Language of document : ECLI:EU:T:2017:377

Rechtssache T673/15

Guardian Europe Sàrl

gegen

Europäische Union, vertreten durch die Europäische Kommission und durch den Gerichtshof der Europäischen Union

„Außervertragliche Haftung – Vertretung der Union – Verjährung – Beseitigung der Rechtswirkungen einer bestandskräftig gewordenen Entscheidung – Genauigkeit der Klageschrift – Zulässigkeit – Art. 47 der Charta der Grundrechte – Angemessene Dauer des Gerichtsverfahrens – Gleichbehandlung – Materieller Schaden – Erlittene Verluste – Entgangener Gewinn – Immaterieller Schaden – Kausalzusammenhang“

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 7. Juni 2017

1.      Europäische Union – Vertretung vor den Unionsgerichten – Klage gegen die Union auf Ersatz des Schadens, der wegen unangemessener Dauer des Verfahrens vor dem Gericht der Union entstanden sein soll – Vertretung der Union durch den Gerichtshof der Europäischen Union

(Art. 13 EUV, 17 Abs. 1 EUV und 19 EUV; Art. 256 Abs. 1 AEUV, 268 AEUV, 335 AEUV und 340 Abs. 2 AEUV)

2.      Schadensersatzklage – Verjährungsfrist – Beginn – Haftung aufgrund Überschreitung der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens durch den Unionsrichter – Tag der Verkündung des betreffenden Urteils

(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 46 und 53 Abs. 1)

3.      Schadensersatzklage – Verjährungsfrist – Beginn – Haftung aufgrund einer individuellen Entscheidung – Zeitpunkt, zu dem die Schadensfolgen der Handlung eintreten

(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 46)

4.      Schadensersatzklage – Verjährungsfrist – Unterbrechung – Immaterieller Schaden durch eine Beeinträchtigung des Rufes – Sukzessiv eintretender Schaden – Zu berücksichtigende Zeitpunkte

(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 46)

5.      Schadensersatzklage – Selbständigkeit gegenüber der Nichtigkeitsklage – Grenzen – Antrag auf Ersatz eines zusätzlichen Schadens, der sich aus einer Entscheidung der Kommission ergibt, die Gegenstand eines Nichtigkeitsurteils des Unionsrichters gewesen ist, und der sich von dem Schaden unterscheidet, der sich aus einer falschen Durchführung dieses Urteils ergeben kann – Zulässigkeit

(Art. 263 AEUV, 266 AEUV und 340 Abs. 2 AEUV)

6.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Nichtvorliegen einer der Voraussetzungen – Abweisung der Schadensersatzklage in vollem Umfang

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

7.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Beweislast

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

8.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang – Begriff – Kosten einer Bankbürgschaft, die durch die Entscheidung eines Unternehmens, die von der Kommission verhängte Geldbuße nicht zu zahlen, entstanden sind – Kein unmittelbarer Kausalzusammenhang

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

9.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Durch eine rechtswidrige Handlung verursachter tatsächlicher und sicherer Schaden – Materieller Schaden, der sich aus einer rechtswidrigen Entscheidung der Kommission ergibt, mit der eine Geldbuße wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens verhängt wurde – Nicht vom Kläger getragene Belastung durch die Zahlung der Geldbuße – Kein tatsächlicher Schaden

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

10.    Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht – Verstoß durch den Unionsrichter im Rahmen einer Entscheidung, gegen die Rechtsmittel gegeben ist – Ausschluss – Ausnahme – Vorliegen schwerwiegender Störungen des Gerichtswesens

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

11.    Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Begriff – Überschreitung der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens durch den Unionsrichter – Einbeziehung – Beurteilungskriterien

(Art. 340 Abs. 2 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 Abs. 2)

12.    Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Kausalzusammenhang – Begriff – Kosten einer Bankbürgschaft, die durch die Entscheidung eines Unternehmens, die von der Kommission verhängte Geldbuße nicht zu zahlen, entstanden sind – Überschreitung der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens durch den Unionsrichter im Zusammenhang mit der Klage dieses Unternehmens – Bestehen eines Kausalzusammenhangs – Voraussetzungen

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

13.    Außervertragliche Haftung – Schaden – Ersatz – Berücksichtigung der Geldentwertung – Ausgleichs- und Verzugszinsen – Berechnungsmodalitäten

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 18)

2.      In dem speziellen Fall einer Schadensersatzklage, die auf den Ersatz eines Schadens gerichtet ist, der durch einen etwaigen Verstoß des Unionsrichters gegen den Grundsatz der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens entstanden sein soll, muss, wenn eine Entscheidung die streitige Verfahrensdauer beendet hat, der Beginn der in Art. 46 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten fünfjährigen Verjährungsfrist auf den Tag gelegt werden, an dem die Entscheidung erlassen wurde. Dieser Tag ist nämlich ein bestimmter Zeitpunkt, der anhand objektiver Kriterien festgelegt wird. Er garantiert die Wahrung des Grundsatzes der Rechtssicherheit und ermöglicht den Schutz der Rechte der Klägerin.

