Language of document : ECLI:EU:C:2013:367

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

6. Juni 2013(*)

„Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats – Unbegleiteter Minderjähriger – Nacheinander in zwei Mitgliedstaaten gestellte Asylanträge – Kein im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats anwesender Familienangehöriger des Minderjährigen – Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 – Überstellung des Minderjährigen in den Mitgliedstaat, in dem er seinen ersten Antrag gestellt hat – Vereinbarkeit – Wohl des Kindes – Art. 24 Abs. 2 der Charta“

In der Rechtssache C‑648/11

betreffend ein Vorabenscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 14. Dezember 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Dezember 2011, in dem Verfahren

The Queen, auf Antrag von:

MA,

BT,

DA

gegen

Secretary of State for the Home Department,

Beteiligte:

The AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer sowie der Richter U. Lõhmus, M. Safjan und der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. November 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von MA und BT, vertreten durch S. Knafler, QC, K. Cronin, Barrister, und L. Barratt, Solicitor,

–        von DA, vertreten durch S. Knafler, QC, B. Poynor, Barrister, und D. Sheahan, Solicitor,

–        von The AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK), vertreten durch D. Das, Solicitor, R. Hussain, QC, und C. Meredith, Barrister,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte, im Beistand von S. Lee, Barrister,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigter,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels, M. Noort und C. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,

–        der schweizerischen Regierung, vertreten durch O. Kjelsen als Bevollmächtigter,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Februar 2013

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MA, BT und DA, drei minderjährigen Drittstaatsangehörigen, und dem Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Entscheidung, ihre im Vereinigten Königreich eingereichten Asylanträge nicht zu prüfen und ihre Überstellung in den Mitgliedstaat anzuregen, in dem sie zuerst einen Asylantrag gestellt hatten.

 Rechtlicher Rahmen

 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

3        Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der sich, wie aus den Erläuterungen zu dieser Bestimmung hervorgeht, auf das am 20. November 1989 in New York geschlossene und von allen Mitgliedstaaten ratifizierte Übereinkommen über die Rechte des Kindes stützt, bestimmt in seinem Abs. 2:

„Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“

 Verordnung Nr. 343/2003

4        In den Erwägungsgründen 3 und 4 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es:

„(3)      Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere] … sollte [das Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(4)      Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.“

5        Wie aus dem 15. Erwägungsgrund der genannten Verordnung in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV hervorgeht, steht die Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden. Die Verordnung zielt insbesondere darauf ab, auf der Grundlage der Art. 1 und 18 der Charta die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Rechts der Asylwerber auf Asyl zu gewährleisten.

6        Aus dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003 geht hervor, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit Schreiben vom 30. Oktober 2001 entsprechend Art. 3 des dem EU- und dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mitgeteilt hat, dass es sich an der Annahme und Anwendung dieser Verordnung beteiligen möchte.

7        Nach Art. 2 Buchst. c, d und h dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

„c)      ‚Asylantrag‘ den von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag, der als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaats im Sinne [des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge] angesehen werden kann. …

d)      ‚Antragsteller‘ bzw. ‚Asylbewerber‘ den Drittstaatsangehörigen, der einen Asylantrag eingereicht hat, über den noch nicht endgültig entschieden worden ist;

h)      ‚unbegleiteter Minderjähriger‘ unverheiratete Personen unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines für sie nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befinden …“

8        Art. 3 der Verordnung Nr. 343/2003, der zu ihrem Kapitel II („Allgemeine Grundsätze“) gehört, bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:

„(1)      Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)      Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. … “

9        Zur Bestimmung des „zuständigen Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ist in ihren Art. 6 bis 14, die zu Kapitel III gehören, eine Rangfolge objektiver Kriterien aufgeführt.

10      Art. 5 der Verordnung Nr. 343/2003 sieht vor:

„(1)      Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.

(2)      Bei der Bestimmung des nach diesen Kriterien zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.“

11      Art. 6 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt:

„Handelt es sich bei dem Asylbewerber um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält, für die Prüfung seines Antrags zuständig, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt.

Ist kein Familienangehöriger anwesend, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, zuständig.“

12      Art. 13 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet:

„Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.“

 Richtlinie 2005/85/EG

13      Art. 25 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13) bestimmt:

„(1)      Zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der Verordnung … Nr. 343/2003 nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob der Antragsteller als Flüchtling im Sinne der Richtlinie 2004/83/EG [des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12)] anzuerkennen ist, wenn ein Antrag gemäß dem vorliegenden Artikel als unzulässig betrachtet wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Asylantrag gemäß diesem Artikel als unzulässig betrachten, wenn

a)      ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat;

f)      der Asylbewerber nach einer rechtskräftigen Entscheidung einen identischen Antrag gestellt hat;

…“

 Ausgangsrechtsstreit

 Der Fall MA

14      MA, eine eritreische Staatsangehörige, wurde am 24. Mai 1993 geboren und reiste am 25. Juli 2008 in das Vereinigte Königreich ein, wo sie bei ihrer Ankunft einen Asylantrag stellte.

