Language of document : ECLI:EU:C:2013:636

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

3. Oktober 2013(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Verkehr – Richtlinie 2001/14/EG – Art. 4 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 3 – Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn – Entgelterhebung – Wegeentgelte – Unabhängigkeit des Betreibers der Infrastruktur“

In der Rechtssache C‑369/11

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 12. Juli 2011,

Europäische Kommission, vertreten durch E. Montaguti und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,

Beklagte,

unterstützt durch

Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

Streithelferin,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter), E. Levits und J.-J. Kasel,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. April 2013,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. L 237, S. 25) in der durch die Richtlinie 2006/103/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 344) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/440) sowie aus Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 14 Abs. 2 und Art. 30 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. L 75, S. 29) in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 (ABl. L 315, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/14) verstoßen hat, dass sie die Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um diesen Vorschriften nachzukommen, nicht erlassen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Art. 4 der Richtlinie 91/440, der in deren Abschnitt II („Unabhängigkeit der Geschäftsführung“) steht, lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Eisenbahnunternehmen in Bezug auf die Geschäftsführung, die Verwaltung und die innerbetriebliche Verwaltungs-, Wirtschafts- und Rechnungsführungskontrolle eine unabhängige Stellung haben, kraft deren sie insbesondere über ein Vermögen, einen Haushaltsplan und eine Rechnungsführung verfügen, die von Vermögen, Haushaltsplan und Rechnungsführung des Staates getrennt sind.

(2)      Der Betreiber der Infrastruktur ist unter Beachtung der von den Mitgliedstaaten festgelegten Rahmenvorschriften sowie der Einzelvorschriften betreffend die Entgelterhebung und die Kapazitätszuweisung für seine eigene Geschäftsführung, Verwaltung und innerbetriebliche Kontrolle verantwortlich.“

3        Die Erwägungsgründe 11 und 16 der Richtlinie 2001/14 lauten:

„(11) Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden und so weit wie möglich angestrebt werden, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und in nichtdiskriminierender Weise zu entsprechen.

(16)      Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollten einen fairen Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen ermöglichen.“

4        Art. 4 („Festsetzung, Berechnung und Erhebung von Entgelten“) der Richtlinie 2001/14 bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:

„(1)      Die Mitgliedstaaten schaffen eine Entgeltrahmenregelung, wobei die Unabhängigkeit der Geschäftsführung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 91/440/EWG zu wahren ist.

Vorbehaltlich der genannten Bedingung der Unabhängigkeit der Geschäftsführung legen die Mitgliedstaaten auch einzelne Entgeltregeln fest oder delegieren diese Befugnisse an den Betreiber der Infrastruktur. Die Berechnung des Wegeentgeltes und die Erhebung dieses Entgelts nimmt der Betreiber der Infrastruktur vor.

(2)      Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in diesem Kapitel dargelegten Aufgaben – außer der Erhebung von Entgelten – von einer entgelterhebenden Stelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.“

5        Art. 30 („Regulierungsstelle“) der Richtlinie 2001/14 lautet:

„(1)      Unbeschadet des Artikels 21 Absatz 6 richten die Mitgliedstaaten eine Regulierungsstelle ein. Diese Stelle, bei der es sich um das für Verkehrsfragen zuständige Ministerium oder eine andere Behörde handeln kann, ist organisatorisch, bei ihren Finanzierungsbeschlüssen, rechtlich und in ihrer Entscheidungsfindung von Betreibern der Infrastruktur, entgelterhebenden Stellen, Zuweisungsstellen und Antragstellern unabhängig. Darüber hinaus ist die Regulierungsstelle funktionell unabhängig von allen zuständigen Behörden, die bei der Vergabe von Verträgen über öffentliche Dienstleistungen mitwirken. Für die Tätigkeit der Regulierungsstelle gelten die Grundsätze dieses Artikels; Rechtsbehelfs- und Regulierungsfunktionen können gesonderten Stellen übertragen werden.

(3)      Die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Betreiber der Infrastruktur festgesetzten Entgelte dem Kapitel II entsprechen und nichtdiskriminierend sind. Verhandlungen zwischen Antragstellern und einem Betreiber der Infrastruktur über die Höhe von Wegeentgelten sind nur zulässig, sofern sie unter Aufsicht der Regulierungsstelle erfolgen. Die Regulierungsstelle hat einzugreifen, wenn bei den Verhandlungen ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie droht.“

 Italienisches Recht

6        Die Richtlinien 91/440, 2001/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 zur Änderung der Richtlinie 95/18/EG des Rates über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen (ABl. L 75, S. 26) und 2001/14 (im Folgenden zusammen: erstes Eisenbahnpaket) wurden durch das Decreto legislativo n. 188 recante attuazione delle direttive 2001/12/CE, 2001/13/CE e 2001/14/CE in materia ferroviaria (Umsetzung der Richtlinien 2001/12/EG, 2001/13/EG und 2001/14/EG für den Eisenbahnsektor) vom 8. Juli 2003 (Supplemento ordinario zu GURI Nr. 170 vom 24. Juli 2003, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 188/2003) in das innerstaatliche italienische Recht umgesetzt.

