SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JÁN MAZÁK
vom 16. Dezember 2010(1)
Rechtssache C‑360/09
Pfleiderer AG
gegen
Bundeskartellamt
(Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Bonn [Deutschland])
„Wettbewerb – Kartell – Zivilrechtliche Schadensersatzklage – Antrag auf Akteneinsicht in Kronzeugenanträge und damit verbundene Informationen sowie der nationalen Wettbewerbsbehörde von Kronzeugen freiwillig überlassene Unterlagen – Mögliche negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Europäischen Wettbewerbsnetzes (ECN) und die öffentlich-rechtliche Durchsetzung des Wettbewerbsrechts“
I – Einleitung
1. Mit diesem Vorabentscheidungsersuchen bittet das vorlegende Gericht um Klärung der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine nationale Wettbewerbsbehörde einer geschädigten dritten Partei zum Zweck der Vorbereitung einer Schadensersatzklage wegen eines angeblich von dem Kartell verursachten Schadens Informationen offenlegen kann, die der Behörde im Rahmen ihres Kronzeugenprogramms freiwillig von Beteiligten des Kartells mitgeteilt worden sind. Der Gerichtshof wird insbesondere um Prüfung der Frage gebeten, ob die Offenlegung solcher Informationen die wirksame Durchsetzung des Wettbewerbsrechts der Europäischen Union (im Folgenden: EU bzw. Union) und das System der Kooperation und des Informationsaustauschs zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nach Art. 11 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln gefährdet(2).
2. Meines Erachtens wird der Gerichtshof zur Entscheidung des Vorabentscheidungsersuchens insbesondere eine Abwägung zwischen den möglicherweise gegenläufigen Interessen vornehmen müssen, einerseits dem Interesse daran, die Wirksamkeit von Kronzeugenprogrammen zu gewährleisten, die der Aufdeckung und der Verfolgung rechtswidriger Kartelle im Sinne von Art. 101 AEUV und letztlich auch der Abschreckung von ihrer Bildung dienen, und andererseits den Interessen einzelner Betroffener, Ersatzansprüche wegen der ihnen aufgrund solcher Kartelle entstandenen Schäden geltend zu machen.
3. Das vorliegende Verfahren verlangt vom Gerichtshof somit eine Bewertung der möglicherweise widerstreitenden Interessen an der Gewährleistung einer wirksamen Durchsetzung von Art. 101 AEUV und an der Möglichkeit für eine mutmaßlich geschädigte Partei, Zugang zu Informationen(3) zu erhalten, die zu Beweiszwecken in einem Zivilprozess auf Schadensersatz gegen Kartellbeteiligte eingesetzt werden können und die dieser Partei damit die Durchsetzung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem Zivilprozess wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV erleichtern können. Das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wird unter diesen Umständen meines Erachtens durch Art. 47 in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(4) garantiert, die im Licht des Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)(5) betreffend das Recht auf ein faires Verfahren und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen sind.
II – Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
4. Mit inzwischen rechtskräftigen Bußgeldbescheiden vom Januar 2008 verhängte das Bundeskartellamt der Bundesrepublik Deutschland, gestützt u. a. auf Art. 81 EG (jetzt Art. 101 AEUV), Bußgelder in Höhe von 62 000 000 Euro gegen die drei größten europäischen Hersteller von Dekorpapieren (Spezialpapiere zur Oberflächenbehandlung von Holzwerkstoffen) und fünf persönlich Verantwortliche wegen Preis- und Kapazitätsstilllegungsabsprachen. Diesen Bescheiden lagen u. a. auch Informationen und Unterlagen zugrunde, die das Bundeskartellamt im Rahmen seiner Bonusregelung erhalten hatte.
5. Die Pfleiderer AG (im Folgenden: Pfleiderer) ist Abnehmerin von Dekorpapieren und gehört zu den drei weltweit führenden Herstellern von Holzwerkstoffen, Oberflächenveredelung und Laminatfußböden. Sie hat angegeben, von den belangten Dekorpapierherstellern in den letzten drei Jahren Waren im Wert von über 60 000 000 Euro bezogen zu haben. Zur Vorbereitung zivilrechtlicher Schadensersatzklagen beantragte sie mit Schreiben vom 26. Februar 2008 beim Bundeskartellamt, umfassend Einsicht in die Akten zu erhalten, die das kartellrechtliche Bußgeldverfahren Dekorpapier betreffen.
6. Nachdem Pfleiderer die drei Bußgeldbescheide in anonymisierter Form sowie ein Verzeichnis der bei der Durchsuchung festgestellten Beweismittel übermittelt worden waren, beantragte sie in einem zweiten Antragsschreiben ausdrücklich Akteneinsicht auch in die Bonusanträge, die freiwillig übermittelten Unterlagen der Kronzeugen und die sichergestellten Beweismittel. Mit Schreiben vom 14. Oktober 2008 setzte das Bundeskartellamt Pfleiderer davon in Kenntnis, dass es beabsichtige, dem Antrag nur teilweise stattzugeben und die Akteneinsicht auf die um Geschäftsgeheimnisse, interne Unterlagen und Unterlagen im Sinne von Randnr. 22 der Bonusregelung(6) bereinigte Fassung der Verfahrensakte zu begrenzen.
