Language of document : ECLI:EU:C:2012:527

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 6. September 2012(1)

Rechtssache C‑555/10

Europäische Kommission

gegen

Republik Österreich

„Vertragsverletzungsklage – Richtlinie 91/440/EWG – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Richtlinie 2001/14/EG – Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn – Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 – Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 – Infrastrukturbetreiber – Unabhängigkeit in organisatorischer Hinsicht und in den Entscheidungen – Holdingstruktur“






I –    Einleitung

1.        Mit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Österreich gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440/EWG(2) in der durch die Richtlinie 2001/12/EG(3) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/440) sowie aus Art. 4 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14/EG(4) in der durch die Richtlinie 2004/49/EG(5) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/14) verstoßen hat. Die Republik Österreich beantragt, die Klage der Kommission abzuweisen.

2.        Die vorliegende Rechtssache gehört zu einer Reihe von Vertragsverletzungsklagen(6) der Kommission aus den Jahren 2010 und 2011, die die Anwendung der Richtlinien 91/440 und 2001/14 durch die Mitgliedstaaten betreffen, deren Hauptziel ein gerechter und nichtdiskriminierender Zugang der Eisenbahnunternehmen zur Infrastruktur, d. h. zum Schienennetz, ist. Diese Klagen sind neuartig, weil sie dem Gerichtshof erstmals Gelegenheit geben, sich zur Liberalisierung der Eisenbahnen in der Europäischen Union zu äußern und insbesondere das sogenannte „erste Eisenbahnpaket“ auszulegen.

3.        Der die erforderliche Unabhängigkeit bei der Ausübung der wesentlichen Funktionen betreffende einzige Klagegrund in dieser Rechtssache scheint mir in Bezug auf das Unionsrecht mutatis mutandis die gleichen Rechtsprobleme aufzuwerfen wie die erste Rüge in der Rechtssache Kommission/Deutschland (C‑556/10), denn beide Mitgliedstaaten haben sich für das Holdingmodell entschieden, bei dem die wesentlichen Funktionen des Betreibers der Infrastruktur einer gesonderten Gesellschaft innerhalb eines Konzerns übertragen wurden, dem auch die Eisenbahnunternehmen angehören. Aus diesem Grund gilt die in meinen Schlussanträgen in der vorliegenden Rechtssache vorgetragene rechtliche Argumentation auch im Rahmen der Rechtssache Kommission/Deutschland, trotz einiger Unterschiede der nationalen Regelungen.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 91/440 lautet:

„Die künftige Entwicklung und eine wirtschaftliche Nutzung des Eisenbahnnetzes können durch eine Trennung zwischen der Erbringung der Verkehrsleistungen und dem Betrieb der Eisenbahninfrastruktur erleichtert werden. Dies setzt voraus, dass beide Bereiche in jedem Fall ein getrenntes Rechnungswesen erhalten und getrennt verwaltet werden.“

5.        Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 91/440 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass getrennte Gewinn- und Verlustrechnungen und Bilanzen für die Erbringung von Verkehrsleistungen durch Eisenbahnunternehmen einerseits und für den Betrieb der Infrastruktur andererseits erstellt und veröffentlicht werden. Öffentliche Gelder zugunsten eines dieser beiden Tätigkeitsbereiche dürfen nicht auf den anderen übertragen werden.

Dieses Verbot muss auch in der Rechnungsführung der beiden Bereiche zum Ausdruck kommen.

(2)      Die Mitgliedstaaten können ferner vorsehen, dass diese beiden Tätigkeiten in organisch voneinander getrennten Unternehmensbereichen innerhalb desselben Unternehmens ausgeübt werden oder dass eine getrennte Einrichtung den Betrieb der Infrastruktur übernimmt.

(3)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Funktionen nach Anhang II, die für einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur ausschlaggebend sind, an Stellen oder Unternehmen übertragen werden, die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. Ungeachtet der Organisationsstrukturen ist der Nachweis zu erbringen, dass dieses Ziel erreicht worden ist.

