Language of document : ECLI:EU:C:2012:675

STELLUNGNAHME DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 26. Oktober 2012(1)

Rechtssache C‑370/12

Thomas Pringle

gegen

Government of Ireland, Ireland und den Attorney General

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court, Irland)

„Vereinfachtes Verfahren des Art. 48 Abs. 6 EUV zur Änderung des Dritten Teils des AEUV – Beschluss 2011/199/EU zur Änderung des Art. 136 AEUV – Wirtschafts- und Währungspolitik – Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus“





1.        Europa leidet unter einer Staatsschuldenkrise. Union und Mitgliedstaaten ergreifen zu ihrer Bewältigung teilweise unkonventionelle Maßnahmen. Der Gerichtshof hat in diesem Vorabentscheidungsersuchen zu klären, ob der „Europäische Stabilitätsmechanismus“ als eine dieser Maßnahmen den Maßstäben des Rechts der Union genügt.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

2.        Art. 1 des Beschlusses 2011/199/EU des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (im Folgenden: Beschluss 2011/199) lautet wie folgt:

„Dem Artikel 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird folgender Absatz angefügt:

‚(3) Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.‘“

3.        Zum Inkrafttreten des Beschlusses 2011/199 sieht Art. 2 Abs. 2 die folgende Regelung vor:

„Dieser Beschluss tritt am 1. Januar 2013 in Kraft, sofern alle Mitteilungen gemäß Absatz 1 eingegangen sind, oder anderenfalls am ersten Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem die letzte Mitteilung gemäß Absatz 1 eingegangen ist.“

4.        Der Beschluss 2011/199 stützt sich im Bezugsvermerk „auf den Vertrag über die Europäische Union, insbesondere Artikel 48 Absatz 6“.

B –    Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus

5.        Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (im Folgenden: Euro-Mitgliedstaaten), haben am 2. Februar 2012 einen „Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (im Folgenden: ESM-Vertrag) geschlossen.

6.        Dieser „Europäische Stabilitätsmechanismus“ (im Folgenden: ESM) ist gemäß Art. 1 ESM-Vertrag eine „internationale Finanzinstitution“, deren Mitglieder die Euro-Mitgliedstaaten sind, und die nach Art. 3 Satz 1 des Vertrags die folgende Aufgabe hat:

„Zweck des ESM ist es, Finanzmittel zu mobilisieren und ESM-Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist.“

7.        Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 ESM-Vertrag können die in Art. 3 Satz 1 ESM-Vertrag genannten Auflagen „von einem makroökonomischen Anpassungsprogramm bis zur kontinuierlichen Erfüllung zuvor festgelegter Anspruchsvoraussetzungen reichen“.

8.        Die Art. 14 bis 18 des ESM-Vertrags sehen folgende mögliche „Finanzhilfeinstrumente“ zugunsten der ESM-Mitglieder vor:

–        eine „vorsorgliche[.] bedingte[.] Kreditlinie“ oder eine „Kreditlinie mit erweiterten Bedingungen“ (Art. 14),

–        Darlehen mit Zweckbindung, die zur „Rekapitalisierung von Finanzinstituten“ des ESM-Mitglieds zu verwenden sind (Art. 15),

–        Darlehen ohne Zweckbindung (Art. 16),

–        den Kauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds „am Primärmarkt“ (Art. 17) und

–        „Sekundärmarktoperationen in Bezug auf die Anleihen“ eines ESM-Mitglieds (Art. 18).

9.        Gemäß seinem Art. 48 Abs. 1 ist der ESM-Vertrag durch Hinterlegung der Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland am 27. September 2012 für die Euro-Mitgliedstaaten, mit Ausnahme der Republik Estland, in Kraft getreten.

II – Ausgangsverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

10.      Herr Pringle, ein Abgeordneter des irischen Unterhauses (im Folgenden: der Kläger), hatte vor dem irischen High Court u. a. gegenüber der irischen Regierung die Feststellung begehrt, dass die durch den Beschluss 2011/199 beabsichtigte Änderung des Art. 136 AEUV unzulässig und rechtswidrig ist. Darüber hinaus hatte er beantragt, der irischen Regierung die Ratifizierung, Genehmigung oder Annahme des ESM-Vertrages zu untersagen. Beide Anliegen des Klägers wies der High Court zurück.

11.      Im Rechtsmittelverfahren gegen die Entscheidung des High Court hält der irische Supreme Court die Beantwortung der folgenden Fragen im Wege der Vorabentscheidung für erforderlich:

1.      Ist der Beschluss 2011/199/EU des Europäischen Rates vom 25. März 2011

–        angesichts der Anwendung des vereinfachten Änderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 6 EUV und insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob die vorgeschlagene Änderung des Art. 136 AEUV mit einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten verbunden wäre,

–        angesichts des Inhalts der vorgeschlagenen Änderung, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob diese gegen die Verträge oder die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union verstößt,

gültig?

2.      Ist ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, dessen Währung der Euro ist, im Hinblick auf

–        die Art. 2 und 3 EUV und die Bestimmungen des Dritten Teils, Titel VIII AEUV, insbesondere die Art. 119, 120, 121, 122, 123, 125, 126 und 127 AEUV,

–        die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV festgelegte ausschließliche Zuständigkeit der Union für die Währungspolitik und den Abschluss internationaler Übereinkünfte, die in den Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 2 AEUV fallen,

–        die Zuständigkeit der Union für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik nach Art. 2 Abs. 3 AEUV und dem Dritten Teil, Titel VIII AEUV,

–        die Befugnisse und Funktionen der Unionsorgane nach den in Art. 13 EUV genannten Grundsätzen,

–        den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV,

–        die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere den allgemeinen Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit,

berechtigt, eine internationale Übereinkunft wie den ESM-Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren?

3.      Ist, falls der Beschluss des Europäischen Rates für gültig erklärt wird, die Berechtigung eines Mitgliedstaats, eine internationale Übereinkunft wie den ESM-Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren, vom Inkrafttreten dieses Beschlusses abhängig?

12.      Auf Antrag des vorlegenden Gerichts hat der Präsident des Gerichtshofs durch Beschluss vom 4. Oktober 2012 das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104a der Verfahrensordnung dem beschleunigten Verfahren unterworfen.

13.      Im Verfahren haben schriftlich Stellung genommen der Kläger sowie die belgische, deutsche, irische, griechische, spanische, französische, italienische, zyprische, niederländische, österreichische, slowakische und die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Europäische Rat und die Kommission. An der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2012 haben neben dem Kläger das Europäische Parlament sowie alle genannten Regierungen und Unionsorgane teilgenommen, mit Ausnahme der zyprischen und der österreichischen Regierung.

III – Rechtliche Würdigung

A –    Zur ersten Vorlagefrage: Gültigkeit des Beschlusses 2011/199

14.      Mit seiner ersten Frage will das vorlegende Gericht wissen, ob der Beschluss 2011/199 gültig ist im Hinblick auf die Anwendung des vereinfachten Änderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 6 EUV sowie im Hinblick auf den Inhalt der vorgeschlagenen Änderung.

1.      Zulässigkeit der Vorlagefrage

15.      Verschiedene Mitgliedstaaten bezweifeln ganz oder teilweise die Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage.

a)      Vorrang der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV

16.      Die irische Regierung hat vorgetragen, dass der Kläger die Gültigkeit des Beschlusses 2011/199 im Wege einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV hätte geltend machen müssen. Die Frist zur Klageerhebung sei insoweit jedoch bereits verstrichen. Es folge aber aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass ein indirektes Infragestellen der Gültigkeit der Handlung eines Organs im Ausgangsverfahren und im Wege eines entsprechenden Vorabentscheidungsersuchens nicht möglich sei, wenn dadurch die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV umgangen würden.

17.      Es ist zwar zutreffend, dass nach ständiger Rechtsprechung ein Einzelner, der die Handlung eines Organs nach Art. 263 AEUV hätte anfechten können und die hierfür vorgesehene Ausschlussfrist hat verstreichen lassen, nicht die Möglichkeit hat, danach vor den nationalen Gerichten die Rechtmäßigkeit dieser Handlung in Frage zu stellen.(2) Dies setzt jedoch nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung voraus, dass eine auf Art. 263 AEUV gestützte Klage gegen die streitige Bestimmung ohne jeden Zweifel zulässig gewesen wäre.(3) Diese Voraussetzung ist aber in der Person des Klägers offensichtlich nicht erfüllt, da er nicht ohne jeden Zweifel gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV unmittelbar und individuell durch den Beschluss 2011/199 betroffen ist und damit klagebefugt gewesen wäre.

b)      Prüfungskompetenz des Gerichtshofs

18.      Des Weiteren halten der Europäische Rat sowie verschiedene Mitgliedstaaten den zweiten Teil der ersten Vorlagefrage, der auf die inhaltliche Vereinbarkeit des Beschlusses 2011/199 mit dem Primärrecht gerichtet ist, für unzulässig.

19.      Sie vertreten die Auffassung, dass dem Gerichtshof hinsichtlich der Vereinbarkeit des Beschlusses 2011/199 mit den Verträgen und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Union eine Prüfungskompetenz nicht zustehe. Der Gerichtshof könne im vorliegenden Fall eines vertragsändernden Beschlusses allenfalls die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen prüfen, die in Art. 48 Abs. 6 EUV für die Änderung festgelegt sind, nicht aber, ob der Beschluss inhaltlich mit dem Primärrecht zu vereinbaren ist. Denn durch den Beschluss werde neues Vertragsrecht geschaffen, das grundsätzlich einer Gültigkeitskontrolle durch den Gerichtshof entzogen sei. Eine Überprüfung der materiellen Vereinbarkeit einer beschlossenen Vertragsänderung mit dem bestehenden Vertragsrecht würde zudem im Ergebnis Änderungen der Verträge ausschließen.

20.      Die Zulässigkeit des zweiten Teils der ersten Vorlagefrage richtet sich nach Art. 267 AEUV. Wie einige Mitgliedstaaten zu Recht vorgetragen haben, folgt aus einem Vergleich von Buchst. a und b dieser Vorschrift, dass der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung nicht über die Gültigkeit der Verträge, sondern nur über die Gültigkeit der Handlungen der Organe der Union entscheidet.

21.      Der Beschluss 2011/199 ist jedoch als solcher nicht zu den „Verträgen“ im Sinne von Art. 267 Abs. 1 Buchst. a zu zählen, sondern stellt gemäß Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 1 EUV nur eine Handlung im Rahmen einer Vertragsänderung dar. Der Europäische Rat zählt als Urheber des Beschlusses zudem gemäß Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu den Organen der Union. Folglich ist der Gerichtshof, wie verschiedene Mitgliedstaaten sowie die Kommission hervorgehoben haben, grundsätzlich zur Entscheidung über die Gültigkeit dieses Beschlusses berufen.

22.      Sodann stellt sich jedoch die Frage, in welchem Umfang der Gerichtshof die Gültigkeit eines Beschlusses zu beurteilen hat, der inhaltlich auf eine Vertragsänderung gerichtet ist.

23.      Zunächst ist festzustellen, dass insoweit eine Begrenzung der Prüfungskompetenz des Gerichtshofs auf die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen in den Verträgen nicht zu finden ist. Dieser Befund wiegt besonders schwer angesichts des Umstands, dass Art. 269 AEUV für einen anderen Fall, nämlich einen nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakt, eine solche Begrenzung ausdrücklich normiert. Folglich kann der Gerichtshof grundsätzlich auch den Inhalt und nicht nur das Verfahren eines nach Art. 48 Abs. 6 EUV gefassten Beschlusses zur Vertragsänderung überprüfen.

24.      Weiter gehend ist allerdings zu klären, an welchem Maßstab die inhaltliche Gültigkeit eines vertragsändernden Beschlusses zu messen ist.

25.      Einen ersten Maßstab bildet Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 3 EUV, wonach der Beschluss nicht zur Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union führen darf. Dies wird auch weder vom Europäischen Rat noch von den Mitgliedstaaten in Frage gestellt, obwohl diese Bestimmung nicht das Verfahren regelt, sondern eine inhaltliche Anforderung an den Beschluss stellt.

26.      Den zweiten Maßstab für die inhaltliche Gültigkeit des Beschluss bildet die gemäß Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 1 EUV bestehende Begrenzung auf Änderungen der Bestimmungen des Dritten Teils des AEUV.

27.      Hieraus folgt zunächst, dass der Beschluss inhaltlich nicht an eben jenen Bestimmungen des Dritten Teils gemessen werden kann. Ein ändernder Beschluss steht nahezu zwangsläufig im Konflikt mit den geltenden Bestimmungen des Dritten Teils des AEUV. Dies wird besonders deutlich bei einem Beschluss, der – wie nach Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 1 EUV ausdrücklich zulässig – sämtliche Bestimmungen des Dritten Teils des AEUV ändern würde. Würde man einen vertragsändernden Beschluss nun an eben diesen Bestimmungen des Dritten Teils des AEUV messen, müsste dies ebenso zwangsläufig zu seiner Ungültigkeit führen. Dies würde die Anwendung des vereinfachten Änderungsverfahrens des Art. 48 Abs. 6 EUV unmöglich machen. Ein Verstoß eines solchen Beschlusses gegen Bestimmungen des Vertrages, die sich im Dritten Teil des AEUV finden, kann vor diesem Hintergrund nicht existieren.

28.      Die Begrenzung auf eine Änderung nur des Dritten Teils des AEUV zwingt aber im Hinblick auf das an anderen Stellen geregelte Primärrecht zu einer Überprüfung. Denn nach Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 1 EUV darf der Europäische Rat keine Vorschriften außerhalb des Dritten Teils des AEUV ändern. Dies kann nicht nur in formeller Hinsicht, sondern muss, wie auch die italienische Regierung hervorhebt, ebenfalls in materieller Hinsicht gelten. Eine formelle Änderung des Dritten Teils des AEUV darf nicht zu einer materiellen Änderung von Primärrecht führen, das nach dem vereinfachten Änderungsverfahren gar nicht geändert werden darf.

