Language of document : ECLI:EU:C:2013:222

Verbundene Rechtssachen C‑335/11 und C‑337/11

HK Danmark, handelnd für Jette Ring,

gegen

Dansk almennyttigt Boligselskab (C‑335/11)

und

HK Danmark, handelnd für Lone Skouboe Werge,

gegen

Dansk Arbejdsgiverforening, handelnd für Pro Display A/S (C‑337/11)

(Vorabentscheidungsersuchen des Sø- og Handelsret)

„ Sozialpolitik − Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen − Richtlinie 2000/78/EG − Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf − Art. 1, 2 und 5 – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Entlassung – Vorliegen einer Behinderung – Fehlzeiten des Arbeitnehmers wegen seiner Behinderung – Pflicht zum Treffen von Vorkehrungen – Teilzeitbeschäftigung – Länge der Kündigungsfrist“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 11. April 2013

1.        Völkerrechtliche Verträge – Verträge der Union – Vorrang vor den Sekundärrechtsakten der Union – Pflicht, das Sekundärrecht im Licht der völkerrechtlichen Verträge auszulegen – Auslegung der Richtlinie 2000/78 im Licht des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

(Art. 216 Abs. 2 AEUV)

2.        Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78 – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Begriff der Behinderung – Ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit – Person, die ihre Arbeit über einen längeren Zeitraum nicht oder nur eingeschränkt verrichten kann – Einbeziehung

(Richtlinie 2000/78 des Rates, Art. 5, Erwägungsgründe 16 und 20)

3.        Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78 – Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen – Begriff – Arbeitszeitverkürzung – Einbeziehung

(Richtlinie 2000/78 des Rates, Art. 5, 20. Erwägungsgrund)

4.        Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78 – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Nationale Bestimmung, nach der ein Arbeitgeber einen behinderten Arbeitnehmer, der innerhalb der letzten zwölf Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend war, mit einer verkürzten Kündigungsfrist entlassen kann – Fehlzeiten, die darauf zurückzuführen sind, dass der Arbeitgeber nicht die für den Arbeitnehmer geeigneten Maßnahmen ergriffen hat – Unzulässigkeit dieser Regelung

(Richtlinie 2000/78 des Rates, Art. 5)

5.        Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78 – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Nationale Bestimmung, nach der ein Arbeitgeber einen behinderten Arbeitnehmer, der innerhalb der letzten zwölf Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend war, mit einer verkürzten Kündigungsfrist entlassen kann – Mittelbare Diskriminierung – Rechtfertigung – Voraussetzungen

(Richtlinie 2000/78 des Rates)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 28-32)

2.        Der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass er einen Zustand einschließt, der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist. Insoweit ist der Begriff „Behinderung“ so zu verstehen, dass er eine Beeinträchtigung der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit erfasst, nicht aber die Unmöglichkeit, eine solche Tätigkeit auszuüben. Der Gesundheitszustand von Menschen mit Behinderung, die – zumindest Teilzeit – arbeiten können, kann daher unter den Begriff „Behinderung“ fallen.

Ferner kommt es für die Frage, ob der Gesundheitszustand einer Person unter diesen Begriff fällt, nicht auf die Art der Maßnahmen an, die der Arbeitgeber ergreifen muss. Denn die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung hängt nicht von der Art der zu treffenden Vorkehrungsmaßnahmen, wie z. B. der Verwendung besonderer Hilfsmittel, ab. Die Definition des Begriffs „Behinderung“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2000/78 geht der Bestimmung und Beurteilung der in Art. 5 der Richtlinie ins Auge gefassten geeigneten Vorkehrungsmaßnahmen voraus. Gemäß dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 soll mit solchen Maßnahmen den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung Rechnung getragen werden. Sie sind daher Folge und nicht Tatbestandsmerkmal der Behinderung.

