Language of document : ECLI:EU:C:2013:640

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 3. Oktober 2013(1)

Rechtssache C‑378/12

Nnamdi Onuekwere

gegen

Secretary of State for the Home Department

(Vorabentscheidungsersuchen des Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], London [Vereinigtes Königreich])

„Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 16 – Für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt erforderliche Kontinuität des Aufenthalts – Berücksichtigung von Gefängnisaufenthalten im Aufnahmemitgliedstaat“





1.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof gebeten, den Begriff „rechtmäßiger Aufenthalt“ im Sinne von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG(2) zu präzisieren. Diese Bestimmung sieht die Gewährung eines Rechts auf Daueraufenthalt für die Familienangehörigen eines Unionsbürgers vor, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.

2.        Das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London (Vereinigtes Königreich), möchte insbesondere vom Gerichtshof wissen, ob ein Gefängnisaufenthalt als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann.

3.        Sollte der Gerichtshof diese Frage verneinen, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die vor und nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe rechtmäßig zurückgelegten Aufenthaltszeiten für die Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren zusammengerechnet werden dürfen.

4.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe darlegen, aus denen meines Erachtens die Verbüßung einer Freiheitsstrafe nicht als „rechtmäßiger Aufenthalt“ im Sinne von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 angesehen und daher nicht bei der Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren berücksichtigt werden kann, der für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt erforderlich ist. Weiter werde ich ausführen, weswegen ich der Ansicht bin, dass die Zeiten eines rechtmäßigen Aufenthalts vor und nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für die Berechnung dieses Zeitraums nicht zusammengerechnet werden dürfen und dieser Zeitraum durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe unterbrochen wird.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Richtlinie 2004/38

5.        Durch die Richtlinie 2004/38 wird die Gesetzgebung der Union zur Freizügigkeit und zum Aufenthaltsrecht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen zusammengefasst und vereinfacht.

6.        Mit dieser Richtlinie wurden die Verpflichtung der Unionsbürger zur Beschaffung einer Aufenthaltskarte aufgehoben, ein Recht auf Daueraufenthalt für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen eingeführt und die Grenzen der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten in ihrem Gebiet zu beschränken, festgelegt.

7.        Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a)      Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b)      für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c)      –       bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

–      über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d)      ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2)      Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“

8.        Art. 16 („Allgemeine Regel für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen“) der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)      Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitels III geknüpft.

(2)      Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.

(3)      Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.

(4)      Wenn das Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu seinem Verlust.“

B –    Recht des Vereinigten Königreichs

9.        Die Richtlinie 2004/38 wurde im Vereinigten Königreich durch die Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Einwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum]) in der durch die Immigration (European Economic Area) (Amendment) Regulations 2009 (Änderungsverordnung von 2009 über die Einwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum]) geänderten Fassung (im Folgenden: Immigration Regulations) umgesetzt.

10.      Nach Regulation 15(1)(b) der Immigration Regulations erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, sich aber mit diesem Unionsbürger fünf Jahre lang ununterbrochen im Vereinigten Königreich aufgehalten haben, das Recht auf Daueraufenthalt.

11.      Regulation 18(2) der Immigration Regulations verpflichtet den Secretary of State for the Home Department (Innenminister, im Folgenden: Secretary of State) zur Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte binnen sechs Monaten, nachdem der Betroffene diese beantragt und sein Recht auf Daueraufenthalt nachgewiesen hat.

12.      Regulation 21 der Immigration Regulations dient der Umsetzung von Art. 28 der Richtlinie 2004/38.

II – Sachverhalt und Vorlagefragen

13.      Herr Onuekwere ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er gibt an, 1999 in das Vereinigte Königreich eingereist zu sein. Am 2. Dezember 1999 heiratete er eine irische Staatsangehörige, mit der er zwei Kinder hat. Am 5. September 2000 erhielt Herr Onuekwere eine Aufenthaltserlaubnis, die ihn dazu berechtigte, als Ehegatte einer Unionsbürgerin im Vereinigten Königreich zu bleiben. Diese Erlaubnis lief am 5. September 2005 ab.

14.      Am 26. Juni 2000 wurde Herr Onuekwere zu einer für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, weil er in dem Krankenhaus, bei dem er angestellt war, Geschlechtsverkehr mit einem psychisch kranken Patienten hatte. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Bewährungszeit erfüllt wurde, ohne dass es zu einer Vollstreckung der Freiheitsstrafe kam.

