Language of document : ECLI:EU:C:2011:770

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 24. November 2011(1)

Rechtssache C‑39/10

Europäische Kommission

gegen

Republik Estland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Einrede der Unzulässigkeit – Streithelfer – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Art. 45 AEUV – Art. 28 des EWR-Abkommens – Steuerrecht – Einkommensteuer – Altersrenten – Steuerfreibetrag für niedrige Einkommen – Diskriminierung zwischen gebietsansässigen Steuerpflichtigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen“





I –    Einleitung

1.        Die Republik Estland wendet ein Gesetz über die Einkommensteuer an, das keine Möglichkeit vorsieht, nicht gebietsansässigen Steuerpflichtigen einen individuellen Steuerfreibetrag zu gewähren, deren Gesamteinkommen so niedrig ist, dass ihnen dieser Steuervorteil gewährt würde, wenn sie im Inland ansässig wären.

2.        Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission beim Gerichtshof, festzustellen, dass die Republik Estland mit der Anwendung einer derartigen Bestimmung gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV(2) und Art. 28 des Vertrags über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (im Folgenden: EWR-Abkommen)(3) verstoßen hat.

3.        Die Republik Estland ist den gegen sie gerichteten Rügen entgegengetreten und hat zugleich anerkannt, dass die Bestimmungen des Gesetzes bezüglich des Anspruchs auf Freibeträge für Einkünfte von in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässigen Personen dahin gehend angepasst werden müssen, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmungen auf die Staatsangehörigen aller Vertragsstaaten des EWR-Abkommens ausgeweitet wird.

4.        Das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren eröffnet in meinen Augen interessante Perspektiven in Bezug auf die Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die bei den Mitgliedstaaten liegende Zuständigkeit, selbst über die steuerliche Behandlung von Personen im Ruhestand zu entscheiden, die von dieser Grundfreiheit Gebrauch gemacht haben.

5.        Redaktionelle Fehler neben Widersprüchen in der Begründung, die in der Formulierung der Klageschrift und in den späteren Schriftsätzen der Kommission festgestellt wurden, könnten meiner Ansicht nach aber zur Unzulässigkeit der Klage führen.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Art. 45 AEUV und Art. 28 des EWR-Abkommens

6.        Art. 45 AEUV bestimmt:

„(1)      Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.

(2)      Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.

(3)      Sie gibt – vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen – den Arbeitnehmern das Recht:

a)      sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;

b)      sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;

c)      sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;

d)      nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen festlegt.

(4)      Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.“

7.        Art. 28 des EWR-Abkommens garantiert mit im Wesentlichen gleichem Wortlaut wie Art. 45 AEUV die Arbeitnehmerfreizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA).

2.      Empfehlung 94/79/EG

8.        Die Empfehlung 94/79/EG(4), auf die sich die Republik Estland und Streithelfer berufen, betrifft die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden.

9.        Art. 1 Abs. 1 der Empfehlung 94/79 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten wenden die Vorschriften dieser Empfehlung auf natürliche Personen an, die in einem Mitgliedstaat ansässig sind und in einem anderen Mitgliedstaat, ohne dort ansässig zu sein, der Einkommensteuer bezüglich folgender Einkünfte unterliegen:

–        Altersrenten und sonstige vergleichbare Einkünfte aufgrund einer früheren abhängigen Beschäftigung sowie Sozialversicherungsrenten,

–        …“

10.      Art. 2 Abs. 1 und 2 Unterabs. 1 der Empfehlung bestimmt:

„(1)      Die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Einkünfte werden in dem sie besteuernden Mitgliedstaat keiner höheren Steuerbelastung unterworfen als derjenigen, die dieser Staat festsetzen würde, wenn der Steuerpflichtige, sein Ehegatte und seine Kinder in ihm ansässig wären.

(2)      Die Mitgliedstaaten machen die Anwendung von Absatz 1 von der Bedingung abhängig, dass die in Artikel 1 genannten Einkünfte, die in dem Mitgliedstaat zu versteuern sind, in dem die natürliche Person nicht ansässig ist, mindestens 75 % des in einem Veranlagungszeitraumes steuerpflichtigen Gesamteinkommens ausmachen.“

B –    Nationales Recht

11.      Das estnische Einkommensteuergesetz von 1999 in der zum Zeitpunkt der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission, d. h. im Jahr 2008, anwendbaren Fassung sieht vor(5):

„§ 1. Gegenstand der Steuer

(1)       Die Einkommensteuer wird auf die Einkünfte des Steuerpflichtigen nach Abzug der gesetzlich erlaubten Freibeträge erhoben.

…“

„§ 2. Steuerpflichtiger

(1)       Die in § 1 Abs. 1 vorgesehene Einkommensteuer wird von nichtansässigen natürlichen und juristischen Personen abgeführt, die steuerpflichtige Einkünfte erzielen.

…“

„§ 19. Unterhalt, Altersrenten, Stipendien, Zuwendungen, Prämien, Lotteriegewinne, Entschädigungen

(2)       Die Einkommensteuer wird auf Altersrenten, Zuwendungen, Stipendien, Kultur-, Sport- und Wissenschaftspreise, Lotteriegewinne, Zuwendungen aufgrund des Gesetzes über das Elterngeld sowie auf Entschädigungen und Tagegelder im Zusammenhang mit einer Sportreise erhoben. …“

„§ 23. Grundfreibetrag

Während des Veranlagungszeitraums darf eine ansässige natürliche Person von ihren Einkünften abziehen:

1)      27 000 EEK in 2008;

…“

„§ 232. Zusätzlicher Freibetrag bei Altersrenten

Erhält eine ansässige natürliche Person eine gesetzliche Altersrente von einem Vertragsstaat, eine in diesem Staat gesetzlich vorgesehene, zwingend kapitalfundierte Altersversorgung oder eine Altersrente auf der Grundlage einer Vereinbarung der sozialen Sicherheit, wird ein zusätzlicher Freibetrag in Höhe dieser Altersrenten bis maximal 36 000 EEK pro Veranlagungszeitraum von den Einkünften dieser Person abgezogen.“

„§ 283. Abzüge von den Einkünften einer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässigen Person

Eine in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässige natürliche Person kann die in diesem Kapitel vorgesehenen Freibeträge ebenfalls auf ihre in Estland steuerpflichtigen Einkünfte anwenden, wenn sie mindestens 75 % ihrer steuerpflichtigen Einkünfte während eines Veranlagungszeitraums in Estland erzielt und eine Einkommensteuererklärung für ansässige natürliche Personen abgibt. Unter steuerpflichtigen Einkünften werden die Einkünfte vor Abzug von Freibeträgen gemäß den Bestimmungen des betreffenden Staates verstanden.“

„§ 29. Steuerpflichtiges Einkommen nicht ansässiger Personen

(9)      Die Einkommensteuer wird auf Altersrenten und Stipendien, Kultur-, Sport- und Wissenschaftspreise, Zuwendungen, Arbeitslosengeld, auf nach § 19 Abs. 2 und 3 ausgezahlte Lotteriegewinne, auf Zuwendungen aufgrund des Gesetzes über das Elterngeld sowie auf Alimente und Unterhaltszahlungen gemäß § 19 Abs. 1, die durch den estnischen Staat, eine Gebietskörperschaft oder eine in Estland ansässige Person an eine nicht ansässige Person gezahlt werden. Die Einkommensteuer wird auf Versicherungsleistungen der estnischen Krankenkasse, der estnischen Arbeitslosenversicherung oder einer ansässigen estnischen Versicherung nach den §§ 20 und 21 an eine nicht ansässige Person sowie auf Zahlungen durch einen in Estland registrierten Pensionsfonds erhoben.