(vgl. Rn. 26)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 32, 35)

4.      Im Fall eines sukzessiv eingetretenen Schadens erfasst die Verjährung gemäß Art. 46 der Satzung des Gerichtshofs die mehr als fünf Jahre vor der Unterbrechungshandlung liegende Zeit, ohne die später entstandenen Ansprüche zu berühren. Der immaterielle Schaden der Beeinträchtigung des Rufes tritt sukzessiv ein. Die Beeinträchtigung des Rufes ist nämlich, auch wenn sie unterschiedliche Formen annehmen kann, im Allgemeinen ein Schaden, der täglich aufs Neue entsteht und so lange andauert, bis die mutmaßliche Ursache der Rufbeeinträchtigung behoben wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Ursache der behaupteten Beeinträchtigung eine Entscheidung der Kommission sein soll, die zunächst erlassen und mittels einer Pressemitteilung bekannt gemacht wird und anschließend im Amtsblatt der Europäischen Union in Form einer Zusammenfassung veröffentlicht wird.

(vgl. Rn. 39, 42, 43)

5.      Die Klage auf Schadensersatz im Zusammenhang mit einer außervertraglichen Haftung der Union für Handlungen oder Unterlassungen ihrer Organe ist als ein gegenüber anderen Klagen selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion im System der Klagemöglichkeiten geschaffen und von Voraussetzungen abhängig gemacht worden, die ihrem besonderen Zweck angepasst sind.

Was eine Schadensersatzklage anbelangt, die einen angeblich entgangenen Gewinn betrifft, der durch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung in einer Entscheidung der Kommission, die Gegenstand eines Nichtigkeitsurteils des Unionsrichters gewesen ist, entstanden sein soll, hat, wenn der Kläger, der Ersatz eines Schadens beantragt, der sich zum einen von dem Schaden unterscheidet, der durch eine fehlerhafte Durchführung des Nichtigkeitsurteils durch die Kommission entstanden sein soll, und zum anderen über die Beträge hinausgeht, die die Kommission zur Durchführung dieses Urteils erstattet hat, dieser Antrag weder das gleiche Ziel noch die gleiche Wirkung wie eine etwaige Nichtigkeitsklage gegen die von der Kommission ergriffene Durchführungsmaßnahme und kann daher nicht als wegen Verfahrensmissbrauchs unzulässig angesehen werden.

(vgl. Rn. 53, 63, 64)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 75, 76, 154)

7.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 81, 82)

8.      Was einen Antrag auf Ersatz des Schadens betrifft, der durch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung in einer Entscheidung der Kommission, mit der eine Geldbuße wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens verhängt wurde, entstanden sein soll, kann ein Kläger nicht mit Erfolg behaupten, dass die von ihm gezahlten Kosten einer Bankbürgschaft unmittelbar auf der Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung beruhen, wenn er nach dem Erlass dieser Entscheidung entschieden hat, seiner Verpflichtung zur sofortigen Zahlung der Geldbuße nicht sofort nachzukommen, sondern in Einklang mit der von der Kommission eröffneten Möglichkeit eine Bankbürgschaft für einen Teil der Geldbuße zu stellen.

Insoweit beruht der von ihm geltend gemachte Schaden unmittelbar und entscheidend auf seiner eigenen Entscheidung, seiner Verpflichtung zur Zahlung der gesamten Geldbuße nicht nachzukommen. Hätte sich der Kläger für sofortige Zahlung der gesamten Geldbuße entschieden, wäre er nicht gezwungen gewesen, Bankbürgschaftskosten für den nicht gezahlten Betrag der Geldbuße zu entrichten. Folglich ist das Bestehen eines hinreichend unmittelbaren ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem behaupteten hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung in der streitigen Entscheidung und der Zahlung der Kosten der Bankbürgschaft auszuschließen.

