Language of document : ECLI:EU:C:2008:178

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

1. April 2008(*)

„Von einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats eingeführtes Pflegeversicherungssystem – Ausschluss von Personen mit Wohnsitz in einem anderen als dem der Zuständigkeit dieser Einheit unterliegenden Teil des Staatsgebiets – Art. 18 EG, 39 EG und 43 EG – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71“

In der Rechtssache C‑212/06

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Cour d’arbitrage, nunmehr Cour constitutionnelle (Belgien), mit Entscheidung vom 19. April 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2006, in dem Verfahren

Gouvernement de la Communauté française,

Gouvernement wallon

gegen

Gouvernement flamand

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts, A. Tizzano (Berichterstatter) und G. Arestis sowie der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič, J. Malenovský und J. Klučka,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M.-A. Gaudissart, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. März 2007,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Regierung der Französischen Gemeinschaft, vertreten durch J. Sambon und P. Reyniers, avocats,

–        der wallonischen Regierung, vertreten durch M. Uyttendaele, J.‑M. Bricmont und J. Sautois, avocats,

–        der flämischen Regierung, vertreten durch B. Staelens und H. Gilliams, advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und P. van Ginneken als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz und J.‑P. Keppenne als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. Juni 2007

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 EG, 39 EG und 43 EG sowie der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 (ABl. L 38, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen mehreren föderalen Einheiten des Königreichs Belgien. In diesem Rechtsstreit streiten die Regierung der Französischen Gemeinschaft und die wallonische Regierung auf der einen und die flämische Regierung auf der anderen Seite um die Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum System der Pflegeversicherung, das die Flämische Gemeinschaft für Personen mit einer aufgrund schwerer und längerer Beeinträchtigungen verringerten Eigenständigkeit eingeführt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsrecht

3        Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ist in ihrem Art. 2 Abs. 1 geregelt:

„Diese Verordnung gilt für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.“

4        Der sachliche Geltungsbereich der Verordnung ist in Art. 4 wie folgt geregelt:

„(1)      Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

a)      Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,

(2) Diese Verordnung gilt für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie für die Systeme, nach denen die Arbeitgeber, einschließlich der Reeder, zu Leistungen gemäß Absatz 1 verpflichtet sind.

(2b)       Diese Verordnung gilt nicht für die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats betreffend die in Anhang II Teil III genannten beitragsunabhängigen Sonderleistungen, deren Geltung auf einen Teil des Gebietes dieses Mitgliedstaats beschränkt ist.

…“

5        Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 mit der Überschrift „Gleichbehandlung“ sieht vor:

„Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.“

6        Schließlich bestimmt Art. 13 der Verordnung, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit für Wanderarbeitnehmer gelten, wie folgt:

„(1)      Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)      Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

a)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

b)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats eine selbständige Tätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.

…“

 Nationales Recht

7        Mit Dekret des flämischen Parlaments zur Organisation der Pflegeversicherung (Decreet houdende de organisatie van de zorgverzekering) vom 30. März 1999 (Moniteur belge vom 28. Mai 1999, S. 19149, im Folgenden: Dekret vom 30. März 1999) führte die Flämische Gemeinschaft ein System der Pflegeversicherung ein, um den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen von Personen zu verbessern, deren Eigenständigkeit aufgrund einer schweren und längeren Beeinträchtigung verringert ist. Dieses System berechtigt unter bestimmten Voraussetzungen dazu, bis zu einem Höchstbetrag die Übernahme bestimmter Kosten durch eine Pflegeversicherungskasse zu verlangen, die durch einen Zustand gesundheitsbedingter Abhängigkeit entstanden sind, wie Kosten für Hilfeleistungen zu Hause oder für den Kauf von Geräten und Produkten, die der Versicherte benötigt.

8        Das Dekret vom 30. März 1999 wurde mehrfach geändert, insbesondere um den von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften erhobenen Einwänden Rechnung zu tragen, die 2002 zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens geführt hatten. Die Kommission rügte im Wesentlichen, dass das Erfordernis des Wohnsitzes im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt, dem die Zugehörigkeit zu diesem Pflegeversicherungssystem und die Zahlung der darin vorgesehenen Leistungen in der ursprünglichen Fassung des Dekrets unterworfen waren, mit der Verordnung Nr. 1408/71 unvereinbar sei.

9        Das Wohnsitzkriterium wurde daraufhin durch Dekret des flämischen Parlaments zur Änderung des Dekrets vom 30. März 1999 zur Organisation der Pflegeversicherung (Decreet van de Vlaamse Gemeenschap houdende wijziging van het decreet van 30 maart 1999 houdende de organisatie van de zorgverzekering) vom 30. April 2004 (Moniteur belge vom 9. Juni 2004, S. 43593, im Folgenden: Dekret vom 30. April 2004) geändert. Dieses Dekret, das mit Rückwirkung zum 1. Oktober 2001 versehen ist, hat den persönlichen Geltungsbereich der Pflegeversicherungsregelung auf Personen erweitert, die in den genannten Sprachgebieten arbeiten und in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien wohnen. Vom Geltungsbereich ausdrücklich ausgenommen wurden zugleich die Personen, die in diesen Gebieten wohnen, aber den Vorschriften der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats unterliegen. Infolge des Erlasses dieser Änderungen beschloss die Kommission am 4. April 2006, das betreffende Vertragsverletzungsverfahren einzustellen.

