Language of document : ECLI:EU:C:2012:630

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

16. Oktober 2012(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 259 AEUV – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen – Einreiseverbot in die Slowakische Republik für den Präsidenten Ungarns – Diplomatische Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten“

In der Rechtssache C‑364/10

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 259 AEUV, eingereicht am 8. Juli 2010,

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und E. Orgován als Bevollmächtigte,

Kläger,

gegen

Slowakische Republik, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Europäische Kommission, vertreten durch A. Tokár, D. Maidani und S. Boelaert als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Streithelferin,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter), M. Ilešič und J. Malenovský, der Richter A. Borg Barthet, U. Lõhmus, J.‑C. Bonichot sowie der Richterin C. Toader und der Richter J.‑J. Kasel und M. Safjan,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Februar 2012,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. März 2012

folgendes

Urteil

1        Mit seiner Klageschrift beantragt Ungarn,

–        festzustellen, dass die Slowakische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77) und aus Art. 21 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass sie dem Präsidenten Ungarns, László Sólyom, am 21. August 2009 unter Berufung auf die Richtlinie 2004/38, aber ohne deren Bestimmungen zu beachten, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet versagt hat;

–        festzustellen, dass der bis zur Klageerhebung vertretene Standpunkt der Slowakischen Republik gegen das Recht der Europäischen Union, konkret gegen Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 21 Abs. 1 AEUV, verstößt, soweit sie es als mit der Richtlinie 2004/38 vereinbar ansieht, einem Vertreter Ungarns, wie dem Präsidenten dieses Staates, die Einreise in slowakisches Hoheitsgebiet zu versagen, und sich auf diese Weise die Möglichkeit erhält, dieses rechtswidrige Verhalten zu wiederholen;

–        festzustellen, dass die Slowakische Republik das Unionsrecht missbräuchlich angewandt hat, als die staatlichen Behörden Präsident Sólyom am 21. August 2009 die Einreise in ihr Hoheitsgebiet versagt haben, und,

–        falls der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 durch eine konkrete Vorschrift des Völkerrechts beschränkt werden könnte, den Umfang und die Auswirkungen solcher Ausnahmen zu nennen.

 Rechtlicher Rahmen

2        In Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.

Für die Einreise darf vom Unionsbürger weder ein Visum noch ein gleichartiger Nachweis verlangt werden.“

3        Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) dieser Richtlinie enthält Art. 27, dessen erste beiden Absätze bestimmen:

„(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

4        Art. 30 der Richtlinie schließlich sieht vor:

„(1)      Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.

(2)      Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der Entscheidung zugrunde liegen, schriftlich mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Staatssicherheit dieser Mitteilung entgegenstehen.

(3)      In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“

 Sachverhalt, Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

5        Auf Einladung einer in der Slowakei ansässigen Vereinigung sollte der Präsident Ungarns, Herr László Sólyom, am 21. August 2009 in die slowakische Stadt Komárno reisen, um an der Feier zur Einweihung einer Statue des Heiligen Stephan teilzunehmen.

6        Aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte ergibt sich zum einen, dass der 20. August in Ungarn ein Nationalfeiertag zum Gedenken an den Heiligen Stephan, den Gründer und ersten König des ungarischen Staates, ist. Zum anderen wird der 21. August in der Slowakei als ein heikles Datum angesehen, da am 21. August 1968 die Streitkräfte von fünf Staaten des Warschauer Paktes, darunter ungarische Truppen, in die Sozialistische Republik Tschechoslowakei einmarschierten.

7        Nach mehreren diplomatischen Kontakten zwischen den Botschaften der beiden Mitgliedstaaten im Hinblick auf den geplanten Besuch des ungarischen Präsidenten übermittelte das slowakische Außenministerium schließlich am 21. August 2009 dem ungarischen Botschafter in der Slowakischen Republik eine Verbalnote, in der es dem Präsidenten Ungarns untersagte, in slowakisches Hoheitsgebiet einzureisen. Zur Begründung dieses Verbots führte diese Note die Richtlinie 2004/38 sowie Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts über den Aufenthalt von Ausländern und über die nationale Polizei an.

