt Art. 6 dieses Gesetzes zu den fakultativen Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls:

„Die Vollstreckung kann in den folgenden Fällen verweigert werden:

4.      wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Sicherungsmaßnahme ausgestellt wurde, wenn die betroffene Person Belgier ist oder in Belgien ihren Wohnsitz hat und die zuständigen belgischen Behörden sich verpflichten, diese Strafe oder Sicherungsmaßnahme nach belgischem Recht zu vollstrecken;

…“

19      Zur tatsächlichen Umsetzung einer Entscheidung gemäß Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl bestimmt Art. 18 Abs. 2 des Gesetzes vom 23. Mai 1990 über die zwischenstaatliche Überstellung von verurteilten Personen, die Übernahme und Übertragung der Beaufsichtigung von bedingt verurteilten oder bedingt freigelassenen Personen und die Übernahme und Übertragung der Vollstreckung von Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehenden Maßnahmen (Moniteur belge vom 20. Juli 1990, S. 14304) in der durch das Gesetz vom 26. Mai 2005 (Moniteur belge vom 10. Juni 2005, S. 26718) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Überstellung):

„Die in Anwendung von Artikel 6 Nr. 4 des Gesetzes … über den Europäischen Haftbefehl ergangene gerichtliche Entscheidung hat die Übernahme der Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßnahme, auf die sich die besagte gerichtliche Entscheidung bezieht, zur Folge. Die Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme wird gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes vollstreckt.“

20      Art. 18 des Gesetzes über die Überstellung, der sich in Kapitel VI („Die Vollstreckung von im Ausland verhängten Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßnahmen in Belgien“) dieses Gesetzes befindet, ist im Licht von Art. 25 dieses Gesetzes zu lesen, der folgenden Wortlaut hat:

„Die Bestimmungen der Kapitel V und VI sind nicht auf in Abwesenheit ergangene strafrechtliche Verurteilungen anwendbar, außer in den in Artikel 18 [Abs.] 2 vorgesehenen Fällen, wenn es sich um eine in Abwesenheit ergangene und rechtskräftig gewordene Verurteilung handelt.“

21      Drittens werden hinsichtlich der Garantien, die der Ausstellungsmitgliedstaat beachten muss, die Nrn. 1 und 3 des Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 durch die Art. 7 und 8 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl umgesetzt. Art. 7 dieses Gesetzes bestimmt in Bezug auf die Vollstreckung einer Strafe, die durch eine in Abwesenheit ergangene Entscheidung verhängt worden ist:

„Ist der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Sicherungsmaßnahme ausgestellt worden, die in einem Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, und ist die betroffene Person nicht persönlich vorgeladen oder nicht auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden, so kann die Übergabe an die Bedingung geknüpft werden, dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein.

Das Bestehen einer Bestimmung im Recht des Ausstellungsstaats, in der ein Rechtsmittel sowie die Angabe der Bedingungen für die Einlegung dieses Rechtsmittels vorgesehen sind, aus denen hervorgeht, dass die Person es tatsächlich einlegen kann, sind als ausreichende Zusicherung im Sinne von Absatz 1 anzusehen.“

22      Art. 8 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl bestimmt:

„Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ergangen ist, Belgier oder hat sie in Belgien ihren Wohnsitz, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person, nachdem über sie gerichtet wurde, zur Verbüßung der Strafe oder Sicherungsmaßnahme, die im Ausstellungsstaat gegen sie verhängt worden ist, nach Belgien rücküberstellt wird.“

 Rumänisches Recht

23      Art. 522a der rumänischen Strafprozessordnung bestimmt:

„Wiederaufnahme des Verfahrens bei in Abwesenheit Verurteilten im Fall der Auslieferung“

Im Fall eines Ersuchens um Auslieferung einer Person, gegen die in Abwesenheit verhandelt und die in Abwesenheit verurteilt worden ist, kann die Sache auf Antrag des Verurteilten von dem Gericht, das im ersten Rechtszug entschieden hat, wieder aufgenommen werden.

Die Art. 405 bis 408 gelten entsprechend.“

24      Art. 405 der Strafprozessordnung sieht vor:

„Nachdem die Zulässigkeit des Antrags auf Revision festgestellt worden ist, erfolgt die Überprüfung der Sache gemäß den Verfahrensregeln für das Urteil erster Instanz.