Die Mitgliedstaaten können jedoch Eisenbahnunternehmen oder jeder anderen Stelle die Erhebung von Entgelten und die Verantwortung für die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur übertragen, wozu Investitionen, Wartung und Finanzierung gehören.“

6.        Anhang II der Richtlinie 91/440 enthält ein Verzeichnis der wesentlichen Funktionen nach Art. 6 Abs. 3:

„–      Vorarbeiten und Entscheidungen über die Zulassung von Eisenbahnunternehmen, einschließlich der Gewährung einzelner Genehmigungen;

–        Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen;

–        Entscheidungen über die Wegeentgelte;

–        Überwachung der Einhaltung von Verpflichtungen zur Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen für die Allgemeinheit“.

7.        Die Erwägungsgründe 11 und 16 der Richtlinie 2001/14 lauten:

„(11)      Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden und so weit wie möglich angestrebt werden, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und in nichtdiskriminierender Weise zu entsprechen.

(16)      Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollten einen fairen Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen ermöglichen.“

8.        Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 bestimmt:

„Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in diesem Kapitel dargelegten Aufgaben – außer der Erhebung von Entgelten – von einer entgelterhebenden Stelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.“

9.        Art. 14 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/14 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können eine Rahmenregelung für die Zuweisung von Fahrwegkapazität schaffen, sofern dabei die Unabhängigkeit der Geschäftsführung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 91/440/EWG gewahrt wird. Es werden spezifische Regeln für die Zuweisung von Fahrwegkapazität festgelegt. Der Betreiber der Infrastruktur führt die Verfahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazität durch. Insbesondere gewährleistet der Betreiber der Infrastruktur, dass die Fahrwegkapazität auf gerechte und nichtdiskriminierende Weise unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zugewiesen wird.

(2)      Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in Absatz 1 genannten und in diesem Kapitel im Weiteren dargelegten Aufgaben von einer Zuweisungsstelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.“

B –    Nationales Recht

10.      Der zweite Teil („ÖBB-Holding AG“) des Bundesbahngesetzes(7) enthält die §§ 2 bis 4.

11.      § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Gründung und Errichtung

Der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie hat eine Kapitalgesellschaft in Form einer Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital in der Höhe von 1,9 Milliarden Euro, dem Firmenwortlaut ‚Österreichische Bundesbahnen-Holding Aktiengesellschaft‘, im Folgenden als ÖBB-Holding AG bezeichnet, und dem Sitz in Wien zu gründen und zu errichten, deren Anteile dem Bund zu 100 vH vorbehalten sind. Eine Gründungsprüfung entfällt.“

12.      In § 3 des Gesetzes heißt es:

„Verwaltung der Anteilsrechte

Die Verwaltung der Anteilsrechte namens des Bundes obliegt dem Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie.“

13.      § 4 des Gesetzes sieht vor:

„(1)      Unternehmensgegenstand der ÖBB-Holding AG ist die Wahrnehmung ihrer Anteilsrechte an den Gesellschaften, an denen sie unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist, mit der Zielsetzung einer strategischen Ausrichtung.

(2)      Wesentliche Aufgaben der Gesellschaft sind:

1.      die Gesamtkoordination der Erstellung und Umsetzung der Unternehmensstrategien der Gesellschaften;

2.      die Sicherstellung der Transparenz der eingesetzten öffentlichen Mittel.

(3)      Die ÖBB-Holding AG kann überdies sämtliche Maßnahmen setzen, die im Hinblick auf den ihr übertragenen Unternehmensgegenstand und ihre wesentlichen Aufgaben notwendig oder zweckmäßig sind. Dazu gehören im Personalwesen insbesondere strategische Maßnahmen für den Personalausgleich zwischen den Gesellschaften.“

14.      Der dritte Teil des Bundesbahngesetzes trägt die Überschrift „Umstrukturierung der Österreichischen Bundesbahnen“.

15.      § 25 Bundesbahngesetz bestimmt:

„Zur Durchführung der Umstrukturierung der Österreichischen Bundesbahnen hat die ÖBB-Holding AG bis spätestens 31. Mai 2004 eine Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital in der Höhe von 70 000 Euro, dem Firmenwortlaut ‚ÖBB-Infrastruktur Betrieb Aktiengesellschaft‘, im Folgenden als ÖBB-Infrastruktur Betrieb AG bezeichnet, und dem Sitz in Wien zu gründen und zu errichten.“

16.      § 62 des Eisenbahngesetzes(8) lautet:

„Zuweisungsstelle

(1)      Zuweisungsstelle ist das Eisenbahninfrastrukturunternehmen.