8        Als Präsident Sólyom auf dem Weg in die Slowakische Republik über den Wortlaut dieser Note informiert wurde, bestätigte er deren Empfang an der Grenze und verzichtete darauf, in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einzureisen.

9        Mit Note vom 24. August 2009 zogen die ungarischen Behörden u. a. in Zweifel, dass die Richtlinie 2004/38 eine gültige Rechtsgrundlage für die Weigerung der Slowakischen Republik sein könne, dem Präsidenten Ungarns die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten. Sie stellten auch fest, dass die Entscheidung über das Einreiseverbot nicht ausreichend begründet gewesen sei. Deshalb habe die Slowakische Republik diese Maßnahme unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlassen.

10      Bei einem Treffen am 10. September 2009 in Szécsény (Ungarn) nahmen der ungarische und der slowakische Premierminister eine gemeinsame Erklärung an, in der sie an ihrem jeweiligen Standpunkt zu den rechtlichen Aspekten der streitigen Entscheidung festhielten und gleichzeitig ihr Bedauern über die Umstände der Reise von Präsident Sólyom zum Ausdruck brachten. Bei dieser Gelegenheit wurde auch ein „Aide-Mémoire“ angenommen, um für die Zukunft bestimmte praktische Fragen der Durchführung von offiziellen Staatsbesuchen und nichtoffiziellen Besuchen in den beiden Staaten zu klären.

11      Mit Note vom 17. September 2009 antworteten die slowakischen Behörden auf die Note vom 24. August 2009, dass im Hinblick auf die Umstände des Vorfalls die Anwendung der Richtlinie 2004/38 die „allerletzte Möglichkeit“ gewesen sei, den Präsidenten Ungarns daran zu hindern, in das Hoheitsgebiet der Slowakischen Republik einzureisen, und dass sie dabei keinesfalls gegen Unionsrecht verstoßen hätten.

12      In der Zwischenzeit hatte sich der ungarische Außenminister am 3. September 2009 in einem Schreiben an den Vizepräsidenten der Europäischen Kommission gewandt, in dem er um die Meinung der Kommission zu einer eventuellen Verletzung des Unionsrechts durch die Slowakische Republik bat.

13      In seiner Antwort vom 10. September 2009 führte der Vizepräsident der Europäischen Kommission aus, dass gemäß der Richtlinie 2004/38 jede Beschränkung der Freizügigkeit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren habe, dass für eine solche Beschränkung gemäß Art. 27 Abs. 2 dieser Richtlinie ausschließlich das Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein dürfe und dass sie dem Betroffenen in der in Art. 30 genannten Form unter genauer und umfassender Angabe der Gründe mitgeteilt werden müsse. Weiter führte er aus, dass es in erster Linie Sache der nationalen Gerichte sei, auf die Anwendung dieser Richtlinie zu achten. Es sei alles daranzusetzen, dass sich eine solche Situation nicht wiederhole, und er sei zuversichtlich, dass der Streit durch einen konstruktiven bilateralen Dialog zwischen den beiden Mitgliedstaaten beigelegt werden könne.

14      Am 12. Oktober 2009 richtete der ungarische Außenminister im Namen der ungarischen Regierung eine Beschwerde an den Präsidenten der Kommission und beantragte, die Möglichkeit zu prüfen, gegen die Slowakische Republik ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV wegen eines Verstoßes gegen Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 einzuleiten.

15      Mit Schreiben vom 11. Dezember 2009 erklärte die Kommission, dass „die Unionsbürger nach Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 das Recht haben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Jedoch behielten sich „die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Völkerrechts das Recht vor, die Kontrolle über die Einreise eines Staatsoberhaupts auszuüben, unabhängig davon, ob dieses Staatsoberhaupt Unionsbürger ist oder nicht“.

16      Offizielle Staatsbesuche würden von den Mitgliedstaaten auf bilateralem Weg über politische Kanäle organisiert, so dass sich dieser Bereich der Anwendung des Unionsrechts entziehe. Ein Staatsoberhaupt könne zwar einen anderen Mitgliedstaat auch als Privatperson gemäß Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 besuchen, den der Beschwerde des ungarischen Außenministers beigefügten Unterlagen sei jedoch zu entnehmen, dass Ungarn und die Slowakische Republik unterschiedlicher Meinung über den Charakter des beabsichtigten Besuchs seien.