7. Gegen diese Entscheidung stellte Pfleiderer Antrag auf gerichtliche Entscheidung vor dem Amtsgericht Bonn.
8. Das Amtsgericht erließ am 3. Februar 2009 zunächst einen Beschluss, in dem es Pfleiderer im Wesentlichen Recht gegeben hat. Das Gericht führte aus, dass nach dem für das Akteneinsichtsrecht des Verletzten in Strafverfahren maßgeblichen § 406e StPO(7), der nach § 46 Abs. 1 und 3 Satz 4 letzter Halbsatz OWiG in kartellrechtlichen Ordnungswidrigkeitenverfahren sinngemäß Anwendung finde, für den Verletzten ein Rechtsanwalt die Akten einsehen und amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen könne, soweit er hierfür ein berechtigtes Interesse darlege. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist Pfleiderer als Verletzte anzusehen, da davon auszugehen sei, dass sie durch die Kartellabsprachen kartellbedingt überhöhte Preise für die von den Kartellteilnehmern bezogenen Waren bezahlt habe. Ein berechtigtes Interesse bestehe auch dann, wenn der Verletzte mit der Akteneinsicht die Vorbereitung zivilrechtlicher Schadensersatzklagen bezwecke. Die Einsicht sei auch in Aktenbestandteile zu gewähren, die Bonusantragsteller dem Bundeskartellamt freiwillig zur Verfügung gestellt hätten und dementsprechend Angaben im Sinne der Randnr. 22 der Bonusregelung des Bundeskartellamts beträfen. In Bezug auf Geschäftsgeheimnisse und interne Unterlagen (d. h. Beratungsvermerke des Amtes oder Korrespondenz im Rahmen des europäischen Wettbewerbsnetzes ECN zur Fallverteilung) sei das Akteneinsichtsrecht begrenzt. Sein Umfang sei durch Abwägung zu bestimmen und beschränke sich auf die zur Substantiierung der Schadensersatzansprüche benötigten Aktenbestandteile.
9. Aufgrund einer Rüge gegen diesen Beschluss hat das Amtsgericht Bonn das Verfahren in die Lage vor Erlass des Beschlusses zurückversetzt. Es möchte an seiner bisherigen Rechtsansicht festhalten, ist jedoch der Ansicht, dass mit der beabsichtigten Entscheidung implizit die derzeitige Fassung der Bonusregelung des Bundeskartellamts für unvereinbar mit § 406e StPO und § 46 Abs. 1 OWiG erklärt werde. Das Amtsgericht bezieht sich insbesondere auf Randnr. 22 der Bonusregelung des Bundeskartellamts.
10. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass der beabsichtigten Entscheidung die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 10 Abs. 2 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG entgegenstehen könnten. Die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 verpflichteten die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten zu enger Zusammenarbeit und sähen einen gegenseitigen Austausch von Informationen, einschließlich solcher vertraulicher Art, zum Zweck der Verwendung als Beweismittel in Verfahren zur Durchsetzung der Art. 81 EG und 82 EG (jetzt Art. 101 und 102 AEUV) vor. Die Wirksamkeit und Funktionsfähigkeit dieser Bestimmungen könnten es erfordern, bei kartellrechtlichen Bußgeldverfahren geschädigten Dritten die Akteneinsicht in Bonusanträge und von Kronzeugen freiwillig herausgegebene Unterlagen zu versagen. Wäre das Bundeskartellamt unter Absenkung dieses Schutzniveaus verpflichtet, Dritten entgegen Randnr. 22 seiner Bonusregelung Akteneinsicht in Bonusanträge zu gewähren, hätte dies zwei gravierende Folgen.
11. Zum einen würden dem Bundeskartellamt von der Kommission keine Informationen mehr zur Verfügung gestellt, die auf Kronzeugenanträgen basierten. Auch die übrigen Mitglieder des ECN würden ihm keine solchen Informationen mehr übermitteln, soweit die nationalen Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten den Schutz vor Offenlegung im Rahmen ihrer nationalen Bonusregelungen im Sinne des ECN-Modells(8) ausgestaltet hätten. Hierdurch würde nicht nur die Kooperation im europäischen Wettbewerbsnetz empfindlich gestört, sondern es wäre auch keine effiziente Fallverteilung innerhalb des Netzes mehr möglich. Damit wäre die Funktionsfähigkeit des Netzes insgesamt in Frage gestellt.
12. Zum anderen bestünde die Gefahr, dass Unternehmen von einer Mitarbeit im Rahmen von Kronzeugenregelungen abgehalten würden und dementsprechend Kartelle nicht angezeigt würden und unentdeckt blieben, da der Kronzeugenantragsteller fürchten müsse, dass die freiwillig herausgegebenen Unterlagen und Informationen in zivilrechtlichen Schadensersatzklagen unmittelbar gegen ihn verwendet würden. Hierdurch würde der Kronzeugenantragsteller sogar schlechter gestellt gegenüber anderen Mitgliedern des Kartells, die nicht mit den Wettbewerbsbehörden kooperierten.
13. Aufgrund dieser Zweifel hat das Amtsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die kartellrechtlichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts – insbesondere die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 sowie Art. 10 Abs. 2 EG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG – dahin auszulegen, dass Geschädigte eines Kartells zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche keine Akteneinsicht in Bonusanträge und von Bonusantragstellern in diesem Zusammenhang freiwillig herausgegebene Informationen und Unterlagen erhalten dürfen, die eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde nach Maßgabe eines nationalen Bonusprogramms im Rahmen eines (auch) auf die Durchsetzung von Art. 81 EG gerichteten Bußgeldverfahrens erhalten hat?
III – Verfahren vor dem Gerichtshof
14. Schriftliche Erklärungen haben eingereicht Pfleiderer, die Felix Schoeller Holding GmbH & Co. KG, die Technocell Dekor GmbH & Co. KG, die Arjo Wiggins Deutschland GmbH, die belgische, die tschechische, die deutsche, die niederländische, die zyprische, die spanische und die italienische Regierung sowie die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde. Eine mündliche Verhandlung hat am 14. September 2010 stattgefunden. Die belgische, die zyprische und die niederländische Regierung haben in der mündlichen Verhandlung keine Erklärungen abgegeben. Die Munksjö Paper GmbH hat in der mündlichen Verhandlung Erklärungen abgegeben.
15. Pfleiderer ist der Ansicht, dass es sich bei dem Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens um einen rein nationalen Streit über deutsches Verfahrensrecht handele. Das Amtsgericht Bonn habe zu Recht entschieden, dass die Verweigerung der Akteneinsicht in die im Zusammenhang mit Bonusanträgen stehenden fraglichen Informationen aufgrund von Randnr. 22 der Bonusregelung des Bundeskartellamts mit § 406e StPO unvereinbar sei. Die vom Amtsgericht Bonn gestellte Frage sei zu verneinen, weil die Vorschriften des Unionsrechts in diesem Bereich nicht spezifisch genug seien und es anderen möglichen Auslegungshilfen wie dem ECN-Kronzeugenmodell nicht nur an Bestimmtheit, sondern auch an der nötigen Verbindlichkeit fehle.