29.      So ist es dem Europäischen Rat nicht nur verwehrt, einen Beschluss zur Änderung des Textes der Verträge außerhalb des Dritten Teils des AEUV zu erlassen. Er darf ebenso wenig den Text des Dritten Teils des AEUV in einer Weise ändern, die im Widerspruch zu den Bestimmungen des Primärrechts außerhalb dieses Teils steht.

30.      Denn würde man im Fall der Einfügung einer Bestimmung in den Dritten Teil des AEUV, die beispielsweise die zeitliche Suspendierung einer Bestimmung des Zweiten Teils anordnete oder für ihre Anwendung zusätzliche Bedingungen aufstellte, den Änderungsbeschluss des Europäischen Rates für gültig halten, so wäre die Begrenzung des vereinfachten Änderungsverfahrens auf Änderungen des Dritten Teils des AEUV aufgehoben. Dann könnten durch dieses Verfahren alle Bestimmungen der Verträge geändert werden, solange sich nur formell die jeweilige Vorschrift im Dritten Teil fände.

31.      Mit dieser Erkenntnis wird die grundsätzlich bestehende Kompetenz der Mitgliedstaaten, sämtliche Bestimmungen des Primärrechts zu ändern, nicht in Frage gestellt. Wird für eine Änderung aber – wie im vorliegenden Fall zweifellos geschehen(4) – das vereinfachte Änderungsverfahren gemäß Art. 48 Abs. 6 EUV gewählt, so sind auch dessen Grenzen einzuhalten. Insofern hängt der Umfang der Prüfung durch den Gerichtshof, anders als dies die französische Regierung vorgetragen hat, sehr wohl von dem jeweils gewählten Änderungsverfahren ab.

32.      Im Ergebnis ist damit ein gemäß Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 1 EUV erlassener Beschluss des Europäischen Rates auch an primärrechtlichen Bestimmungen zu messen, die sich außerhalb des Dritten Teils des AEUV finden. Insofern obliegt es dem Gerichtshof, zu prüfen, ob ein solcher Beschluss auf eine Vertragsänderung gerichtet ist, die sich auf eine Änderung des Dritten Teils des AEUV beschränkt oder sich als Änderung sonstigen Primärrechts darstellt.

33.      Vor diesem Hintergrund scheint es mir nicht begründbar, wie es aber die Kommission vorgetragen hat, eine solche Prüfung nur auf die Grundprinzipien des sonstigen Primärrechts zu beschränken. Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 1 EUV bietet für eine solche Differenzierung keinen Anhaltspunkt.

c)      Auslegung der ersten Vorlagefrage

34.      Die erste Vorlagefrage ist somit in dem Umfang zu prüfen, wie sie die Gültigkeit des Beschlusses 2011/199 im Hinblick auf die Einhaltung aller Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 6 EUV in Frage stellt. Dies schließt wie gesehen eine Prüfung im Hinblick auf das außerhalb des Dritten Teils des AEUV geregelte Primärrecht mit ein. Nach dieser Maßgabe ist der zweite Teil der Vorlagefrage, der sich auf das gesamte Primärrecht zu beziehen scheint, einschränkend auszulegen.

35.      Des Weiteren ist die Prüfung der Gültigkeit des Beschlusses 2011/199 auf die Ungültigkeitsgründe zu beschränken, die das vorlegende Gericht in der Begründung seiner Vorlageentscheidung aufgeführt hat.(5)

36.      Trotz der Formulierung des zweiten Teils der ersten Vorlagefrage ist es nach dieser Begründung erkennbar nicht die Absicht des vorlegenden Gerichts, die inhaltliche Übereinstimmung des Beschlusses 2011/199 mit sämtlichen Bestimmungen des Primärrechts in Frage zu stellen.

37.      Soweit außerdem in dem in der Vorlageentscheidung wiedergegebenen Klägervortrag angedeutet ist, dass auch eine Verringerung der Zuständigkeiten der Union durch den Beschluss 2011/199 dessen Rechtmäßigkeit beeinträchtige, hat weder das vorlegende Gericht einen solchen Ungültigkeitsgrund vorgebracht, noch hat der Kläger hierzu im Rahmen des vorliegenden Verfahrens Ausführungen gemacht.

2.      Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union

38.      Das vorlegende Gericht wirft als erstes die Frage auf, ob die Änderung des Art. 136 AEUV, die im Beschluss 2011/199 vorgesehen ist, zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten führt. Dies ist durch Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 3 EUV untersagt.

39.      Hierzu hat der Kläger vorgetragen, dass die Ergänzung des Art. 136 AEUV in versteckter Weise die Zuständigkeiten der Union ausdehne. Die Ergänzung ermächtige die Euro-Mitgliedstaaten, eine erweiterte Zusammenarbeit im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik zu betreiben. Diese Zusammenarbeit erfolge aber im Rahmen einer supranationalen Organisation, deren Entscheidungen bindend für diese Mitgliedstaaten seien. Im Ergebnis werde damit die Zuständigkeit der Union ausgedehnt, da das Unionsrecht nunmehr einen Bereich regeln solle, der zuvor den Mitgliedstaaten selbst vorbehalten gewesen sei.

40.      Ich kann mich dieser Sichtweise nicht anschließen.

41.      Nach dem neuen Abs. 3 Satz 1 des Art. 136 AEUV können die Euro-Mitgliedstaaten einen „Stabilitätsmechanismus einrichten“. Satz 2 des neuen Absatzes verdeutlicht, dass dieser „Mechanismus“ Finanzhilfen vergeben soll.

42.      Die geplante Änderung richtet sich folglich nur an die Mitgliedstaaten und regelt keine Befugnisse der Union. Des Weiteren besteht danach für die Mitgliedstaaten auch keine unionsrechtliche Pflicht zum Handeln.

43.      Darüber hinaus kann der Umstand allein, dass eine unionsrechtliche Regelung überhaupt getroffen wird, noch keine Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union im Sinne des Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 3 EUV darstellen. Andernfalls würde diese Vorschrift jegliche Ergänzung des Vertrages nach dem vereinfachten Änderungsverfahren des Art. 48 Abs. 6 EUV verhindern.

44.      Schließlich ist es zwar zutreffend, dass Pflichten, die das Unionsrecht für die Mitgliedstaaten regelt, je nach Gegenstand eine materielle Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union darstellen können. Eine solche Pflicht könnte im vorliegenden Fall allenfalls darin zu erkennen sein, dass der neue Art. 136 Abs. 3 Satz 2 AEUV vorsieht, dass die Gewährung von Finanzhilfen „strengen Auflagen“ unterliegen „wird“. Hieraus könnte gefolgert werden, dass den Mitgliedstaaten das freie Handeln im Bereich der Finanzhilfen durch Unionsrecht zukünftig untersagt sein soll.

45.      In jedem Fall ergibt sich aber aus dem Regelungszusammenhang(6) und der Entstehungsgeschichte(7), dass solche „strengen Auflagen“ einen wirtschaftspolitischen Gegenstand haben müssen. Für die Union besteht aber bereits nach Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 Halbsatz 2, Art. 119 Abs. 1 und Art. 120 ff. AEUV eine allgemeine Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik einschließlich der Regelung finanzieller Hilfen.

46.      Zuletzt ist aufgrund eines entsprechenden Vortrags des Klägers darauf hinzuweisen, dass etwaige Kompetenzübertragungen an Unionsorgane durch den ESM-Vertrag für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des einzufügenden Art. 136 Abs. 3 AEUV irrelevant sind. Entsprechend hat sich die Kommission im vorliegenden Verfahren geäußert. Denn es ist allein zu prüfen, ob die Regelung des neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV selbst gegen Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 3 EUV verstößt. Der ESM-Vertrag bestimmt aber nicht den Regelungsgehalt des Art. 136 Abs. 3 AEUV. Da der vorgesehene Art. 136 Abs. 3 AEUV selbst keine Kompetenzübertragungen an Unionsorgane anordnet, ist folglich insoweit ein Verstoß gegen Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 3 EUV ausgeschlossen.

47.      Im Ergebnis ist somit eine Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten durch den Beschluss 2011/199 nicht gegeben. Der Beschluss verstößt folglich nicht gegen Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 3 EUV.

3.      Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV

48.      Im Rahmen des zweiten Teils der ersten Vorlagefrage ist nun zu prüfen, ob die vorgesehene Ergänzung des Art. 136 Abs. 3 AEUV auf eine Änderung des Dritten Teils des AEUV beschränkt ist, wie es Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 2 Satz 1 EUV vorsieht. Dies wäre nicht der Fall, wenn diese Bestimmung materiell Vorschriften des Primärrechts außerhalb des Dritten Teils des AEUV ändern würde.

49.      Nach der Vorlageentscheidung bestehen insoweit allein substantiierte Zweifel hinsichtlich Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV, der die ausschließliche Zuständigkeit der Union für die Währungspolitik der Euro-Mitgliedstaaten vorsieht.

50.      Der Kläger hat hierzu vorgetragen, dass die Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV durch den Beschluss 2011/199 gegen Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV verstoße. Indem den Mitgliedstaaten durch die neue Bestimmung des AEUV die Befugnis gegeben würde, einen Stabilitätsmechanismus zur Stabilisierung des Euro-Währungsgebietes einzurichten, erhielten sie nämlich entgegen der Vorschrift Kompetenzen im Bereich der Währungspolitik.

51.      Unabhängig von der Frage, ob den Mitgliedstaaten nach dem Beschluss 2011/199 überhaupt eine Zuständigkeit im Bereich der Währungspolitik übertragen würde(8), ist auf die Rechtsfolgen einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union hinzuweisen. Gemäß Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 AEUV dürfen die Mitgliedstaaten nämlich im Bereich einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union gleichwohl tätig werden, wenn sie die Union hierzu ermächtigt. Eine durch Art. 3 AEUV vorgesehene ausschließliche Zuständigkeit der Union bedeutet damit nicht, dass allein die Union in diesem Bereich tätig werden darf.

52.      Eine etwaige Ermächtigung der Mitgliedstaaten zum Tätigwerden im Bereich einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union durch den vorgesehenen Art. 136 Abs. 3 AEUV würde somit keine materielle Änderung der Bestimmungen zur ausschließlichen Unionszuständigkeit nach den Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV bedeuten. Deren bisherige Geltung bliebe unangetastet.

53.      Somit ist im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV kein Verstoß des Beschlusses 2011/199 gegen die Beschränkungen des vereinfachten Änderungsverfahrens des Art. 48 Abs. 6 EUV festzustellen.

4.      Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit

54.      Schließlich wirft die Vorlageentscheidung im Zusammenhang mit dem Klägervortrag noch die Frage auf, ob die vorgesehene Ergänzung des Art. 136 AEUV gegen den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt.

55.      Nach Auffassung des Klägers ist die vorgesehene Bestimmung so vage formuliert, dass sie den Mitgliedstaaten ein Tätigwerden erlauben könnte, das über den Rahmen dessen hinausginge, was aufgrund einer Vertragsänderung im vereinfachten Änderungsverfahren des Art. 48 Abs. 6 EUV zulässig ist. Vertragsbestimmungen, die in diesem Verfahren erlassen würden, müssten aber die nach Art. 48 Abs. 6 EUV bestehenden Begrenzungen im Wortlaut selbst zum Ausdruck bringen, da ihnen nach ihrem Inkrafttreten die Grenzen des vereinfachten Änderungsverfahrens nicht mehr anzusehen seien.

56.      Dieses Vorbringen betrifft in Wirklichkeit keine Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, etwa in seiner Ausprägung als Bestimmtheitsgebot.(9) Es geht dem Kläger nicht darum, dass der vorgesehene Art. 136 Abs. 3 AEUV als solcher so unklar ist, dass der Normadressat seine daraus folgenden Pflichten nicht erkennen und die Norm somit keine Gültigkeit haben kann. Vielmehr ist sein Anliegen, dass aufgrund seiner vorgesehenen Einführung im vereinfachten Änderungsverfahren die Grenzen dieses Verfahrens auch im Wortlaut der Bestimmung zum Ausdruck kommen müssen, da er andernfalls unbegrenzt ausgelegt werden könnte. Dem Kläger geht es damit um den Umfang der aus Art. 48 Abs. 6 EUV folgenden Anforderungen an den Inhalt einer geänderten Vertragsbestimmung.

57.      Dem Kläger ist insoweit zuzustimmen, dass es in der Tat nicht hinzunehmen wäre, eine nach dem vereinfachten Änderungsverfahren des Art. 48 Abs. 6 EUV eingefügte Bestimmung in einer Weise anzuwenden, die beispielsweise entgegen Unterabs. 3 der Vorschrift eine Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union mit sich brächte. Eine solche Anwendung der eingefügten Vertragsbestimmung würde gegen Art. 48 Abs. 6 Unterabs. 3 EUV verstoßen.

58.      Aus diesem Grund muss eine nach dem vereinfachten Änderungsverfahren des Art. 48 Abs. 6 EUV erlassene Vertragsbestimmung zwingend in einer Weise ausgelegt werden, die den Begrenzungen dieses Verfahrens Rechnung trägt.

59.      Die Forderung des Klägers, wonach diese Begrenzung notwendigerweise im Wortlaut der geänderten Vertragsbestimmung ausgedrückt werden muss, geht daher von der falschen Prämisse aus, dass eine gemäß dem vereinfachten Änderungsverfahren ergänzte Bestimmung nach ihrem Inkrafttreten ihren Regelungsgehalt unabhängig von den Grenzen des Art. 48 Abs. 6 EUV entwickeln könnte. Dies ist nicht der Fall. Die Grenzen, die einer Vertragsänderung im Verfahren des Art. 48 Abs. 6 EUV auferlegt sind, bestimmen auch die Grenzen des Regelungsgehalts der geänderten Vertragsbestimmung.