(2)      Ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen, das rechtlich, organisatorisch und in seinen Entscheidungen von Eisenbahnverkehrsunternehmen unabhängig ist, kann die mit der Funktion als Zuweisungsstelle verbundenen Aufgaben ganz oder teilweise aber auch an die Schieneninfrastruktur-Dienstleistungsgesellschaft mbH oder an ein anderes geeignetes Unternehmen bzw. an eine andere geeignete Stelle mit schriftlichem Vertrag übertragen.

(3)      Die Wahrnehmung der mit der Funktion einer Zuweisungsstelle verbundenen Aufgaben durch ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen, das rechtlich, organisatorisch und in seinen Entscheidungen von Eisenbahnverkehrsunternehmen nicht unabhängig ist, ist jedoch unzulässig. Ein solches Eisenbahninfrastrukturunternehmen hat sämtliche mit der Funktion einer Zuweisungsstelle verbundenen Aufgaben entweder an die Schieneninfrastruktur-Dienstleistungsgesellschaft mbH oder an ein anderes geeignetes Unternehmen bzw. eine andere geeignete Stelle, an die beiden Letztgenannten aber nur dann, wenn diese rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnverkehrsunternehmen unabhängig sind, mit schriftlichem Vertrag zu übertragen, die sodann diese Aufgaben als Zuweisungsstelle an Stelle des Eisenbahninfrastrukturunternehmens eigenverantwortlich wahrzunehmen haben; der Vertrag darf keine Regelung enthalten, die eine gesetzeskonforme Ausübung der mit der Funktion einer Zuweisungsstelle verbundenen Aufgaben beeinträchtigen oder unmöglich machen würde.

(4)      Eisenbahninfrastrukturunternehmen haben der Schienen-Control GmbH das Unternehmen bekannt zu geben, an das sie die mit der Funktion einer Zuweisungsstelle verbundenen Aufgaben ganz oder teilweise vertraglich übertragen haben.“

17.      § 74 Eisenbahngesetz bestimmt:

„Wettbewerbsaufsicht

(1)      Die Schienen-Control Kommission hat von Amts wegen

1.      einer Zuweisungsstelle hinsichtlich des Zuganges zur Schieneninfrastruktur einschließlich sämtlicher damit verbundener Bedingungen im Hinblick auf die administrativen, technischen und finanziellen Modalitäten wie etwa das Benützungsentgelt und hinsichtlich der Zurverfügungstellung sonstiger Leistungen einschließlich sämtlicher damit verbundener Bedingungen im Hinblick auf die administrativen, technischen und finanziellen Modalitäten wie etwa angemessener Kostenersatz und branchenübliches Entgelt ein nichtdiskriminierendes Verhalten aufzuerlegen oder das diskriminierende Verhalten zu untersagen oder

2.      einem Eisenbahnverkehrsunternehmen hinsichtlich der Zurverfügungstellung von Serviceleistungen und der Zusatzleistung Durchführung von Verschubbetrieb einschließlich sämtlicher damit verbundener Bedingungen im Hinblick auf die administrativen, technischen und finanziellen Modalitäten wie etwa angemessener Kostenersatz und branchenübliches Entgelt ein nichtdiskriminierendes Verhalten aufzuerlegen oder das diskriminierende Verhalten zu untersagen oder

3.      diskriminierende Schienennetz-Nutzungsbedingungen, diskriminierende allgemeine Geschäftsbedingungen, diskriminierende Verträge oder diskriminierende Urkunden ganz oder teilweise für unwirksam zu erklären.

(2)      Die Zuständigkeiten des Kartellgerichtes bleiben unberührt.“

18.      § 70 des Aktiengesetzes(9) bestimmt:

„Leitung der Aktiengesellschaft

(1)      Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Unternehmens unter Berücksichtigung der Interessen der Aktionäre und der Arbeitnehmer sowie des öffentlichen Interesses es erfordert.