16. Die Felix Schoeller Holding GmbH & Co. KG, die Technocell Dekor GmbH & Co. KG und die Arjo Wiggins Deutschland GmbH sowie die belgische, die tschechische, die deutsche, die niederländische, die zyprische, die spanische und die italienische Regierung sind im Wesentlichen der Ansicht, dass Geschädigten eines Kartells zum Zweck der Erhebung zivilrechtlicher Schadensersatzklagen keine Akteneinsicht in Kronzeugenanträge und von Kronzeugenantragstellern in diesem Zusammenhang freiwillig herausgegebene Informationen und Unterlagen zu gewähren sei, die eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde nach Maßgabe eines nationalen Kronzeugenprogramms im Rahmen eines Bußgeldverfahrens u. a. nach Art. 101 AEUV erhalten habe.
17. Die Kommission ist im Wesentlichen der Ansicht, dass zu differenzieren sei zwischen Informationen, die von Kronzeugenantragstellern freiwillig aus ihrer Kenntnis über ein Kartell und ihrer eigenen Rolle darin zur Verfügung gestellt würden und die insbesondere zur Mitteilung nach Maßgabe eines nationalen Kronzeugenprogramms bestimmt seien(9), bekannt als „Unternehmenserklärungen“, einerseits und bereits vorhandenem Beweismaterial, das von Kronzeugenantragstellern vorgelegt werde, andererseits. Zu verweigern sei Geschädigten eines Kartells zum Zweck der Erhebung von zivilrechtlichen Schadensersatzklagen die Akteneinsicht in Unternehmenserklärungen, da hierdurch Kronzeugenantragsteller in zivilrechtlichen Verfahren schlechter gestellt würden als andere Mitglieder des Kartells, so dass hierdurch die Wirksamkeit von Kronzeugenprogrammen beeinträchtigt werde. Über die Akteneinsicht in andere, vom Kronzeugenantragsteller vorgelegte Unterlagen sei in jedem Einzelfall individuell zu entscheiden. Die Kommission stellt eine Analogie zu ihrer Verwaltungspraxis bei der Frage der Übermittlung von in ihrem Besitz befindlichen Informationen an nationale Gerichte nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 her.(10)
18. Nach Ansicht der EFTA-Überwachungsbehörde steht angesichts der Tatsache, dass die meisten in der Union unterhaltenen Kronzeugenprogramme ein mündliches Verfahren vorsähen(11), das dazu diene, Unternehmenserklärungen vor der Offenlegung im Rahmen zivilrechtlicher Schadensersatzklagen zu schützen, weder das Argument der Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts der Union noch eine seiner Bestimmungen einer nationalen Regelung entgegen, wonach ein Mitgliedstaat potenziellen späteren Klägern in einem Zivilverfahren auf Schadensersatz gegen Beteiligte eines geheimen Kartells Einsicht in die der nationalen Wettbewerbsbehörde vorliegenden Kronzeugenprogrammunterlagen gewähre.
IV – Vorbemerkungen
19. Ich halte es für hilfreich, einige wichtige Aspekte des Ausgangsverfahrens hervorzuheben, die dem Vorlagebeschluss zu entnehmen sind. Erstens wird Akteneinsicht in die konkreten, im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Informationen nicht von einem Mitglied der Öffentlichkeit auf der Grundlage nationaler Transparenzvorschriften begehrt. Vielmehr ist dem Vorlagebeschluss zu entnehmen, dass Pfleiderer grundsätzlich nach deutschem Recht spezifische Verfahrensrechte hat, die die Einsicht in die dem Bundeskartellamt vorliegenden, das Kartell betreffenden Akten regeln und die darauf beruhen, dass Pfleiderer als Geschädigte gilt, zu deren Gunsten eine Schädigung durch das Kartell und ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht zur Vorbereitung einer zivilrechtlichen Schadensersatzklage vermutet wird. In einem solchen Fall gewährt das Gericht die Akteneinsicht nach § 406e StPO nicht Pfleiderer selbst, sondern ihrem Rechtsanwalt. Eine Analogie zu Transparenzvorschriften und Vorschriften über den Zugang der Öffentlichkeit zu Unterlagen etwa nach der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission(12) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist nicht herstellbar, weil dies den offenbar weiter gehenden Anspruch auf Einsichtnahme in Beweisunterlagen in unzulässiger Weise beschränken könnte, über den ein mutmaßlich Geschädigter wie Pfleiderer nach § 406e StPO zum Zweck der Beweisführung in einem gerichtlichen Zivilprozess verfügt.
20. Zweitens wurde die Untersuchung des spezifischen, im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Wettbewerbsverstoßes mit dem Erlass einer Entscheidung abgeschlossen, durch die eine Geldbuße u. a. nach Art. 101 AEUV verhängt wurde, die nicht mehr Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung ist. In einem solchen Fall kann die Einsichtnahme in die streitigen Informationen die Untersuchung des konkreten Verstoßes nicht gefährden oder deren Ergebnis beeinflussen. Der vorliegende Fall ist daher von den Fällen zu unterscheiden, in denen eine geschädigte dritte Partei Einsicht in die einer nationalen Wettbewerbsbehörde vorliegenden Informationen nehmen will, bevor diese eine Entscheidung nach EU-Wettbewerbsrecht erlässt. Allerdings bleibt die Frage zu klären, ob die Einsichtnahme in die in Rede stehende Kategorie von Informationen, nämlich die im Zusammenhang mit einer Kronzeugenregelung freiwillig zur Verfügung gestellten Informationen und Unterlagen, allgemein zu einer Gefährdung von Untersuchungsverfahren zu Verstößen gegen Art. 101 AEUV und damit zu einer Gefährdung der Durchsetzung dieser Vorschriften durch das Bundeskartellamt und andere nationale Wettbewerbsbehörden aufgrund der diesen übertragenen Befugnisse und Pflichten nach der Verordnung Nr. 1/2003 führt.