60.      Durch dieses Erfordernis entsteht eine gewisse Hierarchisierung des Primärrechts, die eine Erhöhung der rechtstechnischen Komplexität des Unionsrechts zur Folge hat. Diese Hierarchisierung ist aber notwendige Folge der Restriktionen des vereinfachten Änderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 6 EUV.

61.      Ein künftiger Art. 136 Abs. 3 AEUV wäre damit zwingend in einer Weise auszulegen, die zum einen eine Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union ausschließt, zum anderen die Beachtung des außerhalb des Dritten Teils des AEUV geregelten Primärrechts sicherstellt. Vor diesem Hintergrund verstößt der Beschluss 2011/199 trotz seiner offenen Formulierung weder gegen Art. 48 Abs. 6 EUV noch gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

5.      Zwischenergebnis

62.      Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat damit nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses 2011/199 beeinträchtigen könnte.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage: Berechtigung zum Abschluss und zur Ratifizierung des ESM-Vertrages

63.      Mit seiner zweiten Frage will das vorlegende Gericht erfahren, ob ein Mitgliedstaat im Hinblick auf zahlreiche Bestimmungen des Primärrechts befugt ist, ein internationales Übereinkommen wie den ESM-Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren.

64.      Diese Vorlagefrage richtet sich auf die Auslegung des geltenden Rechts. Für ihre Beantwortung ist daher die durch den Beschluss 2011/199 vorgesehene Ergänzung des Art. 136 AEUV durch einen dritten Absatz – mangels bisherigen Inkrafttretens – nicht zu berücksichtigen. Obwohl der Europäische Rat in jenem Beschluss die Vertragsänderung als erforderlich für die Errichtung des ESM bezeichnet hat(10), ist nicht ausgeschlossen, dass der Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrags auch mit den geltenden Verträgen vereinbar sind. Entsprechend tragen sowohl der Europäische Rat als auch die Mitgliedstaaten nunmehr vor, dass die durch den Beschluss 2011/199 vorgesehene Vertragsänderung lediglich klarstellenden Charakter habe.

1.      Zulässigkeit der Vorlagefrage

65.      Verschiedene Verfahrensbeteiligte haben die Zulässigkeit der zweiten Vorlagefrage unter unterschiedlichen Gesichtspunkten in Frage gestellt.

a)      Prüfungskompetenz des Gerichtshofs

66.      Zunächst hat die spanische Regierung vorgetragen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage nicht zuständig sei. Bei dem ESM-Vertrag handele es sich um ein internationales Abkommen und nicht um Unionsrecht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei dieser für die Auslegung solcher Abkommen aber nur dann zuständig, wenn die Union Vertragspartei ist.(11)

67.      Zutreffend ist, dass der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV nur für die Auslegung des Unionsrechts zuständig ist. Gegenstand der zweiten Vorlagefrage ist jedoch allein die Auslegung des Unionsrechts, nicht hingegen die Auslegung des ESM-Vertrags. Das vorlegende Gericht will klären, welche Pflichten die in der zweiten Vorlagefrage aufgeführten Bestimmungen für die Mitgliedstaaten enthalten und ob diese Pflichten dem Abschluss und der Ratifikation eines internationalen Abkommens wie des ESM-Vertrags entgegenstehen. Der Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist folglich vergleichbar mit einem Vorabentscheidungsersuchen, das die Vereinbarkeit einer Regelung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht betrifft. In diesem Fall ist der Gerichtshof auch nicht berufen, das nationale Recht auszulegen.(12) Die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof hat in einem solchen Fall aber speziell im Hinblick auf den vom vorlegenden Gericht dargelegten Inhalt des nationalen Rechts zu erfolgen.

68.      Folglich ist der Gerichtshof für die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage zuständig.

b)      Ausreichende Angaben in der Vorlageentscheidung

69.      Darüber hinaus haben verschiedene Mitgliedstaaten die Zulässigkeit der zweiten Vorlagefrage insoweit in Frage gestellt, als das vorlegende Gericht nicht hinreichend dargelegt habe, inwieweit die in der zweiten Vorlagefrage aufgeführten Bestimmungen dem Abschluss und der Ratifikation des ESM-Vertrags entgegenstehen sollen. Insbesondere die französische Regierung hat in diesem Zusammenhang auch auf den Schutz der Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Möglichkeit zur Stellungnahme im Vorabentscheidungsersuchen hingewiesen.

70.      Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zurückweisen, wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.(13) Dabei müssen die Angaben in einer Vorlageentscheidung nicht nur dem Gerichtshof eine zweckdienliche Antwort ermöglichen, sondern sollen auch die Regierungen der Mitgliedstaaten sowie die sonstigen Beteiligten in die Lage versetzen, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs Erklärungen abzugeben.(14)

71.      Vor diesem Hintergrund sind die Einwände der Mitgliedstaaten gegen die Zulässigkeit teilweise berechtigt. Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage nimmt das vorlegende Gericht nämlich auf eine Vielzahl von Vertragsbestimmungen und sogar in Gänze auf den Titel VIII des Dritten Teils des AEUV Bezug. Die Begründung des Vorabentscheidungsersuchens enthält jedoch nicht zu jeder der dort aufgeführten Bestimmungen der Verträge Ausführungen. Insbesondere legt sie zu einigen Bestimmungen – dies gilt etwa für die von der slowakischen Regierung hervorgehobenen Art. 119 und 120 AEUV – nicht dar, inwieweit deren Auslegung fraglich erscheint. Insofern bedarf die zweite Vorlagefrage einer gewissen Konzentration, um den Anforderungen der Rechtsprechung an die notwendigen Angaben in einem Vorabentscheidungsersuchen zu genügen.

72.      Zur Begründung der zweiten Vorlagefrage nimmt das vorlegende Gericht auf fünf Rügen des Klägers Bezug und hat diese Rügen offenbar in die sechs Spiegelstriche der zweiten Vorlagefrage umgesetzt.(15) Anhand dieser Rügen ist deshalb der Inhalt der zweiten Vorlagefrage zu bestimmen, ohne dass sämtliche vom vorlegenden Gericht in der zweiten Vorlagefrage genannten Bestimmungen der Verträge hierfür einer Erörterung bedürfen.

73.      Nach diesen Rügen des Klägers verstößt der ESM-Vertrag gegen die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten (dazu unter 2) sowie gegen das sogenannte Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV (dazu unter 3). Der Kläger ist des Weiteren der Auffassung, dass der ESM entgegen den Verträgen neue Zuständigkeiten auf Unionsorgane übertrage (dazu unter 4). Außerdem sei der ESM-Vertrag mit dem Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 47 der Grundrechte-Charta und dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar (dazu unter 5). Schließlich stelle die Schaffung des ESM als selbständige internationale Organisation eine Umgehung der unionsrechtlichen Vorgaben dar, die mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV unvereinbar sei (dazu unter 6).

2.      Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten

74.      Als erstes ist damit zu klären, ob der Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrags gegen die Vorschriften der Verträge zur Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten verstoßen. Der Kläger ist der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten dadurch die Zuständigkeiten der Union für die Währungspolitik (dazu unter a), die Koordinierung der Wirtschaftspolitik (dazu unter b) sowie den Abschluss internationaler Übereinkünfte (dazu unter c) verletzen.

a)      Währungspolitik

75.      Gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV hat die Union die ausschließliche Zuständigkeit im Bereich der „Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“. Nach Art. 2 Abs. 1 AEUV dürfen die Mitgliedstaaten in diesem Bereich nur dann selbst tätig werden, „wenn sie von der Union ermächtigt werden, oder um Rechtsakte der Union durchzuführen“.

76.      Der Kläger trägt in diesem Zusammenhang vor, dass die Zielrichtung des ESM-Vertrags im Schutz der Euro-Währung liege. Darüber hinaus werde die Tätigkeit des ESM offensichtlich die Geldmenge und damit die Preisstabilität im Euro-Währungsgebiet beeinflussen. Somit habe sie direkte Auswirkungen auf die Währungspolitik, die ausschließlich in den Händen der Union und der Europäischen Zentralbank liege.

77.      Die am Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten vertreten hingegen die Auffassung, dass der ESM-Vertrag die ausschließliche Zuständigkeit der Union im Bereich der Währungspolitik nicht verletzt. In diesem Sinne haben verschiedene Mitgliedstaaten zudem die Einschätzung geäußert, die Tätigkeit des ESM stelle Wirtschafts- und nicht Währungspolitik dar.

78.      Weder enthält das Primärrecht eine explizite Definition des Begriffs der Währungspolitik, noch hat der Gerichtshof bislang eine solche vorgenommen. Allerdings wird der Bereich der Währungspolitik für die Euro-Mitgliedstaaten durch das Kapitel 2 des Titels VIII des AEUV ausgefüllt, das die Überschrift „Die Währungspolitik“ trägt. Zur Definition des Bereichs der Währungspolitik sind daher die Bestimmungen dieses Kapitels heranzuziehen.

79.      Das Kapitel zur Währungspolitik beschreibt mit seinen Art. 127 bis 133 im Wesentlichen die Aufgaben, Befugnisse und Verfassung des Europäischen Systems der Zentralbanken (im Folgenden: ESZB), das gemäß Art. 282 Abs. 1 Satz 2 AEUV die Währungspolitik der Union alleine betreibt. Art. 127 Abs. 2 AEUV beschreibt als „grundlegende Aufgaben“ des ESZB die Geldpolitik, Devisengeschäfte im Einklang mit der Wechselkurspolitik nach Art. 219 AEUV, die Verwaltung der Währungsreserven der Mitgliedstaaten und die Förderung der Funktion der Zahlungssysteme. Diese Aufgaben beschreiben somit den Umfang der Währungspolitik im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV.

80.      Zu prüfen ist, ob der ESM-Vertrag mit diesen Aufgaben des ESZB in Konflikt gerät.

81.      Der ESM soll seinen Mitgliedern nach Art. 3 Satz 1 des ESM-Vertrags „Stabilitätshilfe“ bereitstellen, wenn die sonstigen Finanzierungsmöglichkeiten eines ESM-Mitglieds beeinträchtigt sind.(16) Die Hilfe muss danach „unabdingbar“ sein, für die „Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedstaaten“. Wie die in den Art. 14 bis 18 ESM-Vertrag im Einzelnen aufgeführten „Finanzhilfeinstrumente“ belegen, geht es im Wesentlichen darum, den ESM-Mitgliedern unter bestimmten Bedingungen sowie mit Auflagen versehen Darlehen zur Finanzierung ihres Staatshaushaltes zur Verfügung zu stellen.

82.      Eine derartige Kreditvergabe fällt als solche unter keine der Aufgaben des ESZB nach Art. 127 Abs. 2 AEUV. Hinzu kommt, dass die Art. 123 und 124 AEUV, die sich unmittelbar mit den Finanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten befassen, im Kapitel über die Wirtschaftspolitik und gerade nicht im Kapitel über die Währungspolitik angesiedelt sind.

83.      Anderes ist auch nicht unter Berücksichtigung der mit den Darlehen verbundenen Auflagen festzustellen. Die möglichen Auflagen reichen nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 ESM-Vertrag „von einem makroökonomischen Anpassungsprogramm bis zur kontinuierlichen Erfüllung zuvor festgelegter Anspruchsvoraussetzungen“. Aus dieser Formulierung ist zwar nicht unmittelbar ersichtlich, welchen Inhalt Auflagen haben können, außer dem eines makroökonomischen Anpassungsprogramms. Wie sich aber aus Art. 13 Abs. 3 Unterabs. 2 ESM-Vertrag ergibt, sollen die mit dem betreffenden ESM-Mitglied vereinbarten Auflagen „in voller Übereinstimmung mit den im AEUV vorgesehenen Maßnahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung“ stehen. Die Auflagen haben demzufolge wirtschafts- und nicht währungspolitischen Charakter.

84.      Die Tätigkeit des ESM stellt auch nicht deshalb Geldpolitik und damit gemäß Art. 127 Abs. 2 AEUV Währungspolitik dar, weil sie die Geldmenge unmittelbar beeinflussen könnte. Dies ist, anders als dies der Kläger vorgetragen hat, nicht der Fall. Der ESM ist keine Geschäftsbank, die durch Ausgabe von Krediten Giralgeldschöpfung betreiben kann. Die vom ESM ausgegebenen Darlehen müssen vielmehr vollumfänglich durch eingezahltes Stammkapital oder gemäß Art. 3 Satz 2 ESM-Vertrag durch Aufnahme von Krediten finanziert werden.

85.      Schließlich ist hervorzuheben, dass – wie die deutsche Regierung in Teilen zu Recht vorgetragen hat – nicht jede Form der Wirtschaftspolitik nur deshalb zur Währungspolitik gerechnet werden kann, weil sie mittelbar Auswirkungen auf die Preisstabilität des Euro haben kann. Andernfalls wäre die gesamte Wirtschaftspolitik dem ESZB vorbehalten und die Regelungen des Vertrags über die wirtschaftspolitische Koordinierung im Rahmen der Union liefen leer.

86.      Im Ergebnis ist somit festzustellen, dass eine Regelung wie der ESM-Vertrag die ausschließliche Zuständigkeit der Union für die Währungspolitik der Euro-Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV nicht berührt.

b)      Koordinierung der Wirtschaftspolitik

87.      Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, ob Abschluss und Ratifikation des ESM-Vertrags im Einklang mit der Zuständigkeit der Union für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten stehen.

88.      Nach Art. 2 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 1 AEUV koordinieren die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik im Rahmen der Union. Hierfür enthalten insbesondere die Art. 120 und 121 AEUV Regeln, die unter anderem in Art. 121 Abs. 2 AEUV Empfehlungen des Rates für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten vorsehen. Darüber hinaus enthält das Kapitel zur Wirtschaftspolitik den Art. 126 AEUV, in dem zur Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite der Mitgliedstaaten bestimmte Verfahren geregelt sind, die unter anderem in Abs. 7 Empfehlungen des Rates zum Abbau eines übermäßigen Defizits sowie in Abs. 11 mögliche Sanktionen enthalten.