10      Art. 4 des Dekrets vom 30. März 1999 in seiner durch das Dekret vom 30. April 2004 geänderten Fassung definiert die Kategorien von Personen, die im System der Pflegeversicherung pflichtversichert oder freiwillig versichert sind, wie folgt:

„§ 1. Jede Person mit Wohnsitz im niederländischen Sprachgebiet muss einer kraft dieses Dekrets anerkannten Pflegeversicherungskasse beitreten.

§ 2.      Jede Person, die im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt wohnt, hat die Möglichkeit, freiwillig einer kraft dieses Dekrets anerkannten Pflegeversicherungskasse beizutreten.

§ 2bis.       Dieses Dekret ist nicht anwendbar auf alle Personen im Sinne von § 1 und § 2, auf die gemäß den Zuweisungsregeln der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 aufgrund ihres eigenen Rechtes das System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines anderen Staates, der dem Europäischen Wirtschaftsraum angehört, Anwendung findet.

§ 2ter.       Jede Person, die nicht in Belgien wohnt und auf die aufgrund ihres eigenen Rechts und wegen der Beschäftigung im niederländischen Sprachgebiet das System der sozialen Sicherheit in Belgien gemäß den Zuweisungsregeln der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Anwendung findet, muss einer Pflegeversicherungskasse angeschlossen sein, die kraft dieses Dekrets anerkannt ist. Die Bestimmungen dieses Dekrets über die in § 1 erwähnten Personen finden sinngemäße Anwendung.

Jede Person, die nicht in Belgien wohnt und auf die aufgrund ihres eigenen Rechts und wegen der Beschäftigung im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt das System der sozialen Sicherheit in Belgien gemäß den Zuweisungsregeln der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Anwendung findet, kann sich freiwillig einer Pflegeversicherungskasse anschließen, die kraft dieses Dekrets anerkannt ist. Die Bestimmungen dieses Dekrets über die in § 2 erwähnten Personen finden sinngemäße Anwendung.“

11      Art. 5 des Dekrets vom 30. März 1999 in seiner zuletzt durch das Dekret des flämischen Parlaments zur Änderung des Dekrets vom 30. März 1999 zur Organisation der Pflegeversicherung (Decreet van de Vlaamse Gemeenschap houdende wijziging van het decreet von 30 maart 1999 houdende de organisatie van de zorgverzekering) vom 25. November 2005 (Moniteur belge vom 12. Januar 2006, S. 2153), das ebenfalls mit Rückwirkung zum 1. Oktober 2001 versehen ist, geänderten Fassung, regelt die Voraussetzungen für die Kostenübernahme durch das System der Pflegeversicherung wie folgt:

„Damit der Benutzer eine Übernahme der Kosten für nicht ärztliche Hilfe- oder Dienstleistungen durch eine Pflegeversicherungskasse beanspruchen kann, muss er folgende Bedingungen erfüllen:

3.      zum Zeitpunkt der Kostenübernahme rechtmäßig in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Mitgliedstaat, der dem Europäischen Wirtschaftsraum angehört, wohnen;

5.      während wenigstens fünf Jahren vor dem Antrag auf Kostenübernahme ununterbrochen im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt wohnen oder ununterbrochen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder in den Staaten, die dem Europäischen Wirtschaftsraum angehören, sozialversichert sein;

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12      Die vorliegende Rechtssache beruht auf der dritten Nichtigkeitsklage der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens gegen das Dekret vom 30. März 1999, nachdem die ersten beiden Klagen teilweise bzw. in vollem Umfang von der Cour d’arbitrage abgewiesen wurden. Im Rahmen dieser vorausgegangenen Rechtssachen hat die Cour d’arbitrage in ihrem Urteil Nr. 33/2001 vom 13. März 2001 u. a. ausgeführt, dass das mit diesem Dekret eingeführte System der Pflegeversicherung in den Bereich der „Hilfe für Personen“ falle, für den nach Art. 128 Abs. 1 der belgischen Verfassung die Gemeinschaften zuständig seien, und daher nicht in die ausschließlichen Zuständigkeiten des Föderalstaats im Bereich der sozialen Sicherheit eingreife.