21. Drittens betrifft die vom Amtsgericht Bonn vorgelegte Frage im Kern die Einsichtnahme in von einem Kronzeugenantragsteller zur Verfügung gestellte Informationen und Unterlagen. Laut dem Vorlagebeschluss hat das Amtsgericht Bonn entschieden, dass das Recht auf Akteneinsicht im Hinblick auf Geschäftsgeheimnisse und interne Unterlagen(13) begrenzt sei. Es ist nicht ersichtlich, dass das Amtsgericht seine Ansicht in dieser Frage ändern möchte. Ich gehe daher in diesen Schlussanträgen bei der Prüfung der Frage der Akteneinsicht in von einem Kronzeugenantragsteller zur Verfügung gestellte Informationen und Unterlagen von der Annahme aus, dass diese weder Geschäftsgeheimnisse enthalten noch interne Unterlagen darstellen.
V – Würdigung
22. Mit seiner Vorlagefrage ersucht das Amtsgericht u. a. um Hinweise dazu, welche Auswirkungen die einem Geschädigten(14) gewährte Akteneinsicht in von einem Kronzeugenantragsteller einer nationalen Wettbewerbsbehörde mitgeteilte Informationen auf das System der Kooperation und des Informationsaustauschs nach Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 haben kann.
23. Nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1/2003 sind sowohl die Kommission als auch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten(15) für die Anwendung der Art. 101 und 102 EUV zuständig.(16) Auch wenn die jeweiligen Zuständigkeiten der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV nicht völlig deckungsgleich sind, stimmen sie doch in erheblichem Umfang überein und bilden so das dezentralisierte, auf parallelen Zuständigkeiten beruhende System der Rechtsanwendung. Die Kommission verfügt nach der Verordnung Nr. 1/2003 über spezifische und detaillierte Zuständigkeiten für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV. Demgegenüber wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und auch die nationalen Gerichte(17) die Art. 101 und 102 AEUV weitgehend im Rahmen ihrer jeweiligen nationalen Rechtsordnungen(18) und nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie an, wobei sie an die Grundsätze der Äquivalenz(19) und der Effektivität(20) gebunden sind. Meines Erachtens müssen die Mitgliedstaaten u. a. nach Art. 4 Abs. 3 EUV und der Verordnung Nr. 1/2003(21) die effektive Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV innerhalb ihres Staatsgebiets sicherstellen.(22)
24. Um das mögliche Risiko einer uneinheitlichen Anwendung innerhalb der parallelen Zuständigkeiten zu begrenzen, enthält Kapitel IV der Verordnung Nr. 1/2003 unter dem Titel „Zusammenarbeit“ in Abweichung vom grundsätzlich für die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte geltenden Grundsatz der Verfahrensautonomie eine Reihe von prozessualen Vorschriften, um eine koordinierte und effektive Funktionsweise des Systems der parallelen Zuständigkeiten zu gewährleisten. Die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden bilden in der Tat ein Netzwerk(23) von Behörden, die die EU-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden.(24) Aus den Vorschriften dieses Kapitels ist insbesondere ein System(25) zwischen den Mitgliedern des ECN entstanden, in dem u. a. die Arbeitsteilung und Aufteilung von Fällen zwischen einer oder mehreren nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission sowie die einheitliche Anwendung der EU-Wettbewerbsregeln geregelt wird. Meines Erachtens sind die nationalen Wettbewerbsbehörden verpflichtet, so zu handeln, dass die effektive Erfüllung ihrer Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach der Verordnung Nr. 1/2003 gewährleistet ist.
25. Während weder die Verordnung Nr. 1/2003 noch die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit Vorschriften zur Gewährung von Akteneinsicht für Dritte in die von Kronzeugenantragstellern freiwillig zur Verfügung gestellten Informationen enthalten(26), bestimmt Randnr. 30 des ECN-Modells für Kronzeugenprogramme, dass „[i]m Rahmen dieser Regelung abgegebene mündliche Erklärungen zwischen den Wettbewerbsbehörden nur dann gemäß Artikel 12 der Verordnung Nr. 1/2003 ausgetauscht [werden], wenn die in der [Bekanntmachung über die Zusammenarbeit] festgelegten Bedingungen erfüllt sind und der von der empfangenden Wettbewerbsbehörde gewährte Schutz vor Offenlegung jenem der übermittelnden Wettbewerbsbehörde entspricht“(27).
26. Das ECN-Modell für Kronzeugenprogramme ist ein Hilfsmittel ohne Rechtsverbindlichkeit, das der De‑facto‑ oder „weichen“ Harmonisierung der Kronzeugenprogramme der nationalen Wettbewerbsbehörden dient, um sicherzustellen, dass potenzielle Antragsteller nicht aufgrund von Unterschieden zwischen den Kronzeugenprogrammen innerhalb des ECN von einem Kronzeugenantrag abgehalten werden. Das ECN-Modell für Kronzeugenprogramme trifft daher Bestimmungen über den Umgang mit Antragstellern, die diese in allen Rechtsordnungen innerhalb des ECN erwarten können, wenn alle Kronzeugenprogramme entsprechend vereinheitlicht worden sind. Außerdem bezweckt das ECN-Modell für Kronzeugenprogramme Erleichterungen der mit mehrfachen Antragstellungen verbundenen Erschwernisse. Trotz des nicht-legislativen Charakters dieses und auch anderer Hilfsmittel wie der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit und der Gemeinsamen Erklärung ist deren praktische Wirkung insbesondere für die Tätigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission nicht zu unterschätzen. Es ist daher misslich, dass Unterlagen wie das ECN-Modell für Kronzeugenprogramme und die Gemeinsame Erklärung nicht aus Gründen der Transparenz und Dokumentation im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden.
27. Im Licht insbesondere von Randnr. 30 des ECN-Modells für Kronzeugenprogramme und mangels einer gesetzlichen Regelung im Unionsrecht bin ich der Ansicht, dass unterschiedliche Regelungen zur Weitergabe freiwillig von Kronzeugenantragstellern mitgeteilter Informationen durch die nationalen Wettbewerbsbehörden an Dritte daher möglicherweise mit den Vorschriften zur Zusammenarbeit nach der Verordnung Nr. 1/2003 nicht vereinbar wären.