7        Die im Anhang II der Richtlinie 91/440 genannten „wesentlichen Funktionen“ sind in Italien der Rete Ferroviaria Italiana SpA (im Folgenden: RFI), die auf der Grundlage einer Konzession des Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (Ministerium für Infrastruktur und Verkehr, im Folgenden: Ministerium) als „Infrastrukturbetreiber“ eingesetzt ist, und dem Ministerium selbst zugewiesen. RFI hat zwar eigene Rechtspersönlichkeit, gehört aber zur Holding Ferrovie dello Stato Italiane (im Folgenden: Holding FS), ebenso wie das führende Eisenbahnunternehmen auf dem italienischen Markt, die Trenitalia SpA (im Folgenden: Trenitalia).

8        Art. 11 Abs. 1 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 lautet:

„Der Betreiber der Eisenbahninfrastruktur ist eigenständig und von den im Verkehrssektor tätigen Unternehmen rechtlich, organisatorisch und in seinen Entscheidungen unabhängig.“

9        Was die Ausübung wesentlicher Funktionen angeht, ist die RFI mit der Berechnung der Netzzugangsentgelte je Teilnehmer und ihrer Erhebung betraut, wobei sie die vom Minister für Infrastruktur und Verkehr (im Folgenden: Minister) festgesetzten Entgelte zugrunde legt, wie sich aus Art. 17 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 ergibt, dessen Abs. 1 und 2 wie folgt lauten:

„(1)      Um internationalen Verbänden von Eisenbahnunternehmen und den Eisenbahnunternehmen auf gerechte und nichtdiskriminierende Weise Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zu geben und deren Benutzung zu ermöglichen, wird das Entgelt für den Zugang zur nationalen Eisenbahninfrastruktur durch Dekret des [Ministers] auf mit Gründen versehenen Bericht des Eisenbahninfrastrukturbetreibers, nach Stellungnahme des Comitato interministeriale per la programmazione economica (Interministerieller Ausschuss für die wirtschaftliche Planung) und nach Anhörung der ständigen Konferenz für die Beziehungen zwischen dem Staat, den Regionen und den autonomen Provinzen Trient und Bozen, soweit Dienste ihrer Zuständigkeit betroffen sind, festgesetzt. Das Dekret wird in der Gazzetta ufficiale della Repubblica italiana und im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht.

(2)      Auf der Grundlage von Absatz 1 berechnet der Betreiber der Eisenbahninfrastruktur das von den internationalen Verbänden von Eisenbahnunternehmen bzw. den Eisenbahnunternehmen für die Benutzung der Infrastruktur zu entrichtende Entgelt und nimmt dessen Erhebung vor.“

10      In Art. 17 Abs. 11 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 wird die Rolle des Ministers folgendermaßen beschrieben:

„Der [Minister] legt durch Dekret, das in der Gazzetta ufficiale della Repubblica italiana veröffentlicht wird, den Regelungsrahmen für den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur sowie die Grundsätze und das Verfahren für die in Art. 27 genannte Kapazitätszuweisung und für die Berechnung des Entgelts für die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur und der Beträge für die Erbringung der in Art. 20 genannten Dienste fest. In diesem Dekret wird auch die Regelung für die in Art. 20 genannten Dienste festgelegt.“

11      In Art. 37 des Decreto legislativo Nr. 188/2003, mit dem Art. 30 der Richtlinie 2001/14 umgesetzt werden soll, sind die Aufgaben der „Regulierungsstelle“ festgelegt. Dieser Artikel wurde durch das Decreto legge n. 98 vom 6. Juli 2011 (im Folgenden: Decreto-legge Nr. 98/2011) geändert, um ein neues Verfahren zur Bestellung des Leitungspersonals des Ufficio per la Regolazione dei Servizi Ferroviari (Amt für die Regulierung der Eisenbahnverkehrsleistungen; im Folgenden: URSF) einzuführen, das die Regulierungsstelle ist.

12      Durch Art. 21 Abs. 4 des Decreto-legge Nr. 98/2011 wurde nämlich Art. 37 Abs. 1bis des Decreto legislativo Nr. 188/2003 wie folgt neu gefasst:

„Für die Zwecke des Abs. 1 ist die mit den Aufgaben der Regulierungsstelle betraute Dienststelle des [Ministeriums] im Rahmen der ihr zugewiesenen wirtschaftlichen und finanziellen Mittel in organisatorischer Hinsicht und in der Rechnungsführung eigenständig. Diese Dienststelle berichtet dem Parlament jährlich über ihre Tätigkeit.“

13      Ferner wurde durch das Decreto-legge Nr. 98/2011 in den genannten Art. 37 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 ein Absatz 1ter eingefügt, der wie folgt lautet:

„Der Verantwortliche der in Abs. 1bis genannten Dienststelle wird unter Personen ausgewählt, die in moralischer Hinsicht und in ihrer Unabhängigkeit über jeden Zweifel erhaben und deren fachliche Fähigkeiten und Kenntnisse im Eisenbahnsektor anerkannt sind; er wird gemäß Art. 19 Abs. 4, 5bis und 6 des Decreto legislativo Nr. 165 vom 30. März 2001 in der geänderten Fassung durch Dekret des Präsidenten des Ministerrats auf Vorschlag des [Ministers] ernannt. Zu diesem Vorschlag wird vorher die Stellungnahme der zuständigen Parlamentsausschüsse eingeholt, die jeweils innerhalb von 20 Tagen nach Anrufung abgegeben werden muss. Diese Ausschüsse können die betreffende Person anhören. Der Verantwortliche der in Abs. 1bis genannten Dienststelle wird für drei Jahre ernannt; seine Amtszeit kann nur einmal verlängert werden. Das Amt des Verantwortlichen der in Abs. 1bis genannten Dienststelle ist mit auf Wahlen beruhenden politischen Mandaten unvereinbar; ebenso wenig kann ernannt werden, wer Interessen, welcher Art sie auch sein mögen, hat, die mit den Aufgaben dieser Dienststelle in Konflikt stehen. Der Verantwortliche der in Abs. 1bis genannten Dienststelle darf, bei sonstiger Amtsenthebung, weder unmittelbar noch mittelbar einer beruflichen oder beratenden Tätigkeit nachgehen, nicht Geschäftsführer oder Beschäftigter einer öffentlichen oder privaten Einrichtung sein und keine anderen öffentlichen Ämter bekleiden, noch ein unmittelbares oder mittelbares Interesse an in dem Sektor tätigen Unternehmen haben. Der aktuelle Leiter der Dienststelle bleibt bis zum Ende seiner Amtszeit im Amt.“

 Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

14      Am 10. Mai und 21. November 2007 übersandte die Kommission an die italienischen Behörden Fragebögen, um Auskünfte über den nationalen Rechtsrahmen für den Eisenbahnsektor einzuholen. Die Italienische Republik antwortete am 13. August 2007 bzw. 18. Januar 2008.

15      Auf der Grundlage der so erhaltenen Auskünfte leitete die Kommission gegen die Italienische Republik wegen Unvereinbarkeit ihrer den Eisenbahnverkehr betreffenden Rechtsvorschriften mit den Richtlinien des ersten Eisenbahnpakets ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Am 26. Juni 2008 richtete die Kommission an den Mitgliedstaat ein Mahnschreiben, in dem die italienischen Rechtsvorschriften, die sie als mit dem ersten Eisenbahnpaket unvereinbar ansah, angeführt waren, mit der Aufforderung, sich binnen zwei Monaten zu äußern.

16      Auf dieses Mahnschreiben antwortete die Italienische Republik mit Schreiben vom 13. August 2008, in dem sie zusagte, Überlegungen über die Marktsituation und den Rechtsrahmen in Italien anzustellen, um die Probleme in Bezug auf die Unabhängigkeit der Infrastrukturbetreiber in ihren Entscheidungen zu bewerten und Anpassungen vorzuschlagen.

17      Auf ein weiteres Auskunftsersuchen seitens der Dienststellen der Kommission an die Italienische Republik antwortete diese mit Schreiben vom 22. Dezember 2008 sowie vom 21. Januar und 23. März 2009.

18      Am 1. Oktober 2009 übermittelten die italienischen Stellen den Wortlaut des Decreto legge n. 135 recante disposizioni urgenti per l’attuazione di obblighi comunitari e per l’esecuzione di sentenze della Corte di giustizia delle Comunità europee (Dringlichkeitsvorschriften zur Umsetzung gemeinschaftlicher Verpflichtungen und zur Durchführung von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften) vom 25. September 2009 (GURI Nr. 223 vom 25. September 2009, S. 2), wobei sie insbesondere auf dessen Art. 2 hinwiesen, und den Wortlaut einer Änderung von Art. 15 der Satzung der RFI, nach der die Stellung eines Geschäftsführers dieses Unternehmens mit der eines Geschäftsführers der Muttergesellschaft, d. h. der Holding FS, oder anderer von dieser kontrollierten, im Eisenbahnsektor tätigen Unternehmen unvereinbar ist.

19      Mit Schreiben vom 8. Oktober 2009 sandte die Kommission an die Italienische Republik eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie geltend machte, dass die italienische Regelung für den Eisenbahnsektor nicht mit den Richtlinien 91/440 und 2001/14 im Einklang stehe, und den Mitgliedstaat aufforderte, binnen einer Frist von zwei Monaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um dieser Stellungnahme nachzukommen.

20      Die Italienische Republik beantwortete diese mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 23. Dezember 2009 und 26. April 2010. Ferner übermittelte sie der Kommission am 2. Dezember 2009 den Wortlaut der Legge n. 166 recante conversione in legge, con modificazioni, del decreto legge n. 135, del 25 settembre 2009 (Umwandlung und Änderung des Decreto-legge Nr. 135) vom 20. November 2009.

21      Nachdem sie in der italienischen Fassung der mit Gründen versehenen Stellungnahme einen Schreibfehler festgestellt hatte und um ihren Standpunkt angesichts der von der Italienischen Republik übermittelten Angaben zu präzisieren, erließ die Kommission am 24. November 2010 eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme, die dem Mitgliedstaat am selben Tag zugestellt wurde, in der sie Diesen aufforderte, dieser Stellungnahme innerhalb von einem Monat ab ihrer Zustellung nachzukommen.

22      Die Italienische Republik antwortete auf die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 10. Januar 2011.

23      Da die Antwort der Italienischen Republik sie nicht zufriedenstellte, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

24      Mit Beschluss vom 21. November 2011 hat der Präsident des Gerichtshofs die Tschechische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Italienischen Republik zugelassen.

25      In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof, die am 11. April 2013 stattgefunden hat, hat die Kommission mitgeteilt, dass sie die erste, einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 betreffende Rüge ihrer Klage fallen lasse.

 Zur Klage

 Zur Rüge betreffend die Erhebung von Entgelten für den Zugang zur Infrastruktur

 Vorbringen der Parteien

26      Die Kommission macht zunächst geltend, die italienische Regelung wahre nicht das Erfordernis der Unabhängigkeit der Geschäftsführung des Infrastrukturbetreibers, wie es in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 vorgesehen sei.

27      Gemäß diesem Artikel sei für die Entgeltberechnung bzw., mit anderen Worten, die Entscheidung über die Höhe der Entgelte der Infrastrukturbetreiber zuständig. Es gehe um eine Unabhängigkeit der Geschäftsführung, die dem Betreiber die Erzielung von Einnahmen in ausreichenden Umfang ermögliche, um seine Aufgaben ohne Einmischung des Staates erfüllen zu können. Indem sich der Staat jedoch die Befugnis zur Festsetzung der Entgelthöhe vorbehalte, nehme er dem Betreiber ein wesentliches Geschäftsführungsinstrument.

28      Dieses Verständnis von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 werde durch eine systematische Auslegung dieser Richtlinie bestätigt. Nach deren Art. 30 Abs. 3 unterlägen Entscheidungen des Betreibers über die Entgelte der Kontrolle der dafür vorgesehenen Stelle, und diese Kontrolle habe nur dann einen Sinn, wenn dieser Betreiber für die Entscheidung über die Entgeltfestsetzung zuständig sei.

29      In Italien würden jedoch gemäß Art. 17 Abs. 1 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 die Netzzugangsentgelte vom Minister festgesetzt. Der Infrastrukturbetreiber könne insoweit in Gestalt des „mit Gründen versehenen Berichts“ einen Vorschlag machen, doch sei es der Minister, der durch Dekret die Festsetzung der Höhe dieser Entgelte beschließe. Der Betreiber habe sodann gemäß Abs. 2 dieses Art. 17 die von jedem Eisenbahnunternehmen für die Benutzung der einzelnen Zugtrassen tatsächlich zu entrichtenden Entgelte zu berechnen und diese zu erheben.

30      Wenn die Zuständigkeit dem Minister zugewiesen sei, könne die Regulierungsstelle weder die Entgelte, noch die auf den verschiedenen Kostenkategorien beruhenden Modalitäten für deren Berechnung überprüfen, da die Regulierungsstelle gegenüber dem Minister keinerlei Befugnis habe.

31      Zudem setzten andere Bestimmungen der Richtlinie 2001/14 notwendig voraus, dass die Aufgaben des Infrastrukturbetreibers nicht auf die bloße Abrechnung und die Erhebung der Entgelte im Einzelfall beschränkt seien, sondern sich auf die Festsetzung der Höhe der geltenden Entgelte erstreckten.

32      Dass der Minister die Höhe der Entgelte festsetze, um ausgeglichene Finanzen des Infrastrukturbetreibers sicherzustellen, stehe mit den Mechanismen der Richtlinie 2001/14 nicht im Einklang. Zwar könne es im Interesse des Staates liegen, die Einnahmen des Infrastrukturbetreibers zu kontrollieren, da es ihm gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie obliege, sicherzustellen, dass sich die Einnahmen des Betreibers aus Wegeentgelten, dem Gewinn aus anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten und der staatlichen Finanzierung einerseits und die Fahrwegausgaben andererseits zumindest ausglichen. Doch ermögliche diese Richtlinie dem Staat eine Einflussnahme auf die Finanzlage des Betreibers nicht durch Festsetzung der Höhe der Entgelte, sondern im Wege der Modalitäten des Abs. 2 dieses Art. 6, nämlich durch Anreize zur Senkung der mit der Fahrwegbereitstellung verbundenen Kosten und der Zugangsentgelte. Durch die Senkung der Infrastrukturkosten könne der Staat die dafür vorgesehenen Mittel zumindest teilweise einsparen.

33      Aus dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 gehe klar hervor, wem die entscheidende Rolle zukomme und wer Vorschläge zu machen habe. Zudem gingen die Bewertungen, die der Minister im Rahmen des Entscheidungsprozesses vornehme, über den Inhalt des mit Gründen versehenen Berichts des Betreibers hinaus. Der Minister überprüfe nämlich die Vereinbarkeit des Vorschlags nicht nur mit den Kriterien des Art. 17 Abs. 3 des Decreto legislativo, sondern auch mit den Anforderungen an das finanzielle Gleichgewicht des Betreibers.

34      Die Italienische Republik weist darauf hin, dass die Regulierungsstelle ihre Kontrolltätigkeit – in Bezug auf die Anwendung von Entgelten, deren Höhe wettbewerbsbeschränkend oder gegenüber Unternehmen diskriminierend ist oder zu sein scheint – von Amts wegen oder auf Antrag eines Eisenbahnunternehmens entweder in der Phase der Aushandlung des Entgelts mit dem Infrastrukturbetreiber oder nach dessen Festsetzung, insbesondere auch hinsichtlich einzelner Zugtrassen ausüben könne.

35      Gemäß Art. 37 Abs. 6bis des Decreto legislativo Nr. 188/2003 könne nämlich die Regulierungsstelle „bei Feststellung von Verstößen gegen die Regelung über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur sowie deren Nutzung und die Nutzung von Nebenleistungen“ eine verwaltungsrechtliche Sanktion von bis zu 1 % des Umsatzes bezogen auf die Gewinne aus dem Markt mit einem Höchstbetrag von 1 Mio. Euro verhängen.

36      Da die ministerielle Genehmigung den Infrastrukturbetreiber nicht vor Sanktionen schütze, sei es offensichtlich, dass er sich im Fall einer Beanstandung seitens der Regulierungsstelle zu einer Änderung seines Entgeltvorschlags bzw., falls die Entgelte bereits festgesetzt seien, zur Abgabe eines neuen Vorschlags veranlasst sehen werde. Sonst könne die Regulierungsstelle ein Verfahren einleiten, das zur Verhängung einer Geldbuße führen könne.

37      Dieses Kontrollsystem entspreche den Bestimmungen der Richtlinie 2001/14. Da nach deren Wortlaut die Regulierungsstelle nicht dazu befugt sei, Entgelte unmittelbar zu ändern, sei zudem nicht zu erkennen, wie die Aufgaben der Regulierungsstelle denn sonst geregelt werden sollten, wenn nicht durch Zuweisung zum einen einer Interventionsbefugnis in Verhandlungen zwischen den Bewerbern und dem Betreiber und zum anderen einer Sanktionsbefugnis für den Fall, dass der Betreiber gegen die gesetzlichen Kriterien für die Festsetzung der Entgelte verstoße.

38      Zur Grundfrage im Rahmen der Rüge betreffend die Entgelterhebung macht die Italienische Republik geltend, bei zutreffender Anwendung von Art. 17 Abs. 1 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 werde dem Minister keine materielle Kontrollaufgabe hinsichtlich der Höhe der Entgelte zugewiesen, die auf der Grundlage des mit Gründen versehenen Berichts des Infrastrukturbetreibers festgesetzt würden. Der Minister sei daher im Rahmen einer strikten Rechtmäßigkeitskontrolle lediglich dafür zuständig, die Einhaltung der „einzelnen Regeln“ zu überprüfen, die die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 festlegten.

 Würdigung durch den Gerichtshof 

39      Mit ihrer Rüge betreffend die Erhebung von Entgelten für den Zugang zur Infrastruktur wirft die Kommission der Italienischen Republik vor, gegen Art. 4 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 zu verstoßen, da die nach der italienischen Regelung für die Festsetzung der Entgelthöhe vorgesehenen Modalitäten die „Unabhängigkeit der Geschäftsführung“ des Infrastrukturbetreibers nicht wahrten. Die Netzzugangsentgelte würden nämlich vom Minister durch Dekret festgesetzt.

40      Die Kommission und der Mitgliedstaat streiten über die Frage, wann davon ausgegangen werden kann, dass der Infrastrukturbetreiber die Festsetzung der Entgelthöhe unabhängig vornimmt.

41      Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 haben die Mitgliedstaaten eine Entgeltrahmenregelung zu schaffen und können auch einzelne Entgeltregeln festlegen, haben dabei jedoch die Unabhängigkeit der Geschäftsführung des Betreibers der Infrastruktur zu wahren. Nach dieser Bestimmung obliegt es Letzterem, das Entgelt für die Nutzung der Infrastruktur zu berechnen und es zu erheben (vgl. u. a. Urteil vom 28. Februar 2013, Kommission/Spanien, C‑483/10, Randnr. 39).

42      Art. 4 nimmt somit in Bezug auf Entgeltregelungen eine Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und dem Betreiber der Infrastruktur vor. Es ist nämlich Sache der Mitgliedstaaten, eine Entgeltrahmenregelung aufzustellen, während der Betreiber der Infrastruktur die Berechnung des Entgelts und dessen Erhebung vornimmt (Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 41).

43      In diesem Zusammenhang ist auf die Ziele der Richtlinie 2001/14 hinzuweisen. Zunächst besteht nämlich eines der Ziele, die mit der durch diese Richtlinie geschaffenen Entgeltregelung verfolgt werden, darin, die Unabhängigkeit der Geschäftsführung des Betreibers der Infrastruktur sicherzustellen. Mit anderen Worten hat dieser von der Entgeltregelung als Gestaltungsinstrument Gebrauch zu machen. So geht aus dem zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervor, dass in dem von den Mitgliedstaaten abgesteckten Rahmen die Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen den Betreibern der Eisenbahninfrastruktur einen Anreiz geben sollen, die Nutzung ihrer Fahrwege zu optimieren. Eine derartige Optimierung über die Entgeltregelung könnte ihnen aber nicht gelingen, wenn sich ihre Rolle darauf beschränken müsste, im Einzelfall den Betrag des Entgelts unter Rückgriff auf eine Formel zu berechnen, die im Vorhinein durch Ministerialerlass festgelegt wurde. Die Betreiber müssen somit über einen gewissen Spielraum bei der Festsetzung der Höhe der Entgelte verfügen (vgl. Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 44).

44      Die Italienische Republik macht insoweit geltend, der Minister kontrolliere den Vorschlag des Infrastrukturbetreibers nur auf seine Rechtmäßigkeit und habe daher keinen Einfluss auf dessen Unabhängigkeit. Wie jedoch die Kommission vorträgt, liegt dieser Praxis keine Rechtsvorschrift zugrunde, die ihr Unanfechtbarkeit verleihen könnte. Eine solche Praxis kann daher nicht als den Zielen der Richtlinie 2001/14 entsprechend angesehen werden.

45      Ferner nimmt nach dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 „[d]ie Berechnung des Wegeentgeltes und die Erhebung dieses Entgelts … der Betreiber der Infrastruktur vor“. Aus dem Wortlaut des Decreto legislativo Nr. 188/2003, insbesondere dessen Art. 17, ergibt sich jedoch eindeutig, dass die Festsetzung des Entgelts in Absprache mit dem Minister erfolgt und dessen Entscheidung den Betreiber binden kann.

46      Der Minister übt zwar, wie die Italienische Republik geltend macht, auf diesem Gebiet nur eine Rechtmäßigkeitskontrolle aus. Doch müsste entsprechend dem durch die Richtlinie 2001/14 eingeführten System eine solche Rechtmäßigkeitskontrolle der Regulierungsstelle, hier dem URSF, und nicht dem Minister obliegen. Folglich ist daraus, dass die Entscheidung des Ministers über die Festsetzung der Entgelte für den Zugang zur Infrastruktur den Infrastrukturbetreiber bindet, zu schließen, dass die italienischen Rechtsvorschriften dessen Unabhängigkeit nicht wahren können. Diese Rechtsvorschriften genügen daher insoweit nicht den Erfordernissen von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie.

47      Was schließlich Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 angeht, trifft es zwar zu, dass der Umstand, dass der Minister den Entgeltvorschlag des Infrastrukturbetreibers kontrollieren darf, das URSF nicht daran hindert, seinen Auftrag zu erfüllen und die damit verbundenen Kontrollen vorzunehmen. Doch reicht ein solches System für sich allein nicht aus, die Unabhängigkeit des Betreibers, wie sie vom Unionsgesetzgeber gewollt ist, herzustellen.

48      Nach alledem ist die Rüge der Kommission betreffend die Erhebung von Entgelten für den Zugang zur Infrastruktur begründet.

 Zur Rüge betreffend die Unabhängigkeit der Regulierungsstelle

 Vorbringen der Parteien

49      Die Kommission ist der Auffassung, dass die erforderliche vollständige Unabhängigkeit der Regulierungsstelle von allen Eisenbahnunternehmen durch die italienischen Rechtsvorschriften nicht sichergestellt sei, da sich das Personal der Regulierungsstelle aus Beamten des Ministeriums zusammensetze und dieses weiterhin entscheidenden Einfluss auf die Holding FS, zu der das führende italienische Eisenbahnunternehmen, nämlich Trenitalia, gehöre, und daher auch auf Letzteres ausübe.

50      Das URSF, d. h. die Regulierungsstelle, sei Teil des Ministeriums. Zudem gehöre das führende Eisenbahnunternehmen auf dem italienischen Markt, nämlich Trenitalia, nicht nur zu derselben Unternehmensgruppe wie der Infrastrukturbetreiber, sondern sei auch ein Unternehmen, das im Staatseigentum stehe und auf das das Ministerium, auch wenn es keine Aktionärsrechte mehr ausübe, trotz allem bestimmenden Einfluss habe.

51      So setze sich das Personal der Regulierungsstelle aus Beamten des Ministeriums zusammen, die weiterhin bestimmenden Einfluss auf die Holding FS sowie Trenitalia ausübten, und sei vollständig in die Hierarchie des Ministeriums integriert. Zudem sei das Ministerium, weil es das Wirtschaftsministerium bei der Wahrnehmung seiner Funktionen als Aktionär der Holding FS zu unterstützen habe, weiterhin an einer positiven Entwicklung dieser Holding interessiert.

52      Aus dieser Situation ergebe sich ein Interessenkonflikt für die Beamten des Ministeriums, die in der Struktur der Regulierungsstelle tätig seien und deswegen verpflichtet seien, den Wettbewerbern des öffentlichen Eisenbahnunternehmens eine nichtdiskriminierende Behandlung zu garantieren. Sie sähen sich nämlich bei ihrer Kontrolltätigkeit veranlasst, die Geschäftsinteressen des Unternehmens zu berücksichtigen.

53      Die Kommission führt aus, sie wolle nicht behaupten, dass die Richtlinie 2001/14 es keinesfalls zulasse, dass die Regulierungsstelle Teil eines Ministeriums sei. Jedoch dürfe durch diese Möglichkeit ‒ insbesondere bei Entscheidungen ‒ die Bedingung der Unabhängigkeit von den Eisenbahnunternehmen, die Adressaten der Maßnahmen der Regulierungsstelle seien, nicht beeinträchtigt werden. Die in Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, dass die Regulierungsstelle Teil eines Ministeriums sei, dürfe nicht isoliert vom übrigen Inhalt der Bestimmung, insbesondere von dem darin vorgesehenen Unabhängigkeitserfordernis, betrachtet werden. Folglich müsse eine solche Möglichkeit ausgeschlossen sein, wenn durch die Eingliederung der Regulierungsstelle in ein Ministerium ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt werde.

54      Hilfsweise macht die Kommission zu den weiteren von der Italienischen Republik vorgetragenen Garantien für die Unabhängigkeit des URSF zunächst geltend, dass ihr Vorbringen nicht die Zuständigkeit des Ministerrats, sondern die Beziehungen innerhalb eines Ministeriums, nämlich des Ministeriums für Infrastruktur und Verkehr, betreffe. Ferner trägt sie zu den Befugnissen der Leitung des URSF vor, diese unterstehe dem Minister, der hinsichtlich der Ernennung, der verfügbaren Mittel und der etwaigen Auflösung der Verträge des Leitungspersonals einen Entscheidungsspielraum behalte.

55      Insoweit nimmt die Kommission zur Kenntnis, dass Art. 37 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 nach Einreichung ihrer Klageschrift mit Wirkung vom 6. Juli 2011 geändert worden sei. Abgesehen von der Frage der Maßgeblichkeit dieser Änderung, die für das vorliegende Verfahren verspätet sei, bleibe ihr tatsächlicher Einfluss auf einen etwaigen Wegfall der Zuwiderhandlung noch zu klären.

56      Zudem halte sie die Ausführungen in der Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme nicht für überzeugend, aus denen nicht hervorgehe, dass das Ministerium, insbesondere was die Auflösung von Verträgen mit dem Leitungspersonal des URSF angehe, über keinen Entscheidungsspielraum verfügt habe. In der Antwort vom 23. Dezember 2009 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 8. Oktober 2009 werde lediglich angegeben, dass das URSF nicht Teil der Abteilungsstruktur des Ministeriums sei und damit außerhalb der Kontrolle des Leiters der Abteilung stehe, zu der die Direktion Eisenbahnverkehr gehöre. In der ergänzenden Antwort vom 26. April 2010 auf diese Stellungnahme werde auf die Frage nicht mehr eingegangen. Diese Gesichtspunkte entkräfteten nicht die These der Kommission, dass sich das Personal des URSF aus Beamten des Ministeriums zusammensetze, die dem Minister unterstünden, der den Aktionär der Holding FS zu unterstützen habe.

57      Schließlich verlange Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14, dass die Regulierungsstelle in ihrem Handeln nicht nur von den Eisenbahnunternehmen, sondern auch von den die Entgelte für die Nutzung der Infrastruktur erhebenden Stellen völlig unabhängig sei. Was das betreffe, werde das Entgelt für den Zugang zur Infrastruktur vom Minister festgesetzt, dem das URSF voll unterstehe. Deshalb sei diese Regulierungsstelle weder in ihrer Entscheidungsfindung noch organisatorisch, rechtlich oder finanziell unabhängig, da eine einzige Einheit, nämlich das Ministerium, gleichzeitig mit der Festsetzung der Entgelte und – als Regulierungsstelle – deren Kontrolle betraut sei.

58      Die Italienische Republik weist darauf hin, dass die Richtlinie 2001/14 es nicht ausschließe, dass eine Regulierungsstelle Teil eines Ministeriums sei, soweit dieses nicht an der Ausübung der Aktionärsrechte gegenüber der Holding FS beteiligt sei. Das Decreto-legge Nr. 98/2011 habe eine Situation geschaffen, in der Entscheidungsautonomie gegenüber dem Ministerium bestehe, und garantiere dem URSF eine Stellung, in der es rechtlich völlig eigenständig über die ihm gesetzlich zugewiesenen Mittel verfügen könne.

59      Hinsichtlich der Frage der Unabhängigkeit des URSF vom Ministerium hätten die Zweifel der Kommission durch das Decreto-legge Nr. 98/2011, das seit dem 6. Juli 2011 in Kraft sei, zerstreut werden können, da damit das URSF dem Einfluss des Ministeriums entzogen worden sei, insbesondere dadurch, dass seinem Leiter eine außerhalb von dessen Hierarchie angesiedelte Stellung eingeräumt worden sei. Im Übrigen habe auch die Regelung, die bei Klageerhebung gegolten habe, nicht gegen Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 verstoßen.

60      Ferner verweist die Italienische Republik in ihrer Gegenerwiderung auch auf die Legge n. 27 relativa alla conversione in legge, con modificazioni, del decreto legge 24 gennaio 2012, n. 1, recante disposizioni urgenti per la concorrenza, lo sviluppo delle infrastrutture e la competitività (Gesetz Nr. 27 zur Umwandlung und Änderung des Decreto-legge Nr. 1 vom 24. Januar 2012 mit Dringlichkeitsvorschriften betreffend den Wettbewerb, die Entwicklung der Infrastruktur und die Wettbewerbsfähigkeit) vom 24. März 2012 (Supplemento ordinario zu GURI Nr. 71 vom 24. März 2012), in deren Art. 36 die Schaffung der Autorità di regolazione dei trasporti (Regulierungsbehörde für das Verkehrswesen) vorgesehen sei, die das URSF ersetze und dessen Aufgaben wahrnehme. Die Schaffung dieser neuen Behörde beruhe nicht auf dem Umstand, dass das URSF etwa als nicht eigenständig genug angesehen worden wäre, sondern auf der Entscheidung des italienischen Gesetzgebers, im Kontext einer umfassenden Maßnahme zur Sicherstellung der Liberalisierung der Märkte eine einzige eigenständige Person mit der Kontrolle für sämtliche Verkehrsarten und nicht mehr nur für den Eisenbahnverkehr zu betrauen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

61      Mit ihrer Rüge betreffend die Unabhängigkeit der Regulierungsstelle erhebt die Kommission den Vorwurf, dass die italienischen Rechtsvorschriften gegen Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 verstießen, da das URSF, weil es aus Beamten des Ministeriums zusammengesetzt sei, nicht als unabhängig betrachtet werden könne, zumal dieses Ministerium weiter Einfluss auf die Holding FS habe, der das führende italienische Eisenbahnunternehmen, nämlich die Trenitalia, gehöre.

62      Insoweit ist anzuerkennen, dass die italienischen Stellen mit einer Reihe von gesetzgeberischen Maßnahmen den Status der Regulierungsstelle unmittelbar verändert und deren Eigenständigkeit mit jeder dieser Maßnahmen in organisatorischer Hinsicht und in der Rechnungsführung neu definiert haben. Dies gilt für das Decreto-legge Nr. 98/2011 und noch mehr für das Gesetz Nr. 27 vom 24. März 2012 über die Schaffung einer neuen Regulierungsbehörde für das Verkehrswesen.

63      Nach ständiger Rechtsprechung ist jedoch das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; später eingetretene Veränderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteile vom 11. Oktober 2001, Kommission/Österreich, C‑110/00, Slg. 2001, I‑7545, Randnr. 13, und vom 9. Juni 2011, Kommission/Frankreich, C‑383/09, Slg. I‑4869, Randnr. 22).

64      Zum Vorbringen betreffend die Vereinbarkeit der italienischen Rechtsvorschriften, wie sie bei Einreichung der Klageschrift galten, mit Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 genügt der Hinweis, dass nach dieser Bestimmung das Ministerium für Verkehr die Regulierungsstelle sein kann. Folglich kann die Kommission aus dem alleinigen Umstand, dass das URSF Teil dieses Ministeriums ist, noch nicht auf seine fehlende Unabhängigkeit schließen.

65      Zwar befinden sich, wie die Kommission zutreffend vorträgt, die Beamten des Ministeriums in einer schwierigen Lage, da sie in der Regulierungsstelle arbeiten, hierarchisch aber dem Ministerium unterstehen. Die Kommission macht auch zu Recht geltend, dass Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 die Unabhängigkeit der Regulierungsstelle sicherstellen soll und dass dieses Ziel der etwaigen Zugehörigkeit dieser Stelle zu einem Ministerium vorgeht.

66      Art. 37 des Decreto legislativo Nr. 188/2003 bestimmte in seiner Fassung vor dem Decreto-legge Nr. 98/2011: „Der mit den Aufgaben der Regulierungsstelle betrauten Dienststelle des Ministeriums werden im Rahmen der in ihrem Haushaltsvoranschlag vorgesehenen Mittel die für die Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen personellen, finanziellen und materiellen Mittel zugewiesen.“ Nach Auffassung der Kommission ist ein solcher Wortlaut jedoch nicht geeignet, sicherzustellen, dass die Regulierungsstelle völlig unabhängig handeln kann, da ihre Finanzmittel vom Haushalt des Ministeriums abhängen.

67      Hierzu ist festzustellen, dass sämtliche Argumente, auf die die Kommission ihre dritte Rüge stützt, allgemeiner Natur sind und im Wesentlichen darauf abheben, dass das URSF eine Einheit ist, die Teil des Ministeriums ist, obwohl die Richtlinie 2001/14 eine solche Zugehörigkeit nicht untersagt. Im Übrigen stützt die Kommission ihre Rüge auf kein weiteres substantiiertes Vorbringen.

68      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, obliegt es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV der Kommission, das Vorliegen der gerügten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie muss somit dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, anhand deren er das Vorliegen der Vertragsverletzung prüfen kann, ohne dass sie sich dabei auf irgendwelche Vermutungen stützen kann (vgl. u. a. Urteile vom 26. April 2005, Kommission/Irland, C‑494/01, Slg. 2005, I‑3331, Randnr. 41, vom 6. Oktober 2009, Kommission/Finnland, C‑335/07, Slg. 2009, I‑9459, Randnr. 46, und vom 28. Februar 2013, Kommission/Deutschland, C‑556/10, Randnr. 66).

69      Die von der Kommission erhobene Rüge eines Verstoßes gegen Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 kann somit keinen Erfolg haben.

70      Folglich ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch, dass sie die Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers bei der Festsetzung von Entgelten für den Zugang zur Infrastruktur und der Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn nicht sichergestellt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 verstoßen hat, und die Klage im Übrigen zurückzuweisen.

 Kosten

71      Für den Fall, dass jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, bestimmt Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt. Art. 141 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht im Übrigen vor, dass eine Partei, wenn sie die Klage oder einen Antrag zurücknimmt, zur Tragung der Kosten verurteilt wird, sofern die Gegenpartei dies in ihrer Stellungnahme zu der Rücknahme beantragt.

72      Im vorliegenden Fall hat die Kommission die erste zur Stützung ihrer Klage geltend gemachte Rüge fallen lassen, die die fehlende Unabhängigkeit der Stelle, die die wesentlichen Funktionen im Sinne von Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 ausübt, betrifft.

73      Da jedoch die Kommission und die Italienische Republik im Übrigen jeweils teils obsiegt haben, teils unterlegen sind, sind ihnen jeweils ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

74      Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, ist zu entscheiden, dass die Tschechische Republik ihre eigenen Kosten trägt.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Italienische Republik hat dadurch, dass sie die Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers bei der Festsetzung von Entgelten für den Zugang zur Infrastruktur und der Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn nicht sichergestellt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 geänderten Fassung verstoßen.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Die Europäische Kommission, die Italienische Republik und die Tschechische Republik tragen ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.