17      Die Kommission war folglich der Ansicht, dass sie keine Verletzung der Vorschriften des Unionsrechts über die Freizügigkeit der Unionsbürger durch die Slowakische Republik feststellen könne, auch wenn sich dieser Mitgliedstaat in seiner Verbalnote vom 21. August 2009 zu Unrecht auf die Richtlinie 2004/38 und die zu ihrer Umsetzung in nationales Recht erlassenen Vorschriften berufen habe.

18      Am 30. März 2010 befasste Ungarn die Kommission gemäß Art. 259 AEUV mit der Sache. Am 30. April 2010 übermittelte die Slowakische Republik ihre Stellungnahme. Schließlich äußerten sich beide Mitgliedstaaten am 12. Mai 2010 in einer von der Kommission vorbereiteten Anhörung.

19      In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 24. Juni 2010 vertrat die Kommission die Ansicht, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/38 nicht auf Besuche eines Staatsoberhaupts in einem anderen Mitgliedstaat anwendbar seien und dass der Vorwurf einer Vertragsverletzung daher nicht begründet sei.

20      Am 8. Juli 2010 hat Ungarn die vorliegende Klage erhoben. Die Slowakische Republik beantragt, die Klage abzuweisen und Ungarn die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

21      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 28. Januar 2011 ist die Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Slowakischen Republik zugelassen worden.

 Zur Klage

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

22      Die Slowakische Republik wendet ein, dass der Gerichtshof für eine Entscheidung über die vorliegende Rechtssache nicht zuständig sei, da das Unionsrecht auf einen Sachverhalt wie den vorliegenden nicht anwendbar sei.

23      Ungarn, das nur in diesem Punkt von der Kommission unterstützt wird, ist dagegen der Ansicht, dass der Gerichtshof der Europäischen Union allein zuständig sei, über einen Rechtsstreit zwischen zwei Mitgliedstaaten über die Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, da sich die Mitgliedstaaten nach Art. 344 AEUV verpflichtet hätten, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als darin vorgesehen zu regeln. Insbesondere könne ein Mitgliedstaat, der meine, ein anderer Mitgliedstaat habe gegen das Unionsrecht verstoßen, entweder die Kommission ersuchen, eine Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 258 AEUV einzureichen, oder unmittelbar den Gerichtshof gemäß Art. 259 AEUV anrufen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

24      Zur von der Slowakischen Republik erhobenen Einrede der Unzuständigkeit genügt die Feststellung, dass der Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Klage über die Tragweite des Unionsrechts, insbesondere des Art. 21 AEUV sowie der Richtlinie 2004/38 befinden soll, um zu beurteilen, ob der behauptete Verstoß der Slowakischen Republik gegen ihre Pflichten aus dem Unionsrecht vorliegt.

25      Die Frage, ob das Unionsrecht auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, fällt aber voll und ganz unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs, die insbesondere aufgrund von Art. 259 AEUV für die Feststellung besteht, ob gegebenenfalls ein Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt.

26      Folglich ist der Gerichtshof zuständig, um über die von Ungarn erhobene Klage zu entscheiden, so dass die von der Slowakischen Republik erhobene Einrede der Unzuständigkeit zurückzuweisen ist.

 Zur ersten Rüge

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

27      Mit seiner ersten Rüge macht Ungarn geltend, die Slowakische Republik habe dadurch, dass sie dem Präsidenten Ungarns die Einreise in ihr Hoheitsgebiet untersagt habe, gegen Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/38 verstoßen.

28      Für die Anwendbarkeit des Unionsrechts im vorliegenden Fall führt die ungarische Regierung insbesondere an, die Richtlinie 2004/38 gelte für jeden Unionsbürger, einschließlich der Staatsoberhäupter, und für alle Arten von Besuchen, d. h. sowohl für offizielle als auch private Besuche.