Wenn das Gericht dies für erforderlich hält, nimmt es eine erneute Erhebung der Beweise vor, die im Rahmen des ersten Urteils oder der Feststellung der Zulässigkeit des Antrags auf Revision eingeführt worden sind.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

25      Am 16. Juni 2000 verurteilte das Tribunalul București I. B. wegen Handels mit nuklearen und radioaktiven Substanzen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Dieses Urteil wurde durch Urteil der Curtea de apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) vom 3. April 2001 bestätigt.

26      Beide Gerichte erlaubten I. B., seine Strafe, die im Anschluss an kontradiktorische Verfahren verhängt und bestätigt worden war, an seinem Arbeitsplatz abzuleisten und nicht als Haftstrafe zu verbüßen.

27      Mit Entscheidung vom 15. Januar 2002 hob die Curtea Supremă de Justiţie (Oberster Gerichtshof) (Rumänien) – nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts in Abwesenheit von I. B. und ohne dass dieser persönlich vom Termin und vom Ort der Verhandlung unterrichtet wurde – die zuvor ergangenen Entscheidungen auf, soweit diese I. B. erlaubten, seine Freiheitsstrafe von vier Jahren an seinem Arbeitsplatz zu verbüßen, und ordnete an, dass diese Strafe als Haftstrafe zu verbüßen sei.

28      Im Februar 2002 beschloss I. B., sich nach Belgien zu begeben, da er nach eigener Aussage Opfer schwerer Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren geworden war. Seine Ehefrau und seine beiden Kinder folgten ihm nacheinander ab Oktober 2002.

29      Am 11. Dezember 2007 wurde I. B. in Belgien aufgrund einer Ausschreibung verhaftet, die die rumänischen Behörden am 10. Februar 2006 im Schengener Informationssystem (SIS) zur Festnahme und Überstellung an diese Behörden im Zusammenhang mit der Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe vorgenommen hatten.

30      Die Staatsanwaltschaft war der Auffassung, dass diese Ausschreibung einem Europäischen Haftbefehl gleichkomme, und legte die Sache dem Untersuchungsrichter vor, der mit Beschluss vom 12. Dezember 2007 entschied, I. B. bis zur endgültigen Entscheidung über eine Übergabe unter Auflagen freizulassen.

31      Am 13. Dezember 2007 stellte das Tribunalul Bucureşti gegen I. B. einen Europäischen Haftbefehl zum Zweck der Vollstreckung der gegen ihn in Rumänien verhängten Gefängnisstrafe von vier Jahren aus.

32      Am 19. Dezember 2007 stellte I. B. beim Ausländeramt einen Antrag auf Anerkennung als Asylbewerber in Belgien.

33      Am 29. Februar 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Tribunal de première instance de Nivelles die Vollstreckung des Haftbefehls der rumänischen ausstellenden Justizbehörde.

34      Am 2. Juli 2008 wurden die Anerkennung von I. B. als Flüchtling und die Gewährung subsidiären Schutzes abgelehnt. Diese Ablehnung, die vom Conseil du Contentieux des Etrangers im März 2009 bestätigt wurde, ist derzeit Gegenstand eines beim Conseil d’État (Belgien) anhängigen Verfahrens.

35      Mit Beschluss vom 22. Juli 2008 stellte das Tribunal de première instance de Nivelles im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls fest, dass der Haftbefehl sämtliche Voraussetzungen des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl erfülle. Insbesondere gebe es keinen ernsthaften Grund zu der Annahme, dass die Vollstreckung dieses Haftbefehls die Grundrechte von I. B. verletzen werde.

36      Das Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der im Ausgangsverfahren fragliche Europäische Haftbefehl zwar die Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung betreffe, dass die rumänische ausstellende Justizbehörde aber eine Zusicherung gegeben habe, die für ausreichend im Sinne von Art. 7 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl erachtet werden könne, da diesem Haftbefehl zufolge die Sache gemäß Art. 522a der rumänischen Strafprozessordnung auf Antrag des in Abwesenheit Verurteilten durch das im ersten Rechtszug befasste Gericht wieder aufgenommen werden könne.