…“

„§ 41. Zahlungen, von denen Einkommensteuer einbehalten wird

(6)      Versicherungsleistungen, Altersrenten, Zahlungen eines Pensionsfonds, Stipendien, Lotteriegewinne, Alimente und Unterhaltszahlungen, Zuwendungen aufgrund des Gesetzes über das Elterngeld (§ 19 Abs. 1 und 2, § 20 Abs. 1 bis 3, § 201, § 21 Abs. l und § 29 Abs. 9) oder andere einkommensteuerpflichtige Zahlungen an nicht ansässige Personen oder an eine ansässige natürliche Person, mit Ausnahme der Zahlungen nach Nr. 12;

…“

„§ 42. Abzug vom Einkommensteuerrückbehalt

11       Im Fall einer vom estnischen Staat an eine ansässige natürliche Person gezahlten gesetzlichen Altersrente und einer verpflichtenden kapitalfundierten Altersrente nach dem Gesetz über kapitalfundierte Altersrenten wird ein zusätzlicher Freibetrag (§ 232) in Höhe des Betrages dieser Rente vor der Berechnung des Einkommensteuerrückbehalts abgezogen, soweit dieser Freibetrag pro Kalendermonat nicht ein Zwölftel des in § 232 vorgesehenen Betrages übersteigt.

…“

III – Vorgerichtliches Verfahren

12.      Die Kommission erhielt die Beschwerde einer in Finnland ansässigen Person estnischer Staatsangehörigkeit bezüglich der Einkommensteuer auf die ihr von der Republik Estland gezahlte Altersrente. Die Beschwerdeführerin beklagte insbesondere, dass bei ihr der Abzug der für Ansässige geltenden Grundfreibetragsgrenze sowie die für die Altersrenten von Ansässigen vorgesehene Schwelle für zusätzliche Freibeträge nicht angewandt worden seien.

13.      Die Beschwerdeführerin hatte sich, nachdem sie in Estland das Rentenalter erreicht hatte, in Finnland niedergelassen, wo sie arbeitete, wodurch sie auch dort eine Altersrente erhalten konnte. Dadurch erhält sie zwei Renten, eine von Estland und eine weitere von Finnland, mit einem annähernd gleichen Betrag. Die Rente aus Estland unterliegt, anders als die aus Finnland, der Einkommensteuer (6).

14.      Da die Beschwerdeführerin nämlich ein sehr niedriges Gesamteinkommen hat, das die für in Finnland ansässige Personen vorgesehene Grundfreibetragsgrenze nicht überschreitet, zahlt sie in diesem Mitgliedstaat keine Steuern. Folglich erhält sie bei der Bestimmung der in Finnland geschuldeten Einkommensteuer keine Steuergutschrift, die der in Estland für die dort von diesem Staat erhaltene Rente gezahlten Einkommensteuer Rechnung tragen würde.

15.      Aufgrund dessen meint die Kommission, dass die Steuerlast, die in diesem Land von nicht ansässigen Personen, die sich in vergleichbaren Situationen wie die Beschwerdeführerin befänden, zu tragen sei, viel höher sei, als wenn sie ihre gesamten Alterseinkünfte von einem einzigen Mitgliedstaat erzielten, sei es nun von der Republik Finnland oder von der Republik Estland. Die gesamten Alterseinkünfte eines solchen Steuerpflichtigen aus Estland und Finnland würden den Schwellenwert, der für die Steuerbefreiung von in Estland lebenden Rentnern gelte, nur unwesentlich übersteigen, wenn die §§ 23 und 232 des estnischen Einkommensteuergesetzes auf sie angewendet würden.

16.      Die Kommission richtete daher am 4. Februar 2008 ein Mahnschreiben an die Republik Estland mit der Aufforderung, zur möglichen Unvereinbarkeit der nationalen Bestimmungen über die Besteuerung der Altersrenten, die an nicht ansässige Personen gezahlt werden, mit Art. 39 EG und Art. 28 des EWR-Abkommens Stellung zu nehmen.

17.      Mit Schreiben vom 9. April 2008 trat die Republik Estland der Ansicht der Kommission damit entgegen, dass nach ihren Rechtsvorschriften diejenigen nicht ansässigen Personen der gleichen Besteuerung wie ansässige Personen unterworfen werden könnten, die aus Estland den größten Teil ihrer Einkünfte, also wenigstens 75 % davon, bezögen. In den übrigen Fällen habe der Staat, in dem die betreffende Person ansässig sei, für eine angemessene Besteuerung zu sorgen.

18.      Am 17. Oktober 2008 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Estland mit der Aufforderung, binnen zwei Monaten nach deren Erhalt die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Anweisungen nachzukommen.

19.      Mit Antwort vom 18. Dezember 2008 widersprach die Republik Estland den Rügen der Kommission bezüglich der Unvereinbarkeit des estnischen Einkommensteuergesetzes mit Art. 39 EG. Dagegen räumte sie ein, dass dieses Gesetz Lücken in Bezug auf Art. 28 des EWR-Abkommens enthalte, und erklärte sich bereit, den Anwendungsbereich von § 283 dieses Gesetzes auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums auszudehnen.

20.      Da die Kommission die Lage weiterhin für unbefriedigend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

21.      Mit ihrer am 22. Januar 2010 erhobenen Klage hat die Kommission beim Gerichtshof beantragt, festzustellen, dass die Republik Estland ihren Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und aus Art. 28 des EWR-Abkommens nicht nachkommt, weil sie in ihren Rechtsakten nicht vorgesehen hat, dass solchen nicht Gebietsansässigen Einkommensteuerfreiheit gewährt wird, deren Gesamteinkünfte so gering sind, dass sie von der Einkommensteuer befreit wären, wenn sie gebietsansässige Steuerzahler wären.

22.      Die Republik Estland hat unter Verweis auf eine andere Auslegung der einschlägigen Bestimmungen beantragt, die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen und die Kommission zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

23.      Das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik sowie das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland haben Streithilfeschriftsätze zur Unterstützung der Anträge der Republik Estland eingereicht.

24.      Die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Schweden sind als Streithelfer und zur Abgabe ihrer Stellungnahmen zur Unterstützung der Anträge des beklagten Mitgliedstaats in der mündlichen Verhandlung zugelassen worden.

25.      In der mündlichen Verhandlung am 15. September 2011 haben die Kommission und die Republik Estland sowie das Königreich Spanien und das Königreich Schweden mündlich Stellung genommen.

V –    Analyse der Vertragsverletzungsklage

A –    Zur Zulässigkeit der Klage

26.      Die Republik Estland beantragt in erster Linie, die Klage der Kommission als unzulässig abzuweisen.

27.      Zwei Streithelfer, das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik, haben ebenfalls die Unzulässigkeit der gegen die Republik Estland erhobenen Vertragsverletzungsklage geltend gemacht.

1.      Zur Unzulässigkeit aufgrund missverständlicher Formulierung der Klage

28.      In ihrer Gegenerwiderung hat die Republik Estland, unterstützt in diesem Punkt durch das Königreich Spanien, eine Unzulässigkeitseinrede wegen fehlender Klarheit der Schriftsätze der Kommission geltend gemacht. Die Beklagte hat argumentiert, die Klägerin habe nicht ausdrücklich angegeben, in welchen Fällen ein Staat in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Personen einen Steuerfreibetrag gewähren müsse und wie daher die vorgeworfene Vertragsverletzung behoben werden könnte. Die Kommission habe in ihrer Klageschrift erklärt, das einschlägige Kriterium stelle darauf ab, dass das weltweite Einkommen der nicht ansässigen Personen niedriger als die im Quellenstaat vorgesehene Freibetragsgrenze sei, während sie in der Erwiderung befürwortet habe, die Freibetragsgrenze im Wohnsitzstaat zugrunde zu legen. Dieser Widerspruch in den Rügen der Kommission mache deren Vertragsverletzungsklage im Hinblick auf ein für das Verständnis des Gegenstands des Verfahrens unerlässliches Element missverständlich, weshalb der Gerichtshof die Klage als unzulässig abweisen müsse.

