Language of document : ECLI:EU:C:2010:104

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

2. März 2010(*)

„Unionsbürgerschaft – Art. 17 EG − Durch Geburt erworbene Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats – Durch Einbürgerung erworbene Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats – Verlust der ursprünglichen Staatsangehörigkeit aufgrund dieser Einbürgerung – Rückwirkender Verlust der durch Einbürgerung erworbenen Staatsangehörigkeit wegen betrügerischer Handlungen bei ihrem Erwerb – Staatenlosigkeit, die den Verlust der Unionsbürgerschaft zur Folge hat“

In der Rechtssache C‑135/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. Februar 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 2008, in dem Verfahren

Janko Rottmann

gegen

Freistaat Bayern

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot und E. Levits, der Kammerpräsidentin P. Lindh sowie der Richter C. W. A. Timmermans, A. Rosas, E. Juhász, G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič, A. Ó Caoimh (Berichterstatter) und L. Bay Larsen,

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2009,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Rottmann, vertreten durch Professor W. Meng und Rechtsanwalt H. Heinhold,

–        des Freistaats Bayern, vertreten durch die Oberlandesanwälte J. Mehler und M. Niese,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma, N. Graf Vitzthum und B. Klein als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch L. Uibo als Bevollmächtigten,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis, S. Alexandridou und G. Papagianni als Bevollmächtigte,

–        der lettischen Regierung, vertreten durch E. Eihmane, U. Dreimanis und K. Drēviņa als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl und T. Fülöp als Bevollmächtigte im Beistand von H. Eberwein, Sachverständiger,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch S. Grünheid und D. Maidani als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. September 2009

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Unionsbürgerschaft.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Rottmann und dem Freistaat Bayern über die Rücknahme der Einbürgerung des Klägers des Ausgangsverfahrens durch den Freistaat Bayern.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In der Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die die Mitgliedstaaten der Schlussakte des Vertrags über die Europäische Union beigefügt haben (ABl. 1992, C 191, S. 98), heißt es:

„Die Konferenz erklärt, dass bei Bezugnahmen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Frage, welchem Mitgliedstaat eine Person angehört, allein durch Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats geregelt wird. …“

4        In Abschnitt A des Beschlusses der im Europäischen Rat von Edinburgh vom 11. und 12. Dezember 1992 vereinigten Staats- und Regierungschefs zu bestimmten von Dänemark aufgeworfenen Problemen betreffend den Vertrag über die Europäische Union (ABl. 1992, C 348, S. 1) heißt es:

„Mit den im Zweiten Teil des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft werden den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die in diesem Teil aufgeführten zusätzlichen Rechte und der dort spezifizierte zusätzliche Schutz gewährt. Die betreffenden Bestimmungen treten in keiner Weise an die Stelle der nationalen Staatsbürgerschaft. Die Frage, ob eine Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, wird einzig und allein auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats geregelt.“

 Nationales Recht

 Deutsches Recht

5        Art. 16 Abs. 1 des Grundgesetzes sieht vor:

„Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.“

6        § 8 Abs. 1 des deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes in der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung bestimmte:

„Ein Ausländer, der sich im Inland niedergelassen hat, kann von dem Bundesstaat, in dessen Gebiete die Niederlassung erfolgt ist, auf seinen Antrag eingebürgert werden, wenn er

1.      …

2.      keinen Ausweisungsgrund nach § 46 Nr. 1 bis 4, § 47 Abs. 1 oder 2 des Ausländergesetzes erfüllt,

3.      an dem Ort seiner Niederlassung eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen gefunden hat …

…“

7        Nach den für das Ausgangsverfahren geltenden Vorschriften des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts war die Einbürgerung eines Ausländers grundsätzlich davon abhängig, dass dieser seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgab oder verlor.

8        In § 48 Abs. 1 und 2 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes heißt es:

„(1)      Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. …

(2)      Ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. … Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, wenn er

1.      den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,

2.      den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren,

3.      die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.

In [diesen] Fällen … wird der Verwaltungsakt in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen.“

 Österreichisches Recht

9        § 27 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes (BGBl. 311/1985, im Folgenden: StbG) lautet:

„Die Staatsbürgerschaft verliert, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.“

10      Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 StbG ist die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft zu bewilligen, wenn dies wegen der vom Betroffenen bereits erbrachten und von ihm noch zu erwartenden Leistungen oder aus einem besonders berücksichtigungswürdigen Grund im Interesse der Republik Österreich liegt.

11      Aus den schriftlichen Erklärungen der österreichischen Regierung geht hervor, dass der Verlust einer durch Einbürgerung erworbenen fremden Staatsangehörigkeit unabhängig davon, ob er nach Rechtsordnung des einbürgernden Staates ex nunc oder ex tunc eintritt, nach österreichischem Recht nicht automatisch dazu führt, dass der Betroffene, der die österreichische Staatsbürgerschaft aufgrund des Erwerbs dieser fremden Staatsangehörigkeit verloren hat, die österreichische Staatsbürgerschaft rückwirkend wiedererlangt.

12      Der österreichischen Regierung zufolge kann die österreichische Staatsbürgerschaft in einem solchen Fall nur dadurch wiedererlangt werden, dass sie durch Verwaltungsakt verliehen wird, wenn die entsprechenden Voraussetzungen der §§ 10 ff. StbG erfüllt sind.

13      § 10 StbG in seiner am 23. März 2006 in Kraft getretenen Fassung bestimmt:

„(1)      Die Staatsbürgerschaft darf einem Fremden, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, nur verliehen werden, wenn

1.      er sich seit mindestens zehn Jahren rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat und davon zumindest fünf Jahre niedergelassen war;

2.      er nicht durch ein inländisches oder ausländisches Gericht wegen einer oder mehrerer Vorsatztaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist …;

3.      er nicht durch ein inländisches Gericht wegen eines Finanzvergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist;

4.      gegen ihn nicht wegen des Verdachtes einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Vorsatztat oder eines mit Freiheitsstrafe bedrohten Finanzvergehens bei einem inländischen Gericht ein Strafverfahren anhängig ist;

(2)      Die Staatsbürgerschaft darf einem Fremden nicht verliehen werden, wenn

2.      er mehr als einmal wegen einer schwerwiegenden Verwaltungsübertretung mit besonderem Unrechtsgehalt … rechtskräftig bestraft worden ist …

(4)      Von der Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 [und] dem Verleihungshindernis nach Abs. 2 Z 2 … ist abzusehen

1.      bei einem Fremden mit Aufenthalt im Bundesgebiet, der durch mindestens zehn Jahre die Staatsbürgerschaft ununterbrochen besessen und diese auf andere Weise als durch Entziehung … verloren hat

…“

 Völkerrecht

 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

14      Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet wurde, bestimmt:

„1.      Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit.

2.      Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln.“

 Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit

15      Art. 7 des am 30. August 1961 in New York geschlossenen und am 13. Dezember 1975 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit sieht vor:

„(1)      a)     Lässt das Recht eines Vertragsstaats den Verzicht auf die Staatsangehörigkeit zu, so hat der Verzicht den Verlust der Staatsangehörigkeit nur dann zur Folge, wenn der Betreffende eine andere Staatsangehörigkeit besitzt oder erwirbt.

(2)      Ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats, der in einem ausländischen Staat die Einbürgerung anstrebt, verliert seine Staatsangehörigkeit nur dann, wenn er die ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt oder die Zusicherung des ausländischen Staates für die Verleihung der Staatsangehörigkeit erhalten hat.

(3)      Vorbehaltlich der Absätze 4 und 5 verliert ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats weder wegen Verlassens des Landes, Auslandsaufenthaltes oder Verletzung einer Meldepflicht noch aus einem ähnlichen Grund seine Staatsangehörigkeit, wenn er dadurch staatenlos wird.