15      Nachdem die britischen Behörden festgestellt hatten, dass MA bereits einen Asylantrag in Italien eingereicht hatte, ersuchten sie die italienischen Behörden gemäß den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003, MA wieder aufzunehmen, wozu sich die italienischen Behörden am 13. Oktober 2008 bereit erklärten.

16      Die Überstellung nach Italien, die am 26. Februar 2009 hätte stattfinden sollen, wurde nicht vollzogen. MA erhob vor dem High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), Klage, um die Rechtmäßigkeit der angeordneten Überstellung zu bestreiten.

17      Am 25. März 2010 beschloss der Secretary of State gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, ihren Asylantrag zu prüfen. Anschließend wurde MA die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

18      Der Secretary of State forderte MA auf, ihre Klage zurückzunehmen, was sie ablehnte.

 Der Fall BT

19      Auch die am 20. Januar 1993 geborene BT ist eine eritreische Staatsangehörige. Sie reiste am 12. August 2009 in das Vereinigte Königreich ein, wo sie am Tag nach ihrer Ankunft einen Asylantrag stellte.

20      Nachdem die britischen Behörden festgestellt hatten, dass BT bereits einen Asylantrag in Italien eingereicht hatte, ersuchten sie die italienischen Behörden, BT wieder aufzunehmen, wozu sich die italienischen Behörden am 28. September 2009 bereit erklärten.

21      Am 4. Dezember 2009 wurde BT nach Italien überstellt.

22      BT erhob vor dem High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), Klage, um die Rechtmäßigkeit ihrer Überstellung nach Italien zu bestreiten. Im Anschluss an eine Entscheidung dieses Gerichts vom 18. Februar 2010 konnte BT am 26. Februar 2010 wieder in das Vereinigte Königreich zurückkehren.

23      Am 25. März 2010 beschloss der Secretary of State, den Asylantrag von BT gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu prüfen. Ihr wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sie lehnte es aber ab, ihre Klage zurückzunehmen.

 Der Fall DA

24      DA, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste am 20. November 2009 in das Vereinigte Königreich ein, wo er am 8. Dezember 2009 um Asyl bat. Da DA eingeräumt hatte, in den Niederlanden bereits einen Asylantrag gestellt zu haben, wurden die niederländischen Behörden ersucht, ihn wieder aufzunehmen, wozu sie sich am 2. Februar 2010 bereit erklärten.

25      Am 14. Juli 2010 ordnete der Secretary of State die Überstellung von DA in die Niederlande an. Auf eine am 26. Juli 2010 von DA beim High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), erhobene Klage hin wurde jedoch entschieden, die Überstellung nicht zu vollziehen. Im Anschluss daran erklärte sich der Secretary of State einverstanden, den Asylantrag von DA gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu prüfen.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

26      Die drei Rechtssachen wurden im Ausgangsverfahren miteinander verbunden.

27      Mit Urteil vom 21. Dezember 2010 hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), die Klagen der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens abgewiesen und entschieden, dass nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ein unbegeleiteter Minderjähriger, der Asyl beantragt und keinen Familienangehörigen habe, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalte, in den Mitgliedstaat zurückgeschickt werden könne, in dem er zum ersten Mal einen Asylantrag gestellt habe.

28      MA, BT und DA haben gegen dieses Urteil beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) ein Rechtsmittel eingelegt.

29      In seiner Vorlageentscheidung weist dieses Gericht darauf hin, dass keiner der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens Familienangehörige im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 habe, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten aufhielten.

30      Ihre Rechtsmittel wurden zusammen geprüft, weil alle drei im Vereinigten Königreich Asyl als „unbegleiteter Minderjähriger“ beantragt hatten und der Secretary of State in allen Fällen zunächst der Ansicht war, dass dem Rechtsbehelf nicht stattzugeben sei, weil die Mitgliedstaaten, in die er die Rechtsmittelführer zurückschicken wollte, sichere Staaten seien.

31      Das vorlegende Gericht hält es für bedeutsam, dass die in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verwendete Formulierung „seinen Antrag zum ersten Mal … stellt“ in Art. 6 Abs. 2 dieser Verordnung nicht wiederholt werde, in dem es einfach heiße: „seinen … [A]ntrag gestellt hat“. Außerdem stünden in der Rangfolge der im Kapitel III dieser Verordnung genannten Kriterien die unbegleiteten Minderjährigen an erster Stelle.

32      In Bezug auf die Zulässigkeit seiner Frage weist das vorlegende Gericht u. a. darauf hin, dass zwischen den Parteien noch die Frage des von BT gestellten Antrags auf Schadensersatz zu klären sei.

33      Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Wenn ein Asylbewerber, bei dem es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen ohne einen sich in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen handelt, in mehr als einem Mitgliedstaat Asyl beantragt hat, welcher Mitgliedstaat ist dann nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig?

 Zur Vorlagefrage

 Zur Zulässigkeit

34      Die belgische Regierung macht in erster Linie geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig.

35      Insbesondere gebe es im Ausgangsverfahren eigentlich keinen Rechtsstreit mehr, da der Secretary of State es akzeptiert habe, die Asylanträge der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens zu prüfen. Die Frage, ob nach dem von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegten Kriterium das Vereinigte Königreich oder der erste Mitgliedstaat, in dem die Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens einen Asylantrag gestellt hätten, als „zuständiger Mitgliedstaat“ bestimmt werde, habe nunmehr in Bezug auf diese Rechtsmittelführer lediglich akademische Bedeutung, und eine Antwort hierauf sei ausschließlich für andere Rechtssachen zweckdienlich, die bei den nationalen Gerichten anhängig seien oder dort anhängig gemacht werden könnten.

36      In dieser Hinsicht ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (vgl. insbesondere Urteile vom 12. März 1998, Djabali, C‑314/96, Slg. 1998, I‑1149, Randnr. 17, vom 20. Januar 2005, García Blanco, C‑225/02, Slg. 2005, I‑523, Randnr. 26, und vom 15. September 2011, Unió de Pagesos de Catalunya, C‑197/10, Slg. 2011, I‑8495, Randnr. 16).

37      Es spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 12. Oktober 2010, Rosenbladt, C‑45/09, Slg. 2010, I‑9391, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung klargestellt hat, dass es über den Antrag auf Schadensersatz zu entscheiden habe, den BT bei ihm gestellt habe.

39      Die Antwort auf die Vorlagefrage würde sich aber auf die etwaige Gewährung von Schadensersatz an BT auswirken.

40      Angesichts des Vorliegens eines solchen Schadensersatzantrags, der Bestandteil des Ausgangsverfahrens ist, bleibt die Vorlagefrage für die Entscheidung des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits erheblich.

41      Daher hat die Vorlagefrage keinen hypothetischen Charakter, und somit ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zur Beantwortung der Frage

42      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass er in dem Fall, dass ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat Asyl beantragt hat, denjenigen Mitgliedstaat als „zuständigen Mitgliedstaat“ bestimmt, in dem dieser Minderjährige seinen ersten Antrag gestellt hat, oder aber denjenigen, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort seinen letzten dahin gehenden Antrag gestellt hat.

43      In diesem Zusammenhang ist zunächst daran zu erinnern, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 der Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird.

44      Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung finden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in der in dem besagten Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung.

45      Gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 wird bei der Bestimmung des nach den in den Art. 6 bis 14 der Verordnung festgesetzten Kriterien zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. In dieser Vorschrift kann es nicht darum gehen, diese Kriterien ihrem Sinn nach zu verändern. Wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll sie lediglich den Rahmen festlegen, innerhalb dessen die genannten Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats anzuwenden sind.

46      Das erste der in Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegten Kriterien ist das in ihrem Art. 6 vorgesehene, das es ermöglicht, den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines Antrags zuständig ist, den ein im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Verordnung unbegleiteter Minderjähriger gestellt hat.

47      Nach Art. 6 Abs. 1 ist der für die Prüfung eines Antrags eines unbegleiteten Minderjährigen zuständige Mitgliedstaat derjenige, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt.

48      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass kein Familienangehöriger der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhält, und folglich ist der zuständige Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu bestimmen, wonach die Zuständigkeit bei dem Mitgliedstaat liegt, „in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“.

49      Für sich genommen lässt sich anhand dieses Wortlauts nicht feststellen, ob der fragliche Asylantrag der erste Asylantrag ist, den der betreffende Minderjährige in einem Mitgliedstaat gestellt hat, oder derjenige, den er zuletzt in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat.

50      Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. insbesondere Urteile vom 29. Januar 2009, Petrosian, C‑19/08, Slg. 2009, I‑495, Randnr. 34, und vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, Slg. 2009, I‑12193, Randnr. 33).

51      Zum Zusammenhang von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 ist zum einen festzustellen, dass der in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung gebrauchte Ausdruck „seinen Antrag zum ersten Mal … stellt“ in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung nicht wiederholt worden ist. Zum anderen bezieht sich die letztgenannte Vorschrift auf den Mitgliedstaat, „in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“, während Art. 13 der Verordnung ausdrücklich darauf hinweist, dass „der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig [ist]“.

52      Wenn der Unionsgesetzgeber aber beabsichtigt hätte, in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 „dem ersten Mitgliedstaat“ die Zuständigkeit zuzuweisen, wäre dies mit genau demselben Wortlaut wie in Art. 13 dieser Verordnung ausgedrückt worden.

53      Infolgedessen kann der Ausdruck „der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“ nicht als „der erste Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat“ verstanden werden.

54      Außerdem sind bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 auch sein Ziel, unbegleiteten Minderjährigen eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und das Hauptziel dieser Verordnung zu berücksichtigen, das – wie in ihren Erwägungsgründen 3 und 4 ausgeführt wird – darin besteht, einen effektiven Zugang zur Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu gewährleisten.

55      Da unbegleitete Minderjährige aber eine Kategorie besonders gefährdeter Personen bilden, ist es wichtig, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht länger als unbedingt nötig hinzieht, was bedeutet, dass unbegleitete Minderjährige grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind.

56      Die vorstehenden Erwägungen werden durch die Erfordernisse bestätigt, die sich aus dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003 ergeben, wonach diese Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden.

57      Zu diesen Grundrechten gehört nämlich insbesondere das in Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

58      Folglich kann Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 nicht so ausgelegt werden, dass er dem genannten Grundrecht zuwiderliefe (vgl. entsprechend Urteile Detiček, Randnrn. 54 und 55, sowie vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, Slg. 2010, I‑8965, Randnr. 60).

59      Daher hat, obwohl das Interesse des Minderjährigen nur in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ausdrücklich erwähnt wird, Art. 24 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit ihrem Art. 51 Abs. 1 zur Folge, dass bei jeder Entscheidung, die die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 erlassen, das Wohl des Kindes ebenfalls eine vorrangige Erwägung sein muss.

60      Diese Berücksichtigung des Wohles des Kindes erfordert grundsätzlich, dass unter Umständen wie denen, die die Lage der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens kennzeichnen, Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 so auszulegen ist, dass er denjenigen Mitgliedstaat als zuständigen Staat bestimmt, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.

61      Im Interesse unbegleiteter Minderjähriger ist es, wie sich aus Randnr. 55 des vorliegenden Urteils ergibt, wichtig, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht unsachgemäß in die Länge zieht; ihnen ist vielmehr ein rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten.

62      Diese Methode zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, der von einem unbegleiteten Minderjährigen gestellt wurde, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhaltenden Familienangehörigen hat, basiert auf einem objektiven Kriterium im Sinne des vierten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 343/2003.

63      Außerdem bedeutet eine solche Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, die als zuständigen Staat denjenigen Mitgliedstaat bestimmt, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat, entgegen dem Vortrag der niederländischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen nicht, dass der unbegleitete Minderjährige, dessen Asylantrag schon in einem ersten Mitgliedstaat in der Sache zurückgewiesen wurde, anschließend einen anderen Mitgliedstaat zur Prüfung eines Asylantrags zwingen könnte.

64      Aus Art. 25 der Richtlinie 2005/85 geht nämlich hervor, dass zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der Verordnung Nr. 343/2003 nicht geprüft wird, die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers nicht zu prüfen haben, wenn ein Antrag insbesondere deshalb als unzulässig betrachtet wird, weil der Asylbewerber nach einer gegen ihn ergangenen rechtskräftigen Entscheidung einen identischen Antrag gestellt hat.

65      Im Übrigen ist hinzuzufügen, dass der Mitgliedstaat, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Staat bestimmt wird, den Mitgliedstaat davon in Kenntnis setzt, in dem der erste Asylantrag gestellt worden ist, da ein Asylantrag nur von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden darf.

66      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, denjenigen Mitgliedstaat als „zuständigen Mitgliedstaat“ bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.

 Kosten

67      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger, der keinen sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen hat, in mehr als einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, denjenigen Mitgliedstaat als „zuständigen Mitgliedstaat“ bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.