Language of document : ECLI:EU:C:2013:462

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

11. Juli 2013(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Verkehr – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Richtlinie 91/440/EWG – Art. 6 Abs. 3 und Anhang II – Richtlinie 2001/14/EG – Art. 14 Abs. 2 – Unabhängigkeit der Stelle, die mit der Ausübung wesentlicher Funktionen betraut ist“

In der Rechtssache C‑412/11

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingegangen am 5. August 2011,

Europäische Kommission, vertreten durch J.‑P. Keppenne und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Großherzogtum Luxemburg, vertreten durch C. Schiltz als Bevollmächtigten,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter), E. Levits, J.‑J. Kasel und der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Dezember 2012

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass das Großherzogtum Luxemburg dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. L 237, S. 25) in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 (ABl. L 315, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/440) und aus Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. L 75, S. 29) in der durch die Richtlinie 2007/58 geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/14) verstoßen hat, dass es nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass die Stelle, die mit der Ausübung einer wesentlichen Funktion nach Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 betraut ist, von dem Unternehmen unabhängig ist, das die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringt.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Im Februar 2001 wurden drei Richtlinien erlassen, um den Eisenbahnverkehr durch eine schrittweise Öffnung für den Wettbewerb auf europäischer Ebene neu zu beleben, nämlich die Richtlinie 2001/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 zur Änderung der Richtlinie 91/440 (ABl. L 75, S. 1), die Richtlinie 2001/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 zur Änderung der Richtlinie 95/18/EG des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen (ABl. L 75, S. 26) und die Richtlinie 2001/14 (im Folgenden zusammen: erstes Eisenbahnpaket).

 Die Richtlinie 91/440

3        Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 bestimmte:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Funktionen nach Anhang II, die für einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur ausschlaggebend sind, an Stellen oder Unternehmen übertragen werden, die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. Ungeachtet der Organisationsstrukturen ist der Nachweis zu erbringen, dass dieses Ziel erreicht worden ist.

Die Mitgliedstaaten können jedoch Eisenbahnunternehmen oder jeder anderen Stelle die Erhebung von Entgelten und die Verantwortung für die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur übertragen, wozu Investitionen, Wartung und Finanzierung gehören.“

4        Anhang II dieser Richtlinie hatte folgenden Wortlaut:

„Verzeichnis der wesentlichen Funktionen nach Artikel 6 Absatz 3:

–        Vorarbeiten und Entscheidungen über die Zulassung von Eisenbahnunternehmen, einschließlich der Gewährung einzelner Genehmigungen;

–        Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen;

–        Entscheidungen über die Wegeentgelte;

–        Überwachung der Einhaltung von Verpflichtungen zur Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen für die Allgemeinheit.“ 

 Die Richtlinie 2001/14

5        Art. 14 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/14 bestimmte:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können eine Rahmenregelung für die Zuweisung von Fahrwegkapazität schaffen, sofern dabei die Unabhängigkeit der Geschäftsführung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 91/440/EWG gewahrt wird. Es werden spezifische Regeln für die Zuweisung von Fahrwegkapazität festgelegt. Der Betreiber der Infrastruktur führt die Verfahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazität durch. Insbesondere gewährleistet der Betreiber der Infrastruktur, dass die Fahrwegkapazität auf gerechte und nichtdiskriminierende Weise unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zugewiesen wird.

(2)      Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in Absatz 1 genannten und in diesem Kapitel im weiteren dargelegten Aufgaben von einer Zuweisungsstelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.“

6        Art. 29 dieser Richtlinie sah vor:

„(1)      Bei technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen hat der Betreiber der Infrastruktur alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die normale Situation wiederherzustellen. Zu diesem Zweck erstellt er einen Notfallplan, in dem die verschiedenen staatlichen Stellen aufgeführt sind, die bei schwerwiegenden Vorfällen oder schwerwiegenden Störungen der Zugbewegungen zu unterrichten sind.