29.      Die Kommission hat dagegen vorgetragen, ihre Forderungen seien klar und widerspruchsfrei; ein Mitgliedstaat habe nur das Mindesteinkommen zu berücksichtigen, das ein Steuerpflichtiger erzielen müsse, um nach seinem eigenen Recht zur Mitfinanzierung des öffentlichen Haushalts herangezogen werden zu können, nicht dagegen das in den anderen betroffenen Mitgliedstaaten geltende Niveau.

30.      In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission außerdem eingewandt, dass die Geltendmachung eines Unzulässigkeitsgrundes durch die Beklagte, die erst in ihrer Gegenerwiderung und nicht bereits früher erfolge, den Bestimmungen der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union widerspreche. Die Republik Estland hat jedoch geltend gemacht, sie habe bereits in ihrer Klagebeantwortung die mangelnde Klarheit der Klageschrift in Bezug auf eine mögliche Berücksichtigung der Freibetragsgrenze im Wohnsitzstaat angedeutet.

31.      Ich weise darauf hin, dass Art. 38 Abs. 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in Verbindung mit Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs als Voraussetzung für die Zulässigkeit verlangt, dass die Klageschrift, mit der der Gerichtshof wegen einer Vertragsverletzung angerufen wird, den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der geltend gemachten Klagegründe enthält.

32.      Nach ständiger Rechtsprechung hat die Kommission in den Anträgen einer nach Art. 258 AEUV erhobenen Klage genau anzugeben, über welche Rügen der Gerichtshof entscheiden soll. Diese Anträge müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht(7). Widersprüche(8) sowie lapidare Behauptungen(9) in der von der Kommission vorgetragenen Begründung der Vertragsverletzungsklage werden den Anforderungen der beiden genannten Vorschriften nicht gerecht. Wenn diese nicht erfüllt sind, sind die Rügen unzulässig, da sie auf unzureichende und unklare Argumente gestützt sind, sofern aus ihnen nicht alle essenziellen Bestandteile der Vertragsverletzung abgeleitet werden können(10).

33.      Eine Vertragsverletzungsklage, die auf mehrdeutigen oder sogar widersprüchlichen Argumenten beruht, muss für unzulässig erklärt werden, da sie sowohl dem betreffenden Mitgliedstaat als auch dem Gerichtshof die Möglichkeit nimmt, die genaue Tragweite der vorgeworfenen Verletzung des Unionsrechts zu erfassen. Diese Kenntnisnahme ist jedoch einerseits erforderlich, damit dieser Staat seine Verteidigungsmittel effektiv einsetzen kann, und andererseits, damit der Gerichtshof das Vorliegen der behaupteten Verletzung überprüfen kann(11).

34.      Vorliegend erscheint es mir bei der Lektüre der Klageschrift und ihrer anderen Schriftsätze, dass die Kommission ihre Rüge bezüglich der Freibetragsgrenze, die ein Mitgliedstaat, in dem Einkünfte erzielt werden und der nicht in seinem Staatsgebiet ansässige Steuerpflichtige einer direkten Besteuerung unterwirft, zu berücksichtigen hat, nicht klar und genau formuliert hat. Die Republik Estland hat anhand verschiedener detaillierter Beispiele in ihrer Gegenerwiderung veranschaulicht, dass die Klageschrift an sich ungenau ist und dass bezüglich dieser Rüge Widersprüche zwischen der Klageschrift und der Erwiderung der Kommission bestehen. Die von diesem Staat erhobenen Einwände sind daher aus meiner Sicht begründet.

35.      Hinzu kommt, dass die Kommission sogar den Gegenstand ihrer Klage nicht präzise umrissen hat. Denn obwohl es sich um einen wesentlichen Punkt handelt, hat die Klägerin erst in der mündlichen Verhandlung die Tragweite ihrer Klage festgelegt. Auf die ihr gestellten Fragen hat sie erklärt, dass die Vertragsverletzungsklage ungeachtet des anscheinend allgemeinen Ansatzes in der Klageschrift nicht so zu verstehen sei, als betreffe sie die Situation aller Steuerpflichtigen, die in Estland sehr geringe Einkünfte erzielten(12) und in einem anderen Mitgliedstaat ansässig seien; sie sei vielmehr auf die Fälle gebietsfremder Personen beschränkt, die Altersrenten aus Estland bezögen. Aufgrund des weiten Wortlauts des verfahrenseinleitenden Schriftstücks könnte trotzdem Verwirrung bestehen(13). Außerdem gehen die Stellungnahmen der Republik Estland und der anderen als Streithelfer zur Unterstützung seiner Anträge beigetretenen Mitgliedstaaten alle davon aus, dass sich die Klage nicht auf nichtansässige Rentner beschränke, sondern allgemein alle nichtansässigen Steuerpflichtigen betreffe.

36.      Da der Gerichtshof von Amts wegen das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 258 AEUV prüfen darf(14), halte ich es für notwendig, dass er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, um die Unzulänglichkeiten der Kommission zu ahnden. Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass wegen der Bedeutung, die der AEU-Vertrag der Klage der Union gegen die Mitgliedstaaten wegen Vertragsverletzung beimisst, dieses Verfahren mit Garantien ausgestattet wurde, die umso weniger außer Acht gelassen werden dürfen, als diese Klage die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach sich zieht, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben(15).

37.      Im Rahmen eines Verfahrens wie dem vorliegenden ist es grundlegend, dass der Mitgliedstaat, dem eine Vertragsverletzung vorgeworfen wird, genau weiß, was er hätte tun müssen. Die Angaben der Kommission gegenüber der Republik Estland waren dagegen nicht so klar, dass Estland ohne Schwierigkeiten seine Verteidigung vorbereiten konnte. Außerdem ist der Gerichtshof unter diesen Umständen nicht vollständig in der Lage, zu beurteilen, ob die geltend gemachten Argumente begründet sind.

38.      Da die vorliegende Vertragsverletzungsklage somit auf einer Formulierung der Rügen beruht, die meiner Meinung nach zugleich inkohärent und ungenau ist, sind die oben genannten Voraussetzungen nicht erfüllt, weshalb die Klage in vollem Umfang als unzulässig abzuweisen ist.

2.      Zu der auf die Empfehlung 94/79 gestützten Unzulässigkeitseinrede

39.      Nach Meinung der Portugiesischen Republik verhält sich die Kommission widersprüchlich und verstößt damit gegen die Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung, der loyalen Zusammenarbeit und des Vertrauensschutzes, da sie eine Vertragsverletzungsklage gegen die Republik Estland erhoben habe, ohne zu berücksichtigen, dass die beanstandeten Rechtsvorschriften der Empfehlung 94/79 entsprächen, in der die Klägerin ihre eigenen Richtlinien auf diesem Gebiet festgelegt habe und die durch keinen späteren Rechtsakt widerrufen oder ersetzt worden sei.

40.      Auch das Königreich Spanien trägt vor, dass die Kommission den Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt habe, als sie bei den Regierungschefs der Mitgliedstaaten die Erwartung dahin gehend geweckt habe, dass die Einhaltung der in der Empfehlung 94/79 ausgesprochenen Kriterien dazu führe, dass ihnen keine Vertragsverletzung vorgeworfen werden könne. Durch ihren nicht begründeten Meinungswechsel und den unterbliebenen Erlass einer neuen Empfehlung habe die Kommission auch den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt, der die Mitgliedstaaten schütze, da die eventuelle Feststellung einer Vertragsverletzung durch den Gerichtshof zu einer Haftung des betreffenden Mitgliedstaats führen könne.

41.      Diese beiden Streithelfer tragen vor, dass die Ahndung eines solchen Verhaltens der Kommission die Unzulässigkeit oder die Abweisung der von ihr erhobenen Klage sein müsse.