15.      Am 30. September 2003 wurde Herr Onuekwere bei einer Grenzkontrolle zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich festgenommen, weil er einem von ihm in seinem Fahrzeug beförderten Mitfahrer geholfen haben soll, illegal ins Vereinigte Königreich einzureisen. Herr Onuekwere wurde bis zur mündlichen Verhandlung auf Kaution freigelassen, erschien jedoch nicht zum Gerichtstermin, wofür er am 18. August 2004 verurteilt wurde. Am 16. September 2004 wurde er wegen der Tat vom 30. September 2003 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

16.      Am 16. November 2005 wurde Herr Onuekwere aus dem Gefängnis entlassen, und mit Verfügung vom 18. November 2005 ordnete der Secretary of State seine Ausweisung an. Gegen diese Verfügung legte Herr Onuekwere Widerspruch ein, dem am 1. November 2006 mit der Begründung stattgegeben wurde, dass er der Ehegatte einer Unionsbürgerin sei, die ihre Rechte aus dem EG­‑Vertrag ausübe.

17.      Am 26. Dezember 2007 wurde Herr Onuekwere bei einer Verkehrskontrolle wegen rechtswidrigen Besitzes gefälschter Papiere verhaftet. Wegen dieser Tat wurde er am 8. Mai 2008 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Das vorlegende Gericht führt aus, dass er zum Zeitpunkt seiner Verurteilung bereits 109 Tage in Untersuchungshaft verbracht habe.

18.      Am 6. Februar 2009, dem Tag, an dem Herr Onuekwere aus dem Gefängnis entlassen wurde, erließ der Secretary of State gegen ihn eine zweite Ausweisungsverfügung. Mit Entscheidung vom 29. Juni 2010 gab das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, dem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf von Herrn Onuekwere statt. Das Gericht führte aus, dass zwar die Ehefrau von Herrn Onuekwere von April 1998 bis Mai 2004 ihre Rechte aus dem Vertrag ausgeübt und somit ein Recht auf Daueraufenthalt erworben habe, dass dies bei Herrn Onuekwere aber nicht der Fall sei, weil seine Inhaftierung ab dem 16. September 2004 dem Erwerb eines solchen Rechts entgegenstehe. Trotzdem dürfe er nicht ausgewiesen werden, weil seine persönlichen Umstände schwerer wögen als das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung.

19.      Auf diese Entscheidung hin beantragte Herr Onuekwere eine Daueraufenthaltskarte. Mit Bescheid vom 24. September 2010 lehnte der Secretary of State diesen Antrag ab. Herr Onuekwere erhob gegen diesen Bescheid Klage beim First-tier Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), über die am 20. Juni 2011 verhandelt wurde. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass Herr Onuekwere zwar Anspruch auf eine Aufenthaltskarte habe, nicht aber ein Recht auf Daueraufenthalt wegen ununterbrochenen Aufenthalts über einen Zeitraum von fünf Jahren.

20.      Daraufhin legte Herr Onuekwere beim vorlegenden Gericht Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein und machte geltend, aus dem Urteil vom 23. November 2010, Tsakouridis(3), ergebe sich, dass die Verbüßung einer Freiheitsstrafe die Kontinuität des Aufenthalts nicht unterbreche, sondern nur einen zu berücksichtigenden Umstand darstelle.

21.      Wie das vorlegende Gericht ausführt, liegt der Zeitraum von rund vier Jahren und zehn Monaten zwischen dem 2. Dezember 1999, dem Tag der Eheschließung von Herrn Onuekwere mit einer Unionsbürgerin, und dem 16. September 2004, dem Tag seiner Verhaftung, nur geringfügig unter dem für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2004/38 erforderlichen Zeitraum von fünf Jahren.

22.      Weil sich das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, nicht sicher ist, wie diese Vorschrift auszulegen ist, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Unter welchen Umständen stellt der Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe gegebenenfalls einen rechtmäßigen Aufenthalt im Hinblick auf den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 der Richtlinie 2004/38 dar?

2.      Falls der Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe nicht als rechtmäßiger Aufenthalt anzusehen ist, ist es einer Person, die eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, gestattet, bei der Berechnung des für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt nach der Richtlinie 2004/38 erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren vor und nach der Haft zurückgelegte Aufenthaltszeiten zusammenzurechnen?

III – Würdigung

23.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Zeit der Verbüßung einer Freiheitsstrafe als „rechtmäßiger Aufenthalt“ angesehen und damit bei der Berechnung des für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren berücksichtigt werden kann.

24.      Sollte ein solcher Zeitabschnitt nicht als „rechtmäßiger Aufenthalt“ angesehen werden können, möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage wissen, ob diese Vorschrift dahin auszulegen ist, dass die Zeiten des rechtmäßigen Aufenthalts vor und nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für die Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren zusammengerechnet werden dürfen.

A –    Zum Begriff „rechtmäßiger Aufenthalt“ im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2004/38

25.      Zunächst möchte ich erläutern, weshalb meines Erachtens die vom vorlegenden Gericht und von Herrn Onuekwere u. a. angeführten Urteile vom 29. April 2009, Orfanopoulos und Oliveri(4), sowie Tsakouridis in der vorliegenden Rechtssache nicht einschlägig sind.