37      Das Tribunal de première instance de Nivelles gelangte zu der Erkenntnis, dass I. B. sich nicht auf Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehls stützen könne, wonach die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigert werden könne, wenn dieser zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt worden sei, sofern die betroffene Person in Belgien ihren Wohnsitz habe und die zuständigen Behörden sich verpflichteten, diese Strafe nach nationalem Recht zu vollstrecken.

38      Dieser Ablehnungsgrund sei nämlich, wie Art. 25 in Verbindung mit Art. 18 Abs. 2 des Gesetzes über die Überstellung klarstelle, nur auf in Abwesenheit ergangene und rechtskräftig gewordene Verurteilungen anwendbar. I. B. könne jedoch noch eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen.

39      Im Übrigen weist das Gericht darauf hin, dass zwar nach Art. 8 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl die Übergabe einer Person, die in Belgien wohne und gegen die ein Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellt worden sei, davon abhängig gemacht werden könne, dass die betreffende Person, nachdem über sie gerichtet worden sei, zur Verbüßung der Strafe, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt worden sei, nach Belgien rücküberstellt werde, dass aber aus Art. 7 dieses Gesetzes folge, dass der Haftbefehl, der auf ein Abwesenheitsurteil gestützt werde, als zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe ausgestellt angesehen werde.

40      In der Erwägung, dass diese unterschiedliche Behandlung zu einer Diskriminierung führen könne und dass I. B. seinen Wohnsitz diesen Vorschriften entsprechend in Belgien habe, fragte das Tribunal de première instance de Nivelles die Cour Constitutionnelle, ob, sofern Art. 8 so auszulegen sei, dass er nur auf den zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehl anzuwenden sei und nicht auch auf den Haftbefehl, der zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt worden sei, die in Abwesenheit verhängt worden sei und gegen die der Verurteilte noch ein Rechtsmittel einlegen könne, dieser Art. 8 mit den Art. 10 und 11 der Verfassung über den Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot vereinbar sei.

41      Nachdem die Cour Constitutionnelle ihrerseits festgestellt hatte, dass das Gesetz über den Europäischen Haftbefehl nur den Rahmenbeschluss 2002/584 in nationales Recht umsetzen solle, hat sie das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist der Europäische Haftbefehl, der zur Vollstreckung einer Verurteilung ausgestellt wurde, die in Abwesenheit ergangen ist, ohne dass die verurteilte Person vom Ort und vom Termin der Verhandlung unterrichtet wurde, und gegen die sie noch ein Rechtsmittel einlegen kann, nicht als ein Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzusehen, sondern als ein Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung im Sinne von Art. 5 Nr. 3 dieses Rahmenbeschlusses?

2.      Sind im Fall einer verneinenden Antwort auf die erste Frage Art. 4 Nr. 6 und Art. 5 Nr. 3 dieses Rahmenbeschlusses in dem Sinne auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten nicht erlauben, die Übergabe einer in ihrem Gebiet wohnhaften Person, gegen die unter den in der ersten Frage beschriebenen Umständen ein Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ergangen ist, an die Justizbehörden des Ausstellungsstaats davon abhängig zu machen, dass diese Person zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel zur Sicherung, die im Ausstellungsstaat endgültig gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsstaat rücküberstellt wird?

3.      Verstoßen im Fall einer bejahenden Antwort auf die zweite Frage die genannten Artikel gegen Art. 6 Abs. 2 EU, insbesondere gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung?

4.      Sind im Fall einer verneinenden Antwort auf die erste Frage die Art. 3 und 4 dieses Rahmenbeschlusses in dem Sinne auszulegen, dass sie es verbieten, dass die Justizbehörden eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn ernsthafte Gründe zur Annahme bestehen, dass dessen Vollstreckung die Grundrechte der betroffenen Person verletzen würde, so wie sie in Art. 6 Abs. 2 EU verankert sind?

 Zu den Vorlagefragen

42      Einleitend ist als Erstes klarzustellen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 nach seinem Art. 32 für die seit dem 1. Januar 2004 eingegangenen Auslieferungsersuchen gilt, sofern der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht erklärt hat, dass er auch weiterhin Ersuchen im Zusammenhang mit Handlungen, die vor dem 7. August 2002 begangen wurden, nach der vor dem 1. Januar 2004 geltenden Auslieferungsregelung behandeln wird. Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ersuchen betrifft zwar Handlungen, die vor dem 7. August 2002 begangen wurden, doch steht fest, dass das Königreich Belgien keine solche Erklärung abgegeben hat. Der Rahmenbeschluss ist daher im vorliegenden Fall anwendbar.

