Language of document : ECLI:EU:C:2017:136

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

Juliane Kokott

vom 16. Februar 2017(1)

Rechtssache C‑129/16

Túrkevei Tejtermelő Kft.

gegen

Országos Környezetvédelmi és Természetvédelmi Főfelügyelőség

(Vorabentscheidungsersuchen des Szolnoki Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság [Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szolnok, Ungarn])

„Umwelt – Richtlinie 2004/35 – Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden – Richtlinie 2008/98 – Abfall – Verursacherprinzip – Verhältnismäßigkeit – Unschuldsvermutung – Luftverschmutzung aufgrund illegaler Abfallverbrennung – Gemeinsame Verantwortung des Eigentümers des Grundstücks, auf dem die Umweltverschmutzung geschah, und des Verschmutzers“






I –    Einführung

1.        Erneut(2) soll der Gerichtshof die Konsequenzen des Verursacherprinzips präzisieren. Diesmal geht es darum, ob der Eigentümer eines verpachteten Grundstücks dafür bestraft werden darf, dass dort Abfälle illegal verbrannt wurden und er weder den tatsächlichen Nutzer des Grundstücks identifiziert noch nachweist, dass ihn für den Verstoß keine Verantwortung trifft.

2.        Zwar wirft das innerstaatliche Gericht diese Fragestellung im Licht der Umwelthaftungsrichtlinie(3) auf, doch ist diese schon deshalb nicht anwendbar, weil sie keine Regelungen über Sanktionen enthält. Sanktionen für die illegale Verbrennung von Abfällen sind vielmehr der Abfallrichtlinie(4) zuzuordnen. Sie beruht ebenfalls auf dem Verursacherprinzip und verlangt ausdrücklich effektive Sanktionen bei Verstößen. Und weil es um Sanktionen geht, ist neben dem Verursacherprinzip auch auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit einzugehen, das der Verhängung von Sanktionen Grenzen setzt, sowie auf die Unschuldsvermutung.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Charta der Grundrechte der Europäischen Union

3.        Art. 48 Abs. 1 der Charta enthält die Unschuldsvermutung:

„Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“

4.        Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafe und die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Bezug auf Sanktionen ergeben sich aus Art. 49 der Charta:

„(1)      Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. …

(2)      …

(3)      Das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.“

2.      Umwelthaftungsrichtlinie

5.        Art. 1 der Umwelthaftungsrichtlinie betrifft ihren Gegenstand:

„Ziel dieser Richtlinie ist, auf der Grundlage des Verursacherprinzips einen Rahmen für die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden zu schaffen.“

6.        Der Begriff des Umweltschadens wird in Art. 2 Nr. 1 der Umwelthaftungsrichtlinie definiert:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Begriff

1.      ‚Umweltschaden‘

a)      eine Schädigung geschützter Arten und natürlicher Lebensräume, d. h. jeden Schaden, der erhebliche nachteilige Auswirkungen in Bezug auf die Erreichung oder Beibehaltung des günstigen Erhaltungszustands dieser Lebensräume oder Arten hat. Die Erheblichkeit dieser Auswirkungen ist mit Bezug auf den Ausgangszustand unter Berücksichtigung der Kriterien gemäß Anhang I zu ermitteln;

Schädigungen geschützter Arten und natürlicher Lebensräume umfassen nicht die zuvor ermittelten nachteiligen Auswirkungen, die aufgrund von Tätigkeiten eines Betreibers entstehen, die von den zuständigen Behörden gemäß den Vorschriften zur Umsetzung von Art. 6 Abs. 3 und 4 oder Art. 16 der Richtlinie 92/43/EWG oder Art. 9 der Richtlinie 79/409/EWG oder im Falle von nicht unter das Gemeinschaftsrecht fallenden Lebensräumen und Arten gemäß gleichwertigen nationalen Naturschutzvorschriften ausdrücklich genehmigt wurden;

b)       eine Schädigung der Gewässer, d. h. jeden Schaden, der erhebliche nachteilige Auswirkungen auf den ökologischen, chemischen und/oder mengenmäßigen Zustand und/oder das ökologische Potenzial der betreffenden Gewässer im Sinne der Definition der Richtlinie 2000/60/EG hat, mit Ausnahme der nachteiligen Auswirkungen, für die Art. 4 Abs. 7 jener Richtlinie gilt;

c)       eine Schädigung des Bodens, d. h. jede Bodenverunreinigung, die ein erhebliches Risiko einer Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit aufgrund der direkten oder indirekten Einbringung von Stoffen, Zubereitungen, Organismen oder Mikroorganismen in, auf oder unter den Grund verursacht“.

7.        Der Begriff des Umweltschadens wird außerdem durch den vierten Erwägungsgrund der Umwelthaftungsrichtlinie erläutert:

„Unter den Begriff ‚Umweltschaden‘ fallen auch Schäden durch über die Luft getragene Elemente, soweit sie eine Schädigung der Gewässer, des Bodens oder geschützter Arten oder natürlicher Lebensräume verursachen.“

3.      Abfallrichtlinie

8.        Der 26. Erwägungsgrund der Abfallrichtlinie bezieht sich auf das Verursacherprinzip:

„Das Verursacherprinzip gilt als Leitsatz auf europäischer und internationaler Ebene. …“

9.        Art. 36 der Abfallrichtlinie betrifft die Durchsetzung abfallrechtlicher Vorgaben:

„(1)      Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um eine unkontrollierte Ablagerung oder Ableitung oder eine unkontrollierte Bewirtschaftung von Abfällen zu untersagen.