26.      In der Rechtssache Orfanopoulos und Oliveri stellte sich u. a. die Frage, ob Herr Orfanopoulos seinen Status als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts trotz der Verbüßung einer Freiheitsstrafe behalten hatte, da die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts davon abhängt, dass der Betroffene weiter die Eigenschaft eines Arbeitnehmers oder gegebenenfalls Arbeitsuchenden hat. In jener Rechtssache war also nicht zu klären, wie sich die Verbüßung einer Freiheitsstrafe auf die Kontinuität eines rechtmäßigen Aufenthalts im Hinblick auf den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt auswirkt – dieses Recht gab es für Unionsbürger zum Zeitpunkt der Verkündung jenes Urteils noch nicht –, sondern, wie sich die Verbüßung einer Freiheitsstrafe auf die Beibehaltung der Arbeitnehmereigenschaft im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts auswirkt.

27.      In der Rechtssache Tsakouridis ging es um die Frage, inwiefern Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat während des in Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums, also während der zehn Jahre vor der gegen den Betroffenen gerichteten Ausweisungsverfügung, diesen daran hindern, in den Genuss des verstärkten Schutzes zu gelangen. Zu dieser Frage hat der Gerichtshof lediglich ausgeführt, dass der Umstand, dass der Betroffene zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe zwangsweise in den Aufnahmemitgliedstaat zurückgebracht wurde, und die in Haft verbrachte Zeit zusammen mit den in Randnr. 33 jenes Urteils genannten Umständen bei der gebotenen umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden können, um zu bestimmen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind(5).

28.      Der Gerichtshof wurde also in jener Rechtssache nicht gebeten, den – im Übrigen in Art. 28 der Richtlinie gar nicht verwendeten – Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts zu präzisieren, sondern, das durch diese Vorschrift geschaffene System des Ausweisungsschutzes auszulegen. Die Voraussetzungen für die Gewährung und den Verlust des Rechts auf Daueraufenthalt sind von den Voraussetzungen für den Verlust des verstärkten Schutzes zu unterscheiden(6). Somit scheinen mir die Urteile Orfanopoulos und Oliveri sowie Tsakouridis im vorliegenden Fall nicht einschlägig zu sein.

29.      Dagegen enthalten andere, kürzlich ergangene Urteile des Gerichtshofs einige Anhaltspunkte für die Beantwortung der ersten Frage.

30.      Im Urteil vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja(7), hatte der Gerichtshof erstmals Gelegenheit, den Begriff „rechtmäßiger Aufenthalt“ in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zu definieren. Danach ist dieser Begriff, wie er in der Wendung „der sich rechtmäßig … aufgehalten hat“ in Art. 16 Abs. 1 enthalten ist, als ein im Einklang mit den in dieser Richtlinie vorgesehenen, insbesondere mit den in deren Art. 7 Abs. 1 aufgeführten, Voraussetzungen stehender Aufenthalt zu verstehen(8).

31.      Außerdem hat der Gerichtshof im Urteil vom 8. Mai 2013, Alarape und Tijani(9), entschieden, dass im Rahmen von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts der Familienangehörigen des Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, jedenfalls davon abhängt, dass zum einen der Unionsbürger selbst die Voraussetzungen von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt und zum anderen die Familienangehörigen sich während des betreffenden Zeitraums mit ihm aufgehalten haben.

32.      In Bezug auf den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt durch die Familienangehörigen des Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, impliziert diese Verpflichtung, sich im betreffenden Zeitraum mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, für sie zwangsläufig und zugleich ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 als Familienangehörige, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen(10). Ich möchte daran erinnern, dass nach dieser Vorschrift das für Unionsbürger vorgesehene Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Abs. 1 auch für die Familienangehörigen gilt, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm dorthin nachziehen, sofern er die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder c der Richtlinie erfüllt.

33.      Daher können für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nach Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nur Aufenthaltszeiten dieser Angehörigen berücksichtigt werden, die die in Art. 7 Abs. 2 vorgesehene Voraussetzung erfüllen(11).

34.      Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich folgende Feststellung: Das Daueraufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ist kein eigenständiges Recht, sondern ein vom Daueraufenthaltsrecht des Unionsbürgers abgeleitetes Recht. Außerdem ergibt sich das Aufenthaltsrecht eines solchen Drittstaatsangehörigen unmittelbar aus dem Aufenthaltsrecht, das der Unionsbürger nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlangt hat.