89.      Der Kläger ist der Auffassung, dass die im Rahmen der Stabilitätshilfe des ESM vereinbarten Auflagen in ihrer Funktion den Empfehlungen nach den Art. 121 und 126 AEUV entsprechen. Da nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 AEUV die Mitgliedstaaten in einem Bereich geteilter Zuständigkeit nur tätig werden dürften, soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt habe, greife der ESM damit rechtswidrig in die Zuständigkeit der Union ein.

90.      Diese Sichtweise teile ich nicht.

91.      Soweit sich die Auflagen eines durch den ESM gewährten Finanzhilfeinstruments gemäß Art. 13 Abs. 3 Unterabs. 2 ESM-Vertrag an der wirtschaftspolitischen Koordinierung im Rahmen der Union ausrichten, wird dadurch die Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedstaaten nicht koordiniert, sondern die auf Unionsebene bereits erfolgte Koordination lediglich auf diesem Wege durchgesetzt.

92.      Soweit sich die Auflagen hingegen außerhalb der bereits erfolgten Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf Unionsebene bewegen, kann von einer Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten durch den ESM schon deshalb nicht gesprochen werden, weil die Auflagen Vorgaben des ESM an einen einzelnen Mitgliedstaat und keine Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten untereinander darstellen. Im Übrigen ist auch ein Sanktionscharakter der Auflagen im Rahmen des ESM nicht zu erkennen.

93.      Vor diesem Hintergrund muss zum einen die Frage nicht entschieden werden, ob die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten nach den Art. 2 Abs. 3 und Art. 5 AEUV überhaupt eine geteilte Zuständigkeit der Union darstellt. Hiergegen spricht, dass diese Vorschriften eine besondere, von den übrigen Zuständigkeitsregeln des Vertrages abweichende Formulierung enthalten, nach der die Union nicht die Zuständigkeit für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten hat, sondern diese ihre Wirtschaftspolitik lediglich im Rahmen der Union koordinieren. Art. 4 AEUV, der die Bereiche der geteilten Zuständigkeit festlegt, setzt nach seinem Abs. 1 jedoch eine Zuständigkeit der Union voraus und legt in seinem Abs. 2 auch keine geteilte Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik fest.

94.      Zum anderen kann dahinstehen, ob die im vorliegenden Verfahren seitens der Kommission vertretene Auffassung zutreffend ist, wonach Art. 5 Abs. 1 AEUV in der Weise auszulegen ist, dass eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten grundsätzlich allein innerhalb der Union, nicht aber auf anderer Ebene erfolgen dürfe.

95.      Folglich verstößt eine Regelung wie der ESM-Vertrag auch nicht gegen die Art. 2 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 1 AEUV.

c)      Abschluss internationaler Übereinkünfte

96.      In Bezug auf die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten ist schließlich noch zu prüfen, ob dem Abschluss und der Ratifikation des ESM-Vertrags die ausschließliche Zuständigkeit der Union für den Abschluss internationaler Übereinkünfte gemäß Art. 3 Abs. 2 AEUV entgegensteht.

97.      Die ausschließliche Zuständigkeit der Union ist nach dieser Vorschrift insbesondere gegeben, soweit der Abschluss einer internationalen Übereinkunft „gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte“. Nach Auffassung des Klägers neigt der ESM-Vertrag zur Beeinträchtigung der Unionsregeln zur Wirtschafts- und Währungspolitik.

98.      Hierzu ist festzustellen, dass Art. 3 Abs. 2 AEUV, wie sich auch im Zusammenhang mit Art. 216 AEUV ergibt, allein die ausschließliche Zuständigkeit der Union für Übereinkünfte mit Drittstaaten und internationalen Organisationen regelt. Insoweit ist den Mitgliedstaaten nach dieser Vorschrift in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 AEUV nur untersagt, derartige Abkommen mit Drittstaaten zu schließen. Vertragsparteien des ESM-Vertrags sind jedoch nur Mitgliedstaaten.

99.      Eine Missachtung des Art. 3 Abs. 2 AEUV durch eine Regelung wie den ESM-Vertrag ist deshalb von vornherein nicht zu erkennen. Soweit der Vortrag des Klägers zu Art. 3 Abs. 2 AEUV letztlich darauf beruht, dass er im ESM-Vertrag eine Beeinträchtigung der Unionsregeln zur Wirtschafts- und Währungspolitik sieht, ist hierauf im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes des Abschlusses und der Ratifikation des ESM-Vertrags gegen die entsprechenden Bestimmungen einzugehen.

3.      Das sogenannte Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV

100. So könnte Art. 125 AEUV dem Abschluss und der Ratifikation eines Vertrags wie des ESM-Vertrags entgegenstehen.

101. Nach Auffassung des Klägers ist der ESM-Vertrag mit Art. 125 AEUV unvereinbar. Er stelle im Ergebnis eine Garantie für die bestehenden Verbindlichkeiten der Euro-Mitgliedstaaten dar. Art. 125 AEUV verbiete außerdem eine im ESM-Vertrag aus Sicht des Klägers vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, finanzielle Mittel zum Zweck der Übernahme von Schulden eines anderen Mitgliedstaats zu gewähren. An diesem Befund ändere auch der Umstand nichts, dass Finanzhilfen nach dem ESM-Vertrag nur unter Auflagen gewährt würden.

102. Aus Sicht des Klägers verstoßen jedoch nicht nur die Finanzhilfeinstrumente des ESM, sondern auch die Bestimmungen zum Kapitalabruf gegen Art. 125 AEUV. So stelle die Regelung des Art. 25 Abs. 2 ESM-Vertrag über einen erhöhten Kapitalabruf bei Säumigkeit eines ESM-Mitglieds eine Garantie der ESM-Mitglieder für die Schuld anderer ESM-Mitglieder dar.

103. Im Folgenden ist daher zu prüfen, ob Art. 125 AEUV ein Verbot im Hinblick auf die im ESM-Vertrag geregelten Finanzhilfeinstrumente (dazu unter a) sowie die Reglungen zum Kapitalabruf (dazu unter b) zu entnehmen ist.

a)      Finanzhilfeinstrumente gemäß Art. 14 bis 18 ESM-Vertrag

104. Der ESM-Vertrag regelt in den Art. 14 bis 18 mehrere „Finanzhilfeinstrumente“. Die Art. 14 bis 16 ermöglichen die Vergabe verschiedener Arten von Darlehen an die ESM-Mitglieder. Nach den Art. 17 und 18 kann der ESM zudem befähigt werden, Anleihen eines ESM-Mitglieds von diesem selbst oder einem Dritten zu kaufen. Nach Art. 12 Abs. 1 und 2 ESM-Vertrag darf der ESM diese Finanzhilfeinstrumente nur „unter strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen“ gewähren.

105. Sämtliche Mitgliedstaaten und die am Verfahren beteiligten Unionsorgane vertreten die Ansicht, dass Art. 125 AEUV die Finanzhilfeinstrumente des ESM jedenfalls dann nicht untersagt, wenn die Bedingungen des künftigen Art. 136 Abs. 3 AEUV erfüllt sind. Dieser setzt voraus, dass ein Handeln zur Wahrung der Stabilität des Euro-Währungsgebietes unabdingbar ist und die Finanzhilfen „strengen“ Auflagen unterliegen.

i)      Handeln der Mitgliedstaaten

106. Vorab ist zu klären, ob Abschluss und Ratifikation des ESM-Vertrags durch die Mitgliedstaaten mit dem Einsatz von Finanzhilfeinstrumenten durch den ESM in einem hinreichenden Zusammenhang stehen, um einen Verstoß der Mitgliedstaaten gegen Art. 125 AEUV begründen zu können.

107. Einige Mitgliedstaaten haben in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass Art. 125 Abs. 1 Satz 2 AEUV nur ein Verbot für die Mitgliedstaaten enthalte, nicht aber für eine selbständige internationale Organisation wie den ESM. Folglich sei diese Bestimmung von vornherein nicht auf die Tätigkeit des ESM anwendbar.

108. Gemäß Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV haftet „ein Mitgliedstaat“ zum einen nicht für die Verbindlichkeiten jeglicher öffentlich-rechtlicher Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats (erste Alternative). Zum anderen tritt er gemäß dieser Bestimmung auch nicht für derartige Verbindlichkeiten ein (zweite Alternative).

109. Obwohl es sich bei dem ESM um eine eigenständige internationale Organisation handelt, haben die Mitgliedstaaten ihr Handeln im Rahmen dieser Organisation an den Vorgaben des Unionsrechts auszurichten. Denn die Mitgliedstaaten müssen bei der Durchführung von Vereinbarungen, die sie aufgrund von internationalen Abkommen eingegangen sind, ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht beachten.(17) Damit sind die Mitgliedstaaten insbesondere bei der Beschlussfassung über die hier zu prüfenden Finanzhilfeinstrumente an die Vorgaben des Art. 125 AEUV gebunden. Deren Gewährung bedarf nach den Art. 14 bis 18 ESM-Vertrag jeweils eines Beschlusses des Gouverneursrates, der gemäß Art. 5 ESM-Vertrag aus je einem Vertreter der Regierungen der ESM-Mitglieder besteht.

110. Ein Verstoß der Gewährung eines solchen Finanzhilfeinstruments gegen Art. 125 AEUV setzt nicht notwendig eine Bindung des ESM an diese Vorschrift voraus. Vielmehr stellt sich die Frage, ob die Mitgliedstaaten dadurch, dass sie die Gewährung eines Finanzhilfeinstruments durch den ESM bewirken, die Vorgaben des Art. 125 AEUV missachten. Da die Mitgliedstaaten den ESM vollständig kontrollieren und die finanziellen Mittel des ESM gemäß Art. 9 ESM-Vertrag zumindest teilweise aus eingezahltem Stammkapital der Mitgliedstaaten stammen, ist ein Verstoß der Mitgliedstaaten gegen Art. 125 AEUV aufgrund der Gewährung von Finanzhilfeinstrumenten durch den ESM nicht von vornherein durch den Umstand ausgeschlossen, dass die Finanzhilfeinstrumente durch den ESM und nicht unmittelbar aus den Haushalten der Mitgliedstaaten finanziert werden. Im Zusammenhang mit jedem einzelnen Finanzhilfeinstrument des ESM ist folglich zu prüfen, ob seine Gewährung eine Haftung der Mitgliedstaaten oder ein Eintreten der Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates bewirkt.

111. Darüber hinaus könnten nicht nur die Gewährung der Finanzhilfeinstrumente selbst, sondern bereits der Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrages durch die Mitgliedstaaten einen Verstoß gegen Art. 125 AEUV begründen. Zwar werden die Finanzhilfeinstrumente des ESM durch den Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrages noch nicht gewährt, weil sie jeweils erst eines Beschlusses des Gouverneursrates bedürfen. Auch sind die Regierungsvertreter bei der Ausübung ihres Stimmrechts nach dem Inkrafttreten des ESM-Vertrags wie gesehen ohnehin an Art. 125 AEUV gebunden. Trotz dieser Bindung würden jedoch bereits der Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrags gegen Art. 125 AEUV verstoßen, falls die Finanzhilfeinstrumente des ESM-Vertrags gar nicht im Einklang mit Art. 125 AEUV beschlossen werden könnten, weil ihre Gewährung zwangsläufig in Konflikt mit dieser Vorschrift geriete.

112. Somit würden die Mitgliedstaaten bereits durch den Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrags gegen Art. 125 AEUV verstoßen, wenn ihnen nach dieser Vorschrift die Gewährung von Finanzhilfeinstrumenten durch den ESM gemäß den Art. 14 bis 18 ESM-Vertrag grundsätzlich untersagt ist. Letzteres setzt voraus, dass die Gewährung derartiger Finanzhilfeinstrumente den Mitgliedstaaten selbst verboten wäre und sich ihre Gewährung durch den ESM als Handeln der Mitgliedstaaten darstellte, was im Folgenden zu prüfen sein wird.

ii)    Der ESM als Garantie für Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaats

113. Im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Finanzhilfeinstrumente ist zunächst der Vortrag des Klägers zu prüfen, wonach der ESM-Vertrag insgesamt eine Garantie für die bestehenden Verbindlichkeiten der Euro-Mitgliedstaaten darstelle und damit gegen Art. 125 AEUV verstoße.

114. Wie die Kommission zutreffend hervorgehoben hat, wird mit dem in der ersten Alternative des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV vorgesehenen Haftungsausschluss zunächst klargestellt, dass aus der Existenz der Währungsunion keine implizite gegenseitige Garantie für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten abgeleitet werden kann. Unionsrechtlich besteht demzufolge für keinen Mitgliedstaat die Pflicht, die Gläubiger eines anderen Mitgliedstaats zu befriedigen.

115. Außerdem enthält Art. 125 AEUV aber auch ein Verbot freiwilliger Haftungsübernahme. Denn der zweite Halbsatz des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 AEUV nimmt von der Vorschrift gegenseitige finanzielle Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens aus. Wenn eine solche Ausnahme explizit geregelt ist, folgt daraus im Gegenschluss, dass grundsätzlich bereits die freiwillige Begründung einer Haftungsverpflichtung für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats gegen Art. 125 AEUV verstoßen würde.

116. Die Finanzhilfeinstrumente des ESM-Vertrags stellen allerdings keine solche Garantie für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats dar. Wie bereits ausgeführt, bedürfen die Finanzhilfeinstrumente jeweils eines Beschlusses des Gouverneursrats(18), so dass insoweit schon keine Verpflichtung des ESM besteht. Außerdem garantieren weder Darlehen noch Anleihekäufe den Gläubigern eines Mitgliedstaats die Rückzahlung ihrer Forderungen. Obwohl es auch eine Aufgabe des ESM zu sein scheint, das Vertrauen in die Bonität der ESM-Mitglieder zu stärken(19), ist mit den Finanzhilfeinstrumenten, die dem ESM hierfür zur Verfügung stehen, eben keine Garantie der Verbindlichkeiten seiner Mitgliedstaaten verbunden. Insofern kann auch offen bleiben, ob eine etwaige Garantie des ESM auch als eine solche der Mitgliedstaaten zu sehen wäre.