29      Wenn das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Ausübung des Freizügigkeitsrechts dem Völkerrecht hätten unterstellen wollen, hätten sie dies wie z. B. in Art. 3 Abs. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) vorgesehen. Im Übrigen gebe es im Völkerrecht solche Normen nicht. In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Unionsgesetzgeber das Völkerrecht zu beachten habe, wären solche Normen, wenn sie existierten, in der Richtlinie 2004/38 berücksichtigt worden. Selbst wenn man annehme, dass solche Normen existierten, könnte deren Anwendung nach Ansicht Ungarns jedenfalls nicht die Wirksamkeit einer Unionsregelung wie der Richtlinie 2004/38 durch die Einführung einer Ausnahme in deren persönlichen Geltungsbereich beeinträchtigen.

30      Ungarn macht ferner geltend, der Umfang des Rechts eines jeden Unionsbürgers, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen, könne nicht restriktiv ausgelegt werden, so dass dieses Recht nur den Beschränkungen unterliege, die ausnahmsweise in der Richtlinie 2004/38 vorgesehen seien. Diese Beschränkungen könnten jedoch nur angewandt werden, wenn die in der Richtlinie vorgesehenen materiell- und verfahrensrechtlichen Bedingungen erfüllt seien.

31      Was die materiell‑rechtlichen Bedingungen betreffe, räume Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, restriktive Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit zu erlassen, wenn ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sei. Außerdem könnten diese Beschränkungen nur angewandt werden, wenn das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Was die Verfahrensvoraussetzungen betreffe, nenne Art. 30 dieser Richtlinie die Garantien, die jeder Unionsbürger genieße, dessen Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt werde, und die insbesondere die Mitteilung der Gründe für jede restriktive Maßnahme und der Rechtsbehelfsmöglichkeiten beträfen.

32      Nach Ansicht Ungarns hat die Beklagte beim Verbot der Einreise des ungarischen Präsidenten in slowakisches Staatsgebiet weder die materiellen noch die verfahrensrechtlichen Bedingungen der Richtlinie 2004/38 beachtet. Zum einen habe Herr Sólyom nämlich keine Gefahr für irgendein Grundinteresse der Gesellschaft dargestellt, und ein Einreiseverbot sei auf alle Fälle eine unverhältnismäßige Maßnahme. Zum anderen seien ihm die Gründe für die Entscheidung und seine Rechtsbehelfsmöglichkeiten nicht mitgeteilt worden.

33      Die Slowakische Republik führt, in diesem Punkt unterstützt von der Kommission, zunächst aus, dass der geplante Besuch des ungarischen Präsidenten kein privater Besuch eines Unionsbürgers, sondern der Besuch eines Staatsoberhaupts im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats gewesen sei. Deshalb gehe es um die Frage, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 für Staatsoberhäupter der Mitgliedstaaten gelte.

34      Die Slowakische Republik vertritt dazu die Ansicht, dass in Anbetracht der Stellung der Staatsoberhäupter ihre Reisen innerhalb der Union in den Bereich der diplomatischen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten fielen, die durch das Völkergewohnheitsrecht und durch Übereinkommen geregelt seien. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, der sich aus Art. 3 EUV, Art. 4 Abs. 1 EUV und Art. 5 EUV ergebe, schließe bilaterale diplomatische Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten vom Geltungsbereich des Unionsrechts aus. Dies werde zunächst durch das Urteil vom 22. März 2007, Kommission/Belgien (C‑437/04, Slg. 2007, I‑2513), bestätigt, nach dem die Möglichkeit, ihre diplomatischen Beziehungen zu regeln, selbst nach dem Beitritt zur Europäischen Union bei den Mitgliedstaaten verbleibe. Außerdem weise keine Bestimmung der Verträge der Union ausdrücklich die Zuständigkeit zu, die diplomatischen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu regeln.

35      Da das Staatsoberhaupt Inhaber der Souveränität des Staates sei, den es vertrete, könne es sich in einen anderen souveränen Staat nur mit Wissen und mit der Zustimmung dieses Staates begeben. Insoweit bestimme Art. 4 Abs. 2 EUV, dass „die Union … die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität [achtet]“ und dass der Grundsatz des freien Verkehrs keinesfalls eine Änderung des Geltungsbereichs des EU-Vertrags oder des Sekundärrechts nach sich ziehen könne.