42.      Dagegen wendet die Kommission ein, dass sich das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik auf Unzulässigkeitsgründe beriefen, die als solche nicht von dem beklagten Mitgliedstaat geltend gemacht worden seien. Unter Berufung auf Art. 40 Abs. 4 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs und Art. 93 Abs. 4 der Verfahrensordnung sowie auf die Rechtsprechung(16) meint sie, diese Streithelfer könnten keine neue Unzulässigkeitseinrede erheben, und der Gerichtshof sei daher nicht verpflichtet, diese Gründe zu prüfen.

43.      Es ist zu beachten, dass nach Art. 40 Abs. 2 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs einem bei diesem Gericht anhängigen Rechtsstreit alle Personen beitreten können, die ein berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits glaubhaft machen. Nach Abs. 4 dieses Artikels können „mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen … nur die Anträge einer Partei unterstützt werden“. Zusätzlich bestimmt Art. 93 § 4 der Verfahrensordnung, dass „der Streithelfer … den Rechtsstreit in der Lage annehmen [muss], in der dieser sich zur Zeit des Beitritts befindet“.

44.      Nach ständiger Rechtsprechung verwehren es diese Bestimmungen einem Streithelfer zwar nicht, andere Argumente als die von ihm unterstützte Partei vorzubringen, dies gilt jedoch nur, soweit diese Argumente nicht den Rahmen des Rechtsstreits ändern und die Streithilfe weiterhin die Unterstützung der Anträge dieser Partei bezweckt(17). Außerdem steht fest, dass ein Streithelfer nicht zur Erhebung einer Unzulässigkeitseinrede befugt ist, die der Beklagte in seinen Anträgen nicht geltend gemacht hat(18).

45.      Vorliegend haben das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik in der Tat eine Unzulässigkeitseinrede erhoben, um die Anträge der Beklagten zu unterstützen, die selbst die Unzulässigkeit der Klage geltend gemacht hat.

46.      Die Republik Estland hat jedoch die Unzulässigkeit der Vertragsverletzungsklage aus einem anderen Grund geltend gemacht als diese beiden Streithelfer. Das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik haben daher in meinen Augen, ohne dazu befugt zu sein, eine auf eine andere Grundlage gestützte Unzulässigkeitseinrede erhoben als die von ihnen unterstützte Partei, deren Prüfung zu einer Änderung des Streitgegenstands führen würde, wie er in der Klageschrift und in den Schriftsätzen sowohl der Kommission als auch der Beklagten bestimmt wurde.

47.      Ich halte es aber für denkbar, dass ein Mitgliedstaat, dem eine Vertragsverletzung vorgeworfen wird, keine Unzulässigkeitseinrede erheben möchte, die auf Gründe gestützt ist, die er bewusst nicht nennen möchte. Die Mitgliedstaaten, die in dem ihn betreffenden Verfahren als Streithelfer intervenieren dürfen, hätten durch die Einführung zusätzlicher Argumente in den Rechtsstreit die Möglichkeit, den beklagten Staat zu zwingen, zu Punkten Stellung zu nehmen, die dieser überhaupt nicht erörtern wolle.

48.      Nach Art. 92 § 2 der Verfahrensordnung prüft der Gerichtshof von Amts wegen die Zulässigkeit der Klage nur im Hinblick auf unverzichtbare Prozessvoraussetzungen(19). Der Gerichtshof kann daher über die Begründetheit einer Unzulässigkeitseinrede, die ein Streithelfer erhebt und nicht der Beklagte, nur entscheiden, wenn diese Einrede eine unverzichtbare Prozessvoraussetzung betrifft(20).

49.      Dies erscheint mir bei der Unzulässigkeitseinrede der portugiesischen und der spanischen Regierung nicht der Fall zu sein, auch wenn Letztere vorgetragen hat, dass die Einhaltung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts eine unverzichtbare Prozessvoraussetzung sei, die der Gerichtshof von Amts wegen prüfen könne(21) und sogar müsse(22). Ich meine, dass eine unverzichtbare Prozessvoraussetzung nur vorliegt, wenn die Nichtachtung dieser Grundsätze eine Verfahrensvorschrift – und keine materielle Vorschrift – verletzen würde, die der Gerichtshof als grundsätzliche Garantie zu schützen hat.

50.      Daher meine ich, dass die von den Streithelfern geltend gemachte Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen ist, während die der Beklagten zur Abweisung der Vertragsverletzungsklage als unzulässig wegen mangelnder Klarheit führen müsste.

51.      Ich werde jedoch hilfsweise Ausführungen machen für den Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass zum Vorliegen einer Vertragsverletzung Stellung zu nehmen sei.

B –    Begründetheit

52.      Falls der Gerichtshof meinen sollte, dass die Klage in der vorliegenden Rechtssache zulässig ist, sollte die Vertragsverletzung, die der Republik Estland vorgeworfen werden könnte, aus meiner Sicht nur die Besteuerung der Einkünfte derjenigen Rentner betreffen, die von ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben und Altersrenten aus zwei Mitgliedstaaten erhalten. Eine solche Beschränkung der Tragweite der Klage ergibt sich daraus, dass die Kommission in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass trotz der weiten Formulierung ihrer eigenen Schriftsätze deren Gegenstand so zu verstehen sei, dass er sich auf diese Problematik konzentriere. Daraus folgt, dass die Klage aus meiner Sicht im Hinblick auf andere als die in diese Kategorie von Personen fallenden Steuerzahler als im Übrigen unbegründet abzuweisen ist.

1.      Zur Verletzung von Art. 45 AEUV

a)      Auf die Empfehlung 94/79 gestützte Verteidigung

53.      Nach Ansicht der Republik Estland hat die Kommission durch die Erhebung einer gegen sie gerichteten Vertragsverletzungsklage den Inhalt ihrer Empfehlung 94/79 nicht beachtet. Die Beklagte macht geltend, dass die Kommission darin festgelegt habe, dass die Gleichbehandlung ansässiger und nichtansässiger Personen nur erforderlich sei, wenn die nichtansässigen Personen während des betreffenden Steuerjahrs wenigstens 75 % ihrer steuerpflichtigen Einkünfte im Quellenstaat erhalten hätten, so wie es auch vorliegend in Estland vorgesehen sei.

54.      Im Hinblick auf die einschlägigen nationalen Bestimmungen in Verbindung insbesondere mit Art. 2 der Empfehlung 94/79(23) wird klar, dass sich die Republik Estland tatsächlich von den Bestimmungen dieses Rechtsakts hat leiten lassen. Aber reicht die Übernahme des in einer Empfehlung enthaltenen Kriteriums durch den Gesetzgeber eines Mitgliedstaats aus, um jedem Risiko eines Vertragsverletzungsverfahrens zu entgehen? Ich meine nicht.

55.      Die Kommission entgegnet, dass ein Rechtsakt wie die Empfehlung 94/79 keine zwingenden Wirkungen entfalte und nicht die Ergänzung des Primärrechts über die Freizügigkeit bezwecken könne.

56.      Ich weise darauf hin, dass Rechtsakte ohne Entscheidungscharakter wie die Empfehlung 94/79 nach Art. 249 Abs. 5 EG für ihre Adressaten „nicht verbindlich“ sind.

57.       Wie die Republik Estland betont, ergibt sich aber aus der Rechtsprechung, dass, selbst wenn die Empfehlungen selbst keine Rechte schaffen können, auf die sich der Einzelne vor den Gerichten der Mitgliedstaaten berufen könnte, ihnen dennoch nicht jegliche rechtliche Wirkung in Bezug auf die Auslegung einer nationalen Bestimmung fehlt, die genau wie die vorliegend fragliche eine Verbindung zum Unionsrecht aufweist, denn die Richter müssen sie bei der Lösung der ihnen vorgelegten Rechtsstreitigkeiten zu diesem Bereich beachten(24).

