Language of document : ECLI:EU:C:2016:853

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

10. November 2016(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 45 – Art. 49 und 56 AEUV – Öffentliche Aufträge – Voraussetzungen für den Ausschluss von einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge – Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge – Einheitliches Dokument über die ordnungsgemäße Erfüllung der Beitragsverpflichtungen – Beseitigung von Unregelmäßigkeiten“

In der Rechtssache C‑199/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 3. Februar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 29. April 2015, in dem Verfahren

Ciclat Soc. coop.

gegen

Consip SpA,

Autorità per la Vigilanza sui Contratti Pubblici di lavori, servizi e forniture,

Beteiligte:

Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL),

Team Service SCARL als Beauftragte der ATI-Snam Lazio Sud Srl und der Ati-Linda Srl,

Consorzio Servizi Integrati

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Richters C. Vajda (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Ciclat Soc. coop., vertreten durch S. Sticchi Damiani, avvocato,

–        der Consip SpA, vertreten durch A. Clarizia, avvocato,

–        des Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL), vertreten durch L. Frasconà und G. Catalano, avvocati,

–        des Consorzio Servizi Integrati, vertreten durch G. Viglione, avvocato,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone und C. Colelli, avvocati dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und A. Tokár als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114) und der Art. 49 und 56 AEUV.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Ciclat Soc. coop. (im Folgenden: Ciclat) auf der einen Seite und der Consip SpA und der Autorità per la vigilanza sui contratti pubblici di lavori, servizi e forniture (Aufsichtsbehörde für öffentliche Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge) auf der anderen Seite wegen eines Vergabeverfahrens für die Erbringung von Reinigungsdienstleistungen und anderen Dienstleistungen der Unterhaltung von Gebäuden, Bildungseinrichtungen und Ausbildungszentren der öffentlichen Verwaltung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 heißt es:

„Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen des öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze wie z. B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz. Für öffentliche Aufträge, die einen bestimmten Wert überschreiten, empfiehlt sich indessen die Ausarbeitung von auf diesen Grundsätzen beruhenden Bestimmungen zur gemeinschaftlichen Koordinierung der nationalen Verfahren für die Vergabe solcher Aufträge, um die Wirksamkeit dieser Grundsätze und die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für den Wettbewerb zu garantieren. Folglich sollten diese Koordinierungsbestimmungen nach Maßgabe der genannten Regeln und Grundsätze sowie gemäß den anderen Bestimmungen des Vertrags ausgelegt werden.“

4        Art. 45 der Richtlinie 2004/18 betrifft die Eignungskriterien des Bewerbers oder Bieters in Bezug auf seine persönliche Lage. Abs. 2 und 3 dieses Artikels sehen vor:

„(2)      Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

e)      [der seine] Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge nach den Rechtsvorschriften des Landes, in dem [er] niedergelassen [ist], oder des Landes des öffentlichen Auftraggebers nicht erfüllt [hat];

Die Mitgliedstaaten legen im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.

(3)      Als ausreichenden Nachweis dafür, dass die in Absatz 1 und Absatz 2 Buchstaben a, b, c, e oder f genannten Fälle auf den Wirtschaftsteilnehmer nicht zutreffen, akzeptiert der öffentliche Auftraggeber

a)      …

b)      im Fall von Absatz 2 Buchstaben e oder f eine von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaates ausgestellte Bescheinigung.

…“

5        Art. 51 der Richtlinie 2004/18 lautet:

„Der öffentliche Auftraggeber kann Wirtschaftsteilnehmer auffordern, die in Anwendung der Artikel 45 bis 50 vorgelegten Bescheinigungen und Dokumente zu vervollständigen oder zu erläutern.“

6        Die Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18 (ABl. 2014, L 94, S. 65) bestimmt in ihrem Art. 93:

„Diese Richtlinie tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.“

 Italienisches Recht

7        Das Decreto legislativo n. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (Gesetzesdekret Nr. 163 zur Schaffung eines Gesetzbuchs über öffentliche Bau-, Dienstleistungs- und Lieferaufträge in Anwendung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG) vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006) in der durch das Decreto-legge Nr. 70 vom 13. Mai 2011 (GURI Nr. 110 vom 13. Mai 2011, S. 1) geänderten Fassung, in ein Gesetz umgewandelt durch das Gesetz Nr. 106 vom 12. Juli 2011 (GURI Nr. 160 vom 12. Juli 2011, S. 1) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 163/2006), regelt in Italien umfassend die Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge im Bau-, Dienstleistungs- und Liefersektor.