35.      Nach Ansicht von Herrn Onuekwere ist daher irrelevant, dass er während der nach Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie erforderlichen fünf Jahre rechtmäßigen Aufenthalts eine Freiheitsstrafe verbüßt hat. Da seine Ehefrau, die Unionsbürgerin sei, die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie erfülle und ein Recht auf Daueraufenthalt besitze, habe er selbst nämlich trotz seiner Gefängnisaufenthalte einen Anspruch auf ein solches Recht. Was darüber hinaus die Voraussetzung des Aufenthalts mit einem Unionsbürger betreffe, die in Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit dem Ausdruck „sich rechtmäßig … mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben“ aufgestellt werde, bestehe keine Pflicht zum Zusammenleben des Unionsbürgers, der sein Recht auf Freizügigkeit und auf freien Aufenthalt ausübe, mit dem Ehegatten, seinem Familienangehörigen, so dass davon ausgegangen werden könne, dass die Gefängnisaufenthalte einem Aufenthalt mit dem Unionsbürger entsprächen.

36.      Ich vermag dem nicht zu folgen.

37.      Was zunächst den in Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 enthaltenen Ausdruck „mit dem Unionsbürger“ betrifft, hat der Gerichtshof seit den 80er Jahren entschieden, dass das Zusammenleben eines Wanderarbeitnehmers mit einem Drittstaatsangehörigen, der sein Familienangehöriger ist, nicht zwangsläufig voraussetzt, dass dieser Familienangehörige ständig in der Wohnung des Arbeitnehmers wohnen muss, sondern nur, dass die Wohnung, über die der Arbeitnehmer verfügt, normalen Anforderungen für die Aufnahme seiner Familie entsprechen muss. Es kann somit nicht anerkannt werden, dass darin das Erfordernis einer einzigen ständigen Familienwohnung mitenthalten ist(12). In jenem Fall ging es um eine Drittstaatsangehörige, die von ihrem Ehegatten, einem Wanderarbeitnehmer, getrennt lebte und ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68(13) erhalten wollte. Der Gerichtshof hat also darauf hingewiesen, dass nicht verlangt wird, dass die Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers im Sinne dieser Vorschrift zwingend ständig bei ihm wohnen müssen, um Inhaber eines Aufenthaltsrechts nach dieser Bestimmung zu sein.

38.      Eine solche Auslegung gilt auch für unionsrechtliche Instrumente, die später als die Verordnung Nr. 1612/68 ergangen sind, vorliegend für die Richtlinie 2004/38. Meines Erachtens ist der Ausdruck „mit dem Unionsbürger“ in Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie nicht wörtlich und damit nicht eng auszulegen, da sonst bestimmte Personen mit einem legitimen Anspruch von den ihnen normalerweise durch die Richtlinie gewährten Rechten ausgeschlossen würden und das Recht jeder Person auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt würde.

39.      Es gibt Situationen, in denen der Unionsbürger und der Drittstaatsangehörige, der sein Familienangehöriger ist, aufgrund äußerer Zwänge nicht ständig unter einem Dach wohnen können. Der Unionsbürger kann etwa gezwungen sein, die Woche über oder sogar für einen längeren Zeitraum in einer anderen Region als der zu wohnen, in der sein drittstaatsangehöriger Ehegatte lebt. Dies gilt insbesondere für unsere heutige Gesellschaft, in der die berufliche und geografische Mobilität häufig vorausgesetzt wird. Bei einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers kann es sich auch um einen Studenten handeln, der in einer anderen Stadt als der studiert, in der der Familienverband seinen Hauptwohnsitz behält.

40.      Der Gerichtshof hat außerdem bereits entschieden, dass die Tatsache, dass die Kinder eines Unionsbürgers nicht ständig bei ihm wohnen, ihre Rechte aus den Art. 10 und 12 der Verordnung Nr. 1612/68 unberührt lässt. Wenn Art. 10 der Verordnung bestimmt, dass der Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers bei diesem Wohnung nehmen darf, bedeutet dies nicht, dass der Angehörige dort ständig wohnen muss, sondern – wie sich aus Art. 10 Abs. 3 ergibt – lediglich, dass die Wohnung, über die der Arbeitnehmer verfügt, normalen Anforderungen an die Aufnahme seiner Familie entsprechen muss(14).

41.      Die nach Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 bestehende Pflicht, sich fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger aufzuhalten, bedeutet also nicht, dass die Betroffenen ständig unter demselben Dach zusammenleben müssen.

42.      Wie ich außerdem darlegen werde, können Gefängnisaufenthalte nicht als Zeiten eines rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne dieser Vorschrift angesehen und damit bei der Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren berücksichtigt werden, der gemäß dieser Bestimmung erforderlich ist, um ein Recht auf Daueraufenthalt zu erlangen.