117. Folglich stellen die Finanzhilfeinstrumente des ESM-Vertrags insgesamt keine Garantie der Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten dar. Insoweit verstoßen sein Abschluss und seine Ratifikation nicht gegen Art. 125 AEUV.

iii) Darlehen als Eintreten für Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaats

118. Des Weiteren stellt sich die Frage, ob Art. 125 AEUV den Mitgliedstaaten die Vergabe von Darlehen an ein ESM-Mitglied durch den ESM verbietet. Dies setzt voraus, dass den Mitgliedstaaten die Vergabe solcher Darlehen untersagt ist und die Darlehensvergabe durch den ESM eine solche der Mitgliedstaaten ist.

119. Darlehen stellen zunächst keine Haftung für Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates dar.(20) Über den Ausschluss einer Haftungsverpflichtung hinaus verbietet aber die zweite Alternative des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV den Mitgliedstaaten auch, für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten einzutreten. Zu prüfen ist, ob dieses Verbot auch die Gewährung von Darlehen einbezieht.

–       Wortlaut und Systematik

120. Der deutsche Wortlaut bedient sich mit dem „Eintreten für Verbindlichkeiten“ keiner rechtlich geläufigen Begrifflichkeit.(21) Nach dem gewöhnlichen deutschen Wortsinn dieser Formulierung kann dies sowohl die Übernahme der Verbindlichkeit anstelle des Schuldners, also das Begründen einer eigenen Schuld, als auch das tatsächliche Erfüllen der fremden Verbindlichkeit bezeichnen. Während die französische Fassung der Bestimmung mit „les prend à sa charge“ Gleiches auszudrücken scheint, dürfte der Schwerpunkt der englischen Fassung mit „assume the commitments“ eher auf der Übernahme der Schuld als auf ihrer Erfüllung liegen.

121. Wenn damit auch gewisse Nuancen in den Sprachfassungen zu bestehen scheinen, ist ihnen doch ein unmittelbares Handeln eines Mitgliedstaates im Hinblick auf die Verbindlichkeit eines anderen Mitgliedstaats gemeinsam. Das Verbot des Eintretens für Verbindlichkeiten untersagt einem Mitgliedstaat nach dem Wortlaut des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV folglich, sich die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates zu eigen zu machen, entweder indem er sie durch Zahlung erfüllt oder indem er sich selbst zum Schuldner der Verbindlichkeit macht, die er dann zu einem späteren Zeitpunkt zu erfüllen hat.

122. Diese Voraussetzungen erfüllt die Gewährung eines Darlehens nicht. Mit einem Darlehen wird eine bestehende Verbindlichkeit eines anderen Mitgliedstaates weder übernommen noch erfüllt, sondern eine weitere Verbindlichkeit jenes Mitgliedstaats begründet.

123. Die übrigen Bestimmungen der Verträge bieten auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV die Vergabe von Darlehen unter Mitgliedstaaten verböte. Zwar ist zutreffend, dass der Vertrag bestimmte Fälle einer Darlehensvergabe an Mitgliedstaaten an Voraussetzungen knüpft. So sieht Art. 143 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c AEUV die „Bereitstellung von Krediten“ an Mitgliedstaaten, deren Währung nicht der Euro ist, durch andere Mitgliedstaaten vor. Dies geschieht aufgrund eines Rechtsaktes des Rates bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten außerhalb der Währungsunion. Außerdem regelt Art. 122 Abs. 2 AEUV einen „finanziellen Beistand“ der Union zugunsten eines Mitgliedstaats, der auch Darlehen umfassen dürfte.

124. Aus der Existenz dieser Bestimmungen kann jedoch entgegen der Auffassung des Klägers nicht geschlossen werden, dass das Unionsrecht im Übrigen jede Vergabe eines Darlehens an einen Mitgliedstaat verbietet. Zum einen findet sich in Art. 125 AEUV keine Bezugnahme auf Art. 143 oder 122 AEUV. Somit ist nicht erkennbar, dass diese Vorschriften als Ausnahmen zu einem grundsätzlichen Verbot des Art. 125 AEUV zu sehen wären. Zum anderen betreffen beide Regelungen des Vertrags, die sich mit der Darlehensvergabe an Mitgliedstaaten befassen, nicht den vorliegenden Fall eines Darlehens unter Euro-Mitgliedstaaten. Während Art. 122 Abs. 2 AEUV Darlehen seitens der Union betrifft, behandelt Art. 143 AEUV Abs. 2 Satz 2 Buchst. c ebenfalls eine Unionsmaßnahme mit Hilfe finanzieller Mittel der Mitgliedstaaten, mit der allein Mitgliedstaaten ein Darlehen gewährt werden kann, die den Euro nicht als Währung haben. Die Voraussetzungen der Darlehensvergabe gemäß den Art. 122 Abs. 2 und 143 Abs. 2 AEUV werden somit nicht obsolet, wenn Darlehen unter Euro-Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht keinen Beschränkungen unterliegen.

125. Insbesondere aber stehen Maßnahmen der Union und Maßnahmen der Mitgliedstaaten in einem anderen Kontext. Für Unionsmaßnahmen gilt gemäß Art. 4 Abs. 1 und 5 Abs. 1 Satz 1 EUV der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, für mitgliedstaatliches Handeln das Prinzip der Allzuständigkeit. Vor diesem Hintergrund ermächtigen die Art. 122 Abs. 2 und 143 Abs. 2 AEUV die Union zur Kreditvergabe; derartiger Ermächtigungen bedürfen die Mitgliedstaaten hingegen nicht. Aus Einzelermächtigungen der Union zur Kreditvergabe und damit verbundenen restriktiven Voraussetzungen auf ein an die Mitgliedstaaten gerichtetes umfassendes Verbot der Darlehensvergabe zu schließen, würde den Grundsätzen zur Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und der Union daher widersprechen.

–       Ziele des Art. 125 AEUV

126. Fraglich ist jedoch, ob diese Feststellungen nach Wortlaut und Systematik des Art. 125 AEUV nicht durch Sinn und Zweck dieser Vorschrift in Frage gestellt werden.

127. Zur Erfassung des mit Art. 125 AEUV verfolgten Ziels kann auch auf die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände bei Vertragsabschluss zurückgegriffen werden. Diese dienen als ergänzende Auslegungsmittel.

128. Art. 125 AEUV führt im Wesentlichen den durch den Vertrag von Maastricht(22) eingefügten Art. 104b EG fort. Aus der Begründung des Kommissionsentwurfs, der Art. 104b EG zugrunde lag, ergibt sich, dass diese Bestimmung neben den jetzigen Art. 123 und 124 AEUV geschaffen wurde, um überhöhten Haushaltsdefiziten und Schulden der Mitgliedstaaten entgegen zu wirken. Diese wurden – unter anderem aufgrund befürchteter Instabilitäten auf den Finanzmärkten – als Gefahr für die monetäre Stabilität und den Fortbestand der Wirtschafts- und Währungsunion angesehen.(23) Um überhöhte Schulden der Mitgliedstaaten zu vermeiden, sollte die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten unter anderem dadurch gefördert werden, dass die Aufnahme von Schulden erschwert wird.

129. Hierzu dienen die Art. 123 bis 125 AEUV. Art. 123 AEUV verwehrt den Mitgliedstaaten eine Finanzierung über die Zentralbanken. Art. 124 AEUV untersagt darüber hinaus einen bevorzugten Zugang der Mitgliedstaaten zu sonstigen Finanzinstituten.

130. Schließlich sollte Art. 125 AEUV nach dem Kommissionsentwurf verhindern, dass ein Mitgliedstaat auf eine bedingungslose Garantie seiner öffentlichen Schuld durch die Union oder einen anderen Mitgliedstaat vertraut.(24) Der nach dem Entwurf vorgeschlagene Art. 104a EG war noch auf ein Verbot der „Gewährung durch die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten einer bedingungslosen Bürgschaft für die Schulden eines Mitgliedstaates“ beschränkt. Im Zuge der Verhandlungen der Mitgliedstaaten über den Vertrag von Maastricht wurde das Verbot auf die jetzige Form erweitert, die sich erstmals im Vorschlag der niederländischen Ratspräsidentschaft findet.(25) Insbesondere die Ergänzung eines Verbots des Eintretens für Verbindlichkeiten soll auf einen Vorschlag der deutschen Regierung zurückgehen.(26) Zu diesem Vorschlag, seinen genauen Beweggründen und insbesondere seinem Verständnis innerhalb der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten existieren jedoch jedenfalls keine allgemein zugänglichen Quellen.

131. Vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte sollte Art. 125 AEUV damit offenbar zumindest das Vertrauen der Mitgliedstaaten auf eine Tilgung ihrer Schulden durch andere Mitgliedstaaten ausschließen und sie dadurch zu einer maßvollen Haushaltspolitik anhalten.

132. Darüber hinaus halte ich den Vortrag des Europäischen Rates sowie einiger Mitgliedstaaten für zutreffend, wonach Art. 125 AEUV auch darauf abzielt, die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten dadurch sicherzustellen, dass die disziplinierende Wirkung von Zinsaufschlägen auf den Kapitalmärkten je nach individuellem Finanzgebaren der Mitgliedstaaten nach der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion erhalten bleibt. Denn das Maß dieser Zinsaufschläge orientiert sich idealerweise an den Erwartungen der potenziellen Gläubiger im Hinblick auf die unterschiedliche Bonität der einzelnen Mitgliedstaaten. Für die Bonität ist wiederum die finanzielle Leistungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaates entscheidend. Art. 125 AEUV verfolgt damit auch das Ziel, diese Leistungsfähigkeit von der finanziellen Leistungsfähigkeit anderer Mitgliedstaaten unabhängig zu machen.

133. Beide Ziele – die Verhinderung des Vertrauens der Schuldner-Mitgliedstaaten sowie der Kapitalmärkte auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der anderen Mitgliedstaaten – würden in größtmöglichem Umfang erreicht, wenn den Mitgliedstaaten jegliche finanzielle Leistung an andere Mitgliedstaaten verboten wäre. Denn jede finanzielle Leistung kann vom Empfänger-Mitgliedstaat auch dazu verwendet werden, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen. Dies gilt nicht nur für Leistungen im Rahmen von Darlehen, sondern zum Beispiel auch für die Zuführung von Liquidität beim Verkauf von Gütern eines Mitgliedstaates an einen anderen Mitgliedstaat. Dies würde zwar auf ein Handels- und Geschäftsverbot der Mitgliedstaaten untereinander hinauslaufen, allen Beteiligten wäre aber bei einem solch umfassenden Verbot klar, dass ein Mitgliedstaat, der Verbindlichkeiten begründet, keinerlei finanzielle Hilfe von anderen Mitgliedstaaten erhält, in welcher Form auch immer. Die Erfüllung sämtlicher Verbindlichkeiten wäre dann allein von der individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit des schuldnerischen Mitgliedstaates abhängig.

134. Dieser Weg wurde mit Art. 125 AEUV jedoch nicht beschritten. Dort wurde erkennbar kein Verbot jeglicher finanzieller Leistungen zugunsten eines Mitgliedstaats normiert.

135. Vor dem Hintergrund der Zielrichtung des Art. 125 AEUV wäre es allerdings denkbar, über eine weite Auslegung dieser Vorschrift zumindest auch solche finanziellen Leistungen auszuschließen, die im Ergebnis wie eine Erfüllung der Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates wirken können. Damit würde der Anwendungsbereich der zweiten Alternative des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV auf ein nur mittelbares Eintreten für Verbindlichkeiten erweitert. Ein solches könnte beispielsweise angenommen werden, wenn ein Darlehen einen Mitgliedstaat erst in die Lage versetzt, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen. Besonders augenfällig wäre dies dann, wenn sich der Umfang des Darlehens nach der Höhe der vom Mitgliedstaat gegenüber seinen Gläubigern zu erfüllenden Verbindlichkeiten richtet.

–       Strukturprinzipien der Europäischen Union

136. Eine derartige, aus dem Ziel des Art. 125 AEUV abgeleitete Dehnung des Wortlauts könnte jedoch im Konflikt mit tragenden Prinzipien der Union stehen, die im Verhältnis zu Art. 125 AEUV mindestens gleichrangige Bedeutung beanspruchen.

 Souveränität der Mitgliedstaaten

137. Zuvörderst ist hier der Schutz der Souveränität der Mitgliedstaaten betroffen. Die Union ist eine Gründung weiterhin souveräner Staaten. Der in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV festgehaltene Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union ist Ausdruck dieser Souveränität und schützt diese zugleich.

138. Durch die Schaffung des ESM wurden nicht etwa Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die Union übertragen und dadurch die Souveränität der Mitgliedstaaten beschränkt. Vielmehr ist der ESM-Vertrag als völkerrechtlicher Vertrag gerade Ausdruck der Souveränität und Vertragsautonomie der Mitgliedstaaten.

139. Die Annahme eines unionsrechtlichen Verbots auch des mittelbaren Eintretens für Verbindlichkeiten würde die Mitgliedstaaten daran hindern, finanzielle Mittel einzusetzen, um den Versuch zu unternehmen, negative Auswirkungen des Staatsbankrotts eines anderen Mitgliedstaates auf ihre eigene wirtschaftliche und finanzielle Situation zu vermeiden. Durch die vom Unionsrecht geförderten und beabsichtigten Verflechtungen der Wirtschaftstätigkeit der Mitgliedstaaten untereinander können erhebliche Schäden durch den Staatsbankrott eines Mitgliedstaates auch für die anderen Mitgliedstaaten entstehen. Diese können möglicherweise so weit reichen, dass dadurch auch der Bestand der Währungsunion gefährdet ist, wie von einigen Verfahrensbeteiligten vorgetragen wurde.

140. Dabei geht es vorliegend nicht darum, eine solche Gefahr für die Stabilität der Währungsunion festzustellen oder die Frage zu untersuchen, wie eine solche Gefahr am besten zu bekämpfen wäre. Es ist lediglich hervorzuheben, dass eine weite Auslegung des Art. 125 AEUV den Mitgliedstaaten auch für einen solchen Fall die Kompetenz für die Abwendung des Staatsbankrotts eines anderen Mitgliedstaates nehmen und sie der Fähigkeit berauben würde, auf diese Weise den Versuch zu unternehmen, Schaden von sich selbst abzuwenden. Eine so weit reichende Beschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen, kann aus meiner Sicht nicht auf eine teleologisch begründete weite Auslegung einer Norm gestützt werden, die dies im Wortlaut nicht eindeutig zum Ausdruck bringt.

141. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Verträge unter anderen Umständen ein explizites Verbot für die hier umstrittenen Darlehen niedergelegt haben. Art. 123 Abs. 1 AEUV untersagt der Europäischen Zentralbank und den nationalen Zentralbanken ausdrücklich sämtliche „Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten“ zugunsten der Mitgliedstaaten. Den Zentralbanken ist damit die Vergabe von Darlehen an die Mitgliedstaaten verboten.(27) Art. 125 AEUV enthält hingegen eine derartige Formulierung im Hinblick auf die Darlehensvergabe der Mitgliedstaaten gerade nicht.

 Solidarität der Mitgliedstaaten

142. Darüber hinaus stünde eine weite Auslegung des Art. 125 AEUV im Widerspruch zum Solidaritätsgedanken, wie er in den Verträgen an verschiedenen Stellen normiert ist. So verfolgen die Vertragsparteien nach der Präambel des EUV mit der Union den Wunsch, „die Solidarität zwischen ihren Völkern … zu stärken“. Gemäß Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 fördert die Union „den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“. Auch im Kapitel zur Wirtschaftspolitik nimmt Art. 122 Abs. 1 AEUV explizit auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten Bezug.

143. Aus dem Solidaritätsgedanken kann sicherlich keine Pflicht zu einer finanziellen Hilfe abgeleitet werden, wie sie durch den ESM geleistet werden soll. Eine teleologisch erweiternde Auslegung des Art. 125 AEUV würde aber darüber hinaus den Mitgliedstaaten sogar verbieten, in der Not, nämlich zur Verhinderung der mit einem Staatsbankrott verbundenen gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, freiwillig gegenseitige Hilfe zu leisten. Nothilfe zugunsten beliebiger Drittstaaten wäre erlaubt, Nothilfe im Rahmen der Union jedoch untersagt. Mit einem solchen Verbot schiene mir geradezu der Sinn und Zweck einer Union insgesamt in Frage gestellt.

144. Tragende Strukturprinzipien der Verträge stehen somit einer weiten Auslegung des Art. 125 AEUV entgegen.

–       Umgehung und Wahrung der mit Art. 125 AEUV verbundenen Ziele

145. Hiergegen mag man einwenden, dass es das Verbot des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 AEUV jedes Sinnes beraubt, wenn den Mitgliedstaaten zwar das unmittelbare Eintreten für Verbindlichkeiten untersagt, ihnen aber über ein mittelbares Eintreten eine Umgehung leicht möglich ist. Mit dieser Sichtweise stimme ich insoweit überein, als die Auslegung des Art. 125 AEUV nicht zu einem Ergebnis führen darf, das die dort normierten Verbote völlig leer laufen ließe.

146. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Haftungsausschluss und das Verbot des Eintretens für Verbindlichkeiten, wie sie in Art. 125 AEUV Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV geregelt sind, haben auch dann einen „effet utile“, wenn sie auf der Grundlage ihres im Wortlaut zum Ausdruck gekommenen Regelungsgehalts angewendet werden.

147. So ist mit der ersten Alternative des Haftungsausschlusses, wie insbesondere die griechische Regierung zu Recht vorgetragen hat, jede Verpflichtung eines anderen Mitgliedstaates zur Erfüllung der Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates ausgeschlossen. Eine solche Verpflichtung kann weder aus dem Unionsrecht abgeleitet werden, noch darf sich ein Mitgliedstaat – mit Ausnahme der in Halbsatz 2 der Vorschrift geregelten Garantien – einer solchen Verpflichtung selbst unterwerfen. Jeder Mitgliedstaat und seine potenziellen Gläubiger wissen damit, dass ein Recht auf Inanspruchnahme eines anderen Mitgliedstaats niemals bestehen kann.

148. Außerdem ist mit der zweiten Alternative des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV, dem Verbot des Eintretens für Verbindlichkeiten, im Ergebnis ein Verbot der unmittelbaren Gläubigerbegünstigung verbunden. Die Mitgliedstaaten dürfen danach die Forderungen von Gläubigern eines anderen Mitgliedstaates nicht unmittelbar erfüllen. Eine direkte Unterstützung der Gläubiger ist ihnen untersagt, ihre mittelbare Unterstützung, die sich als Folge der Unterstützung des schuldnerischen Mitgliedstaates ergibt, jedoch nicht. Die Gläubiger werden damit zwar regelmäßig von einer Unterstützung des Mitgliedstaates profitieren. Zumindest besteht für die potenziellen Gläubiger eines Mitgliedstaats jedoch die zusätzliche Unsicherheit, ob ein möglicher finanzieller Beistand zugunsten eines Mitgliedstaates tatsächlich auch zu einer Begleichung ihrer Forderungen führt. Insofern muss die freiwillige Unterstützung eines Mitgliedstaates nicht zwangsläufig mit einer vollständigen oder auch nur teilweisen Befriedigung der Gläubiger des Mitgliedstaates einhergehen. Diese Unsicherheit ist geeignet, das Ziel zwischen den Mitgliedstaaten differenzierter Zinssätze an den Kapitalmärkten zu fördern.(28)

149. Vor diesem Hintergrund würden Darlehen eines Mitgliedstaats also nur dann ein Eintreten für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates darstellen, wenn sie die Gläubiger des empfangenden Mitgliedstaats unmittelbar begünstigten. Dies wäre etwa dann anzunehmen, wenn der Mitgliedstaat gar keine Verfügungsgewalt über die Darlehensmittel erhielte.

150. Über die insbesondere vom Europäischen Rat vertretene Auslegung, wonach finanzielle Leistungen an einen Mitgliedstaat darüber hinaus zur Wahrung des übergeordneten Ziels der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten unter „strikten Auflagen“ erfolgen müssten, um Art. 125 AEUV nicht zu umgehen, muss im vorliegenden Fall nicht entschieden werden. Denn jedenfalls haben die Euro-Mitgliedstaaten solche Auflagen gemäß Art. 12 Abs. 1 ESM-Vertrag vorgesehen.

–       Zwischenergebnis

151. Die zweite Alternative des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV verbietet folglich nach Wortlaut, Systematik und Teleologie nur das unmittelbare Eintreten für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates im Sinne einer Übernahme oder Erfüllung dieser Verbindlichkeiten, welche die Gläubiger unmittelbar begünstigt. Damit ist den Mitgliedstaaten die Gewährung eines Darlehens an einen anderen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht verwehrt.

152. Durch den Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrags verstoßen die Mitgliedstaaten somit auch nicht im Hinblick auf die durch den ESM nach den Art. 14 bis 16 ESM-Vertrag vergebenen Darlehen gegen Art. 125 AEUV.

153. Falls der Gerichtshof im Rahmen einer weiten Auslegung des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV allerdings zu dem Ergebnis kommen sollte, dass den Mitgliedstaaten auch die Gewährung von Darlehen untereinander untersagt ist, wäre noch zu prüfen, ob sich die Gewährung durch den ESM als Handeln der Mitgliedstaaten darstellte. Dies schiene mir vor dem Hintergrund einer weiten Auslegung des Art. 125 AEUV außer Frage zu stehen. Denn wenn die Gewährung eines Darlehens an einen Mitgliedstaat mittelbar als die Erfüllung von Verbindlichkeiten dieses Mitgliedstaates anzusehen wäre, dann müsste auch seine Gewährung durch den ESM zumindest mittelbar eine Gewährung durch die Mitgliedstaaten darstellen. Denn diese haben den ESM gegründet und kontrollieren ihn. Darüber hinaus haben sie aufgrund der Verlustdeckungsregel des Art. 25 Abs. 1 ESM-Vertrag die Darlehensmittel letztlich vollständig aufzubringen.

iv)    Anleihekäufe als Eintreten für Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaats

154. Im Rahmen der Finanzinstrumente bleibt zuletzt zu prüfen, ob der nach den Art. 17 und 18 ESM-Vertrag vorgesehene Kauf von Anleihen eines Mitgliedstaates von diesem selbst oder von einem Dritten mit Art. 125 AEUV vereinbar ist. Dies würde wiederum zunächst voraussetzen, dass den Mitgliedstaaten derartige Anleihekäufe gemäß Art. 125 AEUV untersagt sind.

155. Der Erwerb einer Anleihe unmittelbar vom begebenden Mitgliedstaat gemäß Art. 17 ESM-Vertrag stellt nur eine besondere Form des Darlehens dar. Wie oben dargestellt ist die Darlehensvergabe nach dem ESM-Vertrag mit Art. 125 AEUV vereinbar.

156. Der Kauf der Anleihe eines Mitgliedstaats von einem Dritten nach Art. 18 ESM-Vertrag stellt grundsätzlich ebenfalls kein Eintreten für Verbindlichkeiten dieses Mitgliedstaats dar, weil dadurch keine Verbindlichkeit eines Mitgliedstaates erfüllt wird. Denn der die Anleihe begebende Mitgliedstaat bleibt weiterhin Schuldner der Verbindlichkeit, worauf die Kommission zutreffend hingewiesen hat. Die Verbindlichkeit des Mitgliedstaates bleibt damit inhaltlich unverändert, allein der Gläubiger wechselt.

157. Man mag hiergegen einwenden, dass die nach einem Anleihekauf entstehende Situation wirtschaftlich nicht zu unterscheiden ist von einer gewöhnlichen Erfüllung der Verbindlichkeit eines Mitgliedstaates gegenüber einem Dritten, aus der ein Erstattungsanspruch des erfüllenden Mitgliedstaates gegenüber dem befreiten Mitgliedstaat entsteht. Der Inhalt eines solchen Erstattungsanspruchs und derjenige einer unmittelbar über einen Anleihekauf erworbenen Forderung unterscheiden sich zwar. Auch mag der Kaufpreis der Anleihe eines hilfsbedürftigen Mitgliedstaates regelmäßig deutlich niedriger sein als die Höhe der Verbindlichkeit. Im Ergebnis aber erhält der bisherige Gläubiger durch den Anleihekauf zumindest einen Teil seiner Forderung unmittelbar vom erwerbenden Mitgliedstaat.

158. Insofern stellt sich die Frage, ob der Anleihekauf von einem Dritten deshalb gegen Art. 125 AEUV verstößt, weil er die Anleiheinhaber als bisherige Gläubiger des Mitgliedstaates unmittelbar begünstigt.(29) Obwohl im Fall eines solchen Anleihekaufs die finanziellen Mittel des ESM unmittelbar an den Gläubiger flössen, bliebe das Verbot der unmittelbaren Gläubigerbegünstigung aus meiner Sicht jedoch gewahrt, wenn die Anleihen zu normalen Marktbedingungen erworben würden. Denn in diesem Fall würde der bisherige Anleihegläubiger sein Geld wie von einem beliebigen Dritten erhalten und nicht speziell von der Leistungsfähigkeit eines anderen Mitgliedstaates profitieren. Bei einem gewöhnlichen Erwerb auf dem Wertpapiermarkt hätte der Gläubiger zudem auch keine Kenntnis davon, dass Anleihekäufer ein Mitgliedstaat ist. Ein solcher Anleihenkauf ist somit nicht geeignet, Vertrauen der potenziellen Gläubiger eines Mitgliedstaates in die Leistungsfähigkeit eines anderen Mitgliedstaates aufzubauen.

159. Es ist nicht erkennbar, dass der Einsatz von Finanzhilfeinstrumenten gemäß Art. 18 ESM-Vertrag von den geschilderten Umständen zwangsläufig abweichen würde. Anleihekäufe des ESM nach dieser Vorschrift geraten deshalb von vornherein nicht zwangsläufig in Konflikt mit Art. 125 AEUV(30), sondern es besteht in jedem Fall die Möglichkeit, sie in Konformität mit seinen Vorgaben zu tätigen. Deshalb kann für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand auch im Fall der Anleihekäufe offen bleiben, ob die Tätigkeit des ESM insoweit den Mitgliedstaaten im Rahmen des Art. 125 AEUV überhaupt zuzurechnen wäre.

160. Im Ergebnis verstößt deshalb jedenfalls der Abschluss und die Ratifikation des ESM-Vertrags auch nicht im Hinblick auf die gemäß den Art. 17 und 18 ESM-Vertrag vorgesehenen Anleihekäufe des ESM gegen Art. 125 AEUV.

b)      Kapitalabruf gemäß Art. 25 ESM-Vertrag

161. Schließlich ist im Hinblick auf das Verbot des Art. 125 AEUV noch zu prüfen, ob hiermit die Regelung zu einem erhöhten Kapitalabruf, wie sie Art. 25 Abs. 2 ESM-Vertrag regelt, vereinbar ist.

162. Die erste Alternative des Art. 125 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 AEUV verbietet die freiwillige Haftungsübernahme zwischen den Mitgliedstaaten.(31)

163. Das genehmigte Stammkapital des ESM ist gemäß Art. 8 Abs. 2 Satz 1 ESM-Vertrag in eingezahlte und abrufbare Anteile unterteilt. Nach Art. 9 des Vertrags kann das nicht eingezahlte Kapital u. a. vom Direktorium und vom Geschäftsführenden Direktor unter bestimmten Bedingungen zur Einzahlung abgerufen werden. Art. 25 Abs. 2 ESM-Vertrag sieht nun für den Fall, dass ein ESM-Mitglied einem solchen Kapitalabruf des ESM nicht Folge leistet, für die übrigen ESM-Mitglieder einen erhöhten Kapitalabruf vor.

164. Mit dieser Regelung ist jedoch keine freiwillige Haftungsübernahme durch den Abschluss des ESM-Vertrags verbunden. Jedes ESM-Mitglied muss danach nur seine eigene Kapitaleinlageverpflichtung erfüllen. Im Fall eines durch ein ESM-Mitglied nicht erfüllten Kapitalabrufs hat dies gemäß Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ESM-Vertrag lediglich zur Konsequenz, dass die anderen ESM-Mitglieder hinsichtlich ihrer eigenen Einlageverpflichtung in erhöhtem Umfang in Anspruch genommen werden. Sie sind hingegen nicht verpflichtet, die Einlageverpflichtung eines anderen ESM-Mitglieds zu bedienen. Das säumige ESM-Mitglied bleibt, wie sich aus Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ESM-Vertrag ergibt, nach wie vor zur Erbringung seiner Einlage gegenüber dem ESM verpflichtet.

165. Diese Feststellung wird zusätzlich durch die gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien des ESM-Vertrags vom 27. September 2012 bestätigt, wonach der Vertrag insgesamt für keinen Mitgliedstaat eine Zahlungsverpflichtung vorsieht, die über den jeweils eigenen Anteil am genehmigten Stammkapital hinausgeht.(32) Hat ein Mitgliedstaat also seine eigene Einlage vollständig erbracht, so kann ihm gegenüber auch kein erhöhter Kapitalabruf gemäß Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ESM-Vertrag mehr erfolgen.

c)      Zwischenergebnis

166. Damit ist festzustellen, dass Art. 125 AEUV den Mitgliedstaaten nicht verbietet, eine Übereinkunft zu schließen und zu ratifizieren, in der ein erhöhter Kapitalabruf wie in Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ESM-Vertrag geregelt ist und die Finanzhilfeinstrumente einer internationalen Organisation vorsieht, wie sie in Form von Darlehen und Anleihekäufen in den Art. 14 bis 18 ESM-Vertrag geregelt sind.

4.      Übertragung neuer Zuständigkeiten auf Unionsorgane

167. Weiterhin ist zu prüfen, ob Abschluss und Ratifikation des ESM-Vertrags insoweit gegen das Unionsrecht verstoßen, als sie Organen der Union neue Aufgaben übertragen. So sieht der ESM-Vertrag an zahlreichen Stellen das Handeln der Kommission, des Gerichtshofs und der Europäischen Zentralbank vor, obwohl im Rahmen des ESM-Vertrags allein die Mitgliedstaaten handeln, nicht aber die Union.

168. Der Kläger hält diese Aufgabenübertragung für unvereinbar mit den in den Verträgen festgelegten Funktionen der Organe. Insbesondere ist er der Ansicht, dass eine solche Inanspruchnahme von Unionsorganen nur im Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art. 20 EUV möglich ist.

169. Im Folgenden ist deshalb zu prüfen, ob die im ESM-Vertrag für die Kommission (dazu unter a), die Europäische Zentralbank (dazu unter b) und den Gerichtshof (dazu unter c) vorgesehenen Aufgaben gegen Art. 13 Abs. 2 Satz 1 EUV verstoßen, nach dem jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse handelt.

a)      Kommission

170. Die Kommission nimmt nach Art. 13 Abs. 1 Satz 3 ESM-Vertrag auf Anforderung des Vorsitzenden des Gouverneursrates nach einem Stabilitätshilfeersuchen eines ESM-Mitglieds verschiedene Bewertungen vor, die als Grundlage für die Gewährung von Finanzhilfe durch den ESM dienen. Des Weiteren ist es nach Art. 13 Abs. 3 und 4 ESM-Vertrag Aufgabe der Kommission – im Benehmen mit der Europäischen Zentralbank und möglichst auch dem Internationalen Währungsfonds –, die Auflagen für das Hilfe suchende ESM-Mitglied mit diesem zu vereinbaren. Für die Rechtswirksamkeit der Auflagen bedarf es nach Abs. 4 der Vorschrift aber noch der Zustimmung des Gouverneursrates. Auch die Überwachung der Einhaltung der Auflagen soll gemäß Art. 13 Abs. 7 ESM-Vertrag allein durch die Kommission erfolgen. Darüber hinaus sieht der ESM-Vertrag in unterschiedlichen Situationen weitere Prüfungen und Berichte durch die Kommission vor.(33)

171. Der Gerichtshof hatte zum ehemaligen Art. 155 vierter Gedankenstrich EWG-Vertrag, der die Aufgaben der Kommission beschrieb, festgestellt, dass diese Bestimmung nicht ausschließe, dass die Mitgliedstaaten die Kommission damit betrauen, für die Koordinierung einer von ihnen gemeinsam aufgrund eines Aktes ihrer im Rat vereinigten Vertreter unternommenen Aktion zu sorgen.(34) In einem weiteren Urteil wies der Gerichtshof darauf hin, dass keine Bestimmung des Vertrags die Mitgliedstaaten daran hindere, außerhalb seines Rahmens Verfahrenselemente anzuwenden, die sich an bestimmten Unionsvorschriften orientieren und die Unionsorgane an einem solchen Verfahren zu beteiligen.(35) Aus dieser Rechtsprechung ist zu folgern, dass die Kommission auf Initiative der Mitgliedstaaten auch außerhalb der ihr in den Verträgen zugewiesenen Aufgaben tätig werden darf.

172. Die Vertreter der Regierungen aller Mitgliedstaaten haben am 20. Juni 2011 einen Beschluss angenommen, nach dem „der ESM-Vertrag Bestimmungen enthalten sollte, nach denen die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank die in dem Vertrag aufgeführten Aufgaben ausführen“.(36) Dieser Beschluss geht über die genannte Rechtsprechung insofern hinaus, als es sich bei dem ESM-Vertrag nicht um eine von allen Mitgliedstaaten unternommene Aktion handelt und der genaue Inhalt des erst am 2. Februar 2012 geschlossenen ESM-Vertrags zum Zeitpunkt des Beschlusses noch nicht bekannt war.

173. Dennoch halte ich die Kommission vor dem Hintergrund der angeführten Rechtsprechung grundsätzlich für berechtigt, die im ESM-Vertrag für sie vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen. Zum einen zeigt die Unterstützung des Beschlusses durch sämtliche Regierungsvertreter eine ausreichende Gemeinsamkeit des Handelns der Mitgliedstaaten. Zum anderen war der wesentliche Inhalt des ESM-Vertrags den Vertretern der Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt des Beschlusses bekannt, da der Europäische Rat bereits am 20. April 2011 die wesentlichen Merkmale des ESM gebilligt hatte.(37)

174. Die Auffassung des Klägers, nach der das Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit gemäß Art. 20 EUV eine Art Sperrwirkung für die Aufgabenübertragung an Unionsorgane entfaltet, überzeugt nicht. Zwar sieht Abs. 1 der Vorschrift explizit vor, dass die Mitgliedstaaten in diesem Verfahren „die Organe der Union in Anspruch nehmen“ können. Die verstärkte Zusammenarbeit geht jedoch weiter als eine bloße Aufgabenübertragung nach der genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs. Sie erschöpft sich nicht in der Möglichkeit der Inanspruchnahme von Unionsorganen, sondern ermöglicht vor allem den Erlass von Rechtsakten der Union, die gemäß Art. 20 Abs. 4 EUV nur die beteiligten Mitgliedstaaten binden. Es ist daher nicht ersichtlich, dass die Vertragsparteien mit der Einführung der Regelungen zur verstärkten Zusammenarbeit die vom Gerichtshof in der genannten Rechtsprechung bestätigte Möglichkeit der Inanspruchnahme von Unionsorganen außerhalb des Anwendungsbereichs der Verträge beschränken wollten.

175. Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass für die Kommission, anders als in Folge einer verstärkten Zusammenarbeit nach Art. 20 EUV, keine Verpflichtung zur Wahrnehmung der im ESM-Vertrag für sie vorgesehenen Aufgaben besteht. Die genannte Rechtsprechung des Gerichtshofs ist nicht so zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten die Kommission zu einem Handeln außerhalb des Unionsrahmens verpflichten können. Denn eine solche Pflicht kann sich für die Kommission als Unionsorgan nur aus den im Unionsrecht geregelten Aufgaben ergeben. Hinzu kommt, dass die Kommission nach Art. 17 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit ausübt und ihre Mitglieder keine Weisungen von einer Regierung oder einem Organ entgegennehmen dürfen. Von diesem Verständnis scheinen auch die Euro-Mitgliedstaaten auszugehen, wenn sie sich im zehnten Erwägungsgrund des ESM-Vertrags auf die Ermächtigung durch alle Mitgliedstaaten der Union beziehen, die Kommission „aufzufordern“(38), die in diesem Vertrag vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen. Der ESM-Vertrag geht folglich nicht davon aus, dass die Kommission hierzu verpflichtet ist.

176. Vor diesem Hintergrund könnten Abschluss und Ratifikation des ESM-Vertrags allenfalls dann gegen Unionsrecht verstoßen, wenn der Vertrag die Kommission zu einem Tätigwerden aufforderte, das ihr nach den Verträgen untersagt wäre. Denn die Kommission bleibt auch bei ihrem Handeln im Rahmen des ESM als Organ der Union in vollem Umfang an das Unionsrecht, einschließlich der Grundrechte-Charta, gebunden.

177. Einen Verstoß gegen Unionsrecht kann ich jedoch nicht erkennen. Vielmehr liegt es sogar im Interesse der Wahrung des Unionsrechts, im Rahmen des ESM die Kommission damit zu betrauen, die Unionsrechtskonformität der mit Finanzhilfeinstrumenten verbundenen Auflagen gemäß Art. 13 Abs. 3 Unterabs. 2 ESM-Vertrag sicherzustellen.

178. Damit wird Art. 13 Abs. 2 Satz 1 EUV nicht beeinträchtigt, wenn die Kommission unter Wahrung ihrer unionsrechtlichen Pflichten die im ESM-Vertrag für sie vorgesehenen Aufgaben wahrnimmt.

b)      Europäische Zentralbank

179. Auch die Europäische Zentralbank betraut der ESM-Vertrag mit einer Reihe von Aufgaben. Diese Aufgaben sind im Vergleich zur Kommission von geringerem Umfang. Eigenständige Prüfungsbefugnisse sehen nur die Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 Satz 1 und Art. 18 Abs. 2 ESM-Vertrag vor. Im Übrigen erfolgt das Handeln der Kommission nach den Art. 13 Abs. 1, 3 und 7 sowie Art. 14 Abs. 6 ESM-Vertrag jeweils „im Benehmen“ mit der Europäischen Zentralbank. In diesen Fällen existiert folglich weniger eine Aufgabenzuweisung im Hinblick auf die Europäische Zentralbank als ein qualifiziertes Anhörungsrecht.

180. Die oben angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Aufgabenübertragung an die Kommission ist, wie insbesondere die niederländische Regierung vorgetragen hat, auf die Europäische Zentralbank übertragbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wie im Fall des ESM-Vertrags ein Bezug der Aufgaben zur allgemeinen Wirtschaftspolitik vorhanden ist, deren Unterstützung gemäß Art. 282 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 AEUV zu den Aufgaben der Europäischen Zentralbank gehört.

181. Erneut ist jedoch zu betonen, dass keine Pflicht der Europäischen Zentralbank besteht, die ihr im ESM-Vertrag zugewiesenen Aufgaben zu übernehmen. Dies ist im Fall der Europäischen Zentralbank von besonderer Bedeutung angesichts ihrer in Art. 130 AEUV festgeschriebenen Unabhängigkeit.

182. Somit ist auch im Hinblick auf die Europäische Zentralbank festzustellen, dass Abschluss und Ratifikation des ESM-Vertrags nicht gegen Art. 13 Abs. 2 Satz 1 EUV verstoßen, wenn sie unter Wahrung ihrer unionsrechtlichen Pflichten die im ESM-Vertrag für sie vorgesehenen Aufgaben erfüllt.

c)      Gerichtshof

183. Schließlich bleibt zu klären, ob die dem Gerichtshof im Rahmen des ESM zugedachte Rolle mit dem Unionsrecht zu vereinbaren ist.

184. Nach Art. 37 Abs. 2 ESM-Vertrag entscheidet der Gouverneursrat „über alle Streitigkeiten zwischen einem ESM-Mitglied und dem ESM oder zwischen ESM-Mitgliedern über die Auslegung und Anwendung dieses Vertrags, einschließlich etwaiger Streitigkeiten über die Vereinbarkeit der vom ESM gefassten Beschlüsse mit diesem Vertrag“. Gemäß Abs. 3 der Vorschrift soll die Streitigkeit beim Gerichtshof anhängig gemacht werden, wenn ein ESM-Mitglied die Entscheidung des Gouverneursrates anficht. Wie sich aus dem 16. Erwägungsgrund des ESM-Vertrags ergibt, stützen die Vertragsparteien des ESM diese Rolle des Gerichtshofs auf Art. 273 AEUV.

185. Gemäß Art. 273 AEUV ist der Gerichtshof „für jede mit dem Gegenstand der Verträge im Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten zuständig, wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird“. Zu prüfen ist, ob die geschilderten Regelungen des Art. 37 ESM-Vertrag diese Voraussetzungen erfüllen.

186. Erstens müssten dafür Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des ESM-Vertrags im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Verträge stehen. Wie sich aus einem Vergleich mit der in Art. 259 Abs. 1 AEUV geregelten Vertragsverletzungsklage unter Mitgliedstaaten ergibt, betrifft Art. 273 AEUV keine Streitigkeiten über die Auslegung der Verträge selbst. Ein bloßer Zusammenhang ist ausreichend. Da sich die Aufgabenzuweisung nach Art. 273 AEUV aus einem Schiedsvertrag ergeben muss, genügt es darüber hinaus, wenn der Gegenstand eines solchen Vertrags im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Unionsverträge steht. Es ist dann nicht erforderlich, dass jede einzelne dem Vertrag entstammende Streitigkeit zwingend einen Zusammenhang mit den Unionsverträgen aufweist.

187. Ein solcher Zusammenhang besteht im Fall des ESM schon deshalb, weil sein Art. 13 Abs. 3 Unterabs. 2 vorsieht, dass die mit Finanzhilfeinstrumenten verbundenen Auflagen mit den im AEUV vorgesehenen Maßnahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung übereinstimmen müssen. Darüber hinaus könnten etwa Streitigkeiten über die Auslegung des Art. 125 AEUV (sogenanntes Bail-out-Verbot) im Hinblick auf konkrete Gewährungen von Finanzhilfeinstrumenten entstehen. Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des ESM-Vertrags stehen damit im Sinne des Art. 273 AEUV im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Verträge.

188. Zweitens stellt sich die Frage, ob Art. 37 ESM-Vertrag Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 273 AEUV betrifft. So sieht der ESM-Vertrag eine Befassung des Gerichtshofs auch dann vor, wenn zwischen einem ESM-Mitglied und dem ESM als internationaler Organisation eine Streitigkeit entstanden ist.

189. Vertragsparteien des ESM sind ausschließlich Euro-Mitgliedstaaten, die gemäß Art. 5 ESM-Vertrag durch ihre Regierungsvertreter im obersten Gremium des ESM, dem Gouverneursrat, handeln. Wie insbesondere die Regierung des Vereinigten Königreichs zutreffend hervorgehoben hat, kommt vor diesem Hintergrund eine Streitigkeit zwischen einem ESM-Mitglied und dem ESM der Sache nach einer solchen zwischen dem ESM-Mitglied und den anderen ESM-Mitgliedern, die im Rahmen des ESM eine Mehrheitsentscheidung herbeigeführt haben, zumindest nahe. Zudem unterliegt das Handeln der Mitgliedstaaten im Rahmen der Organisation besonderen unionsrechtlichen Bindungen. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs gewährleistet daher die uniforme Anwendung des Unionsrechts. Außerdem stärkt sie das Rechtsschutzsystem der Union, was der Zielrichtung des Art. 273 AEUV entspricht. Hinzu kommt der für die Mitgliedstaaten optionale Charakter dieser Vorschrift. Daher bestehen keine Bedenken gegen eine weite Auslegung dieser Bestimmung. Auf Streitigkeiten der Mitgliedstaaten im Rahmen einer von ihnen allein gegründeten Organisation kann Art. 273 AEUV also auch dann angewendet werden, wenn diese Organisation selbst Partei ist.

190. Auch die dem Gerichtshof nach dem ESM-Vertrag zugewiesene Rolle ist folglich mit Art. 13 Abs. 2 Satz 1 EUV vereinbar.

5.      Art. 47 der Grundrechte-Charta und der Grundsatz der Rechtssicherheit

191. Weiterhin ist zu prüfen, ob der ESM-Vertrag mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 Grundrechte-Charta sowie mit dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar ist.

192. Der Kläger hat hierzu vorgetragen, dass der ESM gemäß Art. 37 Abs. 2 ESM-Vertrag nur einer eingeschränkten Prüfungskompetenz des Gerichtshofs unterliege, obwohl beispielsweise die Auflagen, die der ESM mit der Stabilitätshilfe verbinde, insbesondere die sozialen Rechte des Titels IV der Charta beeinträchtigen könnten. Ein Verfahren vor dem Gerichtshof könne aber nur von den Euro-Mitgliedstaaten anhängig gemacht werden. Die Tätigkeit des ESM unterliege damit keinem effektiven gerichtlichen Rechtsschutz wie von Art. 47 Grundrechte-Charta gefordert.

193. Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Grundrechte-Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Deshalb findet nach Auffassung der Kommission Art. 47 Grundrechte-Charta keine Anwendung auf die Tätigkeit des ESM. Es kann vorliegend dahinstehen, ob diese Sicht zutreffend ist. Denn jedenfalls ist das Recht des Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf für die Tätigkeit des ESM ausreichend gewahrt.

194. So unterliegt die Vereinbarkeit des Handelns der Mitgliedstaaten im Rahmen des ESM mit dem Unionsrecht – wie auch der vorliegende Rechtsstreit zeigt – nach dem üblichen Verfahren des Art. 267 AEUV einer Überprüfung durch den Gerichtshof und die nationalen Gerichte. Die Mitgliedstaaten haben insoweit nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die erforderlichen Rechtsbehelfe für einen wirksamen Rechtsschutz zumindest hinsichtlich der nationalen Umsetzung der Auflagen vorzusehen.(39)

195. Im Hinblick auf den in der Vorlagefrage ebenfalls aufgeführten Grundsatz der Rechtssicherheit ist nicht erkennbar, inwieweit dieser durch die Tätigkeit des ESM beeinträchtigt sein sollte.

196. Der Abschluss und die Ratifizierung des ESM-Vertrags verstoßen somit weder gegen Art. 47 Grundrechte-Charta noch gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

6.      Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV

197. Schließlich zweifelt das vorlegende Gericht noch an der Vereinbarkeit des ESM-Vertrags mit Art. 4 Abs. 3 EUV. Diese Vorschrift normiert den „Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“, nach dem sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, achten und unterstützen.

198. Der Kläger hat hierzu vorgetragen, dass die Mitgliedstaaten diesen Grundsatz verletzten, weil sie durch die Schaffung einer unabhängigen internationalen Organisation wie des ESM das Unionsrecht und insbesondere die Verbote des Art. 125 AEUV umgehen wollten.

199. Eine Umgehung der unionsrechtlichen Bindungen, insbesondere des Art. 125 AEUV, ist jedoch wie bereits dargelegt(40) nicht festzustellen. Das Problem einer Umgehung unionsrechtlicher Bindungen wäre zudem ausschließlich im Rahmen der Auslegung dieser Bindungen selbst zu beurteilen. Über die insoweit bereits im Rahmen der zweiten Vorlagefrage untersuchten Bestimmungen des Unionsrechts hinaus ist nicht zu erkennen, inwieweit der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit durch den ESM-Vertrag beeinträchtigt sein sollte. Die für die Kommission und die Europäische Zentralbank im ESM-Vertrag vorgesehenen Aufgaben sprechen vielmehr für das Gegenteil.

200. Abschluss und Ratifikation des ESM-Vertrags verstoßen somit auch nicht gegen Art. 4 Abs. 3 EUV.

7.      Zwischenergebnis

201. Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 4 Abs. 3 und Art. 13 EUV, Art. 2 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 2, Art. 122, Art. 123 und Art. 125 AEUV sowie Art. 47 Grundrechte-Charta und der Grundsatz der Rechtssicherheit einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, ein internationales Übereinkommen wie den EMS-Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren.

C –    Zur dritten Vorlagefrage: Einfluss des Inkrafttretens des Beschlusses auf die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage

202. Das vorlegende Gericht will schließlich mit seiner dritten Frage klären, ob die Berechtigung eines Mitgliedstaats, ein internationales Übereinkommen wie den ESM-Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren, vom Inkrafttreten des Beschlusses 2011/199 abhängig ist.

203. Da die Mitgliedstaaten, wie oben zur zweiten Vorlagefrage dargelegt, nach geltendem Recht ein internationales Übereinkommen wie den ESM-Vertrag abschließen und ratifizieren dürfen, ist ihre Berechtigung nicht von der Einfügung eines neuen Abs. 3 in Art. 136 AEUV auf der Grundlage des Beschlusses 2011/199 abhängig. Die dritte Vorlagefrage ist damit zu verneinen.

IV – Ergebnis

204. Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des irischen Supreme Court wie folgt zu antworten:

1.      Die Prüfung hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses 2011/199 beeinträchtigen könnte.

2.      Die Art. 4 Abs. 3 und Art. 13 EUV, Art. 2 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 2, Art. 122, Art. 123 und Art. 125 AEUV sowie Art. 47 Grundrechte-Charta und der Grundsatz der Rechtssicherheit hindern einen Mitgliedstaat, dessen Währung der Euro ist, nicht daran, ein internationales Übereinkommen wie den ESM-Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren, bevor der Beschluss 2011/199 in Kraft getreten ist.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – Vgl. u. a. Urteile vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf (C‑188/92, Slg. 1994, I‑833, Randnr. 17), und vom 29. Juni 2010, E und F (C‑550/09, Slg. 2010, I‑6213, Randnr. 46).


3 – Vgl. u. a. Urteil vom 11. November 1997, Eurotunnel u. a. (C‑408/95, Slg. 1997, I‑6315, Randnr. 29), und vom 8. Juli 2010, Afton Chemical (C‑343/09, Slg. 2010, I‑7023, Randnr. 19).


4 – Vgl. hierzu auch den Bezugsvermerk des Beschlusses 2011/199.


5 – Vgl. zu einer solchen Beschränkung Urteil vom 11. November 1997, Eurotunnel u. a. (C‑408/95, Slg. 1997, I‑6315, Randnr. 34).


6 – Vgl. den 4. Erwägungsgrund des Beschlusses 2011/199.


7 – Vgl. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 20. April 2011 zur Tagung vom 24./25. März 2011, EUCO 10/1/11 REV 1, Rn. 16 f. und Anlage II.


8 – Vgl. insoweit im Hinblick auf den Gegenstand des ESM-Vertrags unten, Nrn. 75 ff..


9 – Vgl. hierzu u. a. Urteile vom 9. Juli 1981, Gondrand und Garancini (169/80, Slg. 1981, 1931, Randnr. 17), und vom 15. Juli 2010, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑582/08, Slg. 2010, I‑7191, Randnr. 49).


10 – Vgl. den zweiten Erwägungsgrund des Beschlusses 2011/199.


11 – Vgl. u. a. Urteil vom 30. September 2010, Kommission/Belgien (C‑132/09, Slg. 2010, I‑8695, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12 – Vgl. u. a. Urteil vom 27. Oktober 2011, Tanoarch (C‑504/10, Slg. 2011, I‑10853, Randnr. 43).


13 – Vgl. u. a. Urteil vom 19. Juli 2012, Garkalns (C‑470/11, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14 – Vgl. u. a. Urteil vom 9. Dezember 2010, Fluxys (C‑241/09, Slg. 2010, I‑12773, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15 – Vgl. den Vorlagebeschluss, S. 12 f.: Die erste Rüge findet Ausdruck im ersten Spiegelstrich, die zweite im fünften, die dritte im zweiten und dritten, die vierte im vierten und die fünfte Rüge im letzten Spiegelstrich.


16 – Vgl. auch den ersten und dreizehnten Erwägungsgrund des ESM-Vertrags.


17 – Vgl. Urteil vom 15. Januar 2002, Gottardo (C‑55/00, Slg. 2002, I‑413, Randnr. 33).


18 – Siehe oben, Nr. 109.


19 – Vgl. den vierten Erwägungsgrund des ESM-Vertrags.


20 – Siehe oben, Nr. 116.


21 – Vereinzelt ist in deutschen Rechtstexten vom Eintreten „in“ ein Schuldverhältnis die Rede, vgl. § 563 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs zum „Eintrittsrecht bei Tod des Mieters“.


22 – Vertrag über die Europäische Union, unterzeichnet zu Maastricht am 7. Februar 1992, ABl. C 191, S. 1.


23 – Vgl. Entwurf eines Vertrages zur Änderung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Hinblick auf die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, Mitteilung der Kommission vom 21. August 1990, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 2/91, S. 25.


24 – Vgl. ebenda.


25 – Vgl. das Dokument SN 3738/91 (UEM 82) des Vorsitzes der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Wirtschafts- und Währungsunion vom 28. Oktober 1991: „Proposal by the Presidency to the Intergovernmental Conference on Economic and Monetary Union“, Art. 104a.


26 – Vgl. Jan Viebig, Der Vertrag von Maastricht, Die Positionen Deutschlands und Frankreichs zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 314.


27 – Vgl. auch Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in Artikel 104 und Artikel 104b Absatz 1 des Vertrages vorgesehenen Verbote, die sich auf Art. 125 Abs. 2 AEUV stützt.


28 – Vgl. oben, Nr. 132.


29 – Vgl. oben, Nr. 148.


30 – Vgl. oben, Nr. 111.


31 – Siehe oben, Nr. 115.


32 – Vgl. das Schreiben des Ständigen Vertreters Zyperns bei der Europäischen Union an das Generalsekretariat des Europäischen Rates vom 27. September 2012, Dokumenten-Nr. SGE12/010319.


33 – Vgl. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 Satz 1, Art. 14 Abs. 5 und 6, Art. 15 Abs. 5, Art. 16 Abs. 5 und Art. 17 Abs. 5 ESM-Vertrag.


34 – Vgl. Urteil vom 30. Juni 1993, Parlament/Rat und Kommission (C‑181/91 und C‑248/91, Slg. 1993, I‑3685, Randnr. 20).


35 – Vgl. Urteil vom 2. März 1994, Parlament/Rat (C‑316/91, Slg. 1994, I‑625, Randnr. 41).


36 – Vgl. Übermittlungsvermerk des Rates vom 24. Juni 2011, Dokumenten-Nr. 12114/11, sowie den zehnten Erwägungsgrund des ESM-Vertrags.


37 – Vgl. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates der Tagung vom 24./25. März 2011 nach dem Übermittlungsvermerk des Europäischen Rates vom 20. April 2011, Dokumenten-Nr. EUCO 10/1/11 REV 1, Randnr. 17 und Anlage II.


38 – Noch klarer ist insoweit die französische Fassung des ESM-Vertrags, die nur von „demander“ spricht.


39 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, Slg. 2007, I‑2271, Randnr. 38 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


40 – Siehe oben, Nrn. 100 ff.