8        Das Gesetzesdekret Nr. 163/2006 enthält in seinem Teil II den Art. 38, der die allgemeinen Voraussetzungen für die Teilnahme an den Vergabeverfahren für Konzessionen und öffentliche Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge festlegt. Art. 38 Abs. 1 Buchst. i dieses Gesetzesdekrets bestimmt:

„(1)      Von der Teilnahme an Vergabeverfahren für Konzessionen und öffentliche Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträge, von der Vergabe von Subaufträgen und vom Abschluss der entsprechenden Verträge ausgeschlossen sind Personen, die

i)      endgültig festgestellte schwerwiegende Verstöße gegen die Bestimmungen im Bereich der Sozialbeiträge nach den italienischen Rechtsvorschriften oder den Rechtsvorschriften des Landes, in dem sie niedergelassen sind, begangen haben.“

9        In Art. 38 Abs. 2, 4 und 5 des Gesetzesdekrets Nr. 163/2006 heißt es:

„(2)      Der Bewerber oder der Bieter bescheinigt, dass er die Anforderungen erfüllt, indem er eine Ersatzerklärung gemäß den Vorgaben des im Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 445 vom 28. Dezember 2000 enthaltenen vereinheitlichten Textes der Gesetze und Verordnungen betreffend administrative Unterlagen vorlegt und darin alle ihm gegenüber ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen angibt, einschließlich derjenigen, die nicht ins Strafregister eingetragen wurden.

… Im Sinne von Abs. 1 Buchst. i werden Verstöße als schwerwiegend angesehen, wenn sie der Ausstellung des Einheitlichen Dokuments über die ordnungsgemäße Erfüllung der Beitragsverpflichtungen [(documento unico di regolarità contributiva)] entgegenstehen …

(4)      Für die Nachprüfungen hinsichtlich der im vorliegenden Artikel geregelten Ausschlussgründe verlangen die öffentlichen Auftraggeber von den nicht in Italien ansässigen Bewerbern oder Bietern gegebenenfalls die Vorlage der erforderlichen Belege. Sie können außerdem die zuständigen Behörden um Zusammenarbeit ersuchen.

(5)      Wird eine solche Bescheinigung von dem betreffenden Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht ausgestellt, so kann diese durch eine Erklärung unter Eid oder in den Mitgliedstaaten, in denen es keine solche Erklärung gibt, durch eine Erklärung ersetzt werden, die der Betroffene vor einer zuständigen Gerichts- oder Verwaltungsbehörde, einem Notar oder einer dafür qualifizierten Berufsorganisation des Ursprungs- oder Herkunftslandes abgibt.“

10      Die Verstöße, die der Ausstellung des Einheitlichen Dokuments über die ordnungsgemäße Erfüllung der Beitragsverpflichtungen (im Folgenden: DURC) entgegenstehen, sind im Decreto del ministero del lavoro e della previdenza sociale – che disciplina il documento unico di regolarità contributiva (Erlass des Ministeriums für Arbeit und Sozialversicherung zur Regelung des Einheitlichen Dokuments über die ordnungsgemäße Erfüllung der Beitragsverpflichtungen) vom 24. Oktober 2007 (GURI Nr. 279 vom 30. November 2007, S. 11) definiert.

11      Art. 8 Abs. 3 dieses Ministerialerlasses lautet:

„Soweit es nur um die Teilnahme an einer Ausschreibung für einen öffentlichen Auftrag geht, steht eine nicht bedeutende Differenz zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen in Bezug auf jeden Sozialversicherungsträger und jede Bauarbeiterkasse der Ausstellung des DURC nicht entgegen. Als nicht bedeutend wird eine Differenz unter oder in Höhe von 5 % zwischen den geschuldeten und den entrichteten Beträgen hinsichtlich jedes Entrichtungs- oder Beitragszeitraums oder jedenfalls eine Differenz unter 100 Euro angesehen, wobei der genannte Betrag innerhalb von 30 Tagen nach Ausstellung des DURC entrichtet werden muss.“

12      Das einem Unternehmen ausgestellte DURC ist jeweils für die Dauer von drei Monaten gültig.

13      Art. 7 Abs. 3 des genannten Ministerialerlasses sieht ferner vor, dass die betreffenden Stellen bei fehlender ordnungsgemäßer Erfüllung der Beitragsverpflichtungen „den Betroffenen auffordern, die betreffenden Unregelmäßigkeiten innerhalb einer Frist von höchstens 15 Tagen zu beseitigen“. Die nationale Rechtsprechung hat jedoch entschieden, dass die Aufforderung zur Beseitigung der Unregelmäßigkeiten nicht erfolgt, wenn das DURC vom öffentlichen Auftraggeber angefordert wird.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14      Mit einer im Amtsblatt der Europäischen Union vom 14. Juli 2012 veröffentlichten Bekanntmachung leitete Consip ein Verfahren zur Vergabe eines Auftrags für Reinigungs- und andere Dienstleistungen zur Erhaltung des Erscheinungsbilds und der Funktionalität von Gebäuden, Bildungseinrichtungen jeglicher Art und Stufe sowie Ausbildungszentren der öffentlichen Verwaltung ein. Es war möglich, an dem Verfahren, das in 13 Lose aufgeteilt war, mit voneinander unabhängigen Angeboten teilzunehmen. Den beim Gerichtshof eingereichten Akten ist zu entnehmen, dass der Annahmeschluss für die Angebote auf den 26. September 2012 festgesetzt war.

15      Die Bekanntmachung verlangte ausdrücklich von jedem Bewerber unter Androhung des Ausschlusses eine Erklärung, dass er die in Art. 38 des Gesetzesdekrets Nr. 163/2006 vorgesehenen allgemeinen Voraussetzungen für die Teilnahme an der Ausschreibung erfülle.

16      Ciclat, ein Konsortium aus Genossenschaften von Produktionsmitarbeitern, reichte ein Angebot für das Los 7 mit einem Auftragsgrundbetrag von 91 200 000 Euro und für das Los 12 mit einem Auftragsgrundbetrag von 89 800 000 Euro ein und leistete für das Los 7 eine vorläufige Sicherheit von 912 000 Euro und für das Los 12 von 898 000 Euro.

17      Da Ciclat ein Konsortium ist, gab sie im Angebot die Genossenschaften an, die den Dienstleistungsauftrag im Fall einer Zuschlagserteilung ausführen würden; unter diesen befand sich auch die Ancora Soc. coop. arl. Diese erklärte am 10. September 2012 unter Berufung auf die einschlägige Passage in Art. 38 des Gesetzesdekrets Nr. 163/2006 „keine endgültig festgestellten schwerwiegenden oder der Ausstellung des DURC entgegenstehenden Verstöße gegen die Bestimmungen über die Entrichtung der Sozialbeiträge …“ begangen zu haben.

18      Nach Abschluss des Vergabeverfahrens lag Ciclat für das Los 7 auf dem ersten Platz der vorläufigen Rangliste und für das Los 12 auf dem zweiten Platz.

19      Am 12. Juni 2013 stellte das Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL) (Staatliche Unfallversicherungsanstalt) auf Anforderung von Consip im Rahmen der üblichen Überprüfungen eine Bescheinigung aus, in der es feststellte, dass Ancora zum Zeitpunkt ihrer Erklärung vom 10. September 2012 im Bereich der Sozialbeiträge mit der Zahlung von Versicherungsbeiträgen im Rückstand war, da sie die dritte Rate in Höhe von 33 148,28 Euro im Verfahren der Selbstabführung mit Frist zum 16. August 2012 nicht gezahlt hatte. Diese dritte Rate wurde zusammen mit der vierten und letzten Rate am 5. Dezember 2012, somit bevor die Überprüfungen stattfanden und bevor der Ausgang des Vergabeverfahrens bekannt war, gezahlt.

20      Da Consip daraufhin entschied, Ciclat vom Vergabeverfahren auszuschließen, erhob diese beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht für die Region Lazio, Italien) Klage gegen diesen Ausschluss und gegen die nachfolgenden Maßnahmen der Inanspruchnahme der vorläufigen Sicherheiten. Das Gericht wies die Klage ab.

21      Ciclat legte gegen diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht Berufung ein. Sie machte geltend, dass die nicht fristgemäße Zahlung einer Rate eines im Verfahren der Selbstabführung gezahlten Beitrags insbesondere wegen der unaufgeforderten Zahlung des Beitrags zusammen mit der vierten und letzten Rate nicht als „endgültig festgestellter schwerwiegender Verstoß“ angesehen werden könne. Außerdem habe das INAIL seine Pflicht verletzt, ihr nach Art. 7 des Ministerialerlasses vom 24. Oktober 2007 Unregelmäßigkeiten anzuzeigen, denn diese Verpflichtung gelte auch bei einer Anforderung des DURC von Amts wegen anlässlich der vom öffentlichen Auftraggeber beschlossenen Überprüfung.

22      Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) hegt Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit der in Rede stehenden italienischen Bestimmungen. Er ist der Auffassung, dass diese gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen Art. 45 der Richtlinie 2004/18 und gegen die Art. 49 und 56 AEUV verstoßen können.

23      Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen Art. 45 der Richtlinie 2004/18 – in Auslegung auch im Licht des Grundsatzes der Angemessenheit – sowie die Art. 49 und 56 AEUV einer nationalen Regelung entgegen, die es im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge oberhalb des Schwellenwerts gestatten, von Amts wegen eine von den Sozialversicherungsträgern erstellte Bescheinigung (DURC) einzuholen, und die Vergabestelle verpflichten, eine Bescheinigung als Ausschlussgrund anzusehen, aus der sich ein früherer Verstoß gegen die Beitragsverpflichtungen ergibt, der insbesondere zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Teilnahme am Vergabeverfahren bestand, dem Wirtschaftsteilnehmer – der sich aufgrund eines gültigen positiven DURC an dem Verfahren beteiligt hatte – aber nicht bekannt war, jedenfalls zum Zeitpunkt der Zuschlagserteilung oder der Überprüfung von Amts wegen nicht mehr vorlag?

 Zur Vorlagefrage

24      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 der Richtlinie 2004/18 und die Art. 49 und 56 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, einen Verstoß bei der Entrichtung von Sozialbeiträgen, der in einer Bescheinigung festgestellt wird, die vom öffentlichen Auftraggeber von Amts wegen angefordert und von den Sozialversicherungsträgern ausgestellt wird, als Ausschlussgrund anzusehen, wenn dieser Verstoß zum Zeitpunkt der Teilnahme an einer Ausschreibung vorlag, und zwar selbst dann, wenn er zum Zeitpunkt der Vergabe oder der Überprüfung von Amts wegen durch den öffentlichen Auftraggeber nicht mehr vorhanden war.

25      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/18, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist. Außerdem sind die Bestimmungen dieser Richtlinie nach deren zweiten Erwägungsgrund im Einklang mit den Grundsätzen der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze auszulegen. Daher ist die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung nicht gesondert im Licht der Art. 49 und 56 AEUV zu prüfen.

26      Ferner ist festzustellen, dass die Richtlinie 2014/24, auf die in der Vorlageentscheidung verwiesen wird, zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt, wie sich aus Art. 93 dieser Richtlinie ergibt, noch nicht in Kraft war und somit in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar ist.

27      Als Erstes ist zu prüfen, ob Art. 45 der Richtlinie 2004/18 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die einen Verstoß bei der Entrichtung von Sozialbeiträgen, der zum Zeitpunkt der Teilnahme an einer Ausschreibung vorlag, als Ausschlussgrund ansieht, obwohl die Beiträge vor der Vergabe oder vor der Überprüfung von Amts wegen durch den öffentlichen Auftraggeber entrichtet wurden.

28      Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 es den Mitgliedstaaten überlässt, zu bestimmen, innerhalb welcher Frist die Betroffenen ihrer Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge nachkommen müssen und gegebenenfalls die Unregelmäßigkeiten nachträglich beseitigen können, sofern diese Frist mit den Grundsätzen der Transparenz und der Gleichbehandlung vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Februar 2006, La Cascina u. a., C‑226/04 und C‑228/04, EU:C:2006:94, Rn. 31 und 32).

29      Zum anderen kann zwar der öffentliche Auftraggeber verlangen, dass die Angaben in einem Angebot in einzelnen Punkten berichtigt oder ergänzt werden, doch können solche Berichtigungen und Ergänzungen nur Angaben betreffen, bei denen objektiv nachprüfbar ist, dass sie vor Ablauf der Bewerbungsfrist vorlagen, und dürfen keine Angaben betreffen, deren Übermittlung unter Androhung des Ausschlusses vorgeschrieben ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Oktober 2013, Manova, C‑336/12, EU:C:2013:647, Rn. 39 und 40).

30      Zudem kann Art. 51 der Richtlinie 2004/18, wonach der öffentliche Auftraggeber Wirtschaftsteilnehmer auffordern kann, die in Anwendung der Art. 45 bis 50 dieser Richtlinie vorgelegten Bescheinigungen und Dokumente zu vervollständigen oder zu erläutern, nicht dahin ausgelegt werden, dass dieser Auftraggeber die Behebung von Mängeln zulassen kann, die nach den Bestimmungen der Ausschreibungsunterlagen ausdrücklich zum Ausschluss des Bieters führen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2014, Cartiera dell’Adda, C‑42/13, EU:C:2014:2345, Rn. 46).

31      Somit steht Art. 45 der Richtlinie 2004/18 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegen, die einen Verstoß bei der Entrichtung von Sozialbeiträgen, der zum Zeitpunkt der Teilnahme an einer Ausschreibung vorlag, als Ausschlussgrund ansieht, obwohl die Beiträge vor der Vergabe oder vor der Überprüfung von Amts wegen durch den öffentlichen Auftraggeber entrichtet wurden.

32      Es ist zu klären, ob dieses Ergebnis auch dann gilt, wenn eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche vorsieht, dass die Frage, ob ein Wirtschaftsteilnehmer zum Zeitpunkt seiner Teilnahme an einer Ausschreibung seine Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge erfüllt hat, durch eine Bescheinigung festgestellt wird, die von den Sozialversicherungsträgern ausgestellt und vom öffentlichen Auftraggeber von Amts wegen angefordert wird. Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass die Sozialversicherungsträger nicht nach Art. 7 Abs. 3 des Ministerialerlasses vom 24. Oktober 2007 verpflichtet seien, den betreffenden Wirtschaftsteilnehmer vor der Erteilung einer solchen Bescheinigung über die nicht ordnungsgemäße Lage zu informieren.

33      Es ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 45 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/18 den Mitgliedstaaten gestattet, jeden Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren auszuschließen, der seine Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge nicht erfüllt hat. Zudem akzeptiert der öffentliche Auftraggeber nach Art. 45 Abs. 3 der Richtlinie 2004/18 als ausreichenden Nachweis dafür, dass der in Abs. 2 Buchst. e genannte Fall auf den Wirtschaftsteilnehmer nicht zutrifft, eine von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats ausgestellte Bescheinigung, aus der sich ergibt, dass diese Anforderungen erfüllt sind. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen geht in keiner Weise hervor, dass es den zuständigen Behörden untersagt wäre, die erforderliche Bescheinigung von Amts wegen bei den Sozialversicherungsträgern anzufordern.

34      Zum anderen ist es unerheblich, dass ein Wirtschaftsteilnehmer über eine solche Unregelmäßigkeit nicht informiert worden ist, sofern er die Möglichkeit hat, jederzeit die Ordnungsmäßigkeit seiner Lage bei der zuständigen Einrichtung zu überprüfen. Ist dies tatsächlich der Fall – was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, kann sich ein Wirtschaftsteilnehmer nicht auf eine von den Sozialversicherungsträgern ausgestellte Bescheinigung berufen, die er vor der Angebotsabgabe erhalten hat und die bestätigt, dass er in einem Zeitraum vor der Angebotsabgabe seine Verpflichtung zur Zahlung der Sozialbeiträge erfüllt hatte, wenn er – gegebenenfalls nach Rückfrage bei der zuständigen Einrichtung – weiß, dass er diese Verpflichtung zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe nicht mehr erfüllt.

35      Als Zweites ist zu prüfen, ob Art. 45 der Richtlinie 2004/18 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der die öffentlichen Auftraggeber verpflichtet sind, einen Verstoß bei der Entrichtung von Sozialbeiträgen, der in einer Bescheinigung festgestellt wird, die vom öffentlichen Auftraggeber von Amts wegen angefordert und von den Sozialversicherungsträgern ausgestellt wird, als Ausschlussgrund anzusehen, wenn dieser Verstoß zum Zeitpunkt der Teilnahme an einer Ausschreibung vorlag, so dass den öffentlichen Auftraggebern insoweit jeder Ermessensspielraum genommen wird.

36      Es ist festzustellen, dass Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 keine einheitliche Anwendung der in ihm angeführten Ausschlussgründe auf Unionsebene verfolgt, da die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, diese Ausschlussgründe entweder überhaupt nicht anzuwenden oder aber diese Gründe je nach den auf nationaler Ebene maßgeblichen rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Erwägungen im Einzelfall mit unterschiedlicher Strenge in die nationale Regelung aufzunehmen (Urteil vom 10. Juli 2014, Consorzio Stabile Libor Lavori Pubblici, C‑358/12, EU:C:2014:2063, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Bestimmung verpflichtet die Mitgliedstaaten somit nicht, den öffentlichen Auftraggebern insoweit einen Ermessensspielraum einzuräumen.

37      Daher steht Art. 45 der Richtlinie 2004/18 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegen, nach der die öffentlichen Auftraggeber verpflichtet sind, einen Verstoß bei der Entrichtung von Sozialbeiträgen, der in einer Bescheinigung festgestellt wird, die vom öffentlichen Auftraggeber von Amts wegen angefordert und von den Sozialversicherungsträgern ausgestellt wird, als Ausschlussgrund anzusehen, wenn dieser Verstoß zum Zeitpunkt der Teilnahme an einer Ausschreibung vorlag, so dass den öffentlichen Auftraggebern insoweit jeder Ermessensspielraum genommen wird.

38      Als Drittes und Letztes ist die Frage des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche eine Diskriminierung zwischen den in Italien niedergelassenen und den in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen begründet. In diesem Zusammenhang führt das vorlegende Gericht aus, dass Art. 38 Abs. 4 und 5 des Gesetzesdekrets Nr. 163/2006 für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen vorsehe, dass der öffentliche Auftraggeber diese Unternehmen dazu auffordern müsse, selbst die erforderlichen Belege vorzulegen, und dass, wenn der betreffende Mitgliedstaat kein solches Dokument oder keine solche Bescheinigung ausstelle, eine Erklärung unter Eid oder eine eidesstattliche Erklärung als Nachweis ausreiche.

39      Insoweit ist festzustellen, dass der Vorlageentscheidung nicht zu entnehmen ist, dass in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen im Ausgangsverfahren Angebote abgegeben hätten. Somit ist die Frage, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche eine Diskriminierung zwischen den in Italien niedergelassenen und den in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen begründet, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich.

40      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, einen Verstoß bei der Entrichtung von Sozialbeiträgen, der in einer Bescheinigung festgestellt wird, die vom öffentlichen Auftraggeber von Amts wegen angefordert und von den Sozialversicherungsträgern ausgestellt wird, als Ausschlussgrund anzusehen, wenn dieser Verstoß zum Zeitpunkt der Teilnahme an einer Ausschreibung vorlag, und zwar selbst dann, wenn er zum Zeitpunkt der Vergabe oder der Überprüfung von Amts wegen durch den öffentlichen Auftraggeber nicht mehr vorhanden war.

 Kosten

41      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 45 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, einen Verstoß bei der Entrichtung von Sozialbeiträgen, der in einer Bescheinigung festgestellt wird, die vom öffentlichen Auftraggeber von Amts wegen angefordert und von den Sozialversicherungsträgern ausgestellt wird, als Ausschlussgrund anzusehen, wenn dieser Verstoß zum Zeitpunkt der Teilnahme an einer Ausschreibung vorlag, und zwar selbst dann, wenn er zum Zeitpunkt der Vergabe oder der Überprüfung von Amts wegen durch den öffentlichen Auftraggeber nicht mehr vorhanden war.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.