(4)      Eine eingebürgerte Person kann auf Grund eines Auslandsaufenthaltes nach einer im Recht des Vertragsstaats festgesetzten Dauer, die nicht weniger als sieben aufeinanderfolgende Jahre betragen darf, ihre Staatsangehörigkeit verlieren, wenn sie es unterlässt, der zuständigen Behörde ihre Absicht mitzuteilen, sich ihre Staatsangehörigkeit zu erhalten.

(6)      Mit Ausnahme der in diesem Artikel vorgesehenen Fälle verliert niemand die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats, wenn er dadurch staatenlos würde, selbst wenn dieser Verlust durch keine andere Bestimmung dieses Übereinkommens ausdrücklich verboten ist.“

16      Art. 8 dieses Übereinkommens bestimmt:

„(1)      Ein Vertragsstaat darf keiner Person seine Staatsangehörigkeit entziehen, wenn sie dadurch staatenlos wird.

(2)      Ungeachtet des Absatzes 1 kann einer Person die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats entzogen werden

a)      in Fällen, in denen es nach Artikel 7 Absätze 4 und 5 zulässig ist, dass eine Person ihre Staatsangehörigkeit verliert;

b)      wenn die Staatsangehörigkeit durch falsche Angaben oder betrügerische Handlungen erworben worden ist.

(4)      Jeder Vertragsstaat übt die ihm nach den Absätzen 2 und 3 eingeräumte Befugnis, einer Person seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, nur in Übereinstimmung mit einer gesetzlichen Regelung aus, die dem Betreffenden das Recht auf umfassenden Rechtsschutz durch ein Gericht oder eine andere unabhängige Stelle gewährt.“

17      Nach Art. 9 des Übereinkommens darf ein Vertragsstaat keiner Person oder Personengruppe aus rassischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen ihre Staatsangehörigkeit entziehen.

 Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit

18      Das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit vom 6. November 1997 wurde im Rahmen des Europarats geschlossen und ist am 1. März 2000 in Kraft getreten. Es gilt seit diesem Zeitpunkt in Österreich und wurde am 11. Mai 2005 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Sein Art. 3 lautet:

„1.      Jeder Staat bestimmt nach seinem eigenen Recht, wer seine Staatsangehörigen sind.

2.      Dieses Recht ist von den anderen Staaten anzuerkennen, soweit es mit anwendbaren internationalen Übereinkommen, dem Völkergewohnheitsrecht und den mit Bezug auf die Staatsangehörigkeit allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen in Einklang steht.“

19      Art. 4 des Übereinkommens sieht vor:

„Die Staatsangehörigkeitsvorschriften jedes Vertragsstaats müssen auf folgenden Grundsätzen beruhen:

a.      jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit;

b.      Staatenlosigkeit ist zu vermeiden;

c.      niemandem darf die Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen werden

…“

20      Art. 7 des Übereinkommens bestimmt:

„1.      Ein Vertragsstaat darf in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf seine Veranlassung vorsehen, außer in folgenden Fällen:

a.      freiwilliger Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit;

b.      Erwerb der Staatsangehörigkeit des Vertragsstaats durch arglistiges Verhalten, falsche Angaben oder die Verschleierung einer erheblichen Tatsache, die dem Antragsteller zuzurechnen sind;

3.      Ein Vertragsstaat darf – außer in den in Absatz 1 Buchstabe b genannten Fällen – in seinem innerstaatlichen Recht den Verlust der Staatsangehörigkeit nach den Absätzen 1 und 2 nicht vorsehen, wenn der Betreffende dadurch staatenlos würde.“

21      Nach Art. 9 des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit erleichtert jeder Vertragsstaat in den in seinem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fällen und unter den dort festgelegten Bedingungen den Wiedererwerb seiner Staatsangehörigkeit durch ehemalige Staatsangehörige, die sich rechtmäßig und gewöhnlich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22      Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist in Graz (Österreich) geboren und war ursprünglich durch Geburt Staatsbürger der Republik Österreich.

23      1995 verlegte er seinen Wohnsitz nach München (Deutschland), nachdem er vom Landesgericht für Strafsachen Graz im Rahmen von Ermittlungen vernommen worden war, die gegen ihn wegen des (von ihm bestrittenen) Verdachts des schweren gewerbsmäßigen Betrugs eingeleitet worden waren.

24      Im Februar 1997 erließ das Landesgericht für Strafsachen Graz einen nationalen Haftbefehl gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens.

25      Dieser beantragte im Februar 1998 die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Einbürgerungsverfahren verschwieg er das in Österreich gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren. Die Einbürgerungsurkunde vom 25. Januar 1999 wurde ihm am 5. Februar 1999 ausgehändigt.

26      Durch seine Einbürgerung in Deutschland verlor er nach österreichischem Recht die österreichische Staatsbürgerschaft.

27      Im August 1999 wurde die Landeshauptstadt München vom Magistrat der Stadt Graz darüber informiert, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens dort per Haftbefehl gesucht werde. Im September 1999 teilte die österreichische Staatsanwaltschaft der Landeshauptstadt München u. a. mit, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens bereits im Juli 1995 vom Landesgericht für Strafsachen in Graz als Beschuldigter vernommen worden sei.

28      In Anbetracht dessen nahm der Freistaat Bayern nach Anhörung des Klägers des Ausgangsverfahrens die Einbürgerung mit Bescheid vom 4. Juli 2000 rückwirkend zurück, weil der Kläger das österreichische Ermittlungsverfahren verschwiegen und dadurch die Einbürgerung erschlichen habe. Die Rücknahme der Einbürgerung in Deutschland ist noch nicht bestandskräftig, da der Kläger des Ausgangsverfahrens mit einer Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid vorgegangen ist.

29      Mit Urteil vom 25. Oktober 2005 entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als Berufungsinstanz, dass die auf § 48 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes gestützte Rücknahme der Einbürgerung des Klägers des Ausgangsverfahrens mit dem deutschen Recht in Einklang stehe, auch wenn sie mit Eintritt der Bestandskraft die Staatenlosigkeit des Betroffenen zur Folge haben sollte.

30      Gegen dieses Urteil vom 25. Oktober 2005 richtet sich die gegenwärtig beim Bundesverwaltungsgericht anhängige Revision des Klägers des Ausgangsverfahrens.

31      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die vom Kläger des Ausgangsverfahrens erschlichene Einbürgerung von Anfang an rechtswidrig gewesen sei und von den zuständigen deutschen Behörden daher im Rahmen ihres Ermessens habe zurückgenommen werden können. Nach den einschlägigen Bestimmungen des österreichischen Rechts, dem StbG, erfülle der Kläger des Ausgangsverfahrens gegenwärtig nicht die Voraussetzungen für eine sofortige Wiedereinbürgerung in den österreichischen Staatsverband.

32      Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte in seinem Urteil die Auffassung vertreten, dass dem vom Gerichtshof im Urteil vom 7. Juli 1992, Micheletti u. a. (C‑369/90, Slg. 1992, I‑4239), formulierten Vorbehalt, wonach die Mitgliedstaaten von ihrer Zuständigkeit auf dem Gebiet der Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Unionsrechts Gebrauch zu machen hätten, bei der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung im Fall des Eintritts von Staatenlosigkeit mit der Folge des Verlusts der Unionsbürgerschaft dadurch Genüge getan werde, dass die zuständige deutsche Behörde die Bedeutung der durch die Unionsbürgerschaft vermittelten Rechte bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtige. Die Annahme einer unionsrechtlichen Verpflichtung, von der Rücknahme einer durch bewusste Täuschung erwirkten Einbürgerung abzusehen, würde die von Art. 17 Abs. 1 EG respektierte Autonomie der Mitgliedstaaten bei der souveränen Ausgestaltung ihres Staatsangehörigkeitsrechts im Kern treffen.

33      Das vorlegende Gericht ist dagegen der Auffassung, dass Bedeutung und Tragweite dieses im Urteil Micheletti u. a. formulierten Vorbehalts in der Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht hinreichend geklärt seien. Der Gerichtshof habe aus diesem Vorbehalt lediglich die Maxime abgeleitet, dass ein Mitgliedstaat die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats nicht dadurch beschränken dürfe, dass er zusätzliche Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung einer im EG-Vertrag vorgesehenen Grundfreiheit aufstelle. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist nicht hinreichend geklärt, ob der Status der Staatenlosigkeit und der durch Rücknahme einer Einbürgerung bewirkte Verlust der zuvor rechtmäßig erworbenen Unionsbürgerschaft mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 17 Abs. 1 EG, vereinbar seien.

34      Das vorlegende Gericht hält es zumindest für möglich, dass die Republik Österreich als Mitgliedstaat der früheren Staatsangehörigkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens nach dem Gebot der Unionstreue und unter Berücksichtigung der im Übereinkommen zur Verminderung von Staatenlosigkeit und in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit zum Ausdruck kommenden Wertungen dazu verpflichtet sei, ihr nationales Recht in der Weise auszulegen und anzuwenden oder anzupassen, dass der Betroffene nicht staatenlos werde, wenn ihm – wie im Ausgangsverfahren – keine Bewilligung erteilt worden sei, seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit nach dem Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit beizubehalten.

35      Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht Gemeinschaftsrecht der Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft (und der mit dieser verbundenen Rechte und Grundfreiheiten) entgegen, der sich daraus ergibt, dass eine nach nationalem (deutschem) Recht an sich rechtmäßige Rücknahme einer durch arglistige Täuschung erschlichenen Einbürgerung in den Staatsverband eines Mitgliedstaats (Deutschland) dazu führt, dass im Zusammenwirken mit dem nationalen Staatsangehörigkeitsrecht eines anderen Mitgliedstaats (Österreich) – wie hier im Falle des Klägers infolge des Nichtwiederauflebens der ursprünglich österreichischen Staatsangehörigkeit – Staatenlosigkeit eintritt?

2.      Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Muss der Mitgliedstaat (Deutschland), der den Unionsbürger eingebürgert hat und die erschlichene Einbürgerung wieder zurücknehmen will, unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts von der Rücknahme der Einbürgerung ganz oder zeitweilig absehen, wenn oder solange sie die in Frage 1 beschriebene Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft (und der mit dieser verbundenen Rechte und Grundfreiheiten) hätte, oder ist der andere Mitgliedstaat (Österreich) der früheren Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, sein nationales Recht so auszulegen und anzuwenden oder auch anzupassen, dass diese Rechtsfolge nicht eintritt?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage und zum ersten Teil der zweiten Frage

36      Mit der ersten Frage und dem ersten Teil der zweiten Frage, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es gegen das Unionsrecht, insbesondere Art. 17 EG, verstößt, wenn ein Mitgliedstaat einem Unionsbürger die durch erschlichene Einbürgerung erlangte Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats wieder entzieht, soweit der Betroffene mit dieser Entziehung staatenlos wird und seinen Unionsbürgerstatus und die damit verbundenen Rechte verliert, weil er mit dem Erwerb der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats durch Einbürgerung die Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats verloren hat.

37      Alle Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sowie der Freistaat Bayern und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften machen geltend, dass die Vorschriften über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fielen. Einige dieser Verfahrensbeteiligten ziehen hieraus den Schluss, dass eine Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, nicht unter das Unionsrecht fallen könne. Sie verweisen insoweit auf die von den Mitgliedstaaten der Schlussakte des EU-Vertrags beigefügte Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats.

38      Die deutsche und die österreichische Regierung machen zudem geltend, der Kläger des Ausgangsverfahrens sei im Zeitpunkt der Entscheidung über die Rücknahme seiner Einbürgerung ein in Deutschland wohnhafter deutscher Staatsbürger gewesen, an den sich ein von einer deutschen Behörde erlassener Verwaltungsakt gerichtet habe. Sie vertreten daher, unterstützt durch die Kommission, die Ansicht, dass es sich um einen rein internen Sachverhalt handele, der keinerlei Bezug zum Unionsrecht aufweise, da dieses nicht allein deshalb Anwendung finde, weil ein Mitgliedstaat eine Maßnahme gegenüber einem seiner Staatsbürger treffe. Dass der Betroffene in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens vor der Einbürgerung von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht habe, stelle für sich allein kein grenzüberschreitendes Element dar, das in Bezug auf die Rücknahme dieser Einbürgerung eine Rolle spielen könnte.

39      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt (Urteile Micheletti u. a., Randnr. 10, vom 11. November 1999, Mesbah, C‑179/98, Slg. 1999, I‑7955, Randnr. 29, und vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, Slg. 2004, I‑9925, Randnr. 37).

40      Die von den Mitgliedstaaten der Schlussakte des EU-Vertrags beigefügte Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und der Beschluss der im Europäischen Rat von Edinburgh vom 11. und 12. Dezember 1992 vereinigten Staats- und Regierungschefs zu bestimmten von Dänemark aufgeworfenen Problemen betreffend den EU-Vertrag, die dazu bestimmt waren, die für die Mitgliedstaaten besonders wichtige Frage der Abgrenzung des persönlichen Anwendungsbereichs der auf den Staatsangehörigenbegriff Bezug nehmenden Bestimmungen des Unionsrechts zu klären, sind zwar als Instrumente zur Auslegung des EG-Vertrags heranzuziehen, insbesondere bei der Bestimmung von dessen persönlichem Anwendungsbereich.

41      Dass für ein Rechtsgebiet die Mitgliedstaaten zuständig sind, schließt aber nicht aus, dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. November 1998, Bickel und Franz, C‑274/96, Slg. 1998, I‑7637, Randnr. 17 [betreffend eine nationale Regelung im Bereich des Straf- und Strafverfahrensrechts], vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C‑148/02, Slg. 2003, I‑11613, Randnr. 25 [betreffend nationale Vorschriften über den Namen von Personen], vom 12. Juli 2005, Schempp, C‑403/03, Slg. 2005, I‑6421, Randnr. 19 [betreffend nationale Vorschriften über direkte Steuern], und vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich, C‑145/04, Slg. 2006, I‑7917, Randnr. 78 [betreffend nationale Vorschriften über die Bestimmung der aktiv und passiv Wahlberechtigten für die Wahlen zum Europäischen Parlament]).

42      Es liegt auf der Hand, dass die Situation eines Unionsbürgers, gegen den wie gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens eine Entscheidung der Behörden eines Mitgliedstaats über die Rücknahme seiner Einbürgerung ergangen ist, die ihn – nachdem er die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats, die er ursprünglich besessen hatte, verloren hat – in eine Lage versetzt, die zum Verlust des durch Art. 17 EG verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte führen kann, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt.

43      Wie der Gerichtshof mehrfach hervorgehoben hat, ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. insbesondere Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, Slg. 2001, I‑6193, Randnr. 31, und vom 17. September 2002, Baumbast und R, C‑413/99, Slg. 2002, I‑7091, Randnr. 82).

44      Art. 17 Abs. 2 EG knüpft an diesen Status die im EG-Vertrag vorgesehenen Pflichten und Rechte, darunter das Recht, sich in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts erfassten Fällen auf Art. 12 EG zu berufen (vgl. insbesondere Urteile vom 12. Mai 1998, Martínez Sala, C‑85/96, Slg. 1998, I‑2691, Randnr. 62, und Schempp, Randnr. 17).

45      Infolgedessen haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht zu beachten (Urteile Micheletti u. a., Randnr. 10, Mesbah, Randnr. 29, vom 20. Februar 2001, Kaur, C‑192/99, Slg. 2001, I‑1237, Randnr. 19, sowie Zhu und Chen, Randnr. 37).

46      Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof über die Fragen des vorlegenden Gerichts zu befinden, die die Bedingungen betreffen, unter denen ein Unionsbürger aufgrund des Verlusts seiner Staatsangehörigkeit diese Unionsbürgereigenschaft und demzufolge die mit ihr verbundenen Rechte verlieren kann.

47      Das vorlegende Gericht fragt sich im Wesentlichen, wie der Vorbehalt in der in Randnr. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verstehen ist, wonach die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht zu beachten haben, und welche Konsequenzen dieser Vorbehalt in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren hat.

48      Der Vorbehalt, dass das Unionsrecht zu beachten ist, berührt nicht den vom Gerichtshof bereits anerkannten und in Randnr. 39 des vorliegenden Urteils erwähnten Grundsatz des Völkerrechts, wonach die Mitgliedstaaten für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit zuständig sind, sondern stellt den Grundsatz auf, dass im Fall von Unionsbürgern die Ausübung dieser Zuständigkeit, soweit sie die von der Rechtsordnung der Union verliehenen und geschützten Rechte berührt – wie dies insbesondere bei einer Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung wie der im Ausgangsverfahren der Fall ist –, der gerichtlichen Kontrolle im Hinblick auf das Unionsrecht unterliegt.

49      Im Gegensatz zur Klägerin in der Rechtssache Kaur, die der Definition des Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland nicht entsprach und daher die sich aus dem Unionsbürgerstatus folgenden Rechte nicht verlieren konnte, besaß der Kläger des Ausgangsverfahrens zweifellos die österreichische und sodann die deutsche Staatsangehörigkeit und hatte folglich den Unionsbürgerstatus und die mit ihm verbundenen Rechte.

50      Eine Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung wie diejenige, um die es im Ausgangsverfahren geht, könnte jedoch, wie mehrere Regierungen, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, geltend machen, mit dem Recht der Union vereinbar sein, wenn sie auf der arglistigen Täuschung beruht, die der Betroffene im Rahmen des Verfahrens zum Erwerb der betreffenden Staatsangehörigkeit begangen hat.

51      Die Entscheidung, eine Einbürgerung wegen betrügerischer Handlungen zurückzunehmen, entspricht nämlich einem im Allgemeininteresse liegenden Grund. In dieser Hinsicht ist es legitim, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will.

52      Diese Schlussfolgerung zur grundsätzlichen Rechtmäßigkeit einer unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ergangenen Entscheidung über die Rücknahme einer Einbürgerung wird bekräftigt durch die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit. Nach dessen Art. 8 Abs. 2 kann einer Person nämlich die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats entzogen werden, wenn sie diese durch falsche Angaben oder betrügerische Handlungen erworben hat. Auch Art. 7 Abs. 1 und 3 des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit verbietet es einem Vertragsstaat nicht, einer Person seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, auch wenn sie dadurch staatenlos wird, sofern die Staatsangehörigkeit durch arglistiges Verhalten, falsche Angaben oder die Verschleierung einer erheblichen Tatsache, die dieser Person zuzurechnen sind, erworben wurde.

53      Die genannte Schlussfolgerung steht außerdem im Einklang mit dem in Art. 15 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Art. 4 Buchst. c des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit niedergelegten allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz, wonach niemandem die Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen werden darf. Entzieht ein Staat einer Person die Staatsangehörigkeit wegen ihres rechtmäßig nachgewiesenen betrügerischen Verhaltens, kann dies nämlich nicht als eine willkürliche Maßnahme angesehen werden.

54      Diese Erwägungen zur grundsätzlichen Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung wegen betrügerischer Handlungen gelten grundsätzlich auch, wenn eine solche Rücknahme zur Folge hat, dass der Betroffene neben der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats der Einbürgerung die Unionsbürgerschaft verliert.

55      In einem solchen Fall hat das vorlegende Gericht jedoch – gegebenenfalls über die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nach dem nationalen Recht hinaus – zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rücknahmeentscheidung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.

56      Angesichts der Bedeutung, die das Primärrecht dem Unionsbürgerstatus beimisst, sind daher bei der Prüfung einer Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung die möglichen Folgen zu berücksichtigen, die diese Entscheidung für den Betroffenen und gegebenenfalls für seine Familienangehörigen in Bezug auf den Verlust der Rechte, die jeder Unionsbürger genießt, mit sich bringt. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob dieser Verlust gerechtfertigt ist im Verhältnis zur Schwere des vom Betroffenen begangenen Verstoßes, zur Zeit, die zwischen der Einbürgerungsentscheidung und der Rücknahmeentscheidung vergangen ist, und zur Möglichkeit für den Betroffenen, seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen.

57      Was insbesondere den letztgenannten Gesichtspunkt betrifft, kann ein Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit durch Täuschung erschlichen wurde, nicht nach Art. 17 EG verpflichtet sein, von der Rücknahme der Einbürgerung allein deshalb abzusehen, weil der Betroffene die Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats nicht wiedererlangt hat.

58      Das nationale Gericht hat allerdings zu beurteilen, ob die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit es unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände verlangt, dass dem Betroffenen vor Wirksamwerden einer derartigen Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung eine angemessene Frist eingeräumt wird, damit er versuchen kann, die Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats wiederzuerlangen.

59      Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage und den ersten Teil der zweiten Frage zu antworten, dass es nicht gegen das Unionsrecht, insbesondere Art. 17 EG, verstößt, wenn ein Mitgliedstaat einem Unionsbürger die durch Einbürgerung erworbene Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats wieder entzieht, falls die Einbürgerung durch Täuschung erschlichen wurde, vorausgesetzt, dass die Rücknahmeentscheidung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.

 Zum zweiten Teil der zweiten Frage

60      Mit dem zweiten Teil der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 17 EG, dann, wenn gegen einen Unionsbürger in einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens eine Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung ergangen ist, die zum Verlust seines Unionsbürgerstatus zu führen droht, dahin ausgelegt werden muss, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene ursprünglich besessen hat, verpflichtet ist, sein nationales Recht so auszulegen, dass dieser Verlust dadurch nicht eintritt, dass es dem Betroffenen ermöglicht wird, diese Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen.

61      Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die Rücknahme der vom Kläger des Ausgangsverfahrens in Deutschland erlangten Einbürgerung nicht bestandskräftig geworden ist und der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Kläger ursprünglich besessen hat, nämlich die Republik Österreich, keine Entscheidung über seinen Status getroffen hat.

62      Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist darauf hinzuweisen, dass die Grundsätze, die sich aus dem vorliegenden Urteil zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Staatsangehörigkeit und zu ihrer Verpflichtung, diese Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben, ergeben, sowohl für den Mitgliedstaat der Einbürgerung als auch für den Mitgliedstaat der ursprünglichen Staatsangehörigkeit gelten.

63      Der Gerichtshof kann jedoch nicht über die Frage befinden, ob das Unionsrecht einer Entscheidung entgegensteht, die noch nicht ergangen ist. Wie die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, werden die österreichischen Behörden gegebenenfalls eine Entscheidung zu der Frage zu erlassen haben, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit wiedererlangt, und die österreichischen Gerichte werden nach dem Erlass dieser Entscheidung gegebenenfalls deren Rechtmäßigkeit im Licht der Grundsätze zu beurteilen haben, die sich aus dem vorliegenden Urteil ergeben.

64      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist der zweite Teil der zweiten Frage im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens nicht zu beantworten.

 Kosten

65      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Es verstößt nicht gegen das Unionsrecht, insbesondere Art. 17 EG, wenn ein Mitgliedstaat einem Unionsbürger die durch Einbürgerung erworbene Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats wieder entzieht, falls die Einbürgerung durch Täuschung erschlichen wurde, vorausgesetzt, dass die Rücknahmeentscheidung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.