43.      Man muss sich die Zielsetzung der Richtlinie 2004/38 vor Augen halten. Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Ziolkowski und Szeja ausgeführt habe, kommt in den Erwägungsgründen 3 und 17 der Richtlinie zum Ausdruck, dass mit dieser Richtlinie ein auf die Verstärkung des sozialen Zusammenhalts ausgerichtetes System erreicht werden soll, innerhalb dessen das Recht auf Daueraufenthalt – als Bestandteil der Unionsbürgerschaft, die der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein sollte, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und auf freien Aufenthalt ausüben – als Schlüsselfaktor erscheint. So soll nach dem Willen des Unionsgesetzgebers für diejenigen Unionsbürger, die die Voraussetzungen für den Erwerb dieses Rechts auf Daueraufenthalt erfüllen, praktisch die vollständige Gleichbehandlung mit den nationalen Staatsangehörigen erreicht werden(15).

44.      Das Recht auf Daueraufenthalt geht folglich über das einfache Recht auf freien Aufenthalt und freie Bewegung innerhalb der Union hinaus. Für die Unionsbürger soll dadurch ein Gefühl der vollständigen Zugehörigkeit zur Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats geschaffen werden, u. a., indem Ausländer von allen für sie etwa bestehenden bürokratischen Zwängen befreit werden(16). So unterliegt das Recht auf Daueraufenthalt, wenn es einmal erlangt wurde, keiner der Voraussetzungen des Kapitels III der Richtlinie 2004/38 und insbesondere nicht denen ihres Art. 7.

45.      Zwar geht es in der vorliegenden Rechtssache um einen Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist. Aber die gewünschte Wirkung wird dadurch nicht abgeschwächt. Zunächst ist es dem Unionsgesetzgeber darum gegangen, die Familiengemeinschaft, die untrennbar mit dem Recht auf Schutz des Familienlebens verbunden ist, dadurch zu wahren, dass er die Familienzusammenführung ermöglicht und so die Freizügigkeit der Unionsbürger erleichtert, da diese an der Ausübung ihres Rechts auf freie Bewegung nicht mehr dadurch gehindert sind, dass sie sich dabei von ihrer Familie entfernen(17). Außerdem will der Unionsgesetzgeber, indem er auch den Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, ein Recht auf Daueraufenthalt gewährt, die Familiengemeinschaft auch in der Weise wahren, dass er diesen Drittstaatsangehörigen ebenfalls das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats vermittelt.

46.      Die Gewährung eines Rechts auf Daueraufenthalt läuft für die Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, praktisch darauf hinaus, dass sie einem Unionsbürger gleichgestellt werden, wenn sie mindestens fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat mit ihm zusammengewohnt haben. Für den Unionsgesetzgeber wird durch einen hinreichend langen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat bestätigt, dass der Unionsbürger oder sein Familienangehöriger eine enge Bindung zum Aufnahmemitgliedstaat entwickelt hat und damit eine echte Integration vorliegt.

47.      Das durch die Richtlinie 2004/38 eingeführte System, insbesondere die Schaffung eines Rechts auf Daueraufenthalt, beruht also auf dem Gedanken, dass eine echte Integration gewissermaßen belohnt werden oder zumindest zur Folge haben muss, dass dieses Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats verstärkt wird.

48.      Wenn also ein solches System auf einer echten Integration des Betroffenen beruht, wie könnte dann jemandem, der eine oder mehrere Freiheitsstrafen verbüßt hat, ein Recht auf Daueraufenthalt zustehen? Setzt die Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats nicht voraus, dass derjenige, der sich darauf beruft, in erster Linie die Gesetze und Werte dieser Gesellschaft beachtet?

49.      Meines Erachtens muss genau das der Fall sein. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 21. Juli 2011, Dias(18), festgestellt hat und wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache I. (Urteil vom 22. Mai 2012)(19) ausgeführt habe, beruht die Integration, die dem Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zugrunde liegt, nicht nur auf territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch auf qualitativen Faktoren, die den Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat betreffen(20).

50.      Gefängnisaufenthalte weisen zwangsläufig auf einen geringen Integrationsgrad des Betroffenen hin. Dies wird umso deutlicher, wenn der Betroffene – wie im vorliegenden Fall – mehrfach rückfällig wurde. Ein strafrechtlich vorwerfbares Verhalten zeigt meines Erachtens deutlich den fehlenden Willen des Betroffenen, sich in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zu integrieren.

51.      Führt man die Argumentation von Herrn Onuekwere konsequent weiter, so stellt man fest, dass sie in einem eklatanten Widerspruch zum Geist der Richtlinie 2004/38 und dem mit dieser verfolgten Ziel steht. Letztlich liefe die von Herrn Onuekwere vertretene These auf die Annahme hinaus, dass der Betroffene umso besser in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats integriert ist, je härter die Strafe und damit länger der Gefängnisaufenthalt ist. So könnte etwa ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist und wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt wurde, nach einer Haftzeit von fünf Jahren ein Recht auf Daueraufenthalt geltend machen, soweit sein Ehegatte, der die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt hat, selbst ein Recht auf Daueraufenthalt erworben hat.