43      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass zu den in den Art. 3 und 4 dieses Rahmenbeschlusses genannten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls weder das Vorliegen eines Asylantrags noch das Vorliegen eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling oder auf subsidiären Schutz gehören.

44      Speziell in Bezug auf einen Asylantrag, der bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats von einem Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats gestellt wird, bestimmt der einzige Artikel des Protokolls Nr. 29 über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Anhang zum EG-Vertrag (jetzt Protokoll Nr. 24 im Anhang zum AEU-Vertrag) u. a., dass in Anbetracht des Niveaus des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten diese füreinander für alle rechtlichen und praktischen Zwecke im Zusammenhang mit Asylangelegenheiten als sichere Herkunftsländer gelten.

45      Ebenso wenig fällt ein Antrag auf Anerkennung als Flüchtling oder auf subsidiären Schutz, den ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats stellt, in den Anwendungsbereich des internationalen Schutzmechanismus, der mit der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12) eingeführt worden ist.

46      Daher kann die Tatsache, dass I. B. bei den zuständigen belgischen Behörden einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling oder auf subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie 2004/83 gestellt hat, für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen nicht relevant sein.

47      Als Drittes ist anzumerken, dass das vorlegende Gericht von der Annahme ausgeht, dass es mit einem Antrag auf Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils im Sinne von Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 befasst sei. Es hat gegebenenfalls von den Möglichkeiten Gebrauch zu machen, die ihm Art. 15 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses für die Prüfung dieser Frage bietet. Dem Gerichtshof obliegt es in jedem Fall, unter Berücksichtigung der in der Vorlageentscheidung dargelegten tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu entscheiden.

 Zur ersten und zur zweiten Frage

48      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin ausgelegt werden können, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der im Sinne von Art. 5 Nr. 1 dieses Rahmenbeschlusses zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt wurde, die in Abwesenheit verhängt worden ist, an die Bedingung geknüpft werden kann, dass die betroffene Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder dort wohnhaft ist, in diesen Staat rücküberstellt wird, um gegebenenfalls dort die Strafe zu verbüßen, die im Anschluss an ein wieder aufgenommenes und in ihrer Anwesenheit durchgeführtes Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird.

49      Zur Beantwortung dieser Fragen ist klarzustellen, dass der Europäische Haftbefehl gemäß Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwei Fälle betreffen kann. Er kann zum einen zur Strafverfolgung und zum anderen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt werden.

50      Auch wenn der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegt, bedeutet diese Anerkennung, wie aus den Art. 3 bis 5 des Rahmenbeschlusses hervorgeht, keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Vollstreckung des ausgestellten Haftbefehls.

51      Nach dem System des Rahmenbeschlusses, wie es insbesondere diesen Artikeln zu entnehmen ist, können die Mitgliedstaaten den zuständigen Justizbehörden nämlich unter bestimmten Umständen erlauben, zu entscheiden, dass eine verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt werden muss.

52      So verhält es sich insbesondere gemäß den Art. 4 Nr. 6 und Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/485. Für die beiden Arten eines Europäischen Haftbefehls im Sinne des Rahmenbeschlusses bezwecken diese Bestimmungen vor allem, dass der Frage besondere Bedeutung beigemessen wird, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person erhöht werden können (vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C‑123/08, Slg. 2009, I‑9621, Randnr. 62).

53      Nichts deutet darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber von diesem Ziel die Personen ausschließen wollte, die aufgrund einer in Abwesenheit ergangenen Verurteilung gesucht werden.

54      Zum einen fällt nämlich eine in Abwesenheit ergangene gerichtliche Entscheidung, wenn die betroffene Person weder persönlich vorgeladen noch auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zu dieser Entscheidung geführt hat, unterrichtet worden ist, in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584, der in Art. 5 Nr. 1 gerade vorsieht, dass der nach einer solchen Entscheidung ausgestellte Haftbefehl an die Garantie geknüpft werden kann, dass die betroffene Person die Möglichkeit haben wird, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen.

55      Zum anderen kann allein der Umstand, dass Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Vollstreckung des Haftbefehls, der nach einem Abwesenheitsurteil ausgestellt worden ist, von einer solchen Garantie abhängig macht, nicht dazu führen, dass der Grund bzw. die Bedingung, die in Art. 4 Nr. 6 und Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses zur Erhöhung der Resozialisierungschancen der gesuchten Person festgeschrieben worden sind, auf einen solchen Befehl nicht mehr anwendbar sind.

56      Sollte die Verurteilung in Abwesenheit, die im Ausgangsverfahren dem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht vollstreckbar geworden sein, wäre Zweck der Überstellung gerade, zu ermöglichen, dass die Strafverfolgung weitergeführt oder das Verfahren wieder aufgenommen wird, dass also eine Überstellung zur Strafverfolgung im Sinne von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erfolgt.

57      Da die Situation einer Person, die in Abwesenheit verurteilt worden ist und noch eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen kann, mit der Situation einer Person vergleichbar ist, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ausgestellt worden ist, gibt es keinen objektiven Grund, aus dem eine vollstreckende Justizbehörde, die Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 angewandt hat, die in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Bedingung nicht anwenden dürfte.

58      Darüber hinaus bietet derzeit nur eine solche Auslegung die tatsächliche Möglichkeit, die Resozialisierungschancen einer Person zu erhöhen, die im Vollstreckungsmitgliedstaat wohnt und gegen die, weil sie durch eine gerichtliche Entscheidung verurteilt worden ist, die noch nicht vollstreckbar ist, im Ausstellungsmitgliedstaat das Verfahren wieder aufgenommen werden kann.

59      Aufgrund dieser Auslegung ist, wie u. a. von der schwedischen Regierung hervorgehoben, die in Abwesenheit verurteilte Person schließlich auch nicht gezwungen, auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Ausstellungsmitgliedstaat zu verzichten, um zu erreichen, dass ihre Verurteilung gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in dem Mitgliedstaat vollstreckt wird, in dem sie gemäß den einschlägigen Bestimmungen dieses Mitgliedstaats ihren Wohnsitz hat.

60      Daher kann, wie von sämtlichen Mitgliedstaaten, die zu der ersten oder zu der ersten und der zweiten Frage Stellung genommen haben, und von der Europäischen Kommission vorgetragen, der Vollstreckungsmitgliedstaat die Überstellung einer Person in der Situation von I. B. von einer gemeinsamen Anwendung der in Art. 5 Nrn. 1 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Bedingungen abhängig machen.

61      Nach alledem, ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass, wenn der betreffende Vollstreckungsmitgliedstaat Art. 5 Nrn. 1 und 3 dieses Rahmenbeschlusses in sein nationales Recht umgesetzt hat, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt wurde, die im Sinne dieses Art. 5 Nr. 1 in Abwesenheit verhängt worden ist, an die Bedingung geknüpft werden kann, dass die betroffene Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder dort wohnhaft ist, in diesen Staat rücküberstellt wird, um gegebenenfalls dort die Strafe zu verbüßen, die im Anschluss an ein wieder aufgenommenes und in ihrer Anwesenheit durchgeführtes Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird.

 Zur dritten und zur vierten Frage

62      Die dritte und die vierte Frage wurden nur für den Fall gestellt, dass aus der Antwort auf die erste und die zweite Frage unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht folgt, dass die vollstreckende Justizbehörde die Überstellung des Betroffenen an die Bedingung knüpfen kann, dass er in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.

63      Da der Gerichtshof diese Möglichkeit, die Überstellung von der in Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Garantie abhängig zu machen, mit seiner Antwort auf die erste und die zweite Frage zugelassen hat, erübrigt sich die Beantwortung der dritten und der vierten Frage.

 Kosten

64      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 4 Nr. 6 und 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sind dahin auszulegen, dass, wenn der betreffende Vollstreckungsmitgliedstaat Art. 5 Nrn. 1 und 3 dieses Rahmenbeschlusses in sein nationales Recht umgesetzt hat, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellt wurde, die im Sinne dieses Art. 5 Nr. 1 in Abwesenheit verhängt worden ist, an die Bedingung geknüpft werden kann, dass die betroffene Person, die Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder dort wohnhaft ist, in diesen Staat rücküberstellt wird, um gegebenenfalls dort die Strafe zu verbüßen, die im Anschluss an ein wieder aufgenommenes und in ihrer Anwesenheit durchgeführtes Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.