28. Der beim Gerichtshof vorliegenden Akte ist vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht zu entnehmen, dass die schwedische Wettbewerbsbehörde mit dem Bundeskartellamt bei der Untersuchung des fraglichen Verstoßes zusammengearbeitet hat. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass eine andere nationale Wettbewerbsbehörde als das Bundeskartellamt für die Anwendung von Art. 101 AEUV hinsichtlich des fraglichen Kartells zuständig gewesen wäre, so dass es zu Mehrfachverfahren bei verschiedenen Behörden und zur Möglichkeit einer anderweitigen Verteilung des Falles nach Art. 11 der Verordnung Nr. 1/2003 hätte kommen können.(28) Damit ist auch vor dem Hintergrund, dass Mehrfachverfahren vor nationalen Wettbewerbsbehörden häufig in Fällen vorkommen mögen, in denen Kartellbeteiligte Kronzeugenanträge stellen, und dass diese mangels eines „zentralen“ Kronzeugenprogramms nach Unionsrecht oder unionsweit völlig harmonisierter Kronzeugenprogramme(29) die Notwendigkeit sehen könnten, einen Antrag bei allen Behörden zu stellen, die für die Anwendung von Art. 101 AEUV hinsichtlich des Verstoßes zuständig sind, für den im Ausgangsverfahren zu entscheidenden Fall eine solche Problematik nicht ersichtlich. Anzumerken ist auch, dass das vorlegende Gericht im Vorlagebeschluss konkret ausgeführt hat, dass Pfleiderer keine Einsichtnahme in solche beim Bundeskartellamt vorliegende Informationen oder Unterlagen begehrt, die die Behörde in Anwendung von Art. 12 der Verordnung Nr. 1/2003 erhalten hat.(30)
29. Es ist daher davon auszugehen, dass den Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 keine Relevanz für das vorliegende Verfahren zukommt und dass der Teil der Vorlagefrage, der sich mit diesen Vorschriften beschäftigt, wie von der Kommission vorgetragen(31), hypothetischer Natur ist.(32) Mangels irgendeiner konkreten Tatsachengrundlage im Vorlagebeschluss zur Frage der Zusammenarbeit nach Kapitel IV der Verordnung Nr. 1/2003 wäre eine Entscheidung des Gerichtshofs zu dieser Frage meines Erachtens in diesem Verfahren als spekulativ anzusehen.
30. Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob es künftig die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV durch diese Behörde gefährden könnte, wenn die nationale Wettbewerbsbehörde zugunsten des eine Schadensersatzklage in Aussicht nehmenden Geschädigten die Gewährung von Akteneinsicht in solche Informationen und Unterlagen beabsichtigt, die sie von einem ihrer Kronzeugenantragsteller freiwillig erhalten hat.
31. Eindeutig kommt sowohl der Kommission als auch den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten bei der Durchsetzung des Art. 101 AEUV gegenüber rechtswidrigen Kartellen eine wichtige Rolle zu. Aufgrund des geheimen Charakters von nach Art. 101 AEUV verbotenen Kartellen haben sich die tatsächliche Aufdeckung und Untersuchung sowie damit einhergehend schließlich auch das Verbot und die Verfolgung dieser wegen ihrer zerstörerischen Wirkung auf die Wettbewerbsstrukturen oft zu den schwerwiegenderen Verletzungen des Kartellrechts zählenden Verstöße(33) sowohl für die Kommission als auch für die nationalen Wettbewerbsbehörden als schwierig erwiesen.(34) Die Kommission hat, wohl aus Gründen der Zweckmäßigkeit(35), seit 1996 mit dem Erlass ihrer Mitteilung über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen(36) ein Kronzeugenprogramm eingeführt, durch das sie die Kooperationswilligkeit von Kartellbeteiligten, die zur Aufdeckung und Verfolgung von Kartellen führt, in Form der Nichtfestsetzung oder Ermäßigung von Geldbußen belohnt. In der Mitteilung der Kommission von 2006(37) bringt die Kommission ihre Ansicht klar zum Ausdruck, dass „[d]as Interesse der Verbraucher und Bürger an der Aufdeckung und Ahndung von Kartellen … größer [ist] als das Interesse an der Verhängung von Geldbußen gegen Unternehmen, die es der Kommission ermöglichen, solche Verhaltensweisen aufzudecken und zu untersagen. … Die Kommission ist der Auffassung, dass die Mithilfe eines Unternehmens bei der Aufdeckung eines Kartells einen Wert an sich darstellt.“(38) Meines Erachtens geht der Nutzen eines solchen Programms über die Aufdeckung und Verfolgung einzelner Verstöße deshalb hinaus, weil es ein allgemeines Klima der Unsicherheit unter potenziellen Kartellbeteiligten schafft, das die tatsächliche Bildung von Kartellen verhindern kann.
32. Die Mitteilung zur Kronzeugenregelung legt also in transparenter Form Regelungen und Verfahren fest, so dass die Behandlung, die Kronzeugenantragsteller von der Kommission zu erwarten haben, vorhersehbar ist. Diese Transparenz und Vorhersehbarkeit sind meines Erachtens notwendige Voraussetzungen für das effektive Funktionieren der Kronzeugenregelung der Kommission, weil Unsicherheiten hinsichtlich der Behandlung durch die Kommission potenzielle Antragsteller von einer Antragstellung abhalten könnten. Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass die Zusammenarbeit eines Unternehmens mit der Kommission eine Ermäßigung der Geldbuße nach der Mitteilung zur Kronzeugenregelung rechtfertigen kann, wenn es hierdurch der Kommission tatsächlich leichter möglich ist, das Bestehen eines Verstoßes ihren Aufgaben entsprechend nachzuweisen und diesen zu beenden.(39) Ein Unternehmen, das mit der Kommission nach den Bestimmungen der Mitteilung zur Kronzeugenregelung zusammenarbeitet, darf berechtigterweise davon ausgehen, dass eine zu erwartende Geldbuße um einen gewissen Prozentsatz ermäßigt wird.(40) Ferner gewährt die Kommission nach ihrer Mitteilung zur Kronzeugenregelung grundsätzlich keine Akteneinsicht in die Unternehmenserklärung des Kronzeugenantragstellers(41). Darüber hinaus lässt die Kommission auch zu, dass diese Unternehmenserklärungen(42) mündlich abgegeben werden können.(43) Nach der Mitteilung zur Kronzeugenregelung ist Dritten jedoch nicht die Einsicht in bereits vorhandenes Beweismaterial(44) zu verweigern, das von einem Kronzeugenantragsteller nach Maßgabe dieser Regelung überlassen worden ist.