(2)      Der Vorstand kann aus einer oder mehreren Personen bestehen. Ist ein Vorstandsmitglied zum Vorsitzenden des Vorstands ernannt, so gibt, wenn die Satzung nichts anderes bestimmt, seine Stimme bei Stimmengleichheit den Ausschlag.“

19.      § 75 Aktiengesetz bestimmt:

„Bestellung und Abberufung des Vorstands

(1)      Vorstandsmitglieder bestellt der Aufsichtsrat auf höchstens fünf Jahre. Wenn die Bestellung eines Vorstandsmitglieds auf eine bestimmte längere Zeit, auf unbestimmte Zeit oder ohne Zeitangabe erfolgt, ist sie fünf Jahre wirksam. Eine wiederholte Bestellung ist zulässig; sie bedarf jedoch zu ihrer Wirksamkeit der schriftlichen Bestätigung durch den Vorsitzenden des Aufsichtsrats. Diese Vorschriften gelten sinngemäß für den Anstellungsvertrag.

(2)      Eine juristische Person oder eine Personengesellschaft (offene Gesellschaft, Kommanditgesellschaft) kann nicht zum Vorstandsmitglied bestellt werden.

(3)      Werden mehrere Personen zu Vorstandsmitgliedern bestellt, so kann der Aufsichtsrat ein Mitglied zum Vorsitzenden des Vorstands ernennen.

(4)      Der Aufsichtsrat kann die Bestellung zum Vorstandsmitglied und die Ernennung zum Vorsitzenden des Vorstands widerrufen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Ein solcher Grund ist namentlich grobe Pflichtverletzung, Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung oder Entziehung des Vertrauens durch die Hauptversammlung, es sei denn, dass das Vertrauen aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen worden ist. Dies gilt auch für den vom ersten Aufsichtsrat bestellten Vorstand. Der Widerruf ist wirksam, solange nicht über seine Unwirksamkeit rechtskräftig entschieden ist. Ansprüche aus dem Anstellungsvertrag werden hierdurch nicht berührt.“

20.      § 3 Abs. 4 der Satzung der ÖBB-Infrastruktur AG in ihrer Fassung vom 30. Juni 2010 lautet:

„Die Verfolgung dieses Unternehmensgegenstandes liegt auch im gemeinsamen Interesse jener Gesellschaften, an denen die Österreichische Bundesbahnen-Holding Aktiengesellschaft direkt oder indirekt mehrheitlich beteiligt ist, und ist – soweit dadurch nicht die europarechtlich und im Eisenbahngesetz vorgesehene rechtliche, organisatorische und in der Entscheidung erforderliche Unabhängigkeit der ÖBB-Infrastruktur Aktiengesellschaft von Eisenbahnverkehrsunternehmen (insbesondere in Bezug auf die Trassenzuweisung, Trassenentgeltfestsetzung, Erteilung von Sicherheitsbescheinigungen und Festlegung von Betriebsvorschriften) beeinträchtigt wird – unter Wahrung der gesamtstrategischen Ziele umzusetzen.“

III – Vorgerichtliches Verfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

21.      Im Mai 2007 legte die Kommission den österreichischen Behörden einen Fragebogen vor, um die Umsetzung der Richtlinien des ersten Eisenbahnpakets durch die Republik Österreich zu überprüfen. Diese antwortete darauf mit Schreiben vom 2. August 2007.

22.      Mit Schreiben vom 27. Juni 2008 forderte die Kommission die Republik Österreich auf, den Richtlinien 91/440, 95/18 und 2001/14 nachzukommen. Die Republik Österreich antwortete auf diese Aufforderung mit Schreiben vom 30. September 2008.

23.      Mit Schreiben vom 8. Oktober 2009 richtete die Kommission an die Republik Österreich eine mit Gründen versehene Stellungnahme, worin sie feststellte, dass dieser Staat seinen Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 in geänderter Fassung sowie aus Art. 4 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 nicht nachgekommen sei. Die Kommission forderte den Mitgliedstaat auf, innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der mit Gründen versehenen Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um ihr nachzukommen. Mit Schreiben vom 9. Dezember 2009 antwortete die Republik Österreich auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und bestritt die ihr von der Kommission vorgeworfene Vertragsverletzung.

24.      Da die Antwort der Republik Österreich die Kommission nicht zufriedenstellte, beschloss sie, die vorliegende Klage zu erheben, die am 26. November 2010 beim Gerichtshof eingegangen ist.

25.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Mai 2011 ist die Italienische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Republik Österreich zugelassen worden.