(vgl. Randnrn. 44-47, Tenor 1)

3.        Der Begriff „angemessene Vorkehrungen“, mit dem die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung im Sinne von Art. 5 der Richtlinie 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf gewährleistet werden soll, ist dahin zu verstehen, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern. Da zum einen der 20. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 und Art. 2 Abs. 4 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das mit dem Beschluss 2010/48 des Rates im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, nicht nur materielle, sondern auch organisatorische Maßnahmen ansprechen und zum anderen der Begriff „Arbeitsrhythmus“ als Takt oder Geschwindigkeit, mit der die Arbeit verrichtet wird, zu verstehen ist, lässt sich nicht ausschließen, dass eine Arbeitszeitverkürzung eine der in Art. 5 dieser Richtlinie genannten Vorkehrungen sein kann. Daraus folgt, dass Art. 5 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Verkürzung der Arbeitszeit eine der in dieser Vorschrift genannten Vorkehrungsmaßnahmen darstellen kann. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die Verkürzung der Arbeitszeit als Vorkehrungsmaßnahme eine unverhältnismäßige Belastung des Arbeitgebers darstellt.

Die im 20. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 enthaltene Aufzählung angemessener Maßnahmen zur Einrichtung des Arbeitsplatzes entsprechend der Behinderung ist nicht abschließend, so dass eine Arbeitszeitverkürzung in Fällen, in denen sie es dem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Arbeit entsprechend dem mit Art. 5 dieser Richtlinie verfolgten Ziel weiter auszuüben, als eine Vorkehrungsmaßnahme im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann.

(vgl. Randnrn. 54-56, 64, Tenor 2)

4.        Die Richtlinie 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Bestimmung, nach der ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit einer verkürzten Kündigungsfrist beenden kann, wenn der betroffene behinderte Arbeitnehmer innerhalb der letzten zwölf Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend war, entgegensteht, wenn diese Fehlzeiten darauf zurückzuführen sind, dass der Arbeitgeber nicht gemäß der Verpflichtung nach Art. 5 dieser Richtlinie, angemessene Vorkehrungen zu treffen, die geeigneten Maßnahmen ergriffen hat.

(vgl. Randnr. 68 und Tenor 3)

5.        Die Richtlinie 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Bestimmung, nach der ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit einer verkürzten Kündigungsfrist beenden kann, wenn der betroffene behinderte Arbeitnehmer innerhalb der letzten zwölf Monate krankheitsbedingt 120 Tage mit Entgeltfortzahlung abwesend war, entgegensteht, wenn diese Fehlzeiten auf seine Behinderung zurückzuführen sind, es sei denn, diese Bestimmung verfolgt ein rechtmäßiges Ziel und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Denn eine solche Bestimmung kann zu einer mittelbar auf der Behinderung beruhenden Ungleichbehandlung führen, da ein behinderter Arbeitnehmer einem höheren Risiko ausgesetzt ist, dass ihm gegenüber eine verkürzte Kündigungsfrist angewandt wird, als ein nicht behinderter Arbeitnehmer. Im Vergleich zu einem Arbeitnehmer ohne Behinderung trägt ein Arbeitnehmer mit Behinderung nämlich ein zusätzliches Risiko, an einer mit seiner Behinderung zusammenhängenden Krankheit zu erkranken. Er ist somit einem höheren Risiko ausgesetzt, krankheitsbedingte Fehltage anzusammeln und damit die in der nationalen Regelung vorgesehene Grenze von 120 Tagen zu erreichen.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Regel den Arbeitgebern einen Anreiz zur Einstellung und Weiterbeschäftigung bietet. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob eine solche Bestimmung die rechtmäßigen Ziele, die Einstellung kranker Personen einerseits und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den hinsichtlich der krankheitsbedingten Fehlzeiten widerstreitenden Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers andererseits zu fördern, verfolgt und relevante Gesichtspunkte berücksichtigt, die Arbeitnehmer mit Behinderung betreffen. Insbesondere darf das Risiko für Menschen mit Behinderung, die im Allgemeinen größere Schwierigkeiten als nichtbehinderte Arbeitnehmer haben, sich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, und die spezifische Bedürfnisse im Zusammenhang mit dem Schutz haben, den ihr Zustand erfordert, nicht verkannt werden.

(vgl. Randnrn. 76, 88, 90-92, Tenor 4)