13      Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass sich das Ausgangsverfahren insbesondere auf Art. 4 des Dekrets vom 30. März 1999 in der Fassung des Dekrets vom 30. April 2004 (im Folgenden: geändertes Dekret vom 30. März 1999) bezieht. In ihren am 10. Dezember 2004 beim vorlegenden Gericht erhobenen Klagen haben die klagenden Regierungen u. a. einen Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1408/71 und gegen verschiedene Bestimmungen des EG-Vertrags geltend gemacht. Ihrer Ansicht nach stellt es eine beschränkende Maßnahme, die die Freizügigkeit beeinträchtigt, dar, dass von dem System der Pflegeversicherung Personen ausgeschlossen seien, die im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt arbeiteten und im Staatsgebiet, jedoch außerhalb des Gebiets dieser beiden Regionen wohnten.

14      Unter diesen Umständen hat die Cour d’arbitrage das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Stellt ein Pflegeversicherungssystem, das

a)      durch eine autonome Gemeinschaft eines Föderalstaats, der Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ist, eingeführt wird,

b)      auf die Personen anwendbar ist, die ihren Wohnsitz in dem Gebietsteil dieses Föderalstaats haben, für den diese autonome Gemeinschaft zuständig ist,

c)      Anspruch auf die Übernahme der Kosten durch ein solches System für nicht ärztliche Hilfe‑ oder Dienstleistungen zugunsten von diesem System angeschlossenen Personen mit einer längeren und schweren Einschränkung der Eigenständigkeit in Form einer pauschalen Beteiligung an deren Kosten verleiht und

d)      einerseits durch Jahresbeiträge der Mitglieder und andererseits durch eine Dotation zulasten des Ausgabenhaushaltsplans der betroffenen autonomen Gemeinschaft finanziert wird,

ein System dar, das zum sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71, wie er in Art. 4 dieser Verordnung definiert ist, gehört?

2.      Im Fall der Bejahung der ersten Vorabentscheidungsfrage: Ist die oben genannte Verordnung, insbesondere ihre Art. 2, 3 und 13 sowie, sofern sie anwendbar sind, ihre Art. 18, 19, 20, 25 und 28, in dem Sinne auszulegen, dass diese Bestimmungen dem entgegenstehen, dass eine autonome Gemeinschaft eines Föderalstaats, der Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ist, Bestimmungen annimmt, die in Ausübung ihrer Zuständigkeiten den Zugang zur Versicherbarkeit und den Vorteil eines Systems der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Verordnung auf die Personen begrenzen, die ihren Wohnsitz in dem Gebiet haben, für das diese autonome Gemeinschaft zuständig ist, sowie hinsichtlich der Bürger der Europäischen Union auf die Personen, die in diesem Gebiet beschäftigt sind und ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, unter Ausschluss jener Personen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die ihren Wohnsitz in einem Gebietsteil des Föderalstaats haben, für den eine andere autonome Gemeinschaft zuständig ist?

3.      Sind die Art. 18 EG, 39 EG und 43 EG in dem Sinne auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine autonome Gemeinschaft eines Föderalstaats, der Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ist, Bestimmungen erlässt, die in Ausübung ihrer Zuständigkeiten den Zugang zur Versicherung und den Vorteil eines Systems der sozialen Sicherheit im Sinne der oben genannten Verordnung auf die Personen begrenzen, die ihren Wohnsitz in dem Gebiet haben, für das diese autonome Gemeinschaft zuständig ist, sowie hinsichtlich der Bürger der Europäischen Union auf die Personen, die in diesem Gebiet beschäftigt sind und ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, unter Ausschluss jener Personen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die ihren Wohnsitz in einem Gebietsteil des Föderalstaats haben, für den eine andere autonome Gemeinschaft zuständig ist?

4.      Sind die Art. 18 EG, 39 EG und 43 EG in dem Sinne auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass der Anwendungsbereich eines solchen Systems auf die Personen begrenzt wird, die ihren Wohnsitz in den in diesem System erwähnten Teilgebieten eines Föderalstaats, der Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ist, haben?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

15      Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob Leistungen aus einem System wie dem mit dem Dekret vom 30. März 1999 eingeführten System der Pflegeversicherung in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen.

16      Zur Beantwortung dieser Frage ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen sind, und solchen, die darunter fallen, hauptsächlich vom Wesen der jeweiligen Leistung abhängt, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen für ihre Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung nach nationalem Recht eine Leistung der sozialen Sicherheit ist (vgl. u. a. Urteile vom 27. März 1985, Hoeckx, 249/83, Slg. 1985, 973, Randnr. 11, vom 10. März 1993, Kommission/Luxemburg, C‑111/91, Slg. 1993, I‑817, Randnr. 28, und vom 18. Januar 2007, Celozzi, C‑332/05, Slg. 2007, I‑563, Randnr. 16).

17      Der Gerichtshof hat insoweit in zahlreichen Fällen festgestellt, dass eine Leistung dann als Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann, wenn sie erstens den Empfängern ohne jede auf Ermessen beruhende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund eines gesetzlichen Tatbestands gewährt wird und sich zweitens auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. u. a. Urteile Hoeckx, Randnrn. 12 bis 14, Kommission/Luxemburg, Randnr. 29, und Celozzi, Randnr. 17).

18      Im Ausgangsverfahren ist, wie sämtlichen beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen zu entnehmen ist, nicht streitig, dass ein System wie das mit Dekret vom 30. März 1999 eingeführte System der Pflegeversicherung diese Voraussetzungen erfüllt.

19      Zum einen ergibt sich aus den Bestimmungen des Dekrets, dass dieses System objektiv und aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands jedem, dessen Eigenständigkeit aufgrund einer längeren und schweren Beeinträchtigung verringert ist, Anspruch darauf gewährt, dass die Kosten, die ihm für nicht ärztliche Hilfe- oder Dienstleistungen entstanden sind, von einer Pflegeversicherungskasse übernommen werden.

20      Zum anderen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Leistungen, die darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen Pflegebedürftiger, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Personen, zu verbessern, im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung bezwecken und damit als „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 zu betrachten sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1998, Molenaar, C‑160/96, Slg. 1998, I‑843, Randnrn. 22 bis 24, vom 8. März 2001, Jauch, C‑215/99, Slg. 2001, I‑1901, Randnr. 28, und vom 21. Februar 2006, Hosse, C‑286/03, Slg. 2006, I‑1771, Randnr. 38).

21      Außerdem ist, wie die wallonische Regierung bemerkt, die Pflegeversicherung vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 nicht nach deren Art. 4 Abs. 2b ausgeschlossen, der bestimmte beitragsunabhängige Leistungsformen erfasst, soweit sie in nationalen Rechtsvorschriften, die nur für einen Teil des Gebiets eines Mitgliedstaats gelten, geregelt sind.

22      Entgegen den für die in Art. 4 Abs. 2b vorgesehene Ausnahme aufgestellten Voraussetzungen ist das im Ausgangsverfahren in Rede stehende System der Pflegeversicherung nämlich beitragsabhängig, da es zumindest teilweise aus Beiträgen der Versicherten finanziert wird, und es ist in Anhang II Teil III der Verordnung Nr. 1408/71 nicht genannt.

23      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Leistungen aus einem System wie dem mit dem geänderten Dekret vom 30. März 1999 eingeführten System der Pflegeversicherung in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

24      Mit diesen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht in Erfahrung bringen, ob die Art. 18 EG, 39 EG und 43 EG oder die Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die den Anschluss an ein System wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende System der Pflegeversicherung und die in diesem System vorgesehenen Leistungen auf Personen, die in dem Gebiet wohnen, für das diese Einheit zuständig ist, sowie auf Personen, die in diesem Gebiet eine Berufstätigkeit ausüben und in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, beschränkt, so dass diejenigen Personen, die ebenfalls im Gebiet dieser Einheit eine Berufstätigkeit ausüben, jedoch im Gebiet einer anderen föderalen Einheit desselben Staates wohnen, hiervon ausgeschlossen sind.

 Zur Zulässigkeit

25      Die flämische Regierung macht in erster Linie geltend, dass diese Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits weder zweckdienlich noch erforderlich seien, so dass sie für unzulässig zu erklären seien.

26      Vor dem vorlegenden Gericht seien die klagenden Regierungen der Einführung des Pflegeversicherungssystems damit entgegengetreten, dass sie die Zuständigkeit der Flämischen Gemeinschaft für diesen Bereich bestritten hätten, während die von ihnen im Rahmen der zweiten und der dritten Frage vertretene Auslegung des Gemeinschaftsrechts zum gegenteiligen Ergebnis, nämlich zur Ausweitung der betreffenden Pflegeversicherungsleistungen auf Personen mit Wohnsitz im französischen Sprachgebiet führen würde.

27      Außerdem habe die Cour d’arbitrage diese Fragen in der Vorlageentscheidung bereits selbst dahin beantwortet, dass das streitige Pflegeversicherungssystem in Anbetracht der Höhe und der begrenzten Wirkungen der fraglichen Leistungen die ausschließlichen Zuständigkeiten der föderalen Behörde im Bereich der innerhalb Belgiens bestehenden Wirtschaftsunion nicht beeinträchtige. Aus denselben Gründen könne diese Regelung die Freizügigkeit im Sinne des Vertrags nicht beschränken.

28      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten nach Art. 234 EG allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der bei ihm anhängigen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffen, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2001, PreussenElektra, C‑379/98, Slg. 2001, I‑2099, Randnr. 38, vom 22. Mai 2003, Korhonen u. a., C‑18/01, Slg. 2003, I‑5321, Randnr. 19, sowie vom 19. April 2007, Asemfo, C‑295/05, Slg. 2007, I‑2999, Randnr. 30).

29      Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht (vgl. u. a. Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 61, und vom 7. September 1999, Beck und Bergdorf, C‑355/97, Slg. 1999, I‑4977, Randnr. 22).

30      Dies ist jedoch im Ausgangsverfahren nicht der Fall. Es genügt nämlich die Feststellung, dass sich aus der Vorlageentscheidung klar ergibt, dass für die Cour d’arbitrage die Antwort auf die zweite und die dritte Frage zweckdienlich ist zur Entscheidung der Frage, ob das Wohnsitzerfordernis, dem die Zulassung zum System der Pflegeversicherung unterliegt, bestimmte Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit verletzt, wie dies die Klägerinnen mit ihren Klagen im Ausgangsverfahren geltend machen.

31      Die zweite und die dritte Vorlagefrage sind daher zulässig.

 Zur Begründetheit

32      Zunächst ist auf den Vortrag der flämischen Regierung einzugehen, dass diese Fragen einen rein internen Sachverhalt beträfen, der keine Verbindung mit dem Gemeinschaftsrecht aufweise, nämlich die Situation, die sich daraus ergibt, dass das geänderte Dekret vom 30. März 1999 für Personen, die in Belgien wohnen und dort auch eine Berufstätigkeit ausüben, nicht gilt.

33      Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit und die zur Durchführung dieser Bestimmungen erlassenen Maßnahmen nicht auf Tätigkeiten anwendbar sind, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (vgl. u. a. zur Niederlassungsfreiheit Urteil vom 8. Dezember 1987, Gauchard, 20/87, Slg. 1987, 4879, Randnrn. 12 und 13, und zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer Urteil vom 26. Januar 1999, Terhoeve, C‑18/95, Slg. 1999, I‑345, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ebenso verhält es sich für die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. September 1992, Petit, C‑153/91, Slg. 1992, I‑4973, Randnr. 10, und vom 11. Oktober 2001, Khalil u. a., C‑95/99 bis C‑98/99 und C‑180/99, Slg. 2001, I‑7413, Randnr. 70).

34      Wie der Gerichtshof ebenfalls klargestellt hat, fällt demgegenüber jeder Gemeinschaftsangehörige, der vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich der vorstehend genannten Bestimmungen (vgl. u. a. in diesem Sinne Urteile vom 23. Februar 1994, Scholz, C‑419/92, Slg. 1994, I‑505, Randnr. 9, Terhoeve, Randnr. 27, und vom 18. Juli 2007, Hartmann, C‑212/05, Slg. 2007, I‑6303, Randnr. 17).

35      Im vorliegenden Fall steht fest, dass sich die zweite und die dritte Frage des vorlegenden Gerichts auf alle Personen beziehen, die − unabhängig davon, ob sie von einer der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten Gebrauch gemacht haben − im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt eine Berufstätigkeit ausüben, aber aufgrund der Tatsache, dass sie in einem Teil des Staatsgebiets wohnen, das außerhalb dieser beiden Gebiete liegt, nicht in den Genuss des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pflegeversicherungssystems kommen können.

36      Es ist daher erforderlich, im Licht der in den Randnrn. 32 und 33 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätze zwei Arten von Sachverhalten zu unterscheiden.

37      Zum einen führt die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung insbesondere dazu, dass diejenigen belgischen Staatsangehörigen vom System der Pflegeversicherung ausgeschlossen sind, die eine Berufstätigkeit im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt ausüben, aber in den französischsprachigen oder deutschsprachigen Gebieten wohnen und nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben.

38      Auf solche rein internen Sachverhalte kann das Gemeinschaftsrecht nicht angewandt werden.

39      Gegen dieses Ergebnis kann entgegen der von der Regierung der Französischen Gemeinschaft vertretenen Ansicht nicht der in Art. 17 EG aufgestellte Grundsatz der Unionsbürgerschaft eingewandt werden, die nach Art. 18 EG u. a. das Recht jedes Unionsbürgers umfasst, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt entschieden, dass die Unionsbürgerschaft nicht bezweckt, den sachlichen Anwendungsbereich des EG-Vertrags auf interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 1997, Uecker und Jacquet, C‑64/96 und C‑65/96, Slg. 1997, I‑3171, Randnr. 23, vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C‑148/02, Slg. 2003, I‑11613, Randnr. 26, und vom 12. Juli 2005, Schempp, C‑403/03, Slg. 2005, I‑6421, Randnr. 20).

40      Jedoch ist zu bemerken, dass die Auslegung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts dem vorlegenden Gericht möglicherweise auch in Bezug auf Sachverhalte, die als rein intern einzustufen sind, von Nutzen sein könnte, und zwar insbesondere dann, wenn das Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorschriebe, dass jedem Inländer die gleichen Rechte zustehen, die einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats in einer von diesem Gericht für vergleichbar gehaltenen Lage kraft Gemeinschaftsrechts zustünden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 17. Februar 2005, Mauri, C‑250/03, Slg. 2005, I‑1267, Randnr. 21, und Urteil vom 30. März 2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, Slg. 2006, I‑2941, Randnr. 29).

41      Zum anderen kann die im Ausgangsverfahren streitige Regelung auch in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallende Arbeitnehmer oder Selbständige vom System der Pflegeversicherung ausschließen, nämlich sowohl Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als des Königreichs Belgien, die im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt eine Berufstätigkeit ausüben, aber in einem anderen Teil des Staatsgebiets wohnen, als auch belgische Staatsangehörige, die sich in der gleichen Situation befinden und von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben.

42      Hinsichtlich dieser zweiten Gruppe von Arbeitnehmern und Selbständigen ist daher zu prüfen, ob die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, einer Regelung wie der des Ausgangsverfahrens entgegenstehen, soweit diese Regelung für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als des Königreichs Belgien oder für belgische Staatsangehörige, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben, gilt.

43      Hierzu ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten zwar weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind, dabei jedoch das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die Bestimmungen des Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit beachten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Terhoeve, Randnrn. 34 und 35, und Urteil vom 23. November 2000, Elsen, C‑135/99, Slg. 2000, I‑10409, Randnr. 33).

44      Aus einer ständigen Rechtsprechung ergibt sich außerdem, dass sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie eine Erwerbstätigkeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausüben wollen (Urteile vom 7. Juli 1988, Wolf u. a., 154/87 und 155/87, Slg. 1988, 3897, Randnr. 13, Terhoeve, Randnr. 37, und vom 11. September 2007, Kommission/Deutschland, C‑318/05, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 114). In diesem Zusammenhang haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten insbesondere das unmittelbar aus dem Vertrag abgeleitete Recht, ihr Herkunftsland zu verlassen, um sich zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten (vgl. u. a. Urteile Bosman, Randnr. 95, und Terhoeve, Randnr. 38).

45      Folglich stehen die Art. 39 EG und 43 EG jeder nationalen Maßnahme entgegen, die, auch wenn sie ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, geeignet ist, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch die Gemeinschaftsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 31. März 1993, Kraus, C‑19/92, Slg. 1993, I‑1663, Randnr. 32, vom 9. September 2003, Burbaud, C‑285/01, Slg. 2003, I‑8219, Randnr. 95, und vom 5. Oktober 2004, CaixaBank France, C‑442/02, Slg. 2004, I‑8961, Randnr. 11).

46      Im Licht dieser Grundsätze wurden als Beschränkungen insbesondere Maßnahmen qualifiziert, die bewirken, dass Arbeitnehmer oder Selbständige infolge der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, die ihnen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zustehen (vgl. u. a. Urteile vom 9. Dezember 1993, Lepore und Scamuffa, C‑45/92 und C‑46/92, Slg. 1993, I‑6497, Randnr. 21, vom 5. Oktober 1994, van Munster, C‑165/91, Slg. 1994, I‑4661, Randnr. 27, sowie Hosse, Randnr. 24).

47      Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende kann solche beschränkenden Wirkungen entfalten, wenn sie den Anschluss an das Pflegeversicherungssystem von dem Erfordernis eines Wohnsitzes entweder in einem abgegrenzten Teil des Staatsgebiets, nämlich im niederländischen Sprachgebiet bzw. im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt, oder in einem anderen Mitgliedstaat abhängig macht.

48      Wanderarbeitnehmer und -selbständige, die eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit in einem dieser beiden Gebiete ausüben oder ausüben wollen, könnten nämlich davon abgehalten werden, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch zu machen und ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um sich in Belgien aufzuhalten, weil eine Wohnsitznahme in bestimmten Teilen des belgischen Staatsgebiets den Verlust der Möglichkeit mit sich bringen würde, in den Genuss von Leistungen zu kommen, die sie andernfalls hätten beanspruchen können. Mit anderen Worten, der Umstand, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer oder Selbständigen in der Situation befinden, entweder die Pflegeversicherung zu verlieren oder in der Wahl des Ortes, an den sie ihren Wohnsitz verlegen, beschränkt zu sein, ist zumindest geeignet, die Ausübung der durch die Art. 39 EG und 43 EG verliehenen Rechte zu behindern.

49      Insoweit spielt es entgegen dem, was die flämische Regierung im Kern vorträgt, keine Rolle, dass die fragliche Differenzierung allein auf den Wohnort im Staatsgebiet und nicht auf ein wie auch immer geartetes Staatsangehörigkeitserfordernis abstellt, so dass sie alle in Belgien wohnenden Arbeitnehmer und Selbständigen in gleicher Weise berührt.

50      Für die Beschränkung der Freizügigkeit durch eine Maßnahme ist es nämlich weder erforderlich, dass diese Maßnahme auf der Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen beruht, noch, dass sie zur Folge hat, dass alle inländischen Arbeitnehmer und Selbständigen begünstigt oder nur Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten und nicht inländische Arbeitnehmer und Selbständige benachteiligt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juni 2000, Angonese, C‑281/98, Slg. 2000, I‑4139, Randnr. 41, und vom 16. Januar 2003, Kommission/Italien, C‑388/01, Slg. 2003, I‑721, Randnr. 14). Es genügt, dass die begünstigende Maßnahme, wie dies bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pflegeversicherungssystem der Fall ist, bestimmten Gruppen von Personen, die eine Berufstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat ausüben, zugutekommt (vgl. entsprechend für den freien Dienstleistungsverkehr Urteile vom 25. Juli 1991, Kommission/Niederlande, C‑353/89, Slg. 1991, I‑4069, Randnr. 25, und vom 13. Dezember 2007, United Pan-Europe Communications Belgium u. a., C‑250/06, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 37).

51      Außerdem können, wie die Generalanwältin in den Nrn. 64 bis 67 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die beschränkenden Wirkungen der streitigen Regelung nicht als zu ungewiss oder zu indirekt angesehen werden, um eine gegen die Art. 39 EG und 43 EG verstoßende Beschränkung darzustellen. Insbesondere hängt im Unterschied zu der Rechtssache, in der das Urteil vom 27. Januar 2000, Graf (C‑190/98, Slg. 2000, I‑493), ergangen ist, auf das sich die flämische Regierung in der mündlichen Verhandlung bezogen hat, die Möglichkeit für den betroffenen Arbeitnehmer oder Selbständigen, die fraglichen Pflegeversicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen, nicht von einem zukünftigen und hypothetischen Ereignis ab, sondern von einem Umstand, der zwangsläufig mit der Ausübung des Freizügigkeitsrechts verbunden ist, nämlich von der Wahl des Ortes, an den der Betreffende seinen Wohnsitz verlegt.

52      Ebenso genügt zum Vorbringen der flämischen Regierung, wonach diese Regelung jedenfalls nur marginale Auswirkungen auf die Freizügigkeit haben könne, weil die Höhe der fraglichen Leistungen und die Anzahl der Betroffenen begrenzt seien, die Feststellung, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Artikel des Vertrags über den freien Warenverkehr, die Freizügigkeit sowie den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr grundlegende Bestimmungen für die Gemeinschaft darstellen und jede Beeinträchtigung dieser Freiheit, mag sie noch so unbedeutend sein, verboten ist (vgl. u. a. Urteile vom 13. Dezember 1989, Corsica Ferries France, C‑49/89, Slg. 1989, 4441, Randnr. 8, und vom 15. Februar 2000, Kommission/Frankreich, C‑169/98, Slg. 2000, I‑1049, Randnr. 46).

53      Jedenfalls kann insbesondere in Anbetracht von Phänomenen wie der Überalterung der Bevölkerung nicht ausgeschlossen werden, dass die Aussicht, Leistungen bei Abhängigkeit wie diejenigen, die in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden System der Pflegeversicherung geboten werden, in Anspruch nehmen zu können oder nicht in Anspruch nehmen zu können, von den Betroffenen bei der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit berücksichtigt wird.

54      Folglich enthält eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine nach den Art. 39 EG und 43 EG grundsätzlich verbotene Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit.

55      Nach gefestigter Rechtsprechung können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, nur dann zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (vgl. Urteile vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant, C‑9/02, Slg. 2004, I‑2409, Randnr. 49, und vom 18. Januar 2007, Kommission/Schweden, C‑104/06, Slg. 2007, I‑671, Randnr. 25).

56      Weder die dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Akten noch die Erklärungen der flämischen Regierung enthalten jedoch Gesichtspunkte, die es rechtfertigen könnten, diejenigen, die eine Berufstätigkeit im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt ausüben, für den Zugang zu der im Ausgangsverfahren streitigen Pflegeversicherung dem Erfordernis eines Wohnsitzes in einem dieser beiden Gebiete oder in einem anderen Mitgliedstaat zu unterwerfen.

57      Die flämische Regierung bezieht sich insoweit nur auf Erfordernisse, die mit der Aufteilung der Befugnisse innerhalb der föderalen Struktur Belgiens untrennbar verbunden seien, insbesondere darauf, dass die Flämische Gemeinschaft keine Zuständigkeit im Bereich der Pflegeversicherung für Personen ausüben könne, die im Gebiet anderer Sprachgemeinschaften des Königreichs Belgien wohnten.

58      Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 101 bis 103 ihrer Schlussanträge und die Kommission hervorgehoben haben, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sich eine Verwaltungseinheit eines Mitgliedstaats nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände der internen Rechtsordnung dieses Staates, einschließlich solcher, die sich aus seiner verfassungsmäßigen Ordnung ergeben, berufen kann, um die Nichteinhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juni 2004, Kommission/Italien, C‑87/02, Slg. 2004, I‑5975, Randnr. 38, und vom 26. Oktober 2006, Kommission/Österreich, C‑102/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 9).

59      Daher ist festzustellen, dass die Art. 39 EG und 43 EG einem Wohnsitzerfordernis, wie es in dem geänderten Dekret vom 30. März 1999 vorgesehen ist, entgegenstehen. Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, einen eventuellen Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1408/71, insbesondere Art. 3 Abs. 1, zu prüfen (vgl. entsprechend Urteil Terhoeve, Randnr. 41). Es kann auch dahingestellt bleiben, ob eine Beschränkung vorliegt, die nach Art. 18 EG verboten sein könnte, der in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit in den Art. 39 EG und 43 EG seine spezifische Ausprägung gefunden hat.

60      Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass die Art. 39 EG und 43 EG dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats wie der von der Flämischen Gemeinschaft mit dem geänderten Dekret vom 30. März 1999 eingeführten Regelung über die Pflegeversicherung, die den Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit und die in diesem System vorgesehenen Leistungen auf Personen beschränkt, die entweder in dem Gebiet wohnen, für das diese Einheit zuständig ist, oder in eben diesem Gebiet eine Berufstätigkeit ausüben und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, entgegenstehen, soweit eine solche Beschränkung Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten oder Inländer berührt, die von ihrem Freizügigkeitsrecht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben.

 Zur vierten Frage

61      Die vierte Frage betrifft die Folgen, die sich ergäben, falls das vorlegende Gericht die Unvereinbarkeit der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht feststellen sollte, was nach Auffassung des vorlegenden Gerichts dazu führen würde, dass die vor dem Erlass des Dekrets vom 30. April 2004 geltende Regelung wiederaufleben würde. Genauer stellt sich für dieses Gericht die Frage, ob die Art. 18 EG, 39 EG und 43 EG einer Regelung entgegenstehen, die den Zugang zur Pflegeversicherung allein auf die Personen beschränkt, die im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt wohnen.

62      Insoweit genügt die Feststellung, dass die in den Randnrn. 47 bis 59 des vorliegenden Urteils zur Beantwortung der zweiten und der dritten Frage dargestellten Erwägungen erst recht für eine Regelung gelten, die eine zusätzliche Beschränkung gegenüber dem nach dem Erlass des Dekrets vom 30. April 2004 geltenden System enthält, da diese Regelung alle Personen von ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen hatte, die eine Berufstätigkeit im niederländischen Sprachgebiet oder im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt ausüben, ihren Wohnsitz jedoch außerhalb dieser beiden Gebiete haben, also auch diejenigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen.

63      Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, dass die Art. 39 EG und 43 EG dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats, die den Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit und die in diesem System vorgesehenen Leistungen allein auf die Personen beschränkt, die in dem Gebiet dieser Einheit wohnen, entgegenstehen, soweit eine solche Beschränkung Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die eine Berufstätigkeit im Gebiet dieser Einheit ausüben, oder Inländer berührt, die von ihrem Freizügigkeitsrecht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben.

 Kosten

64      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Leistungen aus einem System wie dem mit Dekret des flämischen Parlaments zur Organisation der Pflegeversicherung (Decreet houdende de organisatie van de zorgverzekering) vom 30. März 1999 in der Fassung des Dekrets des flämischen Parlaments zur Änderung des Dekrets vom 30. März 1999 zur Organisation der Pflegeversicherung (Decreet van de Vlaamse Gemeenschap houdende wijziging van het decreet von 30 maart 1999 houdende de organisatie van de zorgverzekering) vom 30. April 2004 eingeführten System der Pflegeversicherung fallen in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999.

2.      Die Art. 39 EG und 43 EG sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats wie der von der Flämischen Gemeinschaft mit dem Dekret vom 30. März 1999 in der Fassung des Dekrets des flämischen Parlaments vom 30. April 2004 eingeführten Regelung über die Pflegeversicherung, die den Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit und die in diesem System vorgesehenen Leistungen auf Personen beschränkt, die entweder in dem Gebiet wohnen, für das diese Einheit zuständig ist, oder in eben diesem Gebiet eine Berufstätigkeit ausüben und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, entgegenstehen, soweit eine solche Beschränkung Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten oder Inländer berührt, die von ihrem Freizügigkeitsrecht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben.

3.      Die Art. 39 EG und 43 EG sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats, die den Anschluss an ein System der sozialen Sicherheit und die in diesem System vorgesehenen Leistungen allein auf die Personen beschränkt, die in dem Gebiet dieser Einheit wohnen, entgegenstehen, soweit eine solche Beschränkung Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die eine Berufstätigkeit im Gebiet dieser Einheit ausüben, oder Inländer berührt, die von ihrem Freizügigkeitsrecht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Gebrauch gemacht haben.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.