58.      Überdies können die Empfehlungen indirekte rechtliche Wirkungen haben, wenn davon auszugehen ist, dass das Organ, von dem sie stammen, sich selbst derart gebunden hat, dass es eine legitime Erwartung geweckt hat, die anlässlich eines Rechtsstreits geltend gemacht werden kann. Vorliegend behauptet die Kommission, dass sie bei der Verabschiedung der Empfehlung 94/79 nicht beabsichtigt habe, auf die spätere Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren in dem von der Empfehlung abgedeckten Bereich zu verzichten. Aus den Erwägungsgründen 3 und 4 dieser Empfehlung ergibt sich eindeutig, dass die in diesem Rechtsakt enthaltene Stellungnahme der Kommission sie nicht an einem aktiven Vorgehen gegen Vertragsverletzungen hindert, um die Einhaltungen der grundlegenden Prinzipien des AEU-Vertrags zu gewährleisten.

59.      Meiner Meinung nach hat der Umstand, dass die Kommission in der Empfehlung 94/79 einige Anhaltspunkte gegeben hat, keine Auswirkungen auf die Begründetheit der vorliegenden Klage. Die Existenz eines solchen Rechtsakts kann bei dem Regierungschef des betroffenen Mitgliedstaats oder anderer Mitgliedstaaten keine ernsthafte Erwartung dahin gehend wecken, dass die in dieser Empfehlung enthaltenen Kriterien im Fall ihrer Übernahme in das nationale Recht Sicherheit gegen jegliche Rechtsverfolgung bieten, so wie es die Republik Estland und einige andere Streithelfer zu verstehen geben.

60.      Nach ständiger Rechtsprechung beruht das Verfahren nach Art. 258 AEUV auf der objektiven Feststellung, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt verstoßen hat. Welche Gründe den Mitgliedstaat, dem die behauptete Vertragsverletzung vorgeworfen wird, zu seinem Verhalten veranlasst haben, ist ohne Bedeutung(25). Daher können weder der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der den Grundsatz der Rechtssicherheit als logische Folge hat, noch der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in einem Fall wie dem vorliegenden von einem Mitgliedstaat geltend gemacht werden, um sich gegen die objektive Feststellung zu verteidigen, dass er gegen seine aus dem Unionsrecht resultierenden Verpflichtungen verstoßen hat, denn die Anerkennung solcher Rechtfertigungsgründe würde dem mit dem Vertragsverletzungsverfahren verfolgten Ziel zuwiderlaufen(26).

61.      Ich stelle fest, dass die Tatsache, dass eine nationale Maßnahme möglicherweise konform oder wenigstens nicht unvereinbar mit einer Bestimmung des Sekundärrechts ist, nicht dazu führt, dass diese Maßnahme nicht mehr den Bestimmungen des AEU-Vertrags unterliegt, und dies selbst dann, wenn die Bestimmung des Sekundärrechts zwingende Rechtswirkungen entfaltet(27), und somit schon gar nicht, wenn sie nicht zwingend ist. Es erscheint mir vorliegend für die Beurteilung der Begründetheit der Vertragsverletzungsklage im Hinblick auf Art. 45 AEUV irrelevant, dass die estnischen Rechtsvorschriften der Empfehlung 94/79 nachempfunden sind, denn die Kommission ist nicht befugt, durch die Verabschiedung einer Empfehlung die Tragweite der sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten zu verändern.

b)      Auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützte Verteidigung

62.      Ich meine zunächst, dass die Kommission im Rahmen des vorliegenden Verfahrens keine Änderung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Bereich, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil Schumacker(28) ergibt, erreichen will. Es muss vielmehr untersucht werden, ob die früher definierten Grundsätze auf eine neue Situation anwendbar sind.

63.      Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass nationale Bestimmungen, die einen Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, Beeinträchtigungen dieser in Art. 45 AEUV niedergelegten Freiheit darstellen, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer gelten(29).

64.      Im Bereich der direkten Steuern kann nur dann ein Hindernis in Form einer Diskriminierung gebietsfremder Steuerpflichtiger vorliegen, wenn deren Situation objektiv mit der gebietsansässiger Steuerpflichtiger im Hinblick auf die Anwendung der in Frage stehenden Steuermaßnahme vergleichbar ist(30).

65.      Grundsätzlich ist die Situation dieser beiden Personengruppen jedoch unterschiedlich. Denn der Gerichtshof hat entschieden, dass die Situation eines Gebietsansässigen spezifisch ist, da zumeist der Großteil seiner Einkünfte in dem Mitgliedstaat konzentriert ist, in dem er zugleich lebt und seine Einkünfte erzielt, woraus folgt, dass dieser Staat grundsätzlich über alle erforderlichen Informationen verfügt, um seine globale Steuerkraft unter Berücksichtigung seiner persönlichen und familiären Situation zu bewerten. Im Gegensatz dazu konzentriert sich der Schwerpunkt der finanziellen und persönlichen Interessen eines Gebietsfremden üblicherweise auf einen anderen Mitgliedstaat als den, der eine Steuer erheben will, nämlich den Staat, in dem sich diese Person niedergelassen hat. Mangels Vergleichbarkeit ist in einem solchen Zusammenhang keine Diskriminierung möglich, weshalb Art. 45 AEUV es grundsätzlich nicht verbietet, dass gebietsansässige Steuerpflichtige steuerlich günstiger behandelt werden als gebietsfremde(31).

66.      Dagegen können die fraglichen Situationen verglichen werden –und besteht daher die Gefahr einer Diskriminierung – in dem Fall, dass eine nichtansässige Person in ihrem Wohnsitzstaat kein relevantes Einkommen erzielt und praktisch die Gesamtheit ihrer steuerpflichtigen Einkünfte aus einer Tätigkeit herrühren, die im Quellenstaat ausgeübt wurde. In diesem Fall kann weder der Staat, in dem ein solcher Steuerpflichtiger wohnt, ihm die Vorteile gewähren, die aus der Berücksichtigung seiner persönlichen und familiären Situation folgen, noch der Staat, in dem die Tätigkeit ausgeübt wurde, wegen der die Altersrente gezahlt wird(32).

67.      In den Urteilen Wallentin und Turpeinen konnte der Wohnsitzstaat die Folgen, die sich aus der persönlichen Situation des Steuerpflichtigen ergeben, nicht berücksichtigen, weil in der ersten Rechtssache die fraglichen Einkünfte ihrem Wesen nach nicht steuerpflichtig waren und in der zweiten Rechtssache der Staat nach einem anwendbaren zweiseitigen Abkommen steuerlich nicht zuständig war. Der Gerichtshof hat entschieden, dass in einem solchen Fall der Quellenstaat sein eigenes Steuersystem, also eine pauschale Quellenbesteuerung ohne Berücksichtigung von Freibeträgen, gegenüber gebietsfremden Personen nicht so anwenden darf, dass dies für sie zu einer höheren Besteuerung als der gebietsansässigen Personen führen würde.

68.      Die vorliegende Vertragsverletzungsklage unterscheidet sich von diesen Präzedenzfällen insoweit, als hier die Verteilung der steuerpflichtigen Einkünfte der Betroffenen bei etwa 50/50 liegt, woraus folgt, dass in keinem der betroffenen Mitgliedstaaten ein überwiegender Teil des Einkommens erzielt wird. Zwar war die Situation des Steuerpflichtigen im Urteil Wallentin wirtschaftlich mit derjenigen der Beschwerdeführerin vor der Kommission im vorliegenden Verfahren vergleichbar, da er vergleichbare Einkünfte in zwei Mitgliedstaaten erzielte; sie war jedoch in formeller Hinsicht dahin gehend anders, als der Betreffende nur im Quellenstaat steuerpflichtige Einkünfte erzielte, da die im Wohnsitzstaat erhaltenen finanziellen Hilfen ihrem Wesen nach nicht besteuert wurden.

69.      Meiner Meinung nach besteht der atypischste Umstand des vorliegenden Verfahrens darin, dass dieses den Fall einer Person im Ruhestand betrifft, die in verschiedenen Mitgliedstaaten Rentenansprüche erworben hat, ohne dass die eine oder die andere Altersrente eindeutig höher ist, und keine erwerbstätige Person, die im fraglichen Veranlagungszeitraum in zwei Mitgliedstaaten gearbeitet hat, wie dies in den meisten dem Gerichtshof bisher zur Prüfung unterbreiteten Rechtssachen der Fall war.

70.      Die internationalen Abkommen im Bereich des Einkommensteuerrechts liefern interessante Erkenntnisse dazu, wie Hindernisse, die die grenzüberschreitende Bewegung von Personen und insbesondere Arbeitnehmern, denen Rentner gleichgestellt werden können, beseitigt werden können. Es erscheint mir jedoch, dass im internationalen Steuerrecht Einkünfte aus Ruhegehältern als eine von den anderen Einkommensformen gesonderte Kategorie behandelt werden.

71.      Ein anschauliches Beispiel liefert Art. 18 des Musterabkommens der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)(33) bezüglich der „Renten“(34), der insoweit folgende Mustervorschrift vorsieht: „Vorbehaltlich des Artikels 19 Absatz 2 [über den öffentlichen Dienst] können Ruhegehälter und ähnliche Vergütungen, die einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person für frühere unselbständige Arbeit gezahlt werden, nur in diesem Staat besteuert werden.“ Die Verfasser dieses Abkommens haben das gleiche steuerpolitische Grundkonzept gewählt wie jenes, das dem Urteil Schumacker zugrunde liegt. Aus meiner Sicht beruht diese Behandlung steuerpflichtiger Rentner auf zwei Überlegungen: zum einen der, dass der Wohnsitzstaat am besten über alle zweckdienlichen Informationen zur persönlichen Situation des Betreffenden verfügt, und zum anderen, dass Rentner oft zusätzliche Kosten für den Staat verursachen, in dem sie wohnen(35).

72.      Genau diesem internationalen Abkommen zugrunde liegenden Konzept entsprechend meine ich, dass die Situation von Rentnern sich von der noch im Berufsleben stehenden Arbeitnehmern, deren Situation sich in Abhängigkeit von ihrem Arbeitsort entwickeln kann und deren Einkünfte in der Regel höher sind, unterscheidet und dass daher auf Einkünfte aus Altersgeldern besondere Regeln anzuwenden sind. Die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs betrifft in erster Linie die Situation aktiver Arbeitnehmer, die im betreffenden Veranlagungszeitraum in verschiedenen Mitgliedstaaten gearbeitet haben, während die vorliegende Rechtssache einen Rentner betrifft, der im Laufe seines Berufslebens und über mehrere Jahre Rentenansprüche in zwei Mitgliedstaaten erworben hat. Vorliegend meine ich, dass eine Vergleichbarkeit gebietsansässiger und gebietsfremder Personen in einem bestimmten Veranlagungszeitraum nicht in Frage kommt, wie es in den Rechtssachen betreffend aktive Arbeitnehmer der Fall war. Die in Rede stehende Situation besteht jetzt und in Zukunft fort, da die betreffende Person nicht mehr arbeitet und ihre Freizügigkeit nicht mehr ausübt.

73.      Aus meiner Sicht darf die Vergleichbarkeit solcher Situationen nicht abstrakt untersucht werden, sondern nur unter Berücksichtigung des mit den nationalen Vorschriften verfolgten Zwecks. Dieser Zweck erlaubt es, zu bestimmen, ob die unterschiedliche Behandlung bei grenzüberschreitendem Bezug Situationen betrifft, die objektiv vergleichbar sind oder nicht(36).

74.      Wie die Kommission ausführt, will der estnische Gesetzgeber diejenigen Steuerpflichtigen, deren Einkommen zu niedrig ist, von der Pflicht zur Finanzierung des öffentlichen Haushalts ausnehmen.

75.      In der Praxis erfolgt dies bei Rentnern durch die Kombination des Grundfreibetrags nach § 23 des estnischen Einkommensteuergesetzes und des zusätzlichen Freibetrags für Altersrenten nach § 232 dieses Gesetzes. Jeder, der ein niedriges Einkommen hat, kommt in den Genuss des Grundfreibetrags, aber nur Steuerpflichtige im Ruhestand können den zweiten Freibetrag geltend machen. Offenkundig wird die Steuererleichterung durch den zweiten Freibetrag dadurch gerechtfertigt, dass die Rentner in Anbetracht ihres Alters oder ihres Gesundheitszustands dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen nicht mehr zur Verfügung stehen und daher ihre Einkünfte nicht mehr aufbessern können.

76.      Es ist festzustellen, dass sich die Leistungsfähigkeit eines Steuerpflichtigen im Ruhestand, zur Finanzierung des Staatshaushalts der Republik Estland beizutragen, nicht allein dadurch erhöht, dass er in einen anderen Mitgliedstaat umzieht. Daher teile ich die Ansicht der Kommission, wonach die nichtansässigen Steuerpflichtigen im Ruhestand, die ein bescheidenes Einkommen haben, sich trotz des unterschiedlichen Orts ihres Wohnsitzes in einer mit in Estland lebenden Personen vergleichbaren Situation befinden.

77.      Die Kernfrage, die sich hier stellt, lautet, ob es eine Einschränkung für den Fall gibt, dass Einkünfte, die weder nach dem Recht des Quellenmitgliedstaats noch nach dem Wohnsitzmitgliedstaat besteuert werden können, nur deshalb besteuert werden, weil der Steuerpflichtige in der Weise von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, dass er zwei Renten in annähernd gleicher Höhe erhält. Es ist nämlich möglich, dass sich die Situation eines Steuerpflichtigen verschlechtert, wenn er sich dafür entscheidet, nach dem Ende seines Arbeitslebens in einem anderen Mitgliedstaat nicht in seinen Herkunftsmitgliedstaat zurückzukehren. Solche Situationen scheinen mir jedoch recht häufig bei Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten auftreten zu können, die der Union 2004 oder 2007 beigetreten sind.

78.      Die Kommission beweist gesunden Menschenverstand, wenn sie vorträgt, die Republik Estland solle eine hypothetische Rechnung aufmachen, um zu bestimmen, was in Bezug auf die Möglichkeit für den nichtansässigen Steuerpflichtigen im Ruhestand, in den Genuss des Freibetrags zu kommen, das Ergebnis wäre, wenn die finnischen Einkünfte zu den estnischen Einkünften hinzugerechnet würden.

79.      Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird nicht durch die Tatsache als solche behindert, dass eine Rente besteuert wird, auch wenn die in Rede stehende estnische Rente angesichts ihrer geringen Höhe in Finnland nicht in gleicher Weise besteuert würde. Das Hindernis besteht jedoch aufgrund der steuerlichen Folgen der Kombination beider Renten, die fast den gleichen Wert haben, weil die Republik Estland eine Rente viel höher besteuert, als wenn der betreffende Steuerpflichtige im Inland ansässig wäre oder diese Rente mindestens 75 % der Gesamteinkünfte des Steuerpflichtigen entspräche. Daher bestrafen die estnischen Rechtsvorschriften die Personen, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, um nacheinander in verschiedenen Mitgliedstaaten zu arbeiten, ohne zurückzukehren, um in Estland zu leben.

80.      Ich meine nicht, dass der Mitgliedstaat, in dem eine Person eine Rente erhält, verpflichtet ist, systematisch die Gesamteinkünfte dieser Person zu ermitteln, aber ich meine, dass ein Unionsbürger, wenn er von seinem Freizügigkeitsrecht gemäß Art. 45 AEUV Gebrauch gemacht und in diesem Mitgliedstaat einen Rentenanspruch erworben hat, weil er dort gearbeitet und gelebt hat, sich in einer vergleichbaren Situation befindet wie Steuerpflichtige, die zum Zeitpunkt der Besteuerung noch dort leben, und daher in gleicher Weise wie diese behandelt werden muss.

81.      Ein Hindernis dieser Art ist aus meiner Sicht in keiner Weise gerechtfertigt, wenn der Wohnsitzstaat bereits die Gesamteinkünfte des Betreffenden berücksichtigt. Denn in diesem Fall bestehen keine Umstände, die es einer Person, die Einkünfte aus verschiedenen Staaten erzielt, ermöglichen würden, das Steuersystem und insbesondere die doppelte Möglichkeit eines Freibetrags zu missbrauchen, um ihre Einkünfte jeglicher Besteuerung zu entziehen.

82.      Ich bemerke, dass die Beschwerdeführerin offenbar über Einkünfte verfügt, die praktisch an der Grenze zum Existenzminimum liegen. Es erscheint mir daher objektiv unverständlich, dass eine Person mit einem so bescheidenen Einkommen in Estland der normalen Besteuerung unterworfen wird, ohne dass ihr die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Freibeträge zugutekommen.

83.      Ich schlage daher hilfsweise vor, festzustellen, dass die der Republik Estland vorgeworfene Vertragsverletzung im Hinblick auf Art. 45 AEUV vorliegt.

2.      Zur Verletzung von Art. 28 des EWR-Abkommens

84.      Art. 28 des EWR-Abkommens bestimmt, dass Mitgliedstaaten für die Wahrung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Europäischen Wirtschaftsraum zu sorgen haben, also zwischen den 27 Mitgliedstaaten der Union und den drei der vier Mitgliedstaaten der EFTA, die diesem Abkommen beigetreten sind.

85.      Die Kommission rügt, dass die Republik Estland ihre Verpflichtungen aus dieser Bestimmung des EWR-Abkommens aus den gleichen Gründen nicht erfüllt habe wie in Bezug auf den behaupteten Verstoß gegen Art. 45 AEUV.

86.      In ihrer Klageerwiderung gibt die Republik Estland an, dass sie ihren in der Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission vertretenen Standpunkt aufrechterhalte, dass ihr Einkommensteuergesetz nicht gegen Art. 28 des EWR-Abkommens verstoße. Sie meint, dass die von der Kommission gerügte unterschiedliche Behandlung Gebietsfremder in Bezug auf diese Bestimmung genauso relevant und gerechtfertigt sei wie im Hinblick auf Art. 45 AEUV.

87.      Gleichwohl steht fest, dass die Republik Estland eingeräumt hat, dass eine Vertragsverletzung hinsichtlich der Verpflichtungen aus Art. 28 des EWR-Abkommens besteht, anders als hinsichtlich der Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV. Denn sie hat anerkannt, dass § 283 ihres Einkommensteuergesetzes ergänzt werden müsse, um den Anwendungsbereich dieser Vorschrift auch auf Staatsangehörige aller Vertragsstaaten des EWR-Abkommens auszudehnen. Die Republik Estland hat dies jedoch nicht vor Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme bestimmten Frist unternommen.

88.      Folglich hat die Republik Estland, auch wenn sie weiterhin die ihr vorgeworfene Pflichtverletzung im Hinblick auf den Inhalt der Verpflichtungen aus Art. 28 des EWR-Abkommens bestreitet, zumindest teilweise anerkannt, dass insoweit eine Vertragsverletzung besteht, indem sie beteuert hat, diese durch eine Änderung des betreffenden Gesetzes zu beseitigen. Sie hat damit die Begründetheit der Klage der Kommission in dieser Hinsicht bestätigt.

89.      Da die Bestimmungen von Art. 28 des EWR-Abkommens die gleiche rechtliche Tragweite haben wie die in ihrem wesentlichen Gehalt identische Bestimmung des Art. 45 AEUV, können im Übrigen die vorstehenden Erwägungen zur Verletzung von Art. 45 AEUV gemäß Art. 6 des EWR-Abkommens und dem sowohl vom Gerichtshof als auch dem EFTA-Gerichtshof anerkannten Erfordernis einer einheitlichen Auslegung(37) entsprechend auf Art. 28 des EWR-Abkommens übertragen werden.

VI – Kosten

90.      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

91.      Die Republik Estland hat beantragt, der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Es ist daher antragsgemäß zu entscheiden, wenn die Klage als unzulässig abgewiesen wird, wie ich es in erster Linie beantragt habe.

92.      Da die Kommission beantragt hat, der Republik Estland die Kosten aufzuerlegen, ist diesem Antrag zu entsprechen, wenn die Klage zulässig ist und dieser Mitgliedstaat mit seinem Vorbringen im Wesentlichen unterliegt, wie ich es hilfsweise vorschlage.

93.      Nach Art. 69 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die beantragt haben, dem Rechtsstreit als Streithelfer beizutreten, ihre eigenen Kosten.

VII – Ergebnis

94.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Der Gerichtshof weist die Vertragsverletzungsklage der Europäischen Kommission auf Feststellung, dass die Republik Estland durch die Anwendung des nationalen Einkommensteuergesetzes gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des Abkommens vom 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum verstoßen hat, als unzulässig zurück.

2.      Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

3.      Die Bundesrepublik Deutschland, das Königreich Spanien, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland tragen ihre eigenen Kosten.

95.      Für den Fall, dass der Gerichtshof diesem Vorschlag nicht folgen sollte, schlage ich hilfsweise vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Der Gerichtshof stellt fest, dass die Republik Estland ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des Abkommens vom 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum verletzt hat, indem sie ihr Einkommensteuergesetz aufrechterhalten hat, wonach nicht gebietsansässige Rentner, die sowohl in Estland als auch in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet und gewohnt haben, nur dann einen Freibetrag für niedrige Einkommen geltend machen können, wenn sie mindestens 75 % ihres steuerpflichtigen Einkommens in Estland erzielen, obwohl ihnen dieser Steuervorteil gewährt würde, wenn sie im Inland ansässig wären. Im Übrigen weist der Gerichtshof die Vertragsverletzungsklage der Kommission hinsichtlich anderer Gruppen gebietsfremder Steuerpflichtiger ab.

2.      Die Republik Estland trägt die Kosten.

3.      Die Bundesrepublik Deutschland, das Königreich Spanien, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland tragen ihre eigenen Kosten.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Vorliegend datiert die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission an die Republik Estland, die den Zeitpunkt bestimmt, auf den bei der Beurteilung des Vorliegens einer möglichen Vertragsverletzung abzustellen ist, vom 17. Oktober 2008, also vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009. Gleichwohl ist unstreitig, dass die Umstände, die zu der behaupteten Vertragsverletzung führen könnten, über die mit Gründen versehene Stellungnahme hinaus vorgelegen haben und auch zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 22. Januar 2010 noch vorlagen. Zudem hat die Kommission in diesem verfahrenseinleitenden Schriftstück nicht mehr die Bestimmungen des EG-Vertrags, sondern die des AEU-Vertrags genannt. Es wird daher auf Letztere Bezug genommen.


3 – ABl. 1994, L 1, S. 3.


4 – Empfehlung 94/79/EG der Kommission vom 21. Dezember 1993 betreffend die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden (ABl. 1994, L 39, S. 22).


5 – Tulumaksuseadus (RT I 1999, 101, 903; RT I 2008, 34, 208).


6 – Die Republik Estland und die Republik Finnland haben am 23. März 1993 in Helsinki ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerflucht hinsichtlich der Einkommen- und der Vermögensteuer unterzeichnet (RT II 1993, 37, 113), dessen Art. 18 anwendbar ist.


7 – Vgl. insbesondere Urteile vom 12. November 2009, Kommission/Spanien (C‑154/08, Randnrn. 60 und 63 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 14. Januar 2010, Kommission/Tschechische Republik (C‑343/08, Slg. 2010, I‑275, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 – Vgl. insbesondere Urteile vom 15. Juni 2006, Kommission/Frankreich (C‑255/04, Slg. 2006, I‑5251, Randnr. 24), vom 28. Juni 2007, Kommission/Spanien (C‑235/04, Slg. 2007, I‑5415, Randnr. 47), und vom 11. September 2008, Kommission/Griechenland (C‑305/06, Randnr. 46).


9 – Urteil vom 16. Juli 2009, Kommission/Polen (C‑165/08, Slg. 2009, I‑6843, Randnrn. 42 bis 47).


10 – Vgl. insbesondere Urteil vom 12. Oktober 2004, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑431/02, Randnrn. 25 bis 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11 – Vgl. insbesondere Urteile vom 1. Februar 2007, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑199/04, Slg. 2007, I‑1221, Randnrn. 21, 25 und 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 12. Februar 2009, Kommission/Polen (C‑475/07, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12 – Ich weise darauf hin, dass der Einkommensbegriff im Sinne von § 19 Abs. 2 des nationalen Einkommensteuergesetzes von der Republik Estland weit verstanden wird.


13 – Vgl. in diesem Sinne den Klageantrag, der im Kern den letzten Teil der mit Gründen versehenen Stellungnahme wiedergibt; angemerkt sei auch, dass § 232 des betreffenden Gesetzes bezüglich des zusätzlichen Freibetrags im Fall von Ruhegeld nicht als einziger in der Begründung der Vertragsverletzungsklage genannt ist.


14 – Vgl. insbesondere Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑199/04, Randnr. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15 – Urteil vom 10. März 1970, Kommission/Italien (7/69, Slg. 1970, 111).


16 – Sie bezieht sich hier auf das Urteil vom 15. Juni 1993, Matra/Kommission (C‑225/91, Slg. 1991, I‑3203).


17 – Vgl. insbesondere Urteile vom 8. Juli 1999, Chemie Linz/Kommission (C‑245/92 P, Slg. 1999, I‑4643, Randnr. 32), vom 8. Januar 2002, Frankreich/Monsanto und Kommission (C‑248/99 P, Slg. 2002, I‑1, Randnr. 56), und vom 24. Mai 2011, Kommission/Griechenland (C‑61/08, Slg. 2011, I‑4399, Randnrn. 33 ff.). Dieser Rechtsprechung folgt auch das Gericht, insbesondere im Urteil vom 13. April 2005, Verein für Konsumenteninformation/Kommission (T‑2/03, Slg. 2005, II‑1121, Randnr. 52).


18 – Vgl. Urteil vom 1. Juli 2008, Chronopost und La Poste/UFEX u. a. (C‑341/06 P und C‑342/06 P, Slg. 2008, I‑4777, Randnr. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19 – Vgl. in diesem Sinne das Urteil Matra/Kommission (Randnr. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20 – Randnr. 65 der Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Chronopost und La Poste/UFEX u. a.


21 – In seinem Streithilfeschriftsatz zitiert das Königreich Spanien insoweit das Urteil vom 29. April 2010, Kommission/Deutschland (C‑160/08, Slg. 2010, I‑3713, Randnr. 40), in dem es nur heißt, dass der Gerichtshof „befugt [ist], von Amts wegen zu prüfen, ob die durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Verfahrensgarantien eingehalten wurden“ (Hervorhebung nur hier).


22 – In der mündlichen Verhandlung hat das Königreich Spanien insoweit auf „die Rechtssache Italien/Kommission, C‑170/99“, Bezug genommen, bei der es sich meines Erachtens in Wirklichkeit um das Urteil vom 30. Januar 2002, Italien/Kommission (C‑107/99, Slg. 2002, I‑1091, Randnrn. 29 und 30), handelt, in dem der Gerichtshof von Amts wegen geprüft hat, ob die Klage nicht verspätet war.


23 – Vgl. auch die Erwägungsgründe 6 und 7 dieser Empfehlung sowie Nrn. 14 und 15 der Begründung.


24 – Vgl. insbesondere Urteile vom 24. April 2008, Arcor (C‑55/06, Slg. 2008, I‑2931, Randnr. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 18. März 2010, Alassini u. a. (C‑317/08 bis C‑320/08, Slg. 2010, I‑2213, Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25 – Vgl. insbesondere Urteile vom 1. Oktober 1998, Kommission/Spanien (C‑71/97, Slg. 1998, I‑5991, Randnrn. 14 und 15), vom 1. Februar 2001, Kommission/Frankreich (C‑333/99, Slg. 2001, I‑1025, Randnrn. 32 und 36), und vom 13. Dezember 2007, Kommission/Luxemburg (C‑244/07, Randnr. 10).


26 – Vgl. insbesondere Urteil vom 6. Oktober 2009, Kommission/Spanien (C‑562/07, Slg. 2009, I‑9553, Randnrn. 18 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).


27 – Urteil vom 16. Mai 2006, Watts (C‑372/04, Slg. 2006, I‑4325, Randnr. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).


28 – Urteil vom 14. Februar 1995, Schumacker (C‑279/93, Slg. 1995, I‑225).


29 – Vgl. insbesondere Urteile vom 16. Mai 2000, Zurstrassen (C‑87/99, Slg. 2000, I‑3337, Randnr. 18), und vom 9. November 2006, Turpeinen (C‑520/04, Slg. 2006, I‑10685, Randnr. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30 – Vgl. insbesondere Urteile vom 6. Oktober 2009, Kommission/Spanien (C‑562/07, Randnr. 59), und vom 18. März 2010, Gielen (C‑440/08, Slg. 2010, I‑2323, Randnrn. 44 f.).


31 – Vgl. Urteile vom 1. Juli 2004, Wallentin (C‑169/03, Slg. 2004, I‑6443, Randnrn. 15 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung), Turpeinen (Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 25. Januar 2007, Meindl (C‑329/05, Slg. 2007, I‑1107, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32 – Vgl. Urteile Zurstrassen (Randnrn. 22 und 23 und die dort angeführte Rechtsprechung), Wallentin (Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung) und Turpeinen (Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie das Urteil vom 16. Oktober 2008, Renneberg (C‑527/06, Slg. 2008, I‑7735, Randnr. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33 – OECD-Musterabkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung von Einkommen und Vermögen, Kurzversion, 8. Ausgabe Juli 2010 (http://dx.doi.org/10.1787/mtc_cond-2010-fr).


34 – Die Verfasser der Empfehlung 94/79 haben angegeben, sich von den Bestimmungen dieses Abkommens inspiriert zu haben, zumindest hinsichtlich der verwendeten Definitionen für die für diesen Rechtsakt erforderlichen Einkommenskategorien (Nr. 12 Abs. 3 der Begründung). Zur Inspiration, die darin von den Mitgliedstaaten gefunden werden kann, vgl. Urteil vom 7. September 2006, N (C‑470/04, Slg. 2006, I‑7409).


35 – Vgl. dazu die Kommentare zu Art. 18 des OECD-Musterabkommens, S. 296, Randnr. 1.


36 – Urteil vom 7. September 2004, Manninen (C‑319/02, Slg. 2004, I‑7477, Randnrn. 32 und 33).


37 – Vgl. Urteile vom 26. Oktober 2006, Kommission/Portugal (C‑345/05, Slg. 2006, I‑10633, Randnrn. 39 ff.), vom 18. Januar 2007, Kommission/Schweden (C‑104/06, Slg. 2007, I‑671, Randnrn. 31 ff.), und vom 20. Januar 2011, Kommission/Griechenland (C‑155/09, Slg. 2011, I‑65, Randnrn. 61 ff.), sowie entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, Kommission/Spanien (C‑562/07, Randnr. 67).