33. Es gibt nach Unionsrecht keine ausdrückliche Verpflichtung für die nationalen Wettbewerbsbehörden, ein Kronzeugenprogramm für Kartelle zu unterhalten, die gegen Art. 101 AEUV verstoßen, und das Unionsrecht trifft auch keine Regelung zur Frage der Einsichtnahme in die Kronzeugenakten dieser Behörden. Der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ist aber zu entnehmen, dass trotz des Fehlens einer die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten bindenden ausdrücklichen Verpflichtung nach Unionsrecht, ein Kronzeugenprogramm für rechtswidrige Kartelle zu unterhalten, und trotz der Tatsache, dass die Mitgliedstaaten somit in dieser Hinsicht Verfahrensautonomie genießen, die überwältigende Mehrheit der nationalen Wettbewerbsbehörden der 27 Mitgliedstaaten, insbesondere auch das Bundeskartellamt, derzeit irgendeine Form von Kronzeugenprogramm unterhalten. Der Vorlagebeschluss führt aus, dass das Bonusprogramm des Bundeskartellamts auf dem ECN-Modell für Kronzeugenprogramme basiere. Aus der Tatsache, dass das Bundeskartellamt sich aktiv für ein Kronzeugenprogramm entschieden hat, ergibt sich meines Erachtens und vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorliegende Gericht, dass diese nationale Wettbewerbsbehörde zu der Ansicht gelangt ist, dass ein solches Programm notwendig sei, um die wirksame Durchsetzung u. a. von Art. 101 AEUV durch sich selbst sicherzustellen.(45) Auch das Amtsgericht Bonn führt im Vorlagebeschluss aus: „Dass es sich um ein äußerst wirksames Instrument der Kartellbekämpfung handelt, zeigt das im Jahr 2000 eingeführte Bonusprogramm des Bundeskartellamts. So wurden von 2001 bis 2008 insgesamt 210 Bonusanträge gestellt, die 69 verschiedene Verfahren betrafen.“(46)
34. Soweit ein Mitgliedstaat durch seine Wettbewerbsbehörde(n) ein Kronzeugenprogramm unterhält, um die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV sicherzustellen, ist er meines Erachtens trotz der bei der Durchsetzung dieser Vorschrift bestehenden Verfahrensautonomie verpflichtet, sicherzustellen, dass das Programm in seiner Konzeption und Funktion effektiv gestaltet ist.
35. Hinsichtlich der Frage des Zusammenspiels zwischen Kronzeugenprogrammen und zivilrechtlichen Schadensersatzklagen wird in der Mitteilung zur Kronzeugenregelung zwar im Voraus angegeben, wie die Kommission ihr Ermessen bei der Verhängung von Geldbußen gegen Kartellbeteiligte ausüben wird, es wird aber ausdrücklich klargestellt, dass Kartellbeteiligte im Fall der Kooperation nach dieser Regelung keine Immunität von zivilrechtlichen Rechtsfolgen ihrer Beteiligung an Verstößen gegen Art. 101 AEUV zu erwarten haben.(47) Auch Randnr. 24 der Bonusregelung des Bundeskartellamts bestimmt, dass „[d]iese Bekanntmachung … die zivilrechtlichen Folgen wegen der Beteiligung an einem Kartell unberührt [lässt]“.(48)
36. Das Recht der durch Kartelle Geschädigten, wegen Verstößen gegen die Art. 101 und 102 AEUV Schadensersatzklagen zu erheben, ist vom Gerichtshof klar betont worden. Nach ständiger Rechtsprechung erzeugen die Art. 101 und 102 AEUV unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen Einzelnen und schaffen Rechte(49) Einzelner, die die nationalen Gerichte zu wahren haben.(50) Auch wenn die für Schadensersatzklagen wegen Verstößen gegen die Art. 101 und 102 AEUV geltenden Rechtsvorschriften nicht auf Unionsebene harmonisiert sind, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die volle Wirksamkeit des Art. 101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des in Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgesprochenen Verbots beeinträchtigt wäre, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist.(51) Infolgedessen kann jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, wenn zwischen dem Schaden und einem nach Art. 101 AEUV verbotenen Kartell oder Verhalten ein ursächlicher Zusammenhang besteht.(52) Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Courage und Crehan auch die abschreckende Wirkung von Schadensersatzklagen betont. Hierzu hat er festgestellt, dass das Recht zur Erhebung einer Klage die Durchsetzungskraft der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln erhöhe und geeignet sei, von – oft verschleierten – Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen könnten. Aus dieser Sicht könnten Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Union beitragen.(53)
37. Meines Erachtens ist es für den Geschädigten bei der Vorbereitung einer Schadensersatzklage vor den nationalen Gerichten wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV durch eine mutmaßliche, durch das Kartell verursachte Rechtsverletzung grundsätzlich als hilfreich anzusehen, wenn die nationale Wettbewerbsbehörde gegenüber dem Geschädigten Informationen offenlegt, die der Behörde von Kartellbeteiligten nach Maßgabe ihres Kronzeugenprogramms freiwillig mitgeteilt worden sind.(54) Es handelt sich um eine Klage, die nicht nur zu einer Entscheidung über den Schadensersatzanspruch eines Geschädigten, sondern auch zur Anwendung von Art. 101 AEUV führen kann.(55) Meiner Ansicht nach dürfen die nationalen Wettbewerbsbehörden daher, auch wenn sie an dem Schadensersatzverfahren nicht beteiligt sind, außer im Fall überwiegender berechtigter öffentlicher oder privater Belange(56) einem mutmaßlich Geschädigten die Einsicht in bei ihnen vorliegende Unterlagen nicht verweigern, die diesem zur Beweisführung bei der Geltendmachung eines zivilrechtlichen Anspruchs gegen Kartellbeteiligte wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV dienen könnten, weil dies de facto in das Grundrecht des Betroffenen auf einen wirksamen Rechtsbehelf eingreifen und dieses einschränken könnte, das nach Art. 101 AEUV und Art. 47(57) in Verbindung mit Art. 51 der Charta und Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützt ist. Es ist daher zu prüfen, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen eine nationale Wettbewerbsbehörde die Offenlegung von seitens eines Kronzeugenantragstellers überlassenen Informationen und Unterlagen verweigern darf.
38. Meines Erachtens könnte eine Offenlegung aller Informationen und Unterlagen durch die nationale Wettbewerbsbehörde, die diese von einem Kronzeugenantragsteller erhalten hat, die Attraktivität und damit die Wirksamkeit des Kronzeugenprogramms dieser Behörde ernsthaft gefährden, weil potenzielle Kronzeugenantragsteller sich aufgrund der von ihnen der Behörde zu überlassenden(58), sie selbst belastenden Erklärungen und Beweismittel im Hinblick auf Schadensersatzklagen schlechter behandelt fühlen könnten als andere Kartellbeteiligte, die keinen Kronzeugenantrag stellen. Damit könnte aus Sicht eines potenziellen Kronzeugenantragstellers der Anreiz, dass eine Geldbuße nicht verhängt oder ermäßigt wird, dadurch überwogen werden, dass ein höheres Risiko einer Haftung auf Schadensersatz besteht, wenn Einsicht in die Kronzeugenakte gewährt würde, dies insbesondere in Fällen, in denen Mitglieder eines Kartells nach den nationalen zivilprozessualen Regelungen als Gesamtschuldner haften. Ein Kartellbeteiligter könnte daher insgesamt davon absehen, einen Kronzeugenantrag zu stellen, oder auch während des Kronzeugenantragsverfahrens gegenüber einer Wettbewerbsbehörde weniger Bereitschaft zur Kooperation und Offenlegung zeigen.(59)
39. Es besteht daher offenkundig ein Spannungsverhältnis zwischen der effektiven Durchführung eines Kronzeugenprogramms durch eine nationale Wettbewerbsbehörde und damit der öffentlich-rechtlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts einerseits und der Gewährung von Akteneinsicht in die von Kronzeugenantragstellern überlassenen(60) Informationen gegenüber Dritten mit dem Ziel, diesen Schadensersatzklagen nach Art. 101 AEUV zu erleichtern, andererseits.
40. Meines Erachtens besteht aufgrund der Verordnung Nr. 1/2003 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs de iure kein bestimmtes Rang- oder Prioritätsverhältnis(61) zwischen der öffentlich-rechtlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts und privaten Schadensersatzklagen. Allerdings ist, auch wenn de iure kein Rangverhältnis besteht, die Rolle der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung der Einhaltung der Art. 101 und 102 AEUV derzeit meines Erachtens von weit größerer Bedeutung als private Schadensersatzklagen. Tatsächlich ist der Stellenwert privater Schadensersatzklagen in diesem Bereich derzeit so begrenzt, dass ich von einer intensiven Verwendung des Begriffs „private Durchsetzung“ eher absehen würde.(62)
41. Darüber hinaus bin ich der Ansicht, dass das hier in Rede stehende Spannungsverhältnis auch mehr als solches erscheint, als dass es real zum Tragen kommt, weil diese Programme neben dem öffentlichen Interesse an wirksamen Kronzeugenregelungen zur Aufdeckung und Verfolgung geheimer Kartelle auch den durch diese Kartelle geschädigten privaten Dritten zugutekommen.(63) Zum einen würden ohne wirksame Kronzeugenregelungen viele Kartelle niemals aufgedeckt, so dass ihre schädlichen Auswirkungen auf den Wettbewerb im Allgemeinen und auf private Dritte im Besonderen unkontrolliert fortdauern würden. Zum anderen kann die auf einen Kronzeugenantrag hin erfolgte Aufdeckung und Untersuchung solcher Kartelle durch die nationalen Wettbewerbsbehörden zum Erlass von Entscheidungen führen, durch die Verstöße beendet und Geldbußen nach nationalem Recht verhängt werden.(64) Solche Entscheidungen können gleichzeitig für durch Kartelle geschädigte dritte Parteien bei der Erhebung zivilrechtlicher Schadensersatzklagen hilfreich sein. Auch wenn die Verordnung Nr. 1/2003 keine Art. 16 Abs. 1 der Verordnung entsprechende(65) Bestimmung zu der Frage trifft, welches Gewicht den Entscheidungen der nationalen Wettbewerbsbehörden durch die nationalen Gerichte zuzumessen ist(66), bin ich insofern der Ansicht, dass solche Entscheidungen von den nationalen Gerichten zumindest als erhärtende Beweismittel zu behandeln sind.(67) Aber selbst in denjenigen Rechtsordnungen, in denen es der klagenden Partei gänzlich verwehrt ist, ihre Klage vor dem nationalen Gericht als Beweismittel auf eine rechtskräftige Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde zu stützen, und in denen die klagende Partei also u. a. den Verstoß gegen Art. 101 AEUV vollständig beweisen muss, liefert eine solche Verwaltungsentscheidung doch meines Erachtens eine gute Grundlage für die Prozessführung, nicht zuletzt weil die Entscheidung regelmäßig eine detaillierte Beschreibung des Funktionierens des fraglichen Kartells und der Art und Weise des Verstoßes gegen Art. 101 AEUV enthält.
42. Ich bin daher der Auffassung, dass es zum Schutz sowohl des öffentlichen als auch des privaten Interesses an der Aufdeckung und Verfolgung von Kartellen erforderlich ist, die Attraktivität der Kronzeugenregelung einer nationalen Wettbewerbsbehörde so weit wie möglich aufrechtzuerhalten, ohne dabei die Rechte klagender Parteien in Zivilverfahren auf Akteneinsicht und damit schließlich auf einen wirksamen Rechtsbehelf unangemessen einzuschränken.
43. In dem im Ausgangsverfahren zu entscheidenden Fall hat das vorlegende Gericht im Vorlagebeschluss keine näheren Angaben zur Art der Informationen und Unterlagen gemacht, die von den Bonusantragstellern zur Verfügung gestellt worden sind. Nachdem das vorlegende Gericht aber angibt, dass das Bonusprogramm des Bundeskartellamts auf dem ECN-Modell für Kronzeugenprogramme basiert, schlage ich vor, im vorliegenden Zusammenhang zu prüfen, ob Einsichtnahme in freiwillig gemachte, die Bonusantragsteller selbst belastende Erklärungen oder Unternehmenserklärungen(68) von Bonusantragstellern und in von diesen vorgelegtes, bereits vorhandenes Beweismaterial gewährt werden darf.
44. Meines Erachtens könnte die Offenlegung des Inhalts von freiwilligen, die Kronzeugenantragsteller selbst belastenden Erklärungen(69) gegenüber Zivilklägern, die von Kronzeugenantragstellern(70) im Verlauf des Kronzeugenverfahrens zu Zwecken dieses Verfahrens gemacht werden und in denen die Antragsteller gegenüber der Wettbewerbsbehörde ihre Beteiligung an einem Verstoß gegen Art. 101 AEUV wirksam eingestehen und beschreiben, die Attraktivität und damit die Wirksamkeit des Kronzeugenprogramms einer nationalen Wettbewerbsbehörde erheblich einschränken.(71) Dies könnte in der Folge die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV durch die nationale Wettbewerbsbehörde und schließlich die Aussichten privater Kläger auf einen wirksamen Rechtsbehelf gefährden. Auch wenn die Verweigerung der Akteneinsicht insofern in gewissem Umfang Hürden oder Behinderungen für das Grundrecht einer mutmaßlich geschädigten Partei auf einen wirksamen Rechtsbehelf schaffen kann, bin ich daher doch der Ansicht, dass der Eingriff in dieses Recht durch den legitimen Zweck gerechtfertigt ist, die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV durch die nationalen Wettbewerbsbehörden und auch die Durchsetzung von privaten Interessen an der Aufdeckung und Verfolgung von Kartellen zu gewährleisten.
45. Darüber hinaus ist vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht offenbar davon auszugehen(72), dass Bonusantragsteller berechtigterweise darauf vertrauen können, dass das Bundeskartellamt sein Ermessen in dieser Sache dahin ausübt, dass freiwillige Erklärungen, mit denen sich Antragsteller selbst belasten, nicht offengelegt werden. Ich bin der Ansicht, dass, auch wenn das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in größtmöglichem Umfang gewahrt werden muss, das berechtigte Vertrauen der Bonusantragsteller darauf überwiegt, dass die Erklärungen, mit denen sie sich selbst belasten, nicht offengelegt werden.
46. Ich bin daher der Auffassung, dass Akteneinsicht in freiwillige, von Kronzeugenantragstellern abgegebene Erklärungen, mit denen diese sich selbst belasten, grundsätzlich(73) nicht zu gewähren ist.
47. Abgesehen von solchen Erklärungen, mit denen sich Kronzeugenantragsteller selbst belasten, ist mutmaßlich Geschädigten wie Pfleiderer jedoch Akteneinsicht in sämtliches anderes, bereits vorhandenes Beweismaterial zu gewähren, das Kronzeugenantragsteller im Verlauf des Kronzeugenverfahrens vorgelegt haben(74) und das diesen Geschädigten im Rahmen einer privaten Schadensersatzklage dazu dienen kann, rechtswidrige, gegen Art. 101 AEUV verstoßende Handlungen(75), einen ihnen entstandenen Schaden oder einen Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Schaden nachzuweisen.(76) Dieses Beweismaterial ist im eigentlichen Sinne nicht durch das Kronzeugenverfahren erlangt worden, weil es anders als die vorstehend erwähnten Unternehmenserklärungen, mit denen sich Antragsteller selbst belasten, unabhängig von diesem Verfahren existiert und mindestens theoretisch auch andernorts aufgefunden werden könnte. Ich sehe keinen überzeugenden Grund, warum die Einsicht in solche Unterlagen, die konkret zur erleichterten Prozessführung im Rahmen einer Schadensersatzklage bestimmt und geeignet sind, verweigert werden sollte. Es wäre mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf unvereinbar, wenn die Einsicht in solches Beweismaterial von der nationalen Wettbewerbsbehörde unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen verweigert werden könnte.
VI – Ergebnis
48. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Amtsgericht Bonn (Deutschland) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:
Unterhält eine nationale Wettbewerbsbehörde ein Kronzeugenprogramm, um die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV zu gewährleisten, darf Geschädigten eines Kartells nicht zum Zweck der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche Akteneinsicht in freiwillig von Kronzeugenantragstellern unterbreitete Erklärungen gewährt werden, mit denen diese sich selbst belasten und in denen sie ihre Beteiligung an Verstößen gegen Art. 101 AEUV gegenüber der Behörde wirksam eingestehen und beschreiben, weil dies die Attraktivität und damit die Wirksamkeit des Kronzeugenprogramms der Behörde erheblich beeinträchtigen und in der Folge die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV durch die Behörde gefährden könnte. Auch wenn die Verweigerung der Akteneinsicht insofern in gewissem Umfang Hürden oder Behinderungen für das Grundrecht des mutmaßlich Geschädigten auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren schaffen kann, das nach Art. 47 in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützt ist, ist der Eingriff in dieses Recht durch den legitimen Zweck gerechtfertigt, die wirksame Durchsetzung von Art. 101 AEUV durch die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Durchsetzung privater Interessen an der Aufdeckung und Verfolgung von Kartellen zu gewährleisten.
Es ist mit dem nach Art. 47 in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützten Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren unvereinbar, wenn die nationale Wettbewerbsbehörde die Akteneinsicht in anderes, bereits vorhandenes Beweismaterial verweigert, das von einem Kronzeugenantragsteller im Verlauf eines Kronzeugenverfahrens vorgelegt worden ist und das mutmaßlich Geschädigten eines Kartells im Rahmen einer privaten Schadensersatzklage dazu dienen kann, rechtswidrige, gegen Art. 101 AEUV verstoßende Handlungen, einen ihnen entstandenen Schaden oder einen Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem Schaden nachzuweisen.