Language of document : ECLI:EU:C:2017:121

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

16. Februar 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – Richtlinie 2011/7/EU – Geschäftsverkehr zwischen privaten Unternehmen und öffentlichen Stellen – Nationale Regelung, die die sofortige Begleichung einer Hauptforderung von dem Verzicht auf Verzugszinsen und auf die Entschädigung für Beitreibungskosten abhängig macht“

In der Rechtssache C-555/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n° 6 de Murcia (Verwaltungsgericht Nr. 6, Murcia, Spanien) mit Entscheidung vom 20. November 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2014, in dem Verfahren

IOS Finance EFC SA

gegen

Servicio Murciano de Salud

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter), der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet und E. Levits,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der IOS Finance EFC SA, vertreten durch J. Tornos Mas, abogado,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wilms, D. Loma-Osorio Lerena, E. Sanfrutos Cano, A. C. Becker und M. Šimerdová als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Mai 2016

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der IOS Finance EFC SA (im Folgenden: IOS Finance) und dem Servicio Murciano de Salud (Gesundheitsdienst der Autonomen Gemeinschaft Murcia, Spanien) wegen der Weigerung des Gesundheitsdienstes, IOS Finance zusätzlich zur Hauptforderung die von ihr beanspruchten Verzugszinsen und Beitreibungskosten wegen nicht rechtzeitig beglichener Rechnungen zu zahlen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 1, 12, 16 und 28 der Richtlinie 2011/7 lauten:

„(1)      Die Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr [ABl. 2000, L 200, S. 35] muss in wesentlichen Punkten geändert werden. Aus Gründen der Klarheit und der Vereinfachung sollten die entsprechenden Bestimmungen neu gefasst werden.

(12)      Zahlungsverzug stellt einen Vertragsbruch dar, der für die Schuldner in den meisten Mitgliedstaaten durch niedrige oder nicht vorhandene Verzugszinsen und/oder langsame Beitreibungsverfahren finanzielle Vorteile bringt. Ein durchgreifender Wandel hin zu einer Kultur der unverzüglichen Zahlung, in der auch der Ausschluss des Rechts zur Verzinsung von verspäteten Zahlungen immer als grob nachteilige Vertragsklausel oder Praxis betrachtet wird, ist erforderlich, um diese Entwicklung umzukehren und von der Überschreitung der Zahlungsfristen abzuschrecken. Dieser Wandel sollte auch die Einführung besonderer Bestimmungen zu Zahlungsfristen und zur Entschädigung der Gläubiger für die ihnen entstandenen Kosten einschließen, sowie auch Bestimmungen, wonach vermutet wird, dass der Ausschluss des Rechts auf Entschädigung für Beitreibungskosten grob nachteilig ist.

(16)      Durch diese Richtlinie sollte kein Gläubiger verpflichtet werden, Verzugszinsen zu fordern. ...

(28)      Der Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers sollte nach dieser Richtlinie verboten sein. Wenn sich demzufolge eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick auf den Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist, auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten nicht auf der Grundlage der dem Schuldner gewährten Bedingungen rechtfertigen lässt oder in erster Linie dem Zweck dient, dem Schuldner zusätzliche Liquidität auf Kosten des Gläubigers zu verschaffen, kann dies als ein Faktor gelten, der einen solchen Missbrauch darstellt. In diesem Sinne … sollte eine Vertragsklausel oder Praxis, die eine grobe Abweichung von der guten Handelspraxis darstellt und gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt, als nachteilig für den Gläubiger angesehen werden. Insbesondere sollte der vollständige Ausschluss des Anspruchs auf Zinsen immer als grob nachteilig angesehen werden, während vermutet werden sollte, dass der Ausschluss des Rechts auf Entschädigung für Beitreibungskosten grob nachteilig ist. Nationale Vorschriften über den Vertragsabschluss oder die Gültigkeit von Vertragsbestimmungen, die für den Schuldner unbillig sind, sollten von dieser Richtlinie unberührt bleiben.“

4        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2011/7 bestimmt in Abs. 1:

„Diese Richtlinie dient der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr …“

5        Art. 4 („Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Geschäftsvorgängen mit einer öffentlichen Stelle als Schuldner der Gläubiger nach Ablauf der in den Absätzen 3, 4 oder 6 festgelegten Fristen Anspruch auf den gesetzlichen Zins bei Zahlungsverzug hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

a)      Der Gläubiger hat seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt, und

b)      der Gläubiger hat den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten, es sei denn, der Schuldner ist für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich.“

6        Art. 6 („Entschädigung für Beitreibungskosten“) der Richtlinie 2011/7 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 oder Artikel 4 im Geschäftsverkehr Verzugszinsen zu zahlen sind, der Gläubiger gegenüber dem Schuldner einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrags von mindestens 40 EUR hat.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der in Absatz 1 genannte Pauschalbetrag ohne Mahnung und als Entschädigung für die Beitreibungskosten des Gläubigers zu zahlen ist.

(3)      Der Gläubiger hat gegenüber dem Schuldner zusätzlich zu dem in Absatz 1 genannten Pauschalbetrag einen Anspruch auf angemessenen Ersatz aller durch den Zahlungsverzug des Schuldners bedingten Beitreibungskosten, die diesen Pauschalbetrag überschreiten. Zu diesen Kosten können auch Ausgaben zählen, die durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts oder eines Inkassounternehmens entstehen.“

7        Art. 7 („Nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken“) der Richtlinie 2011/7 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick auf den Zahlungstermin oder die Zahlungsfrist, auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten entweder nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie für den Gläubiger grob nachteilig ist.

Bei der Entscheidung darüber, ob eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Sinne von Unterabsatz 1 grob nachteilig für den Gläubiger ist, werden alle Umstände des Falles geprüft, einschließlich folgender Aspekte:

a)      jede grobe Abweichung von der guten Handelspraxis, die gegen den Grundsatz des guten Glaubens und der Redlichkeit verstößt;

b)      die Art der Ware oder der Dienstleistung und

c)      ob der Schuldner einen objektiven Grund für die Abweichung vom gesetzlichen Zinssatz bei Zahlungsverzug oder von der in Artikel 3 Absatz 5, Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe a, Artikel 4 Absatz 4 und Artikel 4 Absatz 6 genannten Zahlungsfrist oder von dem Pauschalbetrag gemäß Artikel 6 Absatz 1 hat.

(2)      Eine Vertragsklausel oder eine Praxis ist als grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 anzusehen, wenn in ihr Verzugszinsen ausgeschlossen werden.

(3)      Es wird vermutet, dass eine Vertragsklausel oder Praxis grob nachteilig im Sinne von Absatz 1 ist, wenn in ihr die in Artikel 6 genannte Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen wird.

…“

 Spanisches Recht

8        Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass der spanische Gesetzgeber im Jahr 2012 ein „außerordentliches Finanzierungsprogramm für die Zahlung an Lieferanten“ (im Folgenden: außerordentliches Finanzierungsprogramm) mit begrenzter Laufzeit einführte, um den durch die Wirtschaftskrise bedingten Zahlungsverzögerungen zu begegnen, die sich bei den Autonomen Gemeinschaften und den lokalen Gebietskörperschaften gegenüber ihren Lieferanten angehäuft hatten. Dieses Programm funktioniert so, dass an ihm teilnehmende Lieferanten im Gegenzug für die sofortige Begleichung der Hauptforderung auf die infolge der Nichteinhaltung der Zahlungsfristen durch die betroffenen Behörden entstandenen Nebenforderungen, insbesondere auf die Zahlung von Verzugszinsen und die Entschädigung für Beitreibungskosten, verzichten.

9        Hierzu bestimmt insbesondere Art. 6 („Wirkung der Begleichung offener Zahlungsverbindlichkeiten“) des Real Decreto‑ley 8/2013 de medidas urgentes contra la morosidad de las administraciones públicas y de apoyo a entidades locales con problemas financieros (Königliches Gesetzesdekret 8/2013 über Eilmaßnahmen gegen Zahlungsverzug der öffentlichen Verwaltung und zur Unterstützung von lokalen Gebietskörperschaften in finanziellen Schwierigkeiten) vom 28. Juni 2013 (BOE Nr. 155 vom 29. Juni 2013, S. 48782):

„Die Zahlung an den Lieferanten führt zum Erlöschen der von der Autonomen Gemeinschaft bzw. der lokalen Gebietskörperschaft gegenüber dem Lieferanten eingegangenen Verbindlichkeit; dies gilt für die Hauptforderung, die Zinsen, die Verfahrenskosten sowie alle weiteren entstandenen Kosten.“

10      Vor dem Erlass dieses Real Decreto‑ley 8/2013 wurde die Richtlinie 2011/7 durch das Real Decreto‑ley 4/2013 de medidas de apoyo al emprendedor y de estímulo del crecimiento y de la creación de empleo (Königliches Gesetzesdekret 4/2013 über Maßnahmen zur Unterstützung des Unternehmertums sowie zur Förderung des Wachstums und zur Schaffung von Arbeitsplätzen) vom 22. Februar 2013 (BOE Nr. 47 vom 23. Februar 2013, S. 15219) ins spanische Recht umgesetzt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11      In der Zeit von 2008 bis 2013 versorgte eine Reihe von Unternehmen verschiedene dem Gesundheitsdienst der Autonomen Gemeinschaft Murcia angegliederte medizinische Einrichtungen mit Waren und Dienstleistungen, die der Gesundheitsdienst jedoch nicht bezahlte.

12      Die Unternehmen traten dann einige der betreffenden Forderungen an IOS Finance ab, die im September 2013 vom Gesundheitsdienst Zahlung sowohl der Hauptforderungen als auch der Verzugszinsen und einer Entschädigung für die aufgewendeten Beitreibungskosten verlangte.

13      Der Gesundheitsdienst leistete keine Zahlung, so dass IOS Finance sich dem außerordentlichen Finanzierungsprogramm anschloss, womit sie allerdings lediglich die Zahlung ihrer Hauptforderungen erreichen konnte.

14      Im Mai 2014 erhob IOS Finance Klage beim vorlegenden Gericht auf Verurteilung des Gesundheitsdienstes zur Zahlung der Verzugszinsen und der Entschädigung für die Beitreibungskosten.

15      Zur Begründung ihrer Klage führt IOS Finance erstens an, auf Forderungen gegen Behörden könne nicht verzichtet werden. Zweitens sei das Real Decreto‑ley 8/2013 mit dem Unionsrecht unvereinbar, und drittens entfalte die Richtlinie 2011/7 insoweit unmittelbare Wirkung, als danach Vertragsklauseln und Praktiken, die Verzugszinsen und eine Entschädigung für Beitreibungskosten ausschlössen, grob nachteilig seien.

16      Der Gesundheitsdienst der Autonomen Gemeinschaft Murcia beantragt, die Klage abzuweisen, da zum einen die Teilnahme am außerordentlichen Finanzierungsprogramm freiwillig sei und zum anderen der Verzicht auf die Verzugszinsen und die Entschädigung für die Beitreibungskosten nicht schon vor dem Entstehen der Forderung erfolge, sondern erst dann, wenn diese Forderung entstanden und nicht befriedigt worden sei.

17      Das vorlegende Gericht erkennt an, dass die Teilnahme am außerordentlichen Finanzierungsprogramm nicht verpflichtend ist und dass Gläubigern, die nicht nur die Zahlung der Hauptforderung, sondern auch der Verzugszinsen und der Entschädigung für Beitreibungskosten erreichen wollen, der Rechtsweg offensteht. Es fragt sich aber, ob das Unionsrecht, und insbesondere Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7, es verbietet, die Begleichung einer Hauptforderung von einem Verzicht auf Verzugszinsen und auf die Entschädigung für Beitreibungskosten abhängig zu machen.

18      Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n° 6 de Murcia (Verwaltungsgericht Nr. 6, Murcia, Spanien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 1, Art. 6 sowie Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7:

1.      Ist Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie in dem Sinne auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Befriedigung einer Hauptforderung nicht von einem Verzicht auf die Verzugszinsen abhängig machen darf?

2.      Ist Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie in dem Sinne auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Befriedigung einer Hauptforderung nicht von einem Verzicht auf die Beitreibungskosten abhängig machen darf?

3.      Falls beide Fragen zu bejahen sind, kann sich der Schuldner dann, wenn es sich um einen öffentlichen Auftraggeber handelt, auf die Vertragsfreiheit berufen, um sich seiner Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen und Beitreibungskosten zu entziehen?

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

19      Zunächst ist anzumerken, dass die Kommission der Ansicht ist, auf die Situation im Ausgangsverfahren sei nicht die Richtlinie 2011/7, sondern die Richtlinie 2000/35 anzuwenden, weshalb die aufgeworfenen Fragen entgegen den Ausführungen in der Vorlageentscheidung im Licht der Richtlinie 2000/35 zu untersuchen seien.

20      Diese Auffassung der Kommission beruht jedoch auf ihrer eigenen Auslegung der Bestimmungen des nationalen Rechts, insbesondere der Bestimmungen im Real Decreto‑ley 4/2013, die die Richtlinie 2011/7 in die spanische Rechtsordnung umsetzen.

21      Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof jedoch nicht befugt, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist. Denn nur die nationalen Gerichte sind dafür zuständig, über die Auslegung innerstaatlichen Rechts zu befinden (Urteil vom 27. Oktober 2016, Audace u. a., C‑114/15, EU:C:2016:813, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Wenn das vorlegende Gericht also aus seiner Auslegung des spanischen Rechts schließt, dass auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens die Richtlinie 2011/7 anwendbar ist, so sind die Vorlagefragen so zu beantworten, wie sie von ihm gestellt wurden.

 Zur ersten und zur zweiten Frage

23      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2011/7, insbesondere ihr Art. 7 Abs. 2 und 3, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die es Gläubigern erlaubt, auf die Geltendmachung ihres Anspruchs auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten im Gegenzug für die sofortige Zahlung der fälligen Hauptschuld zu verzichten.

24      Zur Beantwortung dieser Fragen ist festzustellen, dass laut Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 ihr Ziel die Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr ist, der nach dem zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie einen Vertragsbruch darstellt, der für die Schuldner durch niedrige oder nicht vorhandene Verzugszinsen und/oder langsame Beitreibungsverfahren finanzielle Vorteile bringt.

25      Die Richtlinie 2011/7 nimmt jedoch, um dieses Ziel zu erreichen, keine vollständige Harmonisierung der Regeln zum Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr vor (vgl. entsprechend zur Richtlinie 2000/35 Urteil vom 15. Dezember 2016, Nemec, C‑256/15, EU:C:2016:954, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Wie die Richtlinie 2000/35 stellt die Richtlinie 2011/7 hierzu nämlich nur eine Reihe von Vorschriften auf, darunter die zu den Verzugszinsen.

27      Insoweit müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 2011/7 sicherstellen, dass bei Geschäftsvorgängen mit einer öffentlichen Stelle als Schuldner Gläubiger, die ihre Verpflichtungen erfüllt haben und den fälligen Betrag nicht rechtzeitig erhalten haben, Anspruch auf Verzugszinsen sowie auf Entschädigung für Beitreibungskosten haben, es sei denn, der Schuldner ist für den Zahlungsverzug nicht verantwortlich.

28      Dazu schreibt Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten zwar vor, zu bestimmen, dass eine Vertragsklausel oder eine Praxis im Hinblick insbesondere auf den für Verzugszinsen geltenden Zinssatz oder auf die Entschädigung für Beitreibungskosten entweder nicht durchsetzbar ist oder einen Schadensersatzanspruch begründet, wenn sie für den Gläubiger grob nachteilig ist. Weiter sieht Art. 7 vor, dass eine Vertragsklausel oder Praxis als grob nachteilig anzusehen ist (Abs. 2) bzw. dass vermutet wird, dass sie grob nachteilig ist (Abs. 3), wenn in ihr die Verzugszinsen bzw. die Entschädigung für Beitreibungskosten ausgeschlossen wird.

29      Aus diesen Vorschriften geht jedoch hervor, dass sie sich darauf beschränken, zu garantieren, dass die in Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 2011/7 genannten Umstände Gläubigern das Recht geben, Verzugszinsen und Entschädigung für Beitreibungskosten zu fordern. Wie sich aus dem 28. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, soll das Verbot, dieses Recht vertraglich auszuschließen, einen Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil der Gläubiger verhindern, die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses darauf nicht verzichten dürfen.

30      Anders ausgedrückt zielt Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/7 darauf ab, zu verhindern, dass Gläubiger auf Verzugszinsen und Entschädigung für Beitreibungskosten bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses verzichten, in dem Moment also, in dem sie ihre Vertragsfreiheit ausüben und in dem die Gefahr eines Missbrauchs dieser Freiheit durch den Schuldner zum Nachteil der Gläubiger besteht.

31      Wenn hingegen, wie im Ausgangsverfahren, die Voraussetzungen nach der Richtlinie 2011/7 vorliegen und ein Anspruch sowohl auf Verzugszinsen als auch auf Entschädigung für Beitreibungskosten besteht, muss es dem Gläubiger aufgrund seiner Vertragsfreiheit freistehen, auf die Zahlung dieser Zinsen und dieser Entschädigung zu verzichten, insbesondere im Gegenzug für die sofortige Zahlung der Hauptschuld.

32      Dies wird auch durch den 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt, in dem es heißt, dass durch sie kein Gläubiger verpflichtet werden sollte, Verzugszinsen zu fordern.

33      Folglich ergibt sich, wie die Generalanwältin in Nr. 62 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen feststellt, aus der Richtlinie 2011/7 nicht, dass sie dem freiwilligen Verzicht des Gläubigers auf seinen Anspruch auf Verzugszinsen und Entschädigung für Beitreibungskosten entgegensteht.

34      Ein solcher Verzicht ist allerdings davon abhängig, dass er tatsächlich frei erklärt wurde; er darf also nicht seinerseits einen Missbrauch zum Nachteil des Gläubigers darstellen, der auf den Schuldner zurückzuführen wäre.

35      In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens hängt die Frage der Freiwilligkeit des Verzichts davon ab, ob dem Gläubiger tatsächlich ein effektiver Rechtsweg zur Verfügung stand, um die Forderung, falls er dies gewünscht hätte, vollständig einzufordern, einschließlich der Verzugszinsen und der Entschädigung für Beitreibungskosten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

36      Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2011/7, insbesondere ihr Art. 7 Abs. 2 und 3, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es Gläubigern erlaubt, auf die Geltendmachung ihres Anspruchs auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten im Gegenzug für die sofortige Zahlung der fälligen Hauptschuld zu verzichten, nicht entgegensteht, unter der Bedingung, dass dieser Verzicht freiwillig erklärt wurde, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist.

 Zur dritten Frage

37      In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist auf die dritte Frage nicht zu antworten, da diese nur für den Fall gestellt wurde, dass die ersten beiden Fragen bejaht werden.

 Kosten

38      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, insbesondere ihr Art. 7 Abs. 2 und 3, ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die es Gläubigern erlaubt, auf die Geltendmachung ihres Anspruchs auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für Beitreibungskosten im Gegenzug für die sofortige Zahlung der fälligen Hauptschuld zu verzichten, nicht entgegensteht, unter der Bedingung, dass dieser Verzicht freiwillig erklärt wurde, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Spanisch.