36      Hinsichtlich des Vorbringens Ungarns zur Anwendbarkeit des Unionsrechts im vorliegenden Fall erwidert die Slowakische Republik erstens, der Umstand, dass die Richtlinie 2004/38 keine Ausnahme für die Freizügigkeit der Staatsoberhäupter vorsehe, bedeute nicht, dass sie auf diese anwendbar sei, da die Anwendbarkeit des Unionsrechts auf Staatsoberhäupter durch die Verträge selbst ausgeschlossen sei. Zweitens widerspricht die Slowakische Republik ebenso wie die Kommission dem Vergleich der Richtlinie 2004/38 mit der Richtlinie 2003/109, da der Gegenstand dieser beiden Richtlinien verschieden sei, denn die zuletzt genannte ziele auf die Verbesserung der Integration legaler Einwanderer. Drittens ergebe sich aus den Urteilen vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation (C‑286/90, Slg. 1992, I‑6019), sowie vom 16. Juni 1998, Racke (C‑162/96, Slg. 1998, I‑3655), keine Pflicht des Unionsgesetzgebers, für jeden Rechtsakt des Sekundärrechts den sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich der Verträge im Zusammenhang mit dem Völkerrecht anzugeben. Schließlich seien viertens die Urteile vom 6. April 1995, RTE und ITP/Kommission (C‑241/91 P und C‑242/91 P, Slg. 1995, I‑743), sowie vom 22. Oktober 2009, Bogiatzi (C‑301/08, Slg. 2009, I‑10185), nur relevant, wenn die Zuständigkeit der Union nicht bestritten werde, was im vorliegenden Fall gerade nicht zutreffe.

37      Ließe man im Übrigen die Anwendung des Unionsrechts in einem Fall wie dem vorliegenden zu, käme das Staatsoberhaupt eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat in den Genuss der Privilegien auf der Grundlage des Unionsrechts und wäre gleichzeitig durch die im Völkerrecht begründete Immunität vor Verwaltungsentscheidungen, die dieser Staat auf der Grundlage des Unionsrechts treffe, geschützt. Die Folge davon wäre, dass ein Mitgliedstaat weder einer solchen Person die Einreise in sein Hoheitsgebiet verbieten noch, mit Rücksicht auf ihre Immunität, sie später ausweisen könnte.

38      Selbst wenn das Unionsrecht im vorliegenden Fall anwendbar wäre, habe die Slowakische Republik dieses Recht und insbesondere die Richtlinie 2004/38 jedenfalls nicht angewandt. Die Verbalnote vom 21. August 2009, in der auf die Richtlinie 2004/38 Bezug genommen werde, sei im Rahmen der diplomatischen Kontakte zur Vorbereitung des geplanten Besuchs des ungarischen Präsidenten zu sehen und deshalb keine „Entscheidung“ im Sinne dieser Richtlinie. Im Übrigen sei diese Note nicht von einem Beamten des Grenzschutzes, sondern vom Außenminister verfasst worden, d. h. von einem Organ, das offensichtlich unzuständig gewesen sei, eine solche Entscheidung in erster Instanz auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 und der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zu treffen. Außerdem sei die Note keineswegs an Herrn Sólyom gerichtet, sondern auf diplomatischem Weg Ungarn übermittelt worden.

39      Die Slowakische Republik macht ferner geltend, die unglückliche Formulierung dieser Note und die Erwähnung der Richtlinie 2004/38 führten nicht zur materiellen Anwendung der Richtlinie auf den vorliegenden Fall.

 Würdigung durch den Gerichtshof

40      Um über die erste Rüge zu entscheiden, ist vorab daran zu erinnern, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. insbesondere Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, Slg. 2001, I‑6193, Randnr. 31, vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, Slg. 2010, I‑1449, Randnr. 43, sowie vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, Slg. 2011, I‑11315, Randnr. 62).