26.      Die Kommission, die Republik Österreich und die Italienische Republik waren in der mündlichen Verhandlung am 23. Mai 2012 vertreten.

IV – Klagegründe und Vorbringen der Beteiligten

27.      Die Kommission vertritt die Auffassung, die mit der Ausübung der wesentlichen Funktionen nach Anhang II der Richtlinie 91/440 betraute Einrichtung müsse wirtschaftlich – und nicht nur rechtlich – von dem die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringenden Unternehmen unabhängig sein.

28.      Obwohl Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 nicht ausdrücklich verlange, dass die mit der Ausübung der wesentlichen Funktionen betraute Einrichtung von den die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringenden Gesellschaften „unabhängig“ sei, müsse der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Unternehmen“ gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs gleichwohl dahin ausgelegt werden, dass er alle Einrichtungen umfasse, die, selbst wenn sie rechtlich getrennt seien, als „wirtschaftliche Einheit“ handelten.

29.      Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 sei dahin auszulegen, dass die vom Betreiber der Infrastruktur ausgeübten wesentlichen Funktionen durch eine von den Eisenbahnunternehmen nicht nur rechtlich gesonderte, sondern auch organisatorisch und in ihren Entscheidungen unabhängige Einrichtung wahrgenommen werden müssten.

30.      Würden wesentliche Funktionen von einer Gesellschaft ausgeübt, die – wie im Fall der ÖBB-Infrastruktur AG – von einer Eisenbahnholding abhängig sei, so müsse geprüft werden, inwieweit und unter welchen Bedingungen die abhängige Gesellschaft, die auch der mit diesen wesentlichen Funktionen betraute Infrastrukturbetreiber sei, trotz ihrer Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe als vom Eisenbahnverkehrsleistungen erbringenden Unternehmen (d. h. der Holding und den von ihr abhängigen Gesellschaften, die Personen- und Güterverkehrsdienste erbrächten) „unabhängig“ angesehen werden könne.

31.      Die Republik Österreich habe aber keine wirkungsvollen Mechanismen vorgesehen, um sicherzustellen, dass der Infrastrukturbetreiber ÖBB-Infrastruktur AG organisatorisch und in seinen Entscheidungen unabhängig sei. Somit habe dieser Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 sowie aus Art. 4 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 verstoßen.

32.      Hierzu macht die Kommission erstens geltend, die Erfüllung der Unabhängigkeitsanforderungen müsse von einer unabhängigen Behörde, etwa der Eisenbahn-Regulierungsbehörde, oder einem Dritten überwacht werden. Wettbewerbern sollte bei Verstößen gegen das Unabhängigkeitsgebot eine Beschwerdemöglichkeit offenstehen. Beides sei in Österreich nicht der Fall.

33.      Zweitens sollte es gesetzliche oder zumindest vertragliche Regelungen für die Unabhängigkeit in der Beziehung zwischen der Holding und der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle sowie zwischen dieser und anderen Eisenbahnverkehrsdienste erbringenden Unternehmen des Konzerns oder anderen von der Holding kontrollierten Einrichtungen, insbesondere der Versammlung der Anteilseigner der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle, geben.

34.      Dass § 3 der Satzung und § 10 Abs. 3 der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat der ÖBB-Infrastruktur AG bestimmten, dass der Vorstand dieser Gesellschaft bei der Ausübung der wesentlichen Funktionen keinen Weisungen seitens des Aufsichtsrats oder der ÖBB-Holding unterliege, reiche nicht aus, um mögliche Interessenkonflikte des Leitungspersonals des Infrastrukturbetreibers im Verhältnis zur Holding auszuschließen, da Manager, die von der Holding ernannt und entlassen werden könnten, dem Druck ausgesetzt seien, keine Entscheidungen zulasten der wirtschaftlichen Interessen ihrer Holding zu treffen.

35.      Drittens sollten die Vorstandsmitglieder der Holding und anderer Unternehmen der Holding nicht dem Vorstand der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle angehören.

36.      Es lasse sich nämlich nur schwer argumentieren, dass der Vorstand der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle in seinen Entscheidungen vom Vorstand der Holding unabhängig sei, wenn beiden Vorständen jeweils dieselben Personen angehörten. Es bestehe keine gesetzliche Schranke zur Verhinderung dieser Situation.