52.      Eine solche Argumentation wäre nicht nur unsinnig, sie liefe auch dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel zuwider, das u. a. darin besteht, durch Schaffung eines Rechts auf Daueraufenthalt den sozialen Zusammenhalt zu fördern und das Gefühl der Unionsbürgerschaft zu verstärken. Muss insoweit betont werden, dass die Bürgerschaft für den Bürger eine Garantie der Zugehörigkeit zu einer Politik- und Rechtsgemeinschaft darstellt?

53.      Schließlich möchte ich, da auf meine Schlussanträge in der Rechtssache Tsakouridis(21) Bezug genommen wurde und Herr Onuekwere die Auffassung vertritt, dass es mit dem Integrationsziel und der Wiedereingliederungsfunktion der Strafe nicht vereinbar sei, die Zeiten der Gefängnisaufenthalte unberücksichtigt zu lassen, Folgendes ausführen.

54.      Jede Strafe muss gemäß den Erfordernissen der Grundprinzipien des Sanktionsrechts eine Wiedereingliederungsfunktion umfassen, die durch die Art und Weise des Vollzugs sicherzustellen ist. Wurde aber eine Strafe verhängt, so geschah dies gerade, weil die Werte, die die Gesellschaft in ihrem Strafrecht zum Ausdruck gebracht hat, vom Täter missachtet wurden. Und wenn die Wiedereingliederung den ihr gebührenden Platz einnehmen muss, so liegt dies gerade daran, dass entweder keine Eingliederung erfolgt war, was erklärt, warum die Straftat begangen wurde, oder daran, dass die Eingliederung durch die Begehung der Straftat zunichtegemacht wurde.

55.      Zusätzlich zur Wiedereingliederungsfunktion hat die Strafe auch die wesentliche Funktion der Vergeltung, die den Täter den Preis für die Tat zahlen lassen soll und in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat steht, was hier eine Freiheitsstrafe bedeutet. Diese Funktionen dürfen sich nicht gegenseitig ausschließen. Die Wiedereingliederungsfunktion darf nicht dazu führen, dass der Zeitraum der Vergeltung zugunsten des Verurteilten ein Recht entstehen lässt, dessen Erlangung die Anerkennung und Akzeptanz der gesellschaftlichen Werte voraussetzt, die der Verurteilte mit seiner Straftat gerade verletzt hat.

56.      Aus diesem Grund bin ich übrigens der Auffassung, dass es selbst im Rahmen einer Straferleichterung, etwa in Form eines Hausarrests oder eines Freigangs, bei dem der Verurteilte sich abends wieder ins Gefängnis begeben muss, nicht möglich ist, beim Betroffenen von einem rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 auszugehen.

57.      Nach alledem bin ich der Meinung, dass diese Vorschrift dahin auszulegen ist, dass die Verbüßung einer Freiheitsstrafe nicht als „rechtmäßiger Aufenthalt“ angesehen und daher bei der Berechnung des für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren nicht berücksichtigt werden kann.

B –    Zur Zusammenrechnung der Zeiten rechtmäßiger Aufenthalte für die Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren

58.      Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts ist eng mit der ersten Frage verknüpft. Daher möchte das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, bei einer Verneinung der ersten Frage wissen, ob Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts vor und nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für die Berechnung des erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren zusammengerechnet werden dürfen.

59.      Es stellt sich mit anderen Worten die Frage, ob die Kontinuität des rechtmäßigen Aufenthalts durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe unterbrochen wird, so dass die davor und danach zurückgelegten Zeiten des rechtmäßigen Aufenthalts nicht erfasst werden können.

60.      Die deutsche Regierung und die Kommission sind der Meinung, dass bestimmte Zeiten berücksichtigt werden können. Nach Ansicht der deutschen Regierung ist Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 entsprechend anzuwenden. Damit würden mehrere Inhaftierungen von insgesamt mindestens sechs Monaten in einem Jahr oder eine einzelne Haftzeit von mehr als zwölf Monaten die Kontinuität des für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlichen rechtmäßigen Aufenthalts unterbrechen. Zeiten der Inhaftierung, die diese Fristen unterschritten, unterbrächen die Kontinuität des Aufenthalts, wenn das ihnen zugrunde liegende Fehlverhalten erkennbar vom mangelnden Willen des Betroffenen zeuge, sich in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zu integrieren oder ihre Werte zu achten.

61.      Die Kommission vertritt die Auffassung, dass die Berücksichtigung bestimmter Gefängnisaufenthalte u. a. vom Grad der Integration des Betroffenen vor der Verbüßung der Freiheitsstrafe, der Haftdauer, der Schwere der vom Betroffenen begangenen Tat, für die er verurteilt wurde, sowie davon abhänge, ob er rückfällig geworden sei. Die Kommission ist also der Meinung, dass hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen sei.

62.      Ich teile weder den Standpunkt der deutschen Regierung noch den der Kommission.

63.      Wie wir bereits gesehen haben, enthält Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 eine Voraussetzung der Kontinuität des Aufenthalts, indem er verlangt, dass sich ein Familienangehöriger, der sich in der Lage von Herrn Onuekwere befindet, rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger aufgehalten haben muss. Diese Vorschrift ist im Licht der u. a. in den Erwägungsgründen 17 und 18 zum Ausdruck gebrachten Ziele der Richtlinie zu lesen, nämlich Förderung des sozialen Zusammenhalts und Ermöglichung der Integration der Ankömmlinge in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats mittels der Begründung guter sozialer, familiärer und beruflicher Beziehungen in diesem Staat. Außerdem betonen die Vorarbeiten zur Richtlinie 2004/38, welche Bedeutung der Schaffung eines festen Bands der Integration in den Aufnahmemitgliedstaat als einer Grundvoraussetzung für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt zukommt. Die in Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie aufgestellte Voraussetzung drückt mithin eine Vermutung aus, wonach ein ununterbrochener Zeitraum von fünf Jahren dem Betroffenen ermöglicht hat, feste Integrationsverbindungen mit der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zu knüpfen.

64.      Daher scheint mir im Hinblick auf meine Ausführungen im Rahmen der ersten Frage, dass es in Wirklichkeit auf ein Leugnen der fehlenden Integration des Betroffenen hinausliefe und die durch Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 angestrebte praktische Wirksamkeit stark beeinträchtigen würde, wenn die Zeiten rechtmäßiger Aufenthalte vor und nach der Verbüßung der Freiheitsstrafe bei der Berechnung des erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren berücksichtigt werden könnten. Die Verbüßung einer Freiheitsstrafe infolge eines Verstoßes gegen die Regeln der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats beweist ja gerade, dass der Betroffene nicht in diese Gesellschaft integriert war. Dies zeigt sich umso offensichtlicher, wenn der Betroffene rückfällig wird.

65.      Die Zusammenrechnung der Aufenthaltszeiten vor und nach der Vollstreckung der Strafe ist daher unvereinbar mit dem Ziel der Richtlinie. Durch ein solches Vorgehen würde der in Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie enthaltene Ausdruck „fünf Jahre lang ununterbrochen“ verfälscht und das Erfordernis der Kontinuität des Integrationsprozesses ignoriert.

66.      Daran ändert auch der Wortlaut von Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie nichts. Diese Vorschrift enthält einige Beispiele für vorübergehende Abwesenheiten, die die Kontinuität des rechtmäßigen Aufenthalts unberührt lassen. Dies gilt etwa für eine Abwesenheit von bis zu sechs Monaten im Jahr oder für noch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, für Abwesenheiten von höchstens zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder auch berufliche Entsendung.

67.      Beim Lesen dieser Vorschrift ist zunächst festzustellen, dass es sich bei den dort genannten Abwesenheiten um Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat handelt. Es fällt mir schwer, Gefängnisaufenthalte mit einer Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat gleichzusetzen.

68.      Außerdem liegt diesen Abwesenheiten kein strafrechtlich vorwerfbares Verhalten zugrunde, das sich auf den Grad der Integration des Betroffenen auswirkt. Vielmehr handelt es sich dabei um Ereignisse im Leben eines Unionsbürgers oder seines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen, die sie zum vorübergehenden Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats zwingen. Dies ist u. a. der Fall bei militärischen Pflichten, beruflichen Pflichten oder sogar bei einer schweren Krankheit, die einer Behandlung bedarf, für die die Strukturen anderer Mitgliedstaaten besser geeignet sind. Ein Unionsbürger oder sein drittstaatsangehöriger Familienangehöriger kann den Aufnahmemitgliedstaat auch vorübergehend verlassen wollen, um einer ihm nahestehenden Person in einer schwierigen Situation beizustehen. Der Wille, sich in die Gesellschaft dieses Staates zu integrieren und eine enge Bindung mit ihm einzugehen, bleibt davon unberührt.

69.      Daher ist es meines Erachtens, anders als von der deutschen Regierung vorgeschlagen, nicht möglich, Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 auf den vorliegenden Fall anzuwenden.

70.      Die Kommission schlägt vor, es in bestimmten Fällen dem nationalen Gericht zu überlassen, ob es die Regelung lockert, wonach die Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts vor und nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe bei der Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren nicht berücksichtigt werden. So werde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt, da die Folgen einer Verurteilung für Personen, die wegen vergleichsweise geringfügiger Straftaten nur zu einer sehr kurzen Freiheitsstrafe verurteilt worden seien, begrenzt würden. Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit schließe somit in bestimmten Fällen die Unterbrechung des für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren aus.

71.      Meines Erachtens kommt eine solche Lösung nicht in Betracht. Zunächst stellt sich die Frage, wie die Tatsache, dass in einer Union mit 28 Mitgliedstaaten das Strafrecht und damit die Einstufung von Straftaten voneinander abweichen, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang zu bringen wäre. Bestimmte Straftaten gelten möglicherweise nicht in allen Mitgliedstaaten als gleich schwer und sind nicht mit denselben Strafen bewehrt. Außerdem meine ich, dass es präziser Kriterien bedarf, damit derjenige, der eine Straftat begeht, genau weiß, was er zu erwarten hat. Durch die Unsicherheit, zu der die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der von der Kommission vorgeschlagenen Form führen würde, würde der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafe in Frage gestellt.

72.      Anders als die Kommission in ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vertrete ich die Auffassung, dass es nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des Unionsgesetzgebers ist, solche Kriterien festzulegen, solche Schwellen, bei deren Unterschreitung davon ausgegangen werden müsste, dass der Gefängnisaufenthalt den nach Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 erforderlichen Zeitraum nicht unterbricht.

73.      Meines Erachtens kann die Zeit eines Gefängnisaufenthalts nur im Rahmen einer Untersuchungshaft vor einem Urteil, das zu einer Einstellung des Verfahrens oder zu einem Freispruch führt, bei der Berechnung des für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren berücksichtigt werden. Denn in diesem Fall ist die Untersuchungshaft nicht als Vollstreckung einer Strafe anzusehen, die wegen der Begehung einer Straftat verhängt wurde. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Inhaftierung des Beschuldigten während eines Teils der Ermittlungen oder der gesamten Ermittlungen, während deren für ihn die Unschuldsvermutung gilt. Wird das Verfahren gegen den Betroffenen danach eingestellt oder wird er freigesprochen, so gehen die Behörden davon aus, dass kein Verstoß gegen die Regeln und Werte der Gesellschaft vorliegt, da der Beschuldigte in Bezug auf die ihm vorgeworfenen Taten stets unschuldig war. Daher kann ihm meines Erachtens kein strafrechtlich relevantes Verhalten vorgeworfen werden, durch das eine fehlende Bereitschaft, sich in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zu integrieren, zum Ausdruck gebracht würde.

74.      Nach alledem bin ich der Meinung, dass Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass Zeiten rechtmäßiger Aufenthalte vor und nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe bei der Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren nicht zusammengerechnet werden dürfen, da dieser Zeitraum durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe unterbrochen wird.

IV – Ergebnis

75.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), London, wie folgt zu beantworten:

Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist wie folgt auszulegen:

–        Die Verbüßung einer Freiheitsstrafe stellt keinen rechtmäßigen Aufenthalt dar und kann daher bei der Berechnung des für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlichen Zeitraums von fünf Jahren nicht berücksichtigt werden.

–        Zeiten rechtmäßiger Aufenthalte vor und nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe dürfen bei der Berechnung des Zeitraums von fünf Jahren nicht zusammengerechnet werden, da dieser Zeitraum durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe unterbrochen wird.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35).


3 –      C‑145/09, Slg. 2010, I‑11979.


4 –      C‑482/01 und C‑493/01, Slg. 2009, I‑5257.


5 – Urteil Tsakouridis (Randnr. 34).


6 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Tsakouridis (Randnrn. 30 ff.), in dem der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung von Art. 28 der Richtlinie 2004/38 eine analoge Anwendung von Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie ablehnt. 


7 –      C‑424/10 und C‑425/10, Slg. 2011, I‑14035.


8 – Randnr. 46.


9 –      C‑529/11.


10 – Randnr. 36.


11 – Randnr. 37.


12 – Vgl. Urteil vom 13. Februar 1985, Diatta (267/83, Slg. 1985, 567, Randnr. 18).


13 – Verordnung des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).


14 – Vgl. Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R, (C‑413/99, Slg. 2002, I‑7091, Randnrn. 58 bis 62). Vgl. auch – für eine neuere Rechtsprechung – Urteil vom 8. November 2012, Iida (C‑40/11, Randnr. 58), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass der Ehegatte nicht notwendigerweise ständig bei dem Unionsbürger wohnen muss, um Inhaber eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zu sein.


15 – Vgl. Nrn. 50 und 51 dieser Schlussanträge.


16 – Vgl. S. 3 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (KOM[2001] 257 endgültig).


17 – Vgl. S. 5 des genannten Vorschlags für eine Richtlinie.


18 –      C‑325/09, Slg. 2011, I‑6387.


19 –      C‑348/09.


20 – Urteil Dias (Randnr. 64).


21 – Nrn. 47 bis 50 dieser Schlussanträge.