(vgl. Rn. 91-93)

9.      Was einen Antrag auf Ersatz des Schadens betrifft, der durch eine rechtswidrige Entscheidung der Kommission, mit der eine Geldbuße wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens verhängt wurde, entstanden sein soll, kann ein Kläger, der durch die Zahlung dieser Geldbuße nicht persönlich belastet ist, daher offensichtlich nicht geltend machen, ihm sei ein tatsächlicher und sicherer Schaden entstanden, der aus der Differenz zwischen den von der Kommission zurückgezahlten Zinsen auf den Teil der Geldbuße, den der Unionsrichter letztlich für zu Unrecht gezahlt befunden habe, und den Einnahmen bestehe, die er hätte erzielen können, wenn er den fraglichen Betrag nicht der Kommission gezahlt, sondern in sein Unternehmen investiert hätte.

(vgl. Rn. 103)

10.    Die Haftung der Union kann nicht durch den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung ausgelöst werden kann, die nicht von einem letztinstanzlichen Unionsgericht erlassen wurde und somit Gegenstand eines Rechtsmittels sein konnte. Diese Feststellung gilt unbeschadet der Möglichkeit, sich in Ausnahmefällen auf die Haftung der Union aufgrund schwerwiegender Störungen des Gerichtswesens zu berufen, insbesondere aufgrund von Störungen verfahrensrechtlicher oder administrativer Art, die die Tätigkeit eines Unionsgerichts beeinträchtigen.

(vgl. Rn. 122, 124)

11.    Ein wettbewerbsrechtliches Verfahren vor dem Gericht verstößt gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wenn es die angemessene Dauer des Gerichtsverfahrens um 26 Monate überschreitet, was einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm der Union darstellt, die dem Einzelnen Rechte verleihen soll.

Die Angemessenheit des Zeitraums zwischen dem Ende des schriftlichen Verfahrens und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens hängt nämlich insbesondere von der Komplexität des Rechtsstreits sowie vom Verhalten der Parteien und von Zwischenstreitigkeiten ab. Was die Komplexität des Rechtsstreits betrifft, ist zunächst ein Zeitraum von 15 Monaten zwischen dem Ende des schriftlichen und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens für die Behandlung von Rechtssachen, die die Anwendung des Wettbewerbsrechts betreffen, grundsätzlich angemessen. Sodann kann die gleichzeitige Behandlung zusammenhängender Rechtssachen im vorliegenden Fall keine Verlängerung des Zeitraums zwischen dem Ende des schriftlichen und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigen. Schließlich rechtfertigt der Grad der tatsächlichen sowie der materiell- und verfahrensrechtlichen Komplexität der fraglichen Rechtssache keine längere Dauer. Das Verfahren wurde zwischen dem Ende des schriftlichen und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens nicht dadurch unterbrochen oder verzögert, dass das Gericht irgendeine prozessleitende Maßnahme getroffen hätte. Was das Verhalten der Parteien und Zwischenstreitigkeiten betrifft, wurde die Länge des Zeitraums zwischen dem Ende des schriftlichen und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens in keiner Weise durch solche Faktoren beeinflusst.

Somit lässt die Dauer von 41 Monaten, die zwischen dem Ende des schriftlichen und der Eröffnung des mündlichen Verfahrens verstrich, einen nicht gerechtfertigten Zeitraum der Untätigkeit von 26 Monaten erkennen.

(vgl. Rn. 133-137, 139)

12.    Im Rahmen einer Rechtssache über eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Geldbuße wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens verhängt wird, besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens durch den Unionsrichter und dem Eintritt des Schadens, der einem Kläger aufgrund seiner Zahlung von Bankbürgschaftskosten im Zeitraum der Überschreitung der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens entstanden ist. Erstens war nämlich zu dem Zeitpunkt, als die Klägerin in der fraglichen Rechtssache ihre Klage erhob, und dem Zeitpunkt, als sie eine Bankbürgschaft stellte, der Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens nicht vorhersehbar. Zudem durfte die Klägerin davon ausgehen, dass ihre Klage innerhalb eines angemessenen Zeitraums bearbeitet werden würde. Zweitens erfolgte die Überschreitung der angemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens in der fraglichen Rechtssache nach der anfänglichen Entscheidung der Klägerin, eine Bankbürgschaft zu stellen. Somit kann der Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die angemessene Dauer des Gerichtsverfahrens und der Zahlung von Bankbürgschaftskosten während der Dauer der Überschreitung nicht durch die ursprüngliche Entscheidung der Klägerin aufgelöst worden sein, einen Teil der mit der Entscheidung der Kommission verhängten Geldbuße nicht sofort zu zahlen und eine Bankbürgschaft zu stellen.

(vgl. Rn. 160)

13.    Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 167-169)