37.      Viertens gebe es keine Bestimmung, nach der Mitglieder des Leitungsgremiums der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle und die mit solchen Funktionen betrauten Führungskräfte nach Aufgabe ihrer Tätigkeit für die betreffende Stelle während einer angemessenen Zahl von Jahren keine Führungsposition in der Holding oder in anderen von der Holding kontrollierten Einrichtungen bekleiden dürften. Insoweit schaffe der von Österreich ins Treffen geführte Art. 15 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zwar ein Grundrecht der Berufsfreiheit und des Rechts zu arbeiten, doch stehe er unter dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 52 der Charta. Eine angemessene Beschränkung der Berufsausübung sei daher gerechtfertigt.

38.      Fünftens müsse die Ernennung des Leitungsgremiums der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle unter klar definierten Bedingungen erfolgen und mit entsprechenden rechtlichen Verpflichtungen verbunden werden, damit die völlige Unabhängigkeit der Beschlussfassung sichergestellt sei. Ernennung und Abberufung sollten unter Aufsicht einer unabhängigen Behörde erfolgen.

39.      Schließlich seien die Vorkehrungen zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der ÖBB-Infrastruktur AG von der ÖBB-Holding AG nicht ausreichend.

40.      Die österreichische Regierung macht geltend, bei der Umsetzung gehe es nicht um eine „wirtschaftliche Unabhängigkeit“ des Infrastrukturbetreibers von den Eisenbahnverkehrsunternehmen, sondern um die Vorschriften des ersten Eisenbahnpakets, die zum einen zielorientiert – Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 – und zum anderen funktionsorientiert – Art. 4 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 – seien. Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 gebe lediglich die Erreichung eines Ziels vor, nämlich die Übertragung der wesentlichen Funktionen an unabhängige Stellen oder Unternehmen, und Art. 4 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 gäben die Art und Weise der Erfüllung dieser Funktionen vor, nämlich durch eine rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängige Stelle.

41.      Somit komme es nach den Vorschriften des ersten Eisenbahnpakets nicht darauf an, ob die ÖBB-Infrastruktur AG als „Stelle“ im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 „wirtschaftlich“ unabhängig sei.

42.      Die in Anhang 5 des Arbeitspapiers SEK(2006) 530 der Kommissionsdienststellen(10) aufgestellten Kriterien zur Prüfung der Unabhängigkeit deckten sich nicht mit den im vorliegenden Fall relevanten verbindlichen Bestimmungen in Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 sowie in Art. 4 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14. Zudem sei dieses Papier nicht im Amtsblatt der Europäischen Union kundgemacht worden und stelle keinen verbindlichen Rechtsakt dar. Somit könne es im vorliegenden Verfahren nicht herangezogen werden.

43.      Was die Kontrolle durch eine unabhängige Stelle angehe, werde durch die Errichtung der Schienen-Control GmbH und der Schienen-Control Kommission dafür gesorgt, dass die Wahrung der Unabhängigkeitsanforderungen zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen überwacht werden könne. Außerdem könne von einer weisungsfreien Regulierungsbehörde, nämlich der Schienen-Control Kommission, sowohl von Amts wegen als auch im Beschwerdefall eine Rechtsverfolgung eingeleitet werden. Somit würden die Unabhängigkeitsanforderungen durch eine unabhängige Behörde überwacht.

44.      In Bezug auf das Bestehen gesetzlicher oder zumindest vertraglicher Bestimmungen zwischen der Holding und den verschiedenen Stellen seien die entsprechenden Verpflichtungen aus den Richtlinienbestimmungen, wie die Kriterien von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 zum Trassenmanagement und von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440, durch § 62 Abs. 3 Eisenbahngesetz in vollem Umfang umgesetzt worden.

45.      Der gebotenen Trennung der Bereiche „Infrastruktur“ und „Verkehrsleistungen“ innerhalb des ÖBB-Konzerns werde Rechnung getragen, da erstens die ÖBB-Infrastruktur AG von einem weisungsfreien Vorstand geführt werde und zweitens die Vorstandsmitglieder für eine Funktionsperiode von vier bis fünf Jahren bestellt würden und nur in sachlich begründeten Ausnahmefällen vorzeitig abberufen werