Language of document : ECLI:EU:C:2016:782

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 19. Oktober 2016(1)

Rechtssache C‑452/16 PPU

Openbaar Ministerie

gegen

Krzysztof Marek Poltorak

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam [Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande])

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Begriffe ‚Justizbehörde‘ und ‚justizielle Entscheidung‘“





1.        In dem durch den Rahmenbeschluss 2002/584/JI(2) eingeführten Mechanismus, der an die Stelle des traditionellen Auslieferungsverfahrens getreten ist, sind die Justizbehörden der Mitgliedstaaten die Hauptakteure. Der Rahmenbeschluss enthält insbesondere Vorschriften über die ausstellende Justizbehörde, die den Europäischen Haftbefehl(3) erlässt, und über die vollstreckende Justizbehörde, der seine Vollstreckung im Bestimmungsstaat obliegt.

2.        Bisher ist der Gerichtshof noch nicht um eine Auslegung der Begriffe „Justizbehörde“ (in Art. 6 des Rahmenbeschlusses) und „justizielle Entscheidung“ (in dessen Art. 1) ersucht worden. Mit diesem Vorabentscheidungsersuchen legt ihm nunmehr die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) vier Fragen vor, mit denen – zusammengefasst – um eine Klärung der Bedeutung dieser Begriffe gebeten wird, um dem von einer schwedischen Polizeibehörde zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils ausgestellten EHB entweder Folge zu geben oder ihn zurückzuweisen.

3.        In einem Parallelverfahren zu dieser Rechtssache hat das vorlegende Gericht noch weitere Fragen zum Begriff „justizielle Entscheidung“ als einer der nach Art. 8 des Rahmenbeschlusses erforderlichen Voraussetzungen vorgelegt, auch wenn diese Fragen sich nicht auf den EHB beziehen, sondern auf den nationalen Haftbefehl, der diesem vorausgehen muss. Die Schlussanträge in jener anderen Rechtssache lege ich ebenfalls heute vor(4).

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      EU-Vertrag

4.        Art. 6 EUV sieht vor:

„(1)      Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte … [(im Folgenden: Charta)] niedergelegt sind; die Charta … und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.

Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert.

Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.

(2)      Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, im Folgenden: EMRK)] bei. Dieser Beitritt ändert nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union.

(3)      Die Grundrechte, wie sie in der [EMRK] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“

2.      Charta

5.        In Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta heißt es:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

…“

3.      Rahmenbeschluss

6.        Im fünften Erwägungsgrund heißt es:

„Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. …“

7.        Der sechste Erwägungsgrund lautet:

„Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“

8.        Der zehnte Erwägungsgrund lautet:

„Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“

9.        Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) lautet:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

10.      Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) sieht vor:

„(1)      Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

(2)      Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.

(3)      Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“

11.      In dem die Zentrale Behörde betreffenden Art. 7 heißt es:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat kann eine oder, sofern es seine Rechtsordnung vorsieht, mehrere zentrale Behörden zur Unterstützung der zuständigen Justizbehörden benennen.

(2)      Ein Mitgliedstaat kann, wenn sich dies aufgrund des Aufbaus seines Justizsystems als erforderlich erweist, seine zentrale(n) Behörde(n) mit der administrativen Übermittlung und Entgegennahme der Europäischen Haftbefehle sowie des gesamten übrigen sie betreffenden amtlichen Schriftverkehrs betrauen.

…“

12.      Zum Verhältnis zu anderen Übereinkommen heißt es in Art. 31 Abs. 1 Buchst. a:

„(1)      Dieser Rahmenbeschluss ersetzt am 1. Januar 2004 die entsprechenden Bestimmungen der folgenden in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Auslieferung geltenden Übereinkommen, unbeschadet von deren Anwendbarkeit in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten:

a)      das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das dazugehörige Zusatzprotokoll vom 15. Oktober 1975, das dazugehörige Zweite Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 und das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977, soweit es sich auf die Auslieferung bezieht;

…“

B –    Schwedisches Recht

13.      Am 29. Mai 2009 übermittelte Schweden(5) dem Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union gemäß Art. 6 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses eine aktualisierte Fassung seiner Angaben über die nach seinem Recht zuständigen Justizbehörden, in der es hieß:

„[Zu] Art. 6 Abs. 3:

Die folgenden schwedischen Behörden sind befugt, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen und zu vollstrecken:

Ausstellende Justizbehörde

Ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung wird vom Reichspolizeiamt (Rikspolisstyrelsen) ausgestellt.“

14.      Nach dem Vorlagebeschluss obliegen, wie die schwedische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen und in der Sitzung bestätigt hat, sowohl die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile als auch die Entscheidungen, die im Hinblick auf diese Urteile später noch ergehen müssen, anderen Behörden als den Justizbehörden, und zwar insbesondere anderen Behörden als den Gerichten, die diese Urteile erlassen haben.(6)

15.      Ferner hat die schwedische Polizeibehörde (Swedish Police Authority) der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) auf deren Auskunftsersuchen mit Schreiben vom 1. August 2016 Folgendes mitgeteilt:

a)      Sie sei die für den Erlass eines EHB zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zuständige Behörde.

b)      EHB würden von ihr allein auf Antrag des schwedischen Instituts für Haftanstalten und Resozialisierung erlassen, von dem sie jedoch unabhängig sei.

c)      Sie habe Befugnisse an einen oder mehrere in der Abteilung für internationale polizeiliche Zusammenarbeit beschäftigte polizeiliche Mitarbeiter übertragen.

d)      Sie übe diese Befugnisse unabhängig von Weisungen oder von der Kontrolle seitens der Gerichte, des Justizministeriums oder seitens des Gerichts aus, das das Urteil erlassen habe.

II – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16.      Am 23. Mai 2016 ersuchte der Staatsanwalt die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam), einem EHB Folge zu geben, der am 30. Juni 2014 vom Reichspolizeiamt (Schweden)(7) zum Zweck der Festnahme und Übergabe von Herrn K. M. Poltorak erlassen worden war, der derzeit in der Haftanstalt Alphen aan de Rijn (Niederlande) inhaftiert ist.

17.      Der EHB beruht auf dem rechtskräftigen Urteil eines Gerichts der Stadt Göteborg (Schweden) vom 21. Dezember 2012 (Aktenzeichen B 9380/12), mit dem Herr Poltorak wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden war(8).

18.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob der EHB von einer „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses erlassen worden ist und ob es sich folglich um eine „justizielle Entscheidung“ im Sinne von dessen Art. 1 Abs. 1 handelt. Dieses Problem stelle sich vor allem mit Blick auf die Ausführungen des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi(9).

19.      Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Stellen die Ausdrücke „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI und „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI autonome Begriffe des Unionsrechts dar?

2.      Wenn die erste Frage bejaht wird: Anhand welcher Kriterien kann festgestellt werden, ob eine Behörde des Ausstellungsmitgliedstaats eine solche „Justizbehörde“ ist und der von ihr erlassene EHB infolgedessen eine solche „justizielle Entscheidung“ ist?

3.      Wenn die erste Frage bejaht wird: Fällt das schwedische Reichspolizeiamt unter den Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI, und ist der von dieser Behörde erlassene EHB infolgedessen eine „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI?

4.      Wenn die erste Frage verneint wird: Steht die Benennung einer nationalen Polizeibehörde wie des schwedischen Reichspolizeiamts als ausstellende Justizbehörde im Einklang mit dem Unionsrecht?

20.      In seiner in den Abschnitten 4.2 bis 4.6 des Vorlagebeschlusses enthaltenen Beurteilung führt das vorlegende Gericht u. a. aus:

–        Der Ausdruck „Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses könne so verstanden werden, dass es dem (Recht des) Ausstellungsmitgliedstaat(s) überlassen bleibe, zu bestimmen, was eine Justizbehörde sei, oder aber in dem Sinne, dass es dieser Rechtsordnung lediglich obliege, die zuständige Behörde zu benennen(10). Im ersten Fall wäre „Justizbehörde“ kein Begriff des Unionsrechts und würde deshalb keine autonome und einheitliche Auslegung erfordern. Im zweiten Fall würde es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handeln, dessen Auslegung aber nicht offenkundig(11) sei. Auch gebe es zu diesem Begriff bisher noch keine Äußerungen des Gerichtshofs, durch die er zu einem „acte éclairé“ geworden wäre(12).

–        Dem Zusammenhang, insbesondere dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen (im Folgenden: EAÜ), und den Vorläuferdokumenten des Rechtsakts, speziell dem Vorschlag für den Rahmenbeschluss(13), sei nicht eindeutig zu entnehmen, ob auch andere Behörden als die Justizbehörden im Sinne von Art. 6 Abs. 1 für den Erlass von EHB zuständig sein könnten, auch wenn aus der Entstehungsgeschichte der Norm seit dem EAÜ die Tendenz zu ersehen sei, die Beziehungen von Staat zu Staat weitgehend durch Beziehungen von Justizbehörde zu Justizbehörde zu ersetzen.

–        Das Ziel des Rahmenbeschlusses, ein vereinfachtes Verfahren zur Übergabe von Personen einzuführen, das auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruhe und unter gerichtlicher Kontrolle stattfinde(14), sei ein zweistufiger gerichtlicher Schutz der Verfahrens- und Grundrechte(15) im Ausstellungs- und im Vollstreckungsstaat, so dass das Fehlen des gerichtlichen Schutzes auf einer dieser beiden Stufen im Widerspruch zu den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens stehen könne.

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

21.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist zusammen mit einem Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 Abs. 4 AEUV) am 16. August 2016 beim Gerichtshof eingegangen. Das vorlegende Gericht hat seinen Antrag damit begründet, dass Herr Poltorak inhaftiert sei und die Aufrechterhaltung dieser Situation von der Beantwortung der Vorlagefragen abhänge.

22.      In der Verwaltungssitzung vom 1. September 2016 hat der Gerichtshof beschlossen, die Rechtssache im Eilvorabentscheidungsverfahren zu behandeln.

23.      Der Prozessvertreter von Herrn Poltorak, die niederländische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

24.      Am 5. Oktober 2016 hat in dieser Rechtssache und in der Rechtssache C‑477/16 PPU (Kovalkovas) eine gemeinsame Sitzung stattgefunden, in der die in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs bezeichneten Beteiligten, konkret die schwedische Regierung, aufgefordert worden sind, die ihnen zuvor gestellten Fragen zu beantworten.

25.      Die Vertreter von Herrn Poltorak, der niederländischen, der deutschen, der griechischen, der finnischen und der schwedischen Regierung sowie der Kommission haben in der Sitzung Erklärungen abgegeben.

IV – Prüfung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

26.      Das niederländische Gericht möchte wissen, ob die Ausdrücke „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses als autonome Begriffe des Unionsrechts auszulegen sind.

27.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes, dass die Begriffe einer Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen. Diese Rechtsprechung ist speziell auf einige Bestimmungen des Rahmenbeschlusses angewandt worden(16) sowie auf den Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ in Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen(17).

28.      Keine der beiden Vorschriften verweist zur Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung auf das Recht der Mitgliedstaaten. Zwar nimmt Art. 6 Abs. 1 auf die Justizbehörde Bezug, „die nach dem Recht dieses Staats … zuständig ist“. Allerdings gilt diese Verweisung nicht für die Definition der „Justizbehörde“, sondern nur für die Zuweisung der Zuständigkeit zum Erlass von EHB an eines oder mehrere nationale Gerichte nach der nationalen Rechtsordnung.

29.      Damit ist davon auszugehen, dass die Ausdrücke „Justizbehörde“ und „justizielle Entscheidung“ in Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses autonome Begriffe des Unionsrechts darstellen, die autonom und im gesamten Unionsgebiet einheitlich auszulegen sind, wobei ihr Wortlaut, ihr Kontext und die Bestimmungen, in denen sie verwendet werden, zu berücksichtigen sind(18).

30.      Diese Feststellung ist allerdings noch etwas zu nuancieren: Da beide Ausdrücke im prozessualen Kontext verwendet werden, ist bei ihrer Auslegung die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, und zwar sowohl bei der Bestimmung der zuständigen Gerichte als auch bei der Regelung des Verfahrens für Klagen, die den Schutz der den Bürgern aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen(19).

31.      Mit der Bejahung der ersten Vorlagefrage wird die vierte Frage gegenstandslos, da sie nur für den Fall gestellt worden ist, dass die erste verneint werden sollte.

B –    Zur zweiten und zur dritten Vorlagefrage

32.      Mit der zweiten und der dritten Vorlagefrage möchte die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) letztlich wissen, ob ein Organ wie das schwedische RPA die Voraussetzungen für die Einstufung als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses erfüllt, so dass der von ihm im vorliegenden Fall erlassene EHB als „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses anzusehen ist.

33.      Wie bereits ausgeführt, beziehen sich im Gegensatz zum Vorabentscheidungsersuchen C‑453/16 PPU hier die Fragen des vorlegenden Gerichts nicht auf die für den Erlass eines vorherigen nationalen Haftbefehls zuständige, sondern auf die für die Ausstellung des EHB nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses zuständige Behörde.

34.      Ich möchte vorab darauf hinweisen, dass ich die Umformulierung der zweiten und der dritten Frage deshalb vorschlage, weil meines Erachtens eine enge Verbindung zwischen einer justiziellen Entscheidung und der Gerichtseigenschaft des sie erlassenden Spruchkörpers besteht. Deshalb ist der Begriff, der in dieser Rechtssache in Wahrheit der Klarstellung bedarf, der Begriff der „Justizbehörde“.

35.      Es erscheint folgerichtig, dass dann, wenn das RPA nicht zu den Organen zu zählen sein sollte, die als Justizbehörden anzusehen sind, einem von ihm ausgestellten EHB das entscheidende und wesentliche Merkmal einer „justiziellen“ Entscheidung fehlt, nämlich von einem Organ ausgestellt worden zu sein, das zur Mitwirkung bei der Rechtspflege berufen ist.

36.      Mangels einer Definition(20) des Begriffs „Justizbehörde“ im Text des Rahmenbeschlusses sind die Auslegungskriterien heranzuziehen, die der Gerichtshof üblicherweise anwendet, nämlich der Wortsinn der verwendeten Begriffe sowie der Kontext und der Zweck der Vorschrift.

37.      Der Klarheit halber möchte ich gleich zu Anfang hervorheben, dass ich keine rechtliche Grundlage dafür sehe, zwischen EHB zur Vollstreckung von Urteilen und EHB zur Ausführung anderer Maßnahmen im Strafverfahren, die vor dem Erlass des Urteils angeordnet werden (wie Haftbefehle), unterschiedlich zu behandeln. Da sie alle auf die Übergabe von in einem Mitgliedstaat gesuchten Personen durch einen anderen Mitgliedstaat gerichtet sind, ist es für die Auslegung der Begriffe der den EHB ausstellenden und der ihn vollstreckenden Behörde irrelevant, ob eine Fahndung erfolgt, um dem nationalen Gericht einen strafrechtlich Verurteilten oder aber eine Person zu überantworten, gegen die sich das Strafverfahren richtet, die aber noch nicht verurteilt worden ist.

38.      Diese Klarstellung ist deshalb unerlässlich, weil man andernfalls meinen könnte, dass in den Fällen von EHB zur Vollstreckung einer Verurteilung die Mitwirkung der „Justizbehörde“ mit dem Erlass des Urteils beendet sei und dass diese folglich bei dessen Vollstreckung keine Mitsprache mehr habe. Meines Erachtens ist dies nicht so, und in einem System der Übergabe, dessen Merkmale die herausragende Stellung der Justizbehörden und die anschließende gegenseitige Anerkennung der justiziellen Entscheidungen sind, setzt auch der Erlass eines EHB im Anschluss an ein Urteil den vorherigen Erlass bestimmter Entscheidungen voraus, die, da es um Freiheitsentzug, sei er vorläufig oder nicht, und um die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihres Erlasses geht, notwendigerweise nur justizielle Entscheidungen sein können(21).

39.      Was die Auslegung von Art. 6 und, erstens, die gewöhnliche Bedeutung der Begriffe „Behörde“ und „justiziell“ betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der erste dieser beiden Begriffe sich auf ein Organ bezieht, das in einem Bereich des öffentlichen Lebens hoheitliche Gewalt ausübt, weil ihm entsprechende Befugnisse verliehen wurden und es die hierfür erforderliche Legitimität besitzt. Das Adjektiv „justiziell“ ergänzt das Substantiv in dem Sinne, dass diese Behörde der Rechtspflege angehören muss(22), und zwar, nach der klassischen Gewaltenteilungslehre, im Gegensatz zur Legislative und zur Exekutive.

40.      So drücken sämtliche von mir konsultierten Sprachfassungen des Rahmenbeschlusses in gleicher Weise den Bezug zur Justiz aus: „autorité judiciaire“ in der französischen, „judicial authority“ in der englischen, „Justizbehörde“ in der deutschen, „autorità giudiziaria“ in der italienischen, „autoridade judiciária“ in der portugiesischen, „rättsliga myndighet“ in der schwedischen und „tiesu iestāde“ in der lettischen.

41.      Dem ist bereits an dieser Stelle ein erstes Indiz dafür zu entnehmen, dass die Behörde, auf die sich insbesondere Art. 6 des Rahmenbeschlusses bezieht, bei der Rechtspflege mitwirken muss. Und dieser erste Anhaltspunkt wird bestätigt durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, worauf das vorlegende Gericht zu Recht hingewiesen hat. Sowohl das EAÜ als auch der Vorschlag für den Rahmenbeschluss(23) hatten sich für die Verwendung der Begriffe „zuständige Behörde“ und „Justizbehörde“ in dem Sinne entschieden, dass sie die Gerichte und die Staatsanwaltschaft umfassen, Polizeibehörden dagegen ausdrücklich davon ausgenommen sein sollten(24).

42.      Dieser Eindruck wird, zweitens, durch den Kontext von Art. 6 bestätigt. Zusammen mit Art. 7 („Beteiligung der Zentralen Behörde“) bildet er das institutionelle Gerüst des vereinfachten Verfahrens, das durch den Rahmenbeschluss eingeführt wird. Dieses System funktioniert nach einem Grundschema, auf das ich im Folgenden eingehen werde.

43.      Im Grundsatz wird, so der fünfte Erwägungsgrund, die Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden ersetzt, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht(25). Grundpfeiler dieser Anerkennung ist eben der mit Art. 6 eingeführte Dialog der Beteiligten, d. h. der Dialog zwischen der ausstellenden Justizbehörde, die den EHB erlässt, und der vollstreckenden Justizbehörde, die ihm Folge geben soll. Dank dieser Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten über ihre jeweiligen Justizbehörden kann gegenseitiges Vertrauen darauf geschaffen werden, dass die jeweilige nationale Rechtsordnung einen äquivalenten und effektiven Schutz der Grundrechte sicherstellt, die auf Unionsebene, insbesondere in der Charta, anerkannt sind(26).

44.      Die einzige Abweichung, die der Gesetzgeber von diesem Schema zulässt, enthält Art. 7 des Rahmenbeschlusses, der ausnahmsweise die Mitwirkung von Behörden erlaubt, die nicht zum „justiziellen“ Bereich gehören. Allerdings lässt hier der Wortlaut der Vorschrift einmal keinen Zweifel zu: Die Formulierungen, mit denen der untergeordnete Charakter der Tätigkeit dieser „Zentralen Behörden“ beschrieben wird, sind sorgfältig gewählt worden, um die Aufgaben, die diesen Behörden im Dialog zwischen Justizbehörden zukommen, genau abzugrenzen.

45.      So wird mit Art. 7 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses den Mitgliedstaaten die Befugnis verliehen, diese Art von Behörden zur „Unterstützung“ der zuständigen Justizbehörden zu benennen. Hieraus folgt unmittelbar, dass ihnen lediglich eine ausführende Funktion, auf keinen Fall aber eine Entscheidungs- oder Leitungsfunktion zukommen kann, dass ihre Tätigkeit also lediglich ein Mittel zum Zweck darstellt. Dies bestätigen die in Art. 7 Abs. 2 verwendeten Formulierungen: Die Aufgaben, die die benannte Zentrale Behörde übernehmen kann, sind die administrative „Übermittlung“ und „Entgegennahme“ der EHB sowie des „gesamten übrigen sie betreffenden amtlichen Schriftverkehrs“.

46.      Vergleicht man diese Aufgaben mit denen der Justizbehörden (die ausstellende Justizbehörde ist „für die Ausstellung eines [EHB] zuständig“ und die vollstreckende Justizbehörde „für die Vollstreckung des [EHB]“, Art. 6 Abs. 1 bzw. Abs. 2 des Rahmenbeschlusses), fällt die Beschränkung der Zentralen Behörden auf rein administrative Tätigkeiten und das Fehlen jeglicher verfahrensrechtlicher Initiativbefugnisse auf, d. h. einer Möglichkeit, den Mechanismus der Ausstellung eines EHB in Gang zu setzen.

47.      Folglich ist, auch wenn der Gesetzgeber die Einschaltung spezieller Behörden in dem vom Rahmenbeschluss gewollten Dialog zwischen den Justizbehörden vorgesehen hat, deren Mitwirkung sehr begrenzt: a) Zum einen kann nur die Behörde tätig werden, die der Mitgliedstaat ausdrücklich benannt (und deren Benennung er dem Generalsekretariat des Rates mitgeteilt) hat, und keine andere; b) zum anderen sind die Aufgaben, die sie übernehmen kann, auf die administrative Unterstützung der tatsächlich entscheidenden Institutionen, d. h. der Justizbehörden, begrenzt, denen die Entscheidung für den Erlass bzw. die Vollstreckung eines EHB obliegt.

48.      Diese Auslegung ergibt sich auch aus der Begründung des Vorschlags für den Rahmenbeschluss(27). In den Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln wird dort zum jetzigen Art. 7 erklärt: „Absatz 1 … liegen die Bestimmungen des Übereinkommens der Europäischen Union von 1996 über die Auslieferung sowie jene des Übereinkommens der Europäischen Union von 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zugrunde. [Es handelt sich] um eine praktische Bestimmung …, die die Übermittlung von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern soll … Die Rolle dieser zentralen Behörden muss darin bestehen, die Verbreitung und Vollstreckung [von EHB] zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Sie müssen insbesondere für die Übersetzung sowie die administrative Unterstützung der Vollstreckung der Haftbefehle Sorge tragen.“(28)

49.      Dieses institutionelle Gefüge des EHB entspricht drittens auch am besten dem Zweck der Einführung eines neuen, vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, indem die justizielle Zusammenarbeit erleichtert und beschleunigt wird, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, auf der Grundlage des vorausgesetzten hohen Maßes an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden(29).

50.      Der Dialog zwischen Justizbehörden, denen als wesentliche konstitutionelle Merkmale gemein ist, dass sie im jeweiligen Mitgliedstaat der rechtsprechenden Gewalt angehören und auf die Gewährleistung der in Art. 6 EUV genannten Grundrechte und ‑freiheiten verpflichtet sind, ist das Schlüsselelement dieses gegenseitigen Vertrauens. Hierzu gehört unabdingbar das Fehlen einer Einmischung anderer Behörden, die keine Justizbehörden sind und deren Aufgabe allenfalls in der reinen Unterstützung im Rahmen des von Art. 7 des Rahmenbeschlusses gezogenen Rahmens bestehen kann.

51.      Im Übrigen findet, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, das gesamte Verfahren der Übergabe zwischen Mitgliedstaaten gemäß dem Rahmenbeschluss unter gerichtlicher Kontrolle statt(30).

52.      Es gibt noch ein Argument, das die Begrenzung der Zusammenarbeit in Strafsachen hinsichtlich der EHB auf die Gerichte bestätigt und abrundet, nämlich die Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses selbst, Art. 31 Abs. 1 Buchst. a und b EUV. In der 2002 geltenden Fassung(31) dieses Vertrags war noch von der „Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ministerien und den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden“ die Rede. Nach dem Abschluss des Vertrags von Lissabon wurde diese Vorschrift in Art. 82 AEUV überführt, mit dessen Abs. 1 der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und Entscheidungen in Strafsachen eingeführt wurde und dessen Buchst. d den Inhalt des früheren Art. 31 Abs. 1 Buchst. a EUV wieder aufnahm, allerdings mit der bedeutsamen Änderung, dass die ausdrückliche Erwähnung der Ministerien entfallen war(32). Diese Änderung ist bei der Auslegung des Rahmenbeschlusses in seinem neuem Geist, der diese Art der Zusammenarbeit in Strafsachen noch enger begrenzt, zu berücksichtigen(33). Ferner ist insoweit darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vorschrift des abgeleiteten Unionsrechts möglichst so auszulegen ist, dass sie mit den Bestimmungen der Verträge vereinbar ist(34).

53.      Im Kontext der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen hat der Gerichtshof festgestellt, dass deren institutioneller Rahmen durch den Vertrag von Lissabon wesentliche Änderungen erfahren hat und dass Art. 9 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen daher so zu verstehen ist, dass er insbesondere sicherstellen soll, dass die im Rahmen dieser Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte trotz der Änderung des institutionellen Rahmens dieser Zusammenarbeit weiterhin wirksam angewandt werden können(35).

54.      Diese Feststellung, die in einem Nichtigkeitsverfahren getroffen wurde, widerspricht keineswegs einer historischen Auslegung des Rahmenbeschlusses, die den noch auf einer früheren Rechtsgrundlage angenommenen Rechtsakt mit dem Wortlaut und den Zielen der neuen Rechtsgrundlage in Einklang bringt, d. h., ihn der Richtungsänderung anpasst, die der Gesetzgeber hinsichtlich der gerichtlichen Zusammenarbeit in Strafsachen vorgenommen hat. Diesen Rechtsakt weiterhin ausschließlich im Geist der früheren Rechtsgrundlage auszulegen, würde die Gefahr einer Versteinerung der Rechtsordnung im Widerspruch zum AEU-Vertrag selbst und zum späteren ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers bergen.

55.      Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist nachvollziehbar, dass im vorliegenden Fall, in dem die Behörde, die den EHB erlassen hat, zur Polizei gehört, ohne dass sich ein Gericht ihre Entscheidung zu eigen gemacht hätte, Zweifel entstehen, ob eine Polizeibehörde als „Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses angesehen werden kann. Auch wenn die Polizei gewiss zu den Organen gehört, mit denen staatlicher Zwang ausgeübt wird und die normalerweise den Trägern der Exekutive unterstehen, ist ebenso richtig, dass sie auch häufig die Justizbehörden bei der Ermittlung von Straftaten und in manchen Fällen auch bei der Vollstreckung justizieller Entscheidungen unterstützt. Gleichwohl macht sie dieses Element der Zusammenarbeit oder Unterstützung nicht zu einer Justizbehörde.

56.      Nach den Informationen, die die schwedische Polizeibehörde(36) auf die Fragen des vorlegenden Gerichts übermittelt hat, weist die Behörde, die ermächtigt ist, EHB auszustellen, folgende Merkmale auf: a) Die Polizei ist eine repressive Behörde mit zahlreichen Befugnissen zum Tätigwerden, b) die Behörde empfängt, was die EHB betrifft, keine Weisungen von Seiten des Justizministeriums, c) es besteht weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Verbindung zum Gericht, das den Gesuchten verurteilt hat, d) was EHB betrifft, wird sie auf Ersuchen der Verwaltung der Haftanstalten tätig, nimmt von dieser jedoch keine Weisungen entgegen und hat beim Erlass der EHB einen Ermessensspielraum, und e) sie hat die Befugnis zum Erlass von EHB auf die IPO(37) übertragen, eine mit Juristen besetzte Unterabteilung der Verwaltung, von denen nur drei zum Erlass eines schwedischen EHB zur Vollstreckung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, ermächtigt sind.

57.      Von allen diesen Unterscheidungsmerkmalen löst gerade die Benennung als für die Ausstellung von EHB zuständige Behörde in dem Gesetz, mit dem der Rahmenbeschluss in die nationale Rechtsordnung umgesetzt wurde, vor dem Hintergrund der Mitteilung der schwedischen Regierung an den Rat im Jahr 2009 zu Art. 6 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses(38) die größten Bedenken aus.

58.      Tatsächlich hatte nämlich der Rat Schweden empfohlen(39), die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in den Fällen der Strafvollstreckung zu gewährleisten, dass die EHB, wie im Rahmenbeschluss vorgesehen, von oder jedenfalls unter der Kontrolle einer Justizbehörde erlassen werden.

59.      Dass die schwedische Regierung diese Empfehlung ablehnt, wird klar, wenn man sieht, wie das System des EHB in die nationale Rechtsordnung eingeführt wurde. Denn diese Regierung hält es – zusammengefasst(40) – für richtig, dass es für die Vollstreckung eines Strafurteils, zu deren Zweck die Übergabe des Verurteilten durch einen anderen Mitgliedstaat beantragt wird, nicht erforderlich ist, dass der EHB von einer Justizbehörde im engeren Sinne ausgestellt worden ist. Vielmehr trägt sie vor, da das nationale System der Vollstreckung der von Richtern und Gerichten erlassenen Urteile diese Vollstreckung anderen Behörden, und zwar nicht notwendig Justizbehörden, zuweise, widerspreche es dem Rahmenbeschluss nicht, dass diese Behörden, deren nicht gerichtlichen Charakter sie nicht in Abrede stelle, auch über die Ausstellung von EHB entschieden.

60.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen meine ich, dass das von der schwedischen Regierung befürwortete institutionelle System mit dem Rahmenbeschluss nicht in Einklang steht. Es könnte mit diesem nur dann vereinbar sein, wenn die Polizeibehörde, die die EHB zur Vollstreckung eines Urteils erlässt, folgende Voraussetzungen erfüllen würde, die ich für unerlässlich halte, um das Niveau justizieller Garantien, auf dem das System des EHB beruht, aufrechtzuerhalten: a) Sie müsste im Auftrag und unter der Kontrolle einer Justizbehörde im Sinne von Art. 6 des Rahmenbeschlusses tätig werden, und b) sie dürfte im Hinblick auf den Erlass des EHB weder über einen Ermessens- noch über einen Beurteilungsspielraum verfügen, sondern müsste sich im Rahmen des ihr von der Justizbehörde erteilten Auftrags halten. Dieser obläge es zudem, bei Zweifeln am Haftbefehl den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung des Rahmenbeschlusses zu ersuchen.

61.      Wie sich sowohl aus den Akten als auch aus den schriftlichen Erklärungen der schwedischen Regierung ergibt, genügt das schwedische RPA diesen Anforderungen nicht. Im staatlichen Gefüge steht es außerhalb der Justizverwaltung, und aufgrund seiner fehlenden Verbindung zu den Gerichten und der Staatsanwaltschaft fehlt es an der erforderlichen Kontrolle der Entscheidungen zum Erlass von EHB – hinsichtlich deren das RPA über einen Ermessensspielraum verfügt – seitens einer Justizbehörde.

62.      Dieses Ergebnis stellt nicht die Unabhängigkeit in Frage, über die die Polizeibehörde möglicherweise gegenüber dem Justizministerium oder dem Institut der Haftanstalten verfügt, von denen sie keine Weisungen erhält. Dieses Merkmal ist meines Erachtens irrelevant, wenn es um die Einstufung der Polizei als „Justizbehörde“ geht. Und was den Ermessensspielraum betrifft, der ihr hinsichtlich der Ausstellung von EHB zusteht, ist die Tatsache relevant, dass sie weder die Entscheidung des Gerichts einholen muss, das den Gesuchten verurteilt hat, noch diesem Rechenschaft schuldig ist. Zwar verstärkt dies ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Prozessgericht, doch erweist sich daran gleichzeitig das Fehlen einer gerichtlichen Kontrolle, was zu der Rechtsprechung, nach der das gesamte im Rahmenbeschluss geregelte Verfahren der Übergabe zwischen Mitgliedstaaten unter gerichtlicher Kontrolle stattfinden muss, im Widerspruch steht(41).

63.      Letztlich gibt die Autonomie der Mitgliedstaaten diesen den notwendigen Freiraum, um in ihren nationalen Rechtsordnungen zu bestimmen, welchen Behörden sie prozessuale Zuständigkeiten (in diesem Fall Zuständigkeiten zum Erlass von EHB) zuweisen wollen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es in Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung dieses Bereichs Sache des jeweiligen Mitgliedstaats, in seiner nationalen Rechtsordnung die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der den Rechtsuchenden aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sofern diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)(42).

64.      Nach der Annahme des Rahmenbeschlusses haben einige Mitgliedstaaten gemäß Art. 6 Abs. 3 der Generaldirektion des Rates mitgeteilt, welche Behörden nach ihrem nationalen Recht zur Ausstellung und Vollstreckung von EHB zuständig seien, und Schweden hat die Polizeibehörde (das RPA oder Rikspolisstyrelsen) hinsichtlich der EHB zur Vollstreckung einer Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung unter diesen Behörden aufgeführt.

65.      Allerdings wird durch eine solche Mitteilung die Vereinbarkeit der von dem betreffenden Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen mit dem Rahmenbeschluss rechtlich gesehen weder präjudiziert noch beeinflusst. Die Bestimmung gibt den Mitgliedstaaten die Befugnis, unter ihren Justizbehörden diejenigen zu benennen oder auszuwählen, die dafür zuständig sind, EHB entgegenzunehmen oder auszustellen; sie gestattet ihnen dagegen nicht, den Begriff der Justizbehörde auszudehnen, indem sie ihn auf Organe erstrecken, denen dieser Status nicht zukommt.

66.      In diesem Kontext denke ich nicht, dass es einen exzessiven Eingriff in das von Schweden in Ausübung seiner Verfahrensautonomie gewählte Modell zur Regelung der Vollstreckung von Urteilen darstellt, wenn man (mit der gleichen Begründung wie die Empfehlung des Rates an die schwedische Regierung) fordert, dass Schweden, wenn es an der Mitwirkung der Polizeibehörden hinsichtlich der EHB festhalten möchte, diese den Weisungen und der Aufsicht einer wirklichen Justizbehörde unterstellt, die sie überwacht. Eine solche Änderung würde die Grundlagen seines nationalen Systems nicht untergraben und dessen Anpassung an die Gestaltung der gerichtlichen Zusammenarbeit, die der Rahmenbeschluss in diesem Bereich festlegt, erleichtern.

67.      Demgemäß bin ich der Auffassung, dass eine Polizeibehörde mit Befugnissen wie denen des RPA nicht unter den Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses fällt und ein von dieser Behörde erlassener EHB infolgedessen keine „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses darstellt.

V –    Zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des Urteils des Gerichtshofs

68.      Mehrere Regierungen, die an der Sitzung teilgenommen haben, sowie die Kommission haben dem Gerichtshof nahegelegt, für den Fall, dass er den vom schwedischen RPA ausgestellten Haftbefehlen den Charakter justizieller Entscheidungen absprechen sollte (wonach sich die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats konsequenterweise nicht mit ihnen befassen dürfte), die zeitliche Wirkung seines Urteils in der Weise zu begrenzen, dass diese nur für die Zukunft gelten sollen.

69.      Meiner Auffassung nach ist dem nicht zu folgen. Ich habe bereits in anderen, erst kürzlich vorgelegten Schlussanträgen(43) auf die allgemeine Regel hingewiesen, dass „durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die [der Gerichtshof] in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht [wird], in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen.“

70.      Meines Erachtens gibt es in dieser Rechtssache keine Gründe für eine Ausnahme von dieser Regel, denn

a)      das vorlegende Gericht hat keine Frage zur zeitlichen Reichweite des Urteils des Gerichtshofs (genau genommen nicht einmal zu den unmittelbaren Wirkungen des EHB) gestellt und hat seine Zweifel auf die vorstehend bereits geprüften Fragen beschränkt;

b)      es ist Aufgabe der Gerichte jedes Staates, im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, ob die erlassenen EHB den Kriterien entsprechen, die der Gerichtshof in seinem Urteil aufstellen wird, das auch Situationen betreffen kann, die noch nicht abgeschlossen sind, zumal es um den Entzug der Freiheit von Personen geht, die sich bis zu ihrer Übergabe in Haft befinden. Die Lösung jedes Einzelfalls hängt von Variablen ab, die hier schwer vorweggenommen werden können, unter anderem einer möglichen nachträglichen Heilung des „Mangels“, an dem der ursprüngliche EHB gelitten hat;

c)      schließlich müssen auch hinsichtlich bereits erfolgter Übergaben (der wesentliche Punkt der von der Kommission geäußerten Bedenken) die nationalen Gerichte die Auswirkungen des Urteils des Gerichtshofs auf diese Fälle neu beurteilen, wobei sie die sich aus dem Grundsatz der Rechtskraft ergebenden Anforderungen nicht außer Betracht werden lassen können.

VI – Ergebnis

71.      In Anbetracht der vorstehenden Überlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Fragen der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) wie folgt zu antworten:

1.      Die Ausdrücke „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 und „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind autonome Begriffe des Unionsrechts und in der gesamten Europäischen Union einheitlich auszulegen.

2.      Eine Polizeibehörde mit Befugnissen wie denen des schwedischen Reichspolizeiamts erfüllt nicht die Voraussetzungen dafür, als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI eingestuft zu werden, und der von dieser Behörde erlassene Europäische Haftbefehl ist keine „justizielle Entscheidung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses.


1 –      Originalsprache: Spanisch.


2 –      Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. 2009, L 81, S. 24), geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).


3 –      Im Folgenden: EHB.


4 –      Rechtssache Özçelik (C‑453/16 PPU, beim Gerichtshof anhängig).


5 –      Aktualisierte Fassung der schwedischen Notifikationen und Erklärungen gemäß dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (Ratsdokument 10400/09, S. 2)


6 –      In der Erläuterung der schwedischen Regierung, die vollständig im Ratsdokument 14876/11 (Evaluation report on the fourth round of mutual evaluations „the practical application of the European Arrest Warrant and corresponding surrender procedures between Member States“ Follow-up to Report on Sweden), S. 2, enthalten ist, heißt es: „Sweden would like to stress that when a judgment is final all subsequent decisions concerning the enforcement of the sentence in our legal system are taken by other authorities than the court. … In Sweden we have three different enforcement authorities and in order to coordinate the issuing of the EAWs: in these cases, the International Police Cooperation Division (IPO) was designated as the issuing authority. … To conclude, the existing system is the most effective and in line with our national procedure and no complaints has been put forward. Thus, Sweden has not found any convincing reason to change the current system.“


7 –      Im Folgenden: RPA.


8 –      Nach der Beschreibung in Punkt e des EHB griff Herr Poltorak am 4. Mai 2012 in der Husargatan (Göteborg, Schweden) das Opfer tätlich an und stieß ihm die Spitze eines Besenstiels ins Auge. Das Opfer erlitt dadurch den Riss eines Bandes und des Tränennasengangs, eine Blutung unter der Bindehaut sowie einen Bruch des unteren und oberen Randes der Orbita. Aufgrund der Härte und Brutalität, mit der der Verurteilte vorging, wurden bei der Tat erschwerende Umstände festgestellt.


9 –      C‑241/15, EU:C:2016:385.


10 –      Auch wenn Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, spricht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die enge Verbindung zwischen den Begriffen „justizielle Entscheidung“ und „Justizbehörde“ dafür, Erstere in gleicher Weise zu behandeln.


11 –      Im Sinne der Rechtsprechung zum „acte clair“ im Urteil vom 6. Oktober 1982, CILFIT (283/81, EU:C:1982:335).


12 –      Nach der mit dem Urteil vom 27. März 1963, Da Costa en Schaake u. a. (28/62 bis 30/62, EU:C:1963:6), begründeten Rechtsprechung.


13 –      Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, von der Kommission vorgelegt am 19. September 2001 (KOM[2001] 522 endg. – 2001/0215[CNS]), (ABl. 2001, C 332 E, S. 305).


14 –      Urteil vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 46).


15 –      Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, (C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 57).


16 –      Urteil vom 28. Juli 2016, JZ (C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17 –      Urteil vom 14. November 2013, Baláž (C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 24 bis 32).


18 –      Urteil vom 28. Juli 2016, JZ (C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 37).


19 –      Vgl. entsprechend Urteil vom 30. Juni 2016, Toma (C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 33).


20 –      Das Europäische Parlament hat die Auslegungsdivergenzen hervorgehoben, zu denen der Begriff „Justizbehörde“ im Rahmenbeschluss Anlass gegeben hat, und deshalb am 27. Februar 2014 eine Entschließung mit Empfehlungen an die Kommission zur Überprüfung des EHB (2013/2019[INL]) angenommen, in der es das „[Fehlen] einer[r] Definition des Begriffs ‚Justizbehörde‘ im Rahmenbeschluss 2002/584/JI und anderen Rechtsinstrumenten zur gegenseitigen Anerkennung“ kritisiert hat, „was zu unterschiedlichen Vorgehensweisen in den Mitgliedstaaten sowie zu Unsicherheit, nachlassendem gegenseitigem Vertrauen und Rechtsstreitigkeiten geführt hat“. Das Parlament hat die Kommission daher ersucht, „Legislativvorschläge entsprechend den im Anhang aufgeführten detaillierten Empfehlungen zu unterbreiten, in denen Folgendes vorgesehen ist: a) ein Verfahren, bei dem eine Maßnahme der gegenseitigen Anerkennung bei Bedarf im Ausstellungsmitgliedstaat von einem Richter, einem Gericht, einem Ermittlungsrichter oder einem Staatsanwalt bestätigt werden kann, damit die unterschiedliche Interpretationsweise des Begriffs ‚Justizbehörde‘ kein Hindernis mehr darstellt …“.


21 –      Zur Verhältnismäßigkeit im Kontext des EHB verweise ich auf die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der mit Urteil vom 5. April 2016 abgeschlossenen Rechtssache Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:140, Nrn. 137 ff.), und hinsichtlich der ausstellenden Justizbehörde insbesondere auf die Nrn. 145 bis 155. Vgl. auch das Ratsdokument 17195/1/10 REV 1, Revised version of the European Arrest Warrant, vom 17. Dezember 2010, S. 14, in dem die ausstellenden Behörden gebeten werden, vor Erlass des EHB zu prüfen, ob dies verhältnismäßig ist.


22 –      Die Frage, inwieweit die Staatsanwaltschaft in Auslegung des Rahmenbeschlusses als Justizbehörde anzusehen ist, behandle ich nicht in diesen Schlussanträgen, sondern in denen in der Rechtssache Özçelik (C‑453/16 PPU), die ebenfalls beim Gerichtshof anhängig ist.


23 –      KOM(2001) 522 endg., siehe Fn. 13 der vorliegenden Schlussanträge.


24 –      In der Erläuterung zu Art. 3 des Vorschlags heißt es: „Das Verfahren des Europäischen Haftbefehls beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen. Die Beziehungen von Staat zu Staat werden damit also weitgehend durch Beziehungen von Justizbehörde zu Justizbehörde ersetzt. Der Begriff ‚Justizbehörde‘ umfasst wie im Übereinkommen von 1957 (siehe erläuternder Bericht Artikel 1) die Justizbehörden im eigentlichen Sinne und die Staatsanwaltschaft mit Ausnahme der Polizeibehörden. Die ausstellende Justizbehörde ist nach den verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Mitgliedstaats für den Erlass des Europäischen Haftbefehls zuständig (Artikel 4).“


25 –      Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn.75).


26 –      Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi (C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27 –      Siehe Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge und die entsprechende Fußnote.


28 –      Hervorhebung nur hier. Die Begründung ließ die administrative Unterstützung in abschließend aufgeführten Fällen zu: wenn im Rechtssystem des Vollstreckungsmitgliedstaats eine Verwaltungsbehörde zu prüfen hat, ob die gesuchte Person Immunität genießt (Art. 31), bei Vorliegen triftiger humanitärer Gründe, die einen Aufschub der Vollstreckung des Haftbefehls rechtfertigen (Art. 38) oder zur Prüfung der in einem anderen Mitgliedstaat bestehenden Gewährleistungen, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht vollstreckt wird (Art. 37).


29 –      Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30 –      Urteil vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 46).


31 –      Art. 31 Abs. 1 Buchst. a sah vor: „Das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen schließt ein: a) die Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ministerien und den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten, auch unter Einschaltung von Eurojust, wenn sich dies als zweckmäßig erweist, bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen“.


32 –      Art. 82 Abs. 1 Buchst. d AEUV spricht davon „die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern“.


33 –      Sowohl Art. 30 EUV in seiner Fassung vor dem Vertrag von Lissabon als auch die – in Kapitel 5 („Polizeiliche Zusammenarbeit“) von Titel V enthaltenen – derzeit geltenden Art. 87 und 89 AEUV befassen sich mit der polizeilichen Zusammenarbeit, in deren Rahmen die Beziehungen zwischen den schwedischen Polizeibehörden und ihren Entsprechungen in anderen Mitgliedstaaten eingeordnet werden könnten. Demgegenüber sind die Vorschriften über den EHB u. a. in Kapitel 4 („Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“) des genannten Titels enthalten.


34 –      Urteil vom 16. April 2015, Parlament/Rat (C‑540/13, EU:C:2015:224, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35 –      Ebd. (Rn. 44).


36 –      Nachfolgebehörde des RPA.


37 –      International Police Cooperation Division (das Akronym IPO ist den dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übersandten Akten entnommen).


38 –      Siehe Nr. 13 der vorliegenden Schlussanträge.


39 –      Evaluation report on the fourth round of mutual evaluations „the practical application of the European Arrest Warrant and corresponding surrender procedures between Member States“ (Ratsdokument Nr. 9927/2/08/REV 2), S. 46.


40 –      Siehe Nr. 13 und Fn. 5 der vorliegenden Schlussanträge.


41 –      Urteil vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 46).


42 –      Urteile vom 6. Oktober 2015, Târşia (C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 27), und vom 15. September 1998, Ansaldo Energia u. a. (C‑279/96, C‑280/96 und C‑281/96, EU:C:1998:403, Rn. 16), das auf die richtungsweisenden Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe (33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5), und Comet (45/76, EU:C:1976:191, Rn. 13 und 16), sowie auf das Urteil vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, EU:C:1995:437, Rn. 12), verweist.


43 –      Vorgelegt am 13. Juli 2016 in den Rechtssachen Eco-Emballages und Melitta France u. a. (C‑313/15 und C‑530/15, EU:C:2016:551, Nr. 56).