41      Hierzu verleiht Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers (vgl. insbesondere Urteile vom 11. Juli 2002, D’Hoop, C‑224/98, Slg. 2002, I‑6191, Randnr. 27, vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C‑148/02, Slg. 2003, I‑11613, Randnr. 21, und vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, Slg. 2011, I‑1177, Randnr. 40).

42      Da Herr Sólyom die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt, genießt er folglich unbestreitbar diesen Status.

43      Einerseits verleiht zwar die Unionsbürgerschaft gemäß Art. 21 AEUV jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteile vom 7. Oktober 2010, Lassal, C‑162/09, Slg. 2010, I‑9217, Randnr. 29, und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, Slg. 2011, I‑3375, Randnr. 27).

44      Andererseits ist das Unionsrecht im Lichte der relevanten Regeln des Völkerrechts auszulegen, das Bestandteil der Rechtsordnung der Union und für deren Organe bindend ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Racke, Randnrn. 45 und 46, sowie vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, Slg. 2008, I‑6351, Randnr. 291).

45      Im vorliegenden Fall ist somit zu prüfen, ob, wie die Slowakische Republik geltend macht, der Umstand, dass Herr Sólyom zwar Unionsbürger ist, zum maßgeblichen Zeitpunkt aber das Amt des Staatsoberhaupts von Ungarn bekleidete, eine aus dem Völkerrecht folgende Beschränkung des ihm von Art. 21 AEUV gewährten Rechts auf Freizügigkeit begründen kann.

46      Ein Staatsoberhaupt genießt auf der Grundlage der Regeln des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts und multilateraler Abkommen in den internationalen Beziehungen einen besonderen Status, der insbesondere Vorrechte und Schutzrechte umfasst.

47      Insbesondere erklärt Art. 1 des New Yorker Übereinkommens vom 14. Dezember 1973 über die Verhütung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten u. a., dass jedes Staatsoberhaupt diesen Schutz genießt, wenn es sich in ausländischem Hoheitsgebiet befindet.

48      Somit verpflichtet die Anwesenheit eines Staatsoberhaupts im Hoheitsgebiet eines fremden Staates diesen dazu, den Schutz der Person, die dieses Amt bekleidet, unabhängig von der Rechtsgrundlage seines Aufenthalts zu gewährleisten.

49      Der Status des Staatsoberhaupts weist somit eine Besonderheit auf, die sich aus der völkerrechtlichen Regelung dieses Status ergibt, so dass Handlungen des Staatsoberhaupts auf internationaler Ebene, wie sein Aufenthalt im Ausland, dem Völkerrecht und insbesondere dem Recht der diplomatischen Beziehungen unterliegen.

50      Eine derartige Besonderheit ist geeignet, die Person, die diesen Status genießt, von allen anderen Unionsbürgern abzugrenzen, so dass die Einreise dieser Person in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nicht denselben Voraussetzungen unterliegt, die für die anderen Bürger gelten.

51      Hieraus folgt, dass der Umstand, dass ein Bürger der Union das Amt eines Staatsoberhaupts bekleidet, eine aus dem Völkerrecht folgende Beschränkung des ihm von Art. 21 AEUV gewährten Rechts auf Freizügigkeit rechtfertigen kann.

52      Nach alledem ist festzustellen, dass unter den vorliegenden Umständen weder Art. 21 AEUV noch gar die Richtlinie 2004/38 die Slowakische Republik dazu verpflichteten, die Einreise des ungarischen Präsidenten in ihr Hoheitsgebiet zu gewährleisten, so dass die erste Rüge als unbegründet zurückzuweisen ist.

 Zur dritten Rüge

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

53      Mit seiner dritten Rüge, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, macht Ungarn geltend, die Slowakische Republik habe dadurch, dass sie dem Präsidenten Ungarns die Einreise in ihr Hoheitsgebiet verweigert habe, gegen die Richtlinie 2004/38 verstoßen, und schon die Tatsache, dass die Verbalnote vom 21. August 2009 auf diese Richtlinie gestützt worden sei, falle unter den Begriff des Rechtsmissbrauchs, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs definiert werde (vgl. u. a. Urteil vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C‑110/99, Slg. 2000, I‑11569). In Wirklichkeit habe sich die Slowakische Republik auf diese Richtlinie berufen, um politische Ziele zu verfolgen.