(2)      Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über Sanktionen für Verstöße gegen die Vorschriften dieser Richtlinie fest und treffen alle zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

B –    Ungarisches Recht

10.      Das Vorabentscheidungsersuchen stellt die maßgeblichen ungarischen Bestimmungen wie folgt dar:

11.      Gemäß § 102 Abs. 1 des 1995. évi LIII. törvény a környezet védelmének általános szabályairól (Gesetz Nr. LIII von 1995 über allgemeine Vorschriften zum Schutz der Umwelt) haften für den Umweltschaden bzw. die Umweltgefährdung gesamtschuldnerisch die nach dem Zeitpunkt des Eintritts des Schadens bzw. der Gefährdung jeweiligen Eigentümer und Besitzer (Nutzer) des Grundstücks, auf dem die Umweltschädigung eingetreten ist bzw. die umweltgefährdende Handlung vorgenommen worden ist, solange nicht nachgewiesen ist, dass sie keine Verantwortung trifft. Nach § 102 Abs. 2 wird der Eigentümer von der gesamtschuldnerischen Haftung befreit, wenn er den tatsächlichen Nutzer des Grundstücks benennt und zweifelsfrei nachweist, dass die Verantwortung nicht bei ihm liegt.

12.      Nach § 27 Abs. 2 der 306/2010. (XII. 23.) kormányrendelet a levegő védelméről (Regierungsverordnung Nr. 306/2010 vom 23. Dezember 2010 über den Schutz der Luftqualität) ist die Verbrennung von Abfällen im Freien oder in Anlagen, die nicht gemäß den Rechtsvorschriften erfolgt, die die Bedingungen für die Abfallverbrennung festlegen, verboten; ausgenommen von diesem Verbot ist die Verbrennung von Papierabfällen aus Privathaushalten oder von als ungefährlich eingestuften unbehandelten Holzabfällen in haushaltseigenen Anlagen. Eine Verbrennung von Abfällen im Freien liegt vor, sobald diese in Brand geraten, unabhängig von den Gründen hierfür, wobei Elementarschäden ausgenommen sind.

13.      Nach § 34 Abs. 1 dieser Regierungsverordnung verhängt die Umweltschutzbehörde eine Geldbuße zum Schutz der Luftqualität gegen die natürliche oder juristische Person oder die Organisation ohne Rechtspersönlichkeit, die gegen die Bestimmungen zum Schutz der Luftqualität verstoßen hat, und spricht gleichzeitig die Verpflichtung aus, das rechtswidrige Verhalten oder Unterlassen zu beenden, wenn die Regelung nichts anderes vorsieht.

14.      Nach Auskunft Ungarns wird das Abfallrecht in anderen ungarischen Rechtsakten geregelt, nämlich dem 2012. évi CLXXXV. törvény a hulladékról (Gesetz CLXXXV von 2012 über die Abfallbewirtschaftung) und der 271/2001. (XII. 21.) Korm. rendelet a hulladékgazdálkodási bírság mértékéről, valamint kiszabásának és megállapításának módjáról (Regierungsverordnung Nr. 271/2001 vom 21. Dezember 2001 über die Höhe der Strafe im Rahmen der Abfallbewirtschaftung und die Modalitäten ihrer Verhängung und Festlegung).

III – Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

15.      Am 2. Juli 2014 teilte eine Zoll- und Finanzbehörde der unteren Umweltschutzbehörde mit, dass in Túrkeve in der Anlage der Túrkevei Tejtermelő Kft. (im Folgenden: TTK) Siedlungsabfälle verbrannt würden.

16.      Die Mitarbeiter der Umweltschutzbehörde führten eine Inaugenscheinnahme des Grundstücks vor Ort durch und erstellten hierüber ein Protokoll. In diesem Protokoll wurde festgehalten, dass sich in jedem der drei Lagersilos 30 bis 40 m³ verbrannte Siedlungsabfälle befunden hätten, die Konservendosen und andere Metallabfälle enthalten hätten. Außerdem hätten sich auf dem Gelände außerhalb der Lagersilos auf einer Fläche von 5 x 5 Metern weitere bei der Verbrennung als Rückstände verbliebene Metallabfälle befunden.

17.      Bei ihrem Eintreffen fanden die Inspektoren auf dem Gelände der Anlage drei Lastwagen vor, mit denen gerade die bei der Verbrennung als Rückstände verbliebenen Metallabfälle abtransportiert werden sollten. Die Fahrer dieser Lastwagen gaben an, eine in Budapest ansässige Wirtschaftsgesellschaft sei Eigentümerin der Fahrzeuge. Nach den Ausführungen der Fahrzeugführer sollten sie erst nach dem Beladen Anweisungen zu dem Ort erhalten, an den die Metallabfälle befördert werden sollten.

18.      Die untere Umweltschutzbehörde stellte fest, dass TTK das Grundstück laut einer von ihr am 12. Juli 2014 abgegebenen Erklärung seit dem 15. März 2014 an eine Person verpachtet hatte, die am 1. April 2014 verstorben war. Das Vorabentscheidungsersuchen enthält keine Angaben dazu, ob die Erben dieser Person oder diejenigen ermittelt wurden, die für die Verbrennung der Abfälle verantwortlich sind.

19.      Die Unterbehörde verhängte gegen die TTK eine Geldbuße in Höhe von 500 000 ungarischen Forint (HUF) (entspricht etwa 1 650 Euro) zum Schutz der Luftqualität, und begründete die Verhängung der Geldbuße mit dem Eigentumsrecht der TTK.

20.      Auf den Einspruch der TTK bestätigte die Országos Környezetvédelmi és Természetvédelmi Főfelügyelőség (Landesgeneralinspektion für Umwelt- und Naturschutz) den Bescheid der Unterbehörde.

21.      Die beteiligten Behörden führten aus, bei der Verbrennung von Abfällen unter freiem Himmel würden Stoffe freigesetzt, die für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt schädlich seien; dies stelle eine Umweltgefährdung dar. Die Haftung für die Umweltgefährdung treffe den Eigentümer der Anlage. Die Landesgeneralinspektion wies darauf hin, dass die Eigentümerin der Anlage, in der die Verbrennung stattgefunden habe, die Klägerin sei und nach dem Umweltschutzgesetz diejenigen, die die jeweiligen Eigentümer und Besitzer des Grundstücks seien, gesamtschuldnerisch hafteten, wenn nicht der Eigentümer zweifelsfrei nachweise, dass er nicht verantwortlich sei. Im Hinblick darauf, dass der Pächter des Grundstücks verstorben ist, nahm die Unterbehörde die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Verfahrenshandlungen vor und vertrat darüber hinaus die Auffassung, die Beweislast habe sich umgekehrt und die Klägerin müsse nachweisen, dass sie nicht verantwortlich sei.

22.      Dagegen hat die TTK Klage erhoben, und das zuständige Gericht richtet die folgenden Fragen an den Gerichtshof:

1.      Stehen Art. 191 AEUV und die Bestimmungen der Umwelthaftungsrichtlinie einer nationalen Vorschrift entgegen, nach der die Umweltschutzbehörde – über das Verursacherprinzip hinausgehend – befugt ist, die Haftung für die Beseitigung des Umweltschadens in besonderer Form dem Inhaber des Eigentumsrechts aufzuerlegen, ohne vorher in der Sache das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten der Person (Wirtschaftsorganisation) und dem Verschmutzungsvorgang prüfen zu müssen?

2.      Für den Fall, dass diese erste Frage zu verneinen und es im Hinblick auf die Luftverschmutzung nicht erforderlich ist, den Umweltschaden zu beseitigen: Kann die Verhängung einer Geldbuße zum Schutz der Luftqualität durch die Berufung auf eine Regelung des Mitgliedstaats gerechtfertigt werden, bei der es sich um eine strengere Regelung im Sinne von Art. 16 der Umwelthaftungsrichtlinie und Art. 193 AEUV handelt, oder kann auch diese strengere Regelung nicht zur Verhängung einer Geldbuße mit reinem Sanktionscharakter gegen den nicht für die Verschmutzung verantwortlichen Eigentümer führen?

23.      Zu diesen beiden Fragen und zu einer weiteren Frage des Gerichtshofs, welche Bedeutung der Abfallrichtlinie zukomme, haben sich die Landesgeneralinspektion für Umwelt- und Naturschutz, Ungarn sowie die Europäische Kommission schriftlich geäußert.

IV – Rechtliche Würdigung

24.      Das Vorabentscheidungsersuchen zielt darauf, zu erfahren, ob das in Art. 191 Abs. 2 AEUV niedergelegte Verursacherprinzip es erlaubt, dem Eigentümer eines verpachteten Grundstücks, auf dem illegal Abfall verbrannt wurde, eine Sanktion aufzuerlegen, ohne dass ein Kausalzusammenhang zwischen seinem Verhalten und dem Verstoß nachgewiesen wurde.

25.      Dabei geht das innerstaatliche Gericht zu Recht davon aus, dass das Verursacherprinzip nur im Zusammenhang mit einer sekundärrechtlichen Konkretisierung zur Anwendung kommen kann.(5) Diese Konkretisierung sucht es allerdings zu Unrecht in der Umwelthaftungsrichtlinie (dazu unter A). Für den Ausgangsfall liegt sie vielmehr in der Abfallrichtlinie (dazu unter B). In diesem Rahmen sind die Konsequenzen des Verursacherprinzips und in diesem Rahmen auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Unschuldsvermutung zu erörtern. Abschließend ist auf die zweite Frage einzugehen, die die Befugnis der Mitgliedstaaten betrifft, strengere Schutzmaßnahmen zu ergreifen (dazu unter C).

A –    Zur Umwelthaftungsrichtlinie

26.      Im Ausgangsfall wurde eine Sanktion wegen illegaler Abfallverbrennung zum Schutz der Luftqualität verhängt. Die Kommission betont jedoch zu Recht, dass die Umwelthaftungsrichtlinie weder die Sanktionierung von Verstößen gegen das Umweltrecht betrifft noch die Beeinträchtigung der Luftqualität.

27.      Die Umwelthaftungsrichtlinie hat nach Art. 1 das Ziel, auf der Grundlage des Verursacherprinzips einen Rahmen für die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden zu schaffen.

28.      Zwar wäre es prinzipiell vorstellbar, in einen gesetzlichen Rahmen für die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden auch die Sanktionierung von Verstößen einzubeziehen, doch die Umwelthaftungsrichtlinie sieht dies nicht vor. Sie beschränkt sich darauf, in Bezug auf Umweltschäden die Verpflichtung zu Vermeidungs- und Sanierungsmaßnahmen vorzusehen sowie die Kostenverantwortung für solche Maßnahmen zu regeln.

29.      Darüber hinaus umfasst der Begriff des Umweltschadens nach der Definition des Art. 2 Nr. 1 der Umwelthaftungsrichtlinie nicht die Schädigung der Luftqualität. Dort ist dieser Begriff vielmehr auf die Schädigung geschützter Arten und natürlicher Lebensräume, der Gewässer oder des Bodens beschränkt.

30.      Der vierte Erwägungsgrund präzisiert zwar, dass unter den Begriff „Umweltschaden“ auch Schäden durch über die Luft getragene Elemente fallen, soweit sie eine Schädigung der Gewässer, des Bodens oder geschützter Arten und natürlicher Lebensräume verursachen. Für solche Auswirkungen sind im Ausgangsfall aber keine Anhaltspunkte ersichtlich.

31.      Im Übrigen ist auch die illegale Verbrennung von Abfällen als solche kein Umweltschaden im Sinne der Umwelthaftungsrichtlinie.

32.      Folglich ist die Umwelthaftungsrichtlinie im Ausgangsfall nicht anwendbar und kann somit auch nicht als Brücke für die Anwendung des Verursacherprinzips nach Art. 191 Abs. 2 AEUV herangezogen werden.

B –    Zum Abfallrecht

33.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich jedoch, dass die streitgegenständliche Sanktion wegen der illegalen Verbrennung von Abfällen verhängt wurde.

34.      Ungarn betont zwar, dass die Sanktion auf einer Regelung zum Schutz der Luftqualität beruht, doch da sie an die Beseitigung von Abfällen anknüpft und die Abfallrichtlinie nach Art. 13 Buchst. a auch den Schutz der Luftqualität zum Ziel hat, ist die angewandte ungarische Sanktionsregelung der Durchführung von Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie zuzuordnen. Diese letztgenannte Bestimmung sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Vorschriften über Sanktionen für Verstöße gegen die Vorschriften der Richtlinie festlegen und alle zu ihrer Anwendung erforderlichen Maßnahmen treffen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

35.      Folglich sollte der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen im Licht des Abfallrechts erörtern. Denn es ist im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat.(6)

36.      Daher werde ich nachfolgend zunächst die bei einer Sanktionierung nach Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie zu beachtenden Grundsätze identifizieren. Anschließend ist zu präzisieren, worauf die Sanktionierung von TTK im Ausgangsfall gestützt wird, nämlich auf eine widerlegbare Vermutung ihrer Mitverantwortung für die Verstöße. Schließlich sind die Grenzen dieser Vermutung im Licht der zuvor erwähnten Grundsätze zu bestimmen.

1.      Zu den Grundlagen einer Sanktionierung im Licht von Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie

37.      Wie die Umwelthaftungsrichtlinie bezieht sich auch die Abfallrichtlinie ausdrücklich auf das Verursacherprinzip. Während es im ersten Erwägungsgrund und in Art. 14 nur in Bezug auf die Kosten der Abfallbewirtschaftung genannt wird, betont der 26. Erwägungsgrund allgemein seine Funktion als Leitsatz auf europäischer und internationaler Ebene.

38.      Darüber hinaus ist der Unionsgesetzgeber beim Erlass von umweltrechtlichen Bestimmungen gemäß Art. 191 Abs. 2 AEUV immer gehalten, das Verursacherprinzip zu verwirklichen. Die Abfallrichtlinie ist eine solche Regelung, da sie auf Art. 175 Abs. 1 EG (heute Art. 192 Abs. 1 AEUV) gestützt wurde. Folglich ist diese Richtlinie im Licht des Verursacherprinzips auszulegen.

39.      Demnach ist auch die Verpflichtung des Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie zur Sanktionierung von Verstößen dahin gehend auszulegen, dass das Verursacherprinzip verwirklicht wird.

40.      Die Sanktionspflicht nach Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie steht in engem Zusammenhang mit der Verpflichtung nach Art. 36 Abs. 1, eine unkontrollierte Ablagerung oder Ableitung oder eine unkontrollierte Bewirtschaftung von Abfällen zu untersagen. Daraus ergibt sich die Pflicht zur Beseitigung oder Verwertung der Abfälle nach Art. 15 Abs. 1, die grundsätzlich dem Abfallersterzeuger oder dem Besitzer von Abfällen obliegt.(7) Diese Person soll im Einklang mit dem Verursacherprinzip nach Art. 14 die Kosten der Abfallbeseitigung tragen, wobei der Gerichtshof betont hat, dass damit derjenige gemeint ist, der den Abfall verursacht hat.(8)

41.      Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass das Verursacherprinzip im Sinne von Art. 191 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV und Art. 15 der Abfallrichtlinie ausgehöhlt würde, wenn sich die genannten Personen, die zur Entstehung der Abfälle beigetragen haben, ihren finanziellen Verpflichtungen, wie sie die Richtlinie vorsieht, entziehen könnten.(9)

42.      Diese Überlegung zur Kostenverantwortung von Abfallerzeugern ist auch für die Verpflichtung zur Sanktionierung von Verstößen von Bedeutung. Die Sanktion soll denjenigen treffen, der den Verstoß verursacht hat. Daher sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um diese Personen zu identifizieren und Sanktionen gegen sie zu verhängen. Im Ausgangsfall wäre insofern vorrangig an diejenigen zu denken, die die Verstöße begangen oder angeordnet haben, sowie möglicherweise an die Person, die während der Verstöße die tatsächliche Sachherrschaft über das Grundstück ausübte, möglicherweise die Erben des verstorbenen Pächters.

43.      Umgekehrt wäre es mit dem Verursacherprinzip unvereinbar, Personen für Verstöße zu sanktionieren, für die sie nicht verantwortlich sind.(10) Dies wäre auch nicht erforderlich und würde daher den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzen,(11) der bei der Durchführung des Unionsrechts zu beachten ist.(12) Dieser Grundsatz gilt nach Art. 49 Abs. 3 der Charta für das Strafmaß(13) und wird auch in Art. 36 Abs. 2 Satz 2 der Abfallrichtlinie ausdrücklich angeführt.

44.      Da es um eine Sanktion geht, sind darüber hinaus noch weitere Grundsätze von Bedeutung, nämlich die Gesetzmäßigkeit der Strafe, nulla poena sine lege, nach Art. 49 Abs. 1 Satz 1 der Charta, und die Unschuldsvermutung, die in Art. 48 Abs. 1 der Charta niedergelegt ist. In der Unschuldsvermutung wird auch das Schuldprinzip, nulla poena sine culpa, verortet, das ein Verschulden verlangt, also Verantwortung für den Verstoß.(14)

45.      Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die Konkretisierung von Verhältnismäßigkeits- und Verursacherprinzip im Allgemeinen(15) und insbesondere im Bereich der Sanktionierung von Verstößen(16) Aufgabe der Mitgliedstaaten ist und ihnen daher in der Regel ein weiter Spielraum zukommt. Die Kontrolle dieses Spielraums obliegt dabei vorrangig den innerstaatlichen Gerichten.

2.      Zur Präzisierung des Vorwurfs

46.      Um die Verantwortung eines Grundstückseigentümers für Taten anderer auf einem verpachteten Grundstück festzustellen, könnte man verschiedene strafrechtliche Kategorien der Tatbeteiligung prüfen. Insoweit wäre etwa an Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe sowie nach der Tat an Begünstigung oder Strafvereitelung zu denken. Doch es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die dafür notwendigen Feststellungen im Ausgangsverfahren getroffen wurden.

47.      Vielmehr wird die Sanktion ausschließlich darauf gestützt, dass TTK Eigentümerin des Grundstücks ist, aber weder den tatsächlichen Nutzer des Grundstücks benannt noch zweifelsfrei nachgewiesen habe, dass die Verantwortung für die Verstöße nicht bei ihr lag.

48.      Insofern obliegt es zunächst dem innerstaatlichen Gericht, sich zu vergewissern, ob das ungarische Recht tatsächlich im Einklang mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafe nach Art. 49 Abs. 1 Satz 1 der Charta eine entsprechende Verantwortung des Grundstückseigentümers begründet.

49.      Wie auch im Vorabentscheidungsersuchen angedeutet, erscheint es nämlich nicht zwingend, dass der dort angeführten Bestimmung, § 102 Abs. 1 des Gesetzes Nr. LIII von 1995 über allgemeine Vorschriften zum Schutz der Umwelt, diese Wirkung zukommt. Dort wird die Haftung für Umweltschäden bzw. Umweltgefährdung gesamtschuldnerisch jedem auferlegt, der nach einem Schadensereignis Eigentümer oder Besitzer (Nutzer) des fraglichen Grundstücks ist oder wird.

50.      Diese Terminologie erfasst mit zukünftigen Eigentümern und Nutzern Personen, die keinerlei Verantwortung für etwaige Regelverstöße in der Vergangenheit tragen. Dies mag im Hinblick auf die Sanierung von Schäden oder für die Gefahrenabwehr über die Regelung der Umwelthaftungsrichtlinie hinaus unter bestimmten Bedingungen zulässig sein.(17) Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um die Beseitigung von Umweltschäden oder die Abwehr von Umweltgefährdungen, sondern um die Sanktionierung eines Verstoßes.

51.      Gleichwohl ist für die Beantwortung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens davon auszugehen, dass das ungarische Recht dem Grundstückseigentümer eine sanktionsbewehrte Verantwortung für Verstöße auferlegt, die auf dem Grundstück begangen werden, falls er nicht den tatsächlichen Nutzer des Grundstücks benennt und zweifelsfrei nachweist, dass die Verantwortung nicht bei ihm liegt.

52.      Die Sanktion wird folglich auf eine widerlegbare Vermutung gestützt.

3.      Zur Zulässigkeit widerlegbarer Vermutungen

53.      Für die Zulässigkeit der Begründung von Sanktionen mit einer widerlegbaren Vermutung gibt es Anhaltspunkte in der Rechtsprechung des EGMR zur Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 der EMRK. Dieses Prinzip gebietet, in Strafgesetzen enthaltene Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art angemessen einzugrenzen, wobei das Gewicht der betroffenen Belange zu berücksichtigen ist und die Verteidigungsrechte zu wahren sind.(18) Der Gerichtshof folgt dieser Rechtsprechung.(19)

54.      Die gesamtschuldnerische Mitverantwortung des Grundstückseigentümers für das Verhalten eines Grundstücksnutzers beruht auf zwei Säulen, nämlich einerseits der naheliegenden Annahme, dass der Eigentümer dieses Verhalten zumindest duldet oder sogar billigt, und andererseits auf Sorgfaltspflichten,(20) die mit seinem Eigentum verbunden sind. Die Landesgeneralinspektion umschreibt Letztere in ihrem Vorbringen mit dem Grundsatz des „bonus et diligens pater familias“.

55.      Diese doppelte Grundlage erscheint insbesondere angesichts des Spielraums der Mitgliedstaaten mit dem Verursacherprinzip, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Unschuldsvermutung vereinbar. Denn die Verletzung der Abfallrichtlinie im Ausgangsfall war nur möglich, weil TTK ihre Rechte als Eigentümerin nicht ausgeübt hat, um diese Verstöße zu verhindern.

56.      Neben der Begründung einer solchen Vermutung sind jedoch die Verteidigungsrechte hervorzuheben. Es muss dem Beschuldigten möglich sein, die ihn belastende Vermutung zu widerlegen.(21)

57.      Ungarn betont, dass der Eigentümer nach § 102 Abs. 2 des Gesetzes LIII von der gesamtschuldnerischen Haftung befreit wird, wenn er den tatsächlichen Nutzer des Grundstücks benennt und zweifelsfrei nachweist, dass die Verantwortung nicht bei ihm selbst liegt.

58.      Die Landesgeneralinspektion kommt im Ausgangsfall zu dem Ergebnis, dass TTK keine der beiden Anforderungen erfüllt und daher die Vermutung eigener Verantwortung nicht widerlegt hat. Der von ihr benannte Pächter konnte das Grundstück nicht tatsächlich nutzen, da er zwischenzeitlich verstorben war, und TTK hat auch nicht zweifelsfrei nachgewiesen, dass sie für die Verstöße auf dem Grundstück nicht verantwortlich war.

59.      Die Landesgeneraldirektion hält dieses Ergebnis für gerechtfertigt, denn es folge aus einer Verletzung der Sorgfaltspflichten, die dem Eigentümer eines Grundstücks oblägen. TTK habe über längere Zeit nicht verfolgt, was auf ihrem Grundstück passiere.

60.      Sorgfaltspflichten müssen jedoch verhältnismäßig und insbesondere zumutbar sein.(22) Denn nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss eine Maßnahme „zur Verwirklichung des von ihr verfolgten Zieles geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“ sein.(23) Das Erfordernis der Zumutbarkeit ergibt sich dabei aus dem dritten Schritt dieser Prüfung, nämlich ob die Maßnahme, in diesem Fall die Sorgfaltspflicht, zu dem von ihr verfolgten Ziel verhältnismäßig bzw. angemessen ist.

61.      Und im gleichen Maß muss auch die Widerlegung einer Vermutung zumutbar bleiben, die sich auf solche Sorgfaltspflichten stützt.

62.      Daher müssen die zuständigen ungarischen Gerichte kritisch prüfen, ob die Anforderungen an einer Widerlegung der Vermutung einer Verantwortung des Grundstückseigentümers im Ausgangsfall tatsächlich zumutbar sind.

63.      Im Ausgangsfall ist insbesondere zweifelhaft, ob die TTK überhaupt mehr tun konnte, als ihren Pächter zu benennen. Denn aufgrund der Verpachtung verlor sie die unmittelbare Sachherrschaft über das Grundstück. Seitdem oblag es dem Pächter, Gesetzesverstöße auf dem Grundstück zu verhindern. Dagegen ist nicht offensichtlich, wie TTK Verstöße hätte unterbinden können.

64.      Ohne weitere Anhaltspunkte ist es auch nicht zwingend, dass die Eigentümerin einer verpachteten Anlage regelmäßig überprüfen muss, was in der Anlage geschieht. Falls weder das ungarische Recht noch der Pachtvertrag andere Regelungen vorsehen, dürften solchen Kontrollen häufig bereits die Rechte des Pächters entgegenstehen.

65.      Es erscheint auch nicht zwingend, aus dem Tod des Pächters als solchem weiter reichende Sorgfalts- und Kontrollpflichten abzuleiten. Denn es ist davon auszugehen, dass zunächst seine Erben in die Rechte und Pflichten aus dem Pachtvertrag eintreten. Darüber hinaus enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine Hinweise darauf, dass TTK vom Tod des Pächters wissen musste.

66.      Im Ausgangsfall mag es Ermittlungsansätze geben, die weiter reichende Sorgfaltspflichten und somit höhere Anforderungen an eine Widerlegung der Vermutung einer Verantwortung des Eigentümers rechtfertigen. Zu diesem Zweck könnte man der Frage nachgehen, ob und gegebenenfalls von wem weiterhin Pachtzins gezahlt wurde. Auch die Rolle der Erben des Pächters könnte von Interesse sein. Möglicherweise gibt es sogar Hinweise darauf, dass die TTK das Pachtverhältnis nur zum Schein und/oder wissentlich mit einem Strohmann abgeschlossen hat. Das Vorabentscheidungsersuchen enthält jedoch keine entsprechenden Angaben.

67.      Für den Fall, dass das innerstaatliche Gericht trotz allem zu dem Ergebnis kommt, dass TTK die Vermutung ihrer Verantwortung nicht widerlegt hat, ist schließlich ergänzend anzumerken dass auch die Sanktion verhältnismäßig, d. h. insbesondere angemessen, sein muss. Sie muss also dem Gewicht des individuellen Verursachungsbeitrags bzw. des Verstoßes gegen die Sorgfaltspflicht entsprechen. In der Regel wird der Verletzung von Sorgfaltspflichten eines Grundstückseigentümers im Hinblick auf das Verhalten der tatsächlichen Nutzer eines verpachteten Grundstücks nicht das gleiche Gewicht zukommen wie der unmittelbaren Verletzung abfallrechtlicher Bestimmungen. Daher verbietet es sich auch bei einer vermuteten Mitverantwortung, dem Grundstückseigentümer einfach die Sanktion für den abfallrechtlichen Verstoß aufzuerlegen.

68.      Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie, das Verursacherprinzip nach Art. 191 Abs. 2 AEUV sowie der Grundsatz der verhältnismäßigen Bestrafung nach Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte und die Unschuldsvermutung nach Art. 48 Abs. 1 der Charta der angemessenen Sanktionierung des Eigentümers eines verpachteten Grundstücks nicht entgegenstehen, die auf der gesetzlich festgelegten Vermutung beruht, er sei gemeinsam mit dem tatsächlichen Nutzer des Grundstücks für die Verletzung abfallrechtlicher Regelungen auf dem Grundstück verantwortlich, falls es im Prinzip möglich ist, diese Vermutung mit zumutbaren Angaben zu widerlegen.

C –    Zum Konzept der strengeren Schutzvorschriften

69.      Die zweite Frage zur Berechtigung der Mitgliedstaaten, strengere Schutzvorschriften zu erlassen, wird nur für den Fall gestellt, dass das Verursacherprinzip einer Sanktionierung des Grundstückseigentümers entgegensteht.

70.      Dies ist nicht auszuschließen, falls es nach ungarischem Recht möglich sein sollte, den Eigentümer zu bestrafen, obwohl er alle zumutbaren Angaben zur Widerlegung seiner vermuteten Verantwortung gemacht hat, oder falls die Strafe unangemessen ist. Zwar enthält die Abfallrichtlinie, anders als die Umwelthaftungsrichtlinie, keine eigene Bestimmung über strengere Maßnahmen der Mitgliedstaaten, doch nach Art. 193 AEUV hindern Regelungen wie die Abfallrichtlinie die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran, verstärkte Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen.

71.      Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit einmal entschieden, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht auf verstärkte Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten anzuwenden ist.(24) Daraus könnte man schließen, dass über Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie hinausgehende Strafen durch Art. 193 AEUV gerechtfertigt sind.

72.      Doch die Befugnis zum Erlass verstärkter Schutzmaßnahmen wird in jedem Fall durch die Ziele der jeweiligen unionsrechtlichen Regelung begrenzt, die die Mitgliedstaaten nicht untergraben dürfen.(25) Und Art. 36 Abs. 2 der Abfallrichtlinie sieht ausdrücklich vor, dass Sanktionen wegen der Verletzung abfallrechtlicher Vorschriften verhältnismäßig sein müssen. „Verstärkte“ Sanktionsregelungen, die auf unzumutbaren Anforderungen beruhen oder unangemessene Strafen verlangen, wären damit nicht vereinbar.

73.      Art. 193 AEUV kann von den Mitgliedstaaten daher nicht als Grundlage herangezogen werden, wegen der Verletzung abfallrechtlicher Verpflichtungen Sanktionen zu verhängen, die auf unzumutbaren Anforderungen beruhen oder unangemessen sind.

V –    Ergebnis

74.      Ich schlage daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen wie folgt zu beantworten:

1.      Die Richtlinie 2004/35/EG über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden ist weder auf die Sanktionierung von Verstößen gegen umweltrechtliche Verpflichtungen noch auf eine Verschmutzung der Luft anwendbar, die keine Schädigung geschützter Arten und natürlicher Lebensräume, der Gewässer oder des Bodens bewirkt.

2.      Art. 36 Abs. 2 der Richtlinie 2008/98/EG über Abfälle, das Verursacherprinzip nach Art. 191 Abs. 2 AEUV sowie der Grundsatz der verhältnismäßigen Bestrafung nach Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte und die Unschuldsvermutung nach Art. 48 Abs. 1 der Charta stehen der angemessenen Sanktionierung des Eigentümers eines verpachteten Grundstücks nicht entgegen, die auf der gesetzlich festgelegten Vermutung beruht, er sei gemeinsam mit dem tatsächlichen Nutzer des Grundstücks für die Verletzung abfallrechtlicher Regelungen auf dem Grundstück verantwortlich, falls es im Prinzip möglich ist, diese Vermutung mit zumutbaren Angaben zu widerlegen.

3.      Art. 193 AEUV kann von den Mitgliedstaaten nicht als Grundlage herangezogen werden, wegen der Verletzung abfallrechtlicher Verpflichtungen Sanktionen zu verhängen, die auf unzumutbaren Anforderungen beruhen oder unangemessen sind.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – Vgl. Urteile vom 29. April 1999, Standley u. a. (C‑293/97, EU:C:1999:215), vom 7. September 2004, Van de Walle u. a. (C‑1/03, EU:C:2004:490), vom 24. Juni 2008, Commune de Mesquer (C‑188/07, EU:C:2008:359), vom 16. Juli 2009, Futura Immobiliare u. a. (C‑254/08, EU:C:2009:479), vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑378/08, EU:C:2010:126, sowie C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127), sowie vom 4. März 2015, Fipa Group u. a. (C‑534/13, EU:C:2015:140).


3 – Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (ABl. 2004, L 143, S. 56).


4 – Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien (ABl. 2008, L 312, S. 3).


5 – Vgl. Urteile vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑378/08, EU:C:2010:126, Rn. 46) sowie ERG u. a. (C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 39), sowie vom 4. März 2015, Fipa Group u. a. (C‑534/13, EU:C:2015:140, Rn. 42).


6 – Siehe zuletzt Urteile vom 11. Februar 2015, Marktgemeinde Straßwalchen u. a. (C‑531/13, EU:C:2015:79, Rn. 37), sowie vom 13. Oktober 2016, M. und S. (C‑303/15, EU:C:2016:771, Rn. 16). Vgl. auch Urteil vom 26. September 2013, Texdata Software (C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 43 bis 46).


7 – Urteil vom 7. September 2004, Van de Walle u. a. (C‑1/03, EU:C:2004:490, Rn. 56).


8 – Urteile vom 7. September 2004, Van de Walle u. a. (C‑1/03, EU:C:2004:490, Rn. 58), und vom 24. Juni 2008, Commune de Mesquer (C‑188/07, EU:C:2008:359, Rn. 71).


9 – Urteil vom 24. Juni 2008, Commune de Mesquer (C‑188/07, EU:C:2008:359, Rn. 72).


10 – Vgl. Urteil vom 29. April 1999, Standley u. a. (C‑293/97, EU:C:1999:215, Rn. 51).


11 – Urteil vom 29. April 1999, Standley u. a. (C‑293/97, EU:C:1999:215, Rn. 51 und 52).


12 – Urteil vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86).


13 – Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, JZ (C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 42).


14 – Vgl. Urteile vom 18. November 1987, Maizena u. a. (137/85, EU:C:1987:493, Rn. 15), und vom 11. Juli 2002, Käserei Champignon Hofmeister (C‑210/00, EU:C:2002:440, Rn. 35 und 44). Siehe auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Schenker u. a. (C‑681/11, EU:C:2013:126, Nrn. 40 und 41).


15 – Urteile vom 16. Juli 2009, Futura Immobiliare u. a. (C‑254/08, EU:C:2009:479, Rn. 48, 52 und 55), und vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑378/08, EU:C:2010:126, Rn. 55).


16 – Urteil vom 23. Oktober 2007, Kommission/Rat (C‑440/05, EU:C:2007:625, Rn. 70), vgl. auch Art. 83 Abs. 2 EUV.


17 – Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Fipa Group u. a. (C‑534/13, EU:C:2014:2393, Nrn. 60 und 61) sowie in den Rechtssachen ERG u. a. (C‑378/08 sowie C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2009:650, Nrn. 130 bis 138).


18 – Urteile des EGMR vom 7. Oktober 1988, Salabiaku/Frankreich (10519/83, CE:ECHR:1988:1007JUD001051983, § 28), vom 25. September 1992, Pham Hoang/Frankreich (13191/87, CE:ECHR:1992:0925JUD001319187, § 33), und vom 30. März 2004, Radio France u. a./Frankreich (53984/00, CE:ECHR:2004:0330JUD005398400, § 24).


19 – Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck (C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 43). Siehe bereits das Urteil vom 10. Juli 1990, Hansen (C‑326/88, EU:C:1990:291, Rn. 19).


20 – Vgl. Urteil des EGMR vom 30. März 2004, Radio France u. a./Frankreich (53984/00, CE:ECHR:2004:0330JUD005398400, § 24).


21 – Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck (C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 44). Vgl. auch Urteile vom 16. Juli 2009, Rubach (C‑344/08, EU:C:2009:482, Rn. 33), vom 8. Mai 2013, Eni/Kommission (C‑508/11 P, EU:C:2013:289, Rn. 50), vom 5. März 2015, Kommission u. a./Versalis u. a. (C‑93/13 P und C‑123/13 P, EU:C:2015:150, Rn. 46), und vom 21. Januar 2016, Eturas u. a. (C‑74/14, EU:C:2016:42, Rn. 41).


22 Siehe in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij, C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24 bis 26), und vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia (C‑81/15, EU:C:2016:398, Rn. 50, 52 und 53).


23 – Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2016:382, Nr. 98), angelehnt an den französischen Conseil constitutionnel, Entscheidungen Nr. 2015-527 QPC vom 22. Dezember 2015 (FR:CC:2015:2015.527.QPC, Rn. 4 und 12) und Nr. 2016-536 QPC vom 19. Februar 2016 (FR:CC:2016:2016.536.QPC, Rn. 3 und 10); ähnlich der französische Conseil d’État, Urteil Nr. 317827 vom 26. Oktober 2011 (FR:CEASS:2011:317827.20111026); siehe auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 120, 274, 318 und 319 (DE:BVerfG:2008:rs20080227.1bvr037007, Rn. 218).


24 – Urteil vom 14. April 2005, Deponiezweckverband Eiterköpfe (C‑6/03, EU:C:2005:222, Rn. 63). Siehe aber Urteil vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 66 und 86).


25 – Urteile vom 9. März 2010, ERG u. a. (C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 66), vom 21. Juli 2011, Azienda Agro-Zootecnica Franchini und Eolica di Altamura (C‑2/10, EU:C:2011:502, Rn. 50), und vom 26. Februar 2015, ŠKO-Energo (C‑43/14, EU:C:2015:120, Rn. 25). Siehe auch meine Schlussanträge in den Rechtssachen ERG u. a. (C‑378/08 sowie C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2009:650, Nrn. 96 bis 115).