(2)      In Notfallsituationen und sofern dies unbedingt notwendig ist, weil der Fahrweg wegen einer Betriebsstörung vorübergehend nicht benutzt werden kann, können die zugewiesenen Zugtrassen ohne Ankündigung so lange gesperrt werden, wie es zur Instandsetzung des Systems erforderlich ist.

Der Betreiber der Infrastruktur kann, wenn er dies für notwendig hält, verlangen, dass die Eisenbahnunternehmen ihm die Mittel zur Verfügung stellen, die seiner Meinung nach am besten geeignet sind, um die normale Situation möglichst bald wiederherzustellen.

(3)      Die Mitgliedstaaten können von den Eisenbahnunternehmen verlangen, dass sie sich an der Sicherstellung der Durchsetzung und Überwachung der für sie geltenden Sicherheitsnormen und ‑vorschriften beteiligen.“

 Luxemburgisches Recht

7        Das Gesetz vom 22. Juli 2009 über die Eisenbahnsicherheit (Loi du 22 juillet 2009 sur la sécurité ferroviaire, Mémorial A 2009, S. 2465), mit dem u. a. die Eisenbahnverwaltung (Administration des Chemins de Fer, im Folgenden: ACF) geschaffen wurde, sieht vor, dass die ACF für die wesentlichen Funktionen der Zuweisung der Kapazitäten (Trassenzuweisung) und der Entgelterhebung verantwortlich ist.

8        Das Gesetz vom 11. Juni 1999 über die Eisenbahninfrastruktur (Loi du 11 juin 1999 relative à l’infrastructure ferroviaire, Memorial A 1999, S. 1794) in der durch das Gesetz vom 3. August 2010 (Memorial A 2010, S. 2194) geänderten Fassung bestimmt:

„Die Aufgabe der Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn wird einer Zuweisungsstelle übertragen, deren Funktion von der [ACF] wahrgenommen wird.“

9        Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen vom 23. Dezember 2010 (im Folgenden: Nutzungsbedingungen) sehen in ihrem Abschnitt 4.8.2 unter der Überschrift „Verwaltung des Verkehrs bei Störungen“ Folgendes vor:

„Die operationelle Lenkung erfolgt durch den Bereitschaftsdienst [der Dienststelle für die Verwaltung des Schienennetzes (Service de gestion du réseau, im Folgenden: SGR) der Société nationale des Chemins de fer Luxembourgeois (nationale luxemburgische Eisenbahngesellschaft, im Folgenden: CFL)]. Seine Grundsätze und Verfahren gelten für alle Züge, sobald ein Zug seinen ursprünglich vorgesehenen Fahrplan nicht einhalten kann. Außer im Fall eines Missverständnisses wird einem Zug mit Verspätung während ein und desselben Tages keine neue Trasse zugewiesen. In diesem Fall beschränkt sich seine Funktion auf die eines Übermittlers der Bestellung des Infrastrukturnutzers an die [ACF].“

10      In Abschnitt 4.8.3 der Nutzungsbedingungen heißt es:

„Sind von der Störung und den Maßnahmen zu ihrer Behebung nur ein Eisenbahnunternehmen betroffen, ohne dass es zu Auswirkungen auf die von den anderen Eisenbahnunternehmen reservierten Fahrwegkapazitäten kommt, werden die Maßnahmen zur Behebung der Störung in Abstimmung mit dem betroffenen Eisenbahnunternehmen getroffen.

Sind von der Störung und den Maßnahmen zu ihrer Behebung mehrere Eisenbahnunternehmen betroffen, ist die [ACF] bemüht, die Maßnahmen zur Behebung der Störung so früh wie möglich und in Verhandlung mit allen betroffenen Eisenbahnunternehmen festzulegen.“

11      Abschnitt 4.8.4 der Nutzungsbedingungen sieht vor:

„Bei unvorhergesehenen technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen hat der Betreiber der Infrastruktur alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die normale Situation wiederherzustellen. Er wendet insbesondere die bei Un- und Vorfällen vorgesehenen Verfahren der allgemeinen technischen Betriebsordnung an.

In Notfallsituationen und sofern dies unbedingt notwendig ist, u. a. wegen eines Unfalls, einer Betriebsstörung, derentwegen der Fahrweg vorübergehend nicht benutzbar ist, oder eines anderen Umstands, der die normale und sichere Nutzung der Infrastruktur verhindert, können die zugewiesenen Zugtrassen ohne Ankündigung so lange gesperrt werden, wie es zur Instandsetzung des Systems erforderlich ist oder der die Unterbrechung des Verkehrs verursachende Umstand entfallen ist.

Die [ACF] vergibt Alternativkapazitäten, die so weit wie möglich den Anforderungen der betroffenen Eisenbahnunternehmen entsprechen.

Der Betreiber der Infrastruktur kann, wenn er dies für notwendig hält, verlangen, dass die Eisenbahnunternehmen ihm die Mittel zur Verfügung stellen, die seiner Meinung nach am besten geeignet sind, um die normale Situation möglichst bald wiederherzustellen, oder seine eigenen Mittel zur Sicherung und Beseitigung einsetzen. Die dadurch entstehenden Kosten fallen dem für die Störung Verantwortlichen zur Last.“

 Vorverfahren

12      Mit Schreiben vom 26. Juni 2008 forderte die Kommission das Großherzogtum Luxemburg auf, den Richtlinien des ersten Eisenbahnpakets nachzukommen. Das Großherzogtum Luxemburg antwortete auf diese Aufforderung mit Schreiben vom 27. August 2008.

13      Mit Schreiben vom 9. Oktober 2009 übermittelte die Kommission dem Großherzogtum Luxemburg eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie darauf hinwies, dass die von diesem Mitgliedstaat erlassenen Maßnahmen zur Umsetzung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und ihres Anhangs II sowie von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 hinsichtlich der Unabhängigkeit der Stellen, der wesentliche Funktionen anvertraut seien, unzureichend seien. In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme rügte die Kommission außerdem, dass das Großherzogtum Luxemburg nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um seinen Verpflichtungen in Bezug auf die Entgeltregelung für den Zugang zu den Eisenbahnfahrwegen nach Art. 11 der Richtlinie 2001/14 und Art. 10 Abs. 7 der Richtlinie 91/440 nachzukommen. Das Großherzogtum Luxemburg habe außerdem gegen die Verpflichtungen verstoßen, die den Mitgliedstaaten nach Art. 30 Abs. 1, 4 und 5 der Richtlinie 2001/14 hinsichtlich der Regulierungsstelle oblägen.

14      Mit Schreiben vom 24. Dezember 2009 und 29. März 2010 antwortete das Großherzogtum Luxemburg auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und übermittelte der Kommission dabei den Text der Großherzoglichen Verordnung vom 27. Februar 2010 über die leistungsabhängige Entgeltregelung für das Schienennetz.

15      Mit Schreiben vom 15. April 2010 richtete die Kommission an das Großherzogtum Luxemburg ein Informationsersuchen, auf das dieses am 26. April und 16. August 2010 antwortete.

16      Mit Schreiben vom 25. November 2010 übersandte die Kommission dem Großherzogtum Luxemburg eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie angesichts der Entwicklung des nationalen Regelungsrahmens seit der Versendung der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 9. Oktober 2009 den Vorwurf der Vertragsverletzung auf Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und ihren Anhang II sowie Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14, die die Unabhängigkeit der für die wesentlichen Funktionen verantwortlichen Stelle – d. h. der ACF – betreffen, beschränkte. Die Kommission ersuchte das Großherzogtum Luxemburg daher, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um seinen Verpflichtungen binnen zwei Monaten ab dem Erhalt der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen.

17      Mit Schreiben vom 3. Februar 2011 beantwortete das Großherzogtum Luxemburg die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme.

18      Da die Kommission die Antwort des Großherzogtums Luxemburg für unbefriedigend hielt, beschloss sie, die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Klage

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

19      Die Kommission macht geltend, dass nach der Richtlinie 91/440 u. a. die Funktionen der Zuweisung von Fahrwegkapazität von unabhängigen Stellen wahrgenommen werden müssten. Anhang II zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie sehe nämlich „Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen“ als eine der wesentlichen Funktionen an. Anhang II unterscheide somit nicht zwischen den verschiedenen Arten der Zuweisung von Zugtrassen. Da die Organisation der Zugtrassen zur operationellen Verkehrslenkung gehöre und eng mit dieser verbunden sei, sei diese Lenkung Bestandteil der wesentlichen Funktionen und müsse daher durch eine von dem Eisenbahnunternehmen unabhängige Stelle wahrgenommen werden.

20      Auch wenn die ACF, die die Trassenzuteilung vornehme, durchaus eine von den CFL unabhängige Stelle sei, ändere dies jedoch nichts daran, dass auch die CFL bestimmte wesentliche Funktionen bei der Trassenzuweisung wahrnähmen.

21      Anhand der Angaben des Großherzogtums Luxemburg geht die Kommission davon aus, dass im Fall von Verkehrsstörungen eine Dienststelle der CFL für die Trassenzuteilung zuständig bleibe, nämlich der SGR, der nicht von den Bereichen der CFL unabhängig sei, die die Eisenbahnverkehrsleistungen erbrächten.

22      Bei Verkehrsstörungen könne der von der ACF aufgestellte normale Fahrplan nicht mehr eingehalten werden, da die darin festgelegten Zeiten bereits überschritten seien und eine Neuzuteilung der Zeiten für die wartenden Betreiber notwendig werde. Eine solche Neuzuteilung stelle zwangsläufig eine Trassenzuweisung dar. Nach der luxemburgischen Regelung könne diese Neuzuteilung jedoch ausschließlich von der Verkehrsleitstelle, die von den CFL betrieben werde, vorgenommen werden, wodurch den CFL eine Rolle bei der Zuweisung der Fahrwegkapazität zukomme, die den Vorgaben der Richtlinie 2001/14 zuwiderlaufe.

23      Nach Ansicht der Kommission erfordert die Ausübung der wesentlichen Funktion der Trassenzuweisung, dass die CFL den Anforderungen des ersten Eisenbahnpakets hinsichtlich der Unabhängigkeit nachkämen. Innerhalb der CFL seien jedoch keine Maßnahmen zur Gewährleistung dieser Unabhängigkeit getroffen worden, um die Bereiche, die die wesentlichen Funktionen wahrnähmen, rechtlich, organisatorisch und in Bezug auf ihre Entscheidungen von den Bereichen zu trennen, die die Eisenbahnverkehrsleistungen betrieben. Diese Funktionen müssten daher der ACF übertragen werden.

24      Art. 29 der Richtlinie 2001/14 sei keine Spezialnorm, mit der eine Ausnahme von der allgemeinen Regel gemacht werde. Denn gemäß Art. 14 Abs. 2 dieser Richtlinie gelte die Verpflichtung zur Unabhängigkeit, die die Zuweisungsstelle treffe, für alle Funktionen im Sinne ihres Art. 14 Abs. 1, die in ihrem Kapitel III einschließlich ihres Art. 29 beschrieben seien.

25      In ihrer Erwiderung macht die Kommission geltend, dass die Änderungen, die durch die nach Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist erlassenen Nutzungsbedingungen eingeführt worden seien, nicht ausreichten, um die Vertragsverletzung zu beenden.

26      Das Großherzogtum Luxemburg vertritt in seiner Klagebeantwortung die Ansicht, dass die geltende nationale Regelung, obwohl sie mit dem Wortlaut und dem Sinn der Richtlinie 2001/14 im Einklang gestanden habe, nach der Einreichung der vorliegenden Klage dennoch angepasst worden sei, um nicht den geringsten Zweifel daran bestehen zu lassen, dass sie mit dem Unionsrecht im Einklang stehe. So seien die Nutzungsbedingungen dahin geändert worden, dass die Trassenzuweisung im Fall von Störungen ebenfalls auf die ACF zu übertragen sei; der SGR sei somit nicht mehr beteiligt, wodurch ein gerechter und nichtdiskriminierender Zugang zur Infrastruktur gewährleistet werde.

27      In seiner Gegenerwiderung macht das Großherzogtum Luxemburg geltend, dass die Nutzungsbedingungen mit Wirkung vom 1. Januar 2012 erneut geändert worden seien und dass sie nunmehr den von der Kommission gestellten Anforderungen entsprächen, da sie vorsähen, dass die neuen Trassen im Fall unvorhergesehener Störungen von der ACF zugewiesen würden.

 Würdigung durch den Gerichtshof

28      Mit ihrer einzigen Rüge wirft die Kommission dem Großherzogtum Luxemburg vor, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 in Verbindung mit deren Anhang II und gegen Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 verstoßen zu haben, da in Luxemburg zwar die ACF eine von den CFL, die die Infrastruktur betrieben und Eisenbahndienstleistungen erbrächten, unabhängige Stelle sei, die CFL aber mit bestimmten wesentlichen Funktionen der Trassenzuweisung befasst blieben, da die Neuzuteilung der Trassen bei Verkehrsstörungen einer Dienststelle, die Teil der CFL sei, nämlich dem SGR, übertragen worden sei, der rechtlich, organisatorisch und in seinen Entscheidungen nicht von den CFL unabhängig sei.

29      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Großherzogtum Luxemburg geltend macht, die Umsetzung der Richtlinie 2001/14 sei seit dem Erlass der am 1. Oktober 2011 in Kraft getretenen und am 1. Januar 2012 geänderten Nutzungsbedingungen vollständig abgeschlossen.

30      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung jedoch anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteile vom 18. November 2010, Kommission/Spanien, C‑48/10, Randnr. 30, und vom 5. Mai 2011, Kommission/Deutschland, C‑206/10, Slg. 2011, I‑3573, Randnr. 25).

31      Daher kann der Gerichtshof die betreffenden Nutzungsbedingungen und ihre Änderungen, die nach Ablauf der von der Kommission in ihrer ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 25. November 2010 gesetzten Frist erlassen wurden, im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage nicht berücksichtigen.

32      In materiell-rechtlicher Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 91/440 die Liberalisierung des Eisenbahnverkehrs eingeleitet wurde, um den Eisenbahnunternehmen einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur zu garantieren. Um einen solchen Zugang zu gewährleisten, ist in Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/440 festgelegt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, um sicherzustellen, dass die in Anhang II dieser Richtlinie aufgeführten wesentlichen Funktionen an Stellen oder Unternehmen übertragen werden, die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen, und dass ungeachtet der Organisationsstrukturen der Nachweis zu erbringen ist, dass dieses Ziel erreicht worden ist.

33      Gemäß Anhang II der Richtlinie 91/440 gehören zu den wesentlichen Funktionen im Sinne ihres Art. 6 Abs. 3 Vorarbeiten und Entscheidungen über die Zulassung von Eisenbahnunternehmen, Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit der Trassen und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen, Entscheidungen über die Wegeentgelte und die Überwachung der Einhaltung von Verpflichtungen zur Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen für die Allgemeinheit.

34      Insoweit ist daran zu erinnern, dass im Fall von Verkehrsstörungen oder Gefahren die zur Wiederherstellung normaler Verkehrsbedingungen erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Sperrung von Zugtrassen, nicht zur Trassenzuweisung gehören (vgl. Urteil vom 28. Februar 2013, Kommission/Ungarn, C‑473/10, Randnrn. 56 und 59).

35      Art. 29 der Richtlinie 2001/14 sieht nämlich die Möglichkeit vor, erforderliche Maßnahmen zu treffen, um technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen sowie Notfallsituationen oder Fällen zu begegnen, in denen dies unbedingt notwendig ist, weil der Fahrweg wegen einer Betriebsstörung vorübergehend nicht benutzt werden kann (Urteil Kommission/Ungarn, Randnr. 57).

36      Diese Bestimmung betrifft Sondermaßnahmen, die im Fall der Störung des Zugverkehrs erlassen werden müssen, um aus Sicherheitsgründen normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen, wohingegen die Bestimmungen von Kapitel III der Richtlinie 2001/14 die Fahrplanerstellung und die Ad-hoc-Zuweisung einzelner Zugtrassen betreffen. Bei den nach Art. 29 der Richtlinie 2001/14 erlassenen Maßnahmen kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass sie unmittelbar die wesentliche Funktion der Zuweisung von Fahrwegkapazität oder der Zuweisung von Zugtrassen im Sinne von Art. 14 Abs. 2 dieser Richtlinie betreffen, eine Funktion, die einer unabhängigen Zuweisungsstelle übertragen werden muss. Es handelt sich vielmehr um punktuelle Maßnahmen, die im Notfall getroffen werden müssen, um einer besonderen Situation Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass die Rechte auf Fahrwegkapazität in Form von Zugtrassen vom Begünstigten im Einklang mit dem Netzfahrplan tatsächlich wahrgenommen werden können (Urteil Kommission/Ungarn, Randnr. 59).

37      Der Erlass derartiger Maßnahmen gehört daher zur Verwaltung des Verkehrs und unterliegt nicht dem Unabhängigkeitserfordernis, so dass einem Betreiber der Infrastruktur, der auch gleichzeitig Eisenbahnunternehmen ist, derartige Funktionen übertragen werden können.

38      Allerdings muss – wie der Generalanwalt in Nr. 24 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in denen auf die Nrn. 67 bzw. 44 seiner Schlussanträge in der bereits erwähnten Rechtssache Kommission/Ungarn und der Rechtssache Kommission/Slowenien (Urteil vom 11. Juli 2013, C‑627/10,) verwiesen wird –, auch wenn die Streichung von Trassen im Fall von Verkehrsstörungen nicht als wesentliche Funktion angesehen wird, ihre Neuzuweisung als Teil der wesentlichen Funktionen angesehen werden, die nur von einem unabhängigen Betreiber oder von einer Zuweisungsstelle ausgeübt werden können, da die Neuzuweisung von Trassen – im Gegensatz zur Verwaltung des Verkehrs, der nicht mit Entscheidungen im Sinne des Anhangs II der Richtlinie 91/440 verbunden ist – Entscheidungen über die Trassenzuweisung erfordert.

39      Im vorliegenden Fall ist in Luxemburg die Zuweisung von Rechten auf eine bestimmte Fahrwegkapazität in Form von Zugtrassen eine wesentliche Funktion, die ausschließlich einer Zuweisungsstelle, nämlich der ACF, zugewiesen ist. Bei Verkehrsstörungen, in Notfallsituationen oder in jeder anderen Situation, in der die Infrastruktur nicht normal und sicher nutzbar ist, kann nach den einschlägigen luxemburgischen Rechtsvorschriften der Betreiber der Infrastruktur, d. h. die CFL, die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um normale Verhältnisse wiederherzustellen, und auch die zugewiesenen Zugtrassen ohne Ankündigung so lange sperren, wie es zur Instandsetzung des Systems erforderlich ist oder der die Unterbrechung des Verkehrs verursachende Umstand entfallen ist. In diesem Fall obliegt die Neuzuteilung einer Zugtrasse der ACF.

40      Zudem stellt Abschnitt 4.8.2 der Nutzungsbedingungen klar, dass in Fällen, in denen ein Zug seinen ursprünglich vorgesehenen Fahrplan nicht einhalten kann, der Bereitschaftsdienst der SGR in keinem Fall eine neue Trassenzuweisung vornimmt.

41      Aus der genannten Regelung ergibt sich somit, dass keine neue Trassenzuweisung erfolgt und eine solche, falls sie notwendig wird, von der ACF vorgenommen wird.

42      Unter diesen Voraussetzungen ist nicht davon auszugehen, dass die luxemburgische Regelung für den Eisenbahnverkehr nicht den Anforderungen von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 entspricht, weil sie es dem SGR, der in die CFL eingegliedert ist, ermöglicht, die Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um bei Störungen des Verkehrs oder bei Gefahr normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen.

43      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Klage der Kommission abzuweisen ist.

 Kosten

44      Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag des Großherzogtums Luxemburg die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.