54      Der Rückgriff auf das Unionsrecht, um durch Beschränkungen der Freizügigkeit der Bürger einer politischen Feindseligkeit Ausdruck zu verleihen, verstößt nach Ansicht Ungarns gegen die grundlegenden Werte der Union. Auch dürften die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit, die in der Richtlinie 2004/38 genannt würden, nicht zur Verfolgung politischer Ziele geltend gemacht werden. Würde man ein solches Verhalten als mit dem Unionsrecht vereinbar ansehen, würde künftig nichts die anderen Mitgliedstaaten daran hindern, ihre bilateralen Streitigkeiten unter Berufung auf das Unionsrecht zu regeln, was den Zielen dieses Rechts widerspreche.

55      Die Slowakische Republik erwidert, ein Missbrauch des Unionsrechts liege nicht vor, da dieses Recht auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Jedenfalls seien die von der Rechtsprechung für die Feststellung einer solchen missbräuchlichen Anwendung verlangten Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

 Würdigung durch den Gerichtshof

56      Die Slowakische Republik hat in ihrer Verbalnote vom 21. August 2009 zu Unrecht auf die Richtlinie 2004/38 Bezug genommen, was sie im Übrigen eingeräumt hat.

57      Dieser Umstand reicht jedoch für den Nachweis eines von der Slowakischen Republik begangenen Rechtsmissbrauchs nicht aus.

58      Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass der Nachweis eines Missbrauchs zum einen voraussetzt, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und dass er zum anderen ein subjektives Element voraussetzt, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (Urteile Emsland‑Stärke, Randnrn. 52 und 53, und vom 21. Juli 2005, Eichsfelder Schlachtbetrieb, C‑515/03, Slg. 2005, I‑7355, Randnr. 39).

59      Zum einen wurden im vorliegenden Fall die Bedingungen für die Anwendung der Richtlinie 2004/38 formal nicht eingehalten. Da der einzige Rechtsakt, der auf diese Richtlinie Bezug genommen hat, die Verbalnote des slowakischen Außenministeriums vom 21. August 2009 an den Botschafter Ungarns in der Slowakischen Republik war, wurde keine Entscheidung im Sinne von Art. 27 dieser Richtlinie erlassen und erst recht nicht Herrn Sólyom gemäß Art. 30 der Richtlinie mitgeteilt.

60      Zum anderen geht aus denselben Gründen aus den Akten klar hervor, dass die Slowakische Republik nicht künstlich die Voraussetzungen für die Anwendung der Richtlinie 2004/38 geschaffen hat. Die bloße Anführung dieser Richtlinie in der Verbalnote kann nämlich offenkundig nicht dazu führen, dass diese Richtlinie auf einen Sachverhalt zur Anwendung gelangt, auf den sie nicht anwendbar ist.

61      Unter diesen Umständen ist auch die dritte Rüge als unbegründet zurückzuweisen.

 Zur zweiten und vierten Rüge

62      Die zweite und die vierte Rüge sind zusammen zu untersuchen.

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

63      Mit seiner zweiten Rüge macht Ungarn geltend, es bestehe die Gefahr, dass die Slowakische Republik in der Zukunft erneut gegen Art. 3 EUV und Art. 21 AEUV sowie gegen die Richtlinie 2004/38 verstoße. Eine solche Gefahr werde insbesondere durch mehrere Erklärungen der slowakischen Behörden bestätigt, nach denen ihr Verhalten gegenüber dem Präsidenten Ungarns das Unionsrecht nicht verletzt habe.

64      Da die Slowakische Republik jede Verletzung des Unionsrechts, im Wesentlichen wegen seiner Unanwendbarkeit im vorliegenden Fall, bestreitet, ist sie der Ansicht, dass folglich keinerlei Wiederholungsgefahr bestehe. Auf alle Fälle stütze sich die zweite Rüge nur auf ein mögliches künftiges Verhalten der slowakischen Behörden. Außerdem handele es sich bei den Vorwürfen, auf die Ungarn diese Rüge stütze, um Erklärungen, die nach der Note vom 21. August 2009 abgegeben worden seien. Ihre Berücksichtigung im vorliegenden Verfahren würde die Verteidigungsrechte der Slowakischen Republik verletzen. Schließlich beruft sich die Slowakische Republik darauf, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Mitgliedstaaten seit dem streitigen Vorfall deutlich verbessert hätten, wovon insbesondere das in Randnr. 10 des vorliegenden Urteils erwähnte Treffen vom 10. September 2009 zeuge, so dass eine mögliche künftige Wiederholung eines ähnlichen Missverständnisses auszuschließen sei.

65      Mit seiner vierten Rüge macht Ungarn geltend, der Gerichtshof müsse, falls er entscheiden sollte, dass im vorliegenden Fall die Regeln des Völkerrechts und nicht die des Unionsrechts gälten, auch den persönlichen Anwendungsbereich dieser Regeln präzisieren, um die Grenzen für die Anwendung des Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 klarzustellen. Insbesondere müsse der Gerichtshof präzisieren, ob diese Grenzen nur Staatsoberhäupter beträfen oder auch andere Kategorien von Unionsbürgern.

66      Nach Ansicht der Slowakischen Republik hat die Frage, welche Personen außer den Staatsoberhäuptern nicht in den Anwendungsbereich von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 fallen, keinerlei Auswirkungen auf das Ergebnis des Rechtsstreits.

 Würdigung durch den Gerichtshof

67      Was die Entscheidung über diese beiden Rügen betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass das mit Art. 259 AEUV geschaffene Verfahren darauf abzielt, ein unionsrechtswidriges Verhalten eines Mitgliedstaats feststellen und beenden zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Februar 1979, Frankreich/Kommission, 15/76 und 16/76, Slg. 1979, 321, Randnr. 27, vom 6. Dezember 2007, Kommission/Deutschland, C‑456/05, Slg. 2007, I‑10517, Randnr. 25, sowie vom 21. September 2010, Schweden u. a./API und Kommission, C‑514/07 P, C‑528/07 P und C‑532/07 P, Slg. 2010, I‑8533, Randnr. 119).

68      Da der Vertrag darauf abzielt, Verstöße der Mitgliedstaaten und deren Folgen tatsächlich zu beseitigen (Urteil vom 12. Juli 1973, Kommission/Deutschland, 70/72, Slg. 1973, 813, Randnr. 13), ist eine Klage nach Art. 259 AEUV, die sich gegen zukünftige und mögliche Verstöße richtet oder mit der lediglich um eine Auslegung des Unionsrechts ersucht wird, unzulässig.

69      Ungarn macht aber mit seiner zweiten Rüge nur die Gefahr zukünftiger Verstöße gegen Art. 3 EUV und Art. 21 AEUV sowie die Richtlinie 2004/38 geltend und hat nicht dargetan, dass diese Gefahr, wenn sie denn nachgewiesen wäre, für sich genommen einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt.

70      Mit seiner vierten Rüge ersucht Ungarn den Gerichtshof nicht darum, eine Vertragsverletzung der Slowakischen Republik festzustellen, sondern begehrt eine Auslegung des Unionsrechts. Zudem ist diese Auslegung angeblich erforderlich, um das Unionsrecht auf eine Sachlage anzuwenden, die sich von der im vorliegenden Fall in Rede stehenden unterscheidet. Die Umstände im Zusammenhang mit dem Vorfall vom 21. August 2009 zwischen Ungarn und der Slowakischen Republik betrafen nämlich nur den Präsidenten Ungarns und nicht andere Kategorien von Bürgern.

71      Daher sind die zweite und die vierte Rüge als unzulässig zurückzuweisen.

72      Da keine der von Ungarn erhobenen Rügen Erfolg hatte, ist die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

73      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Slowakische Republik die Verurteilung Ungarns beantragt hat und da Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

74      Nach Art. 69 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt die Kommission, die diesem Rechtsstreit als Streithelferin beigetreten ist, ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Ungarn trägt die Kosten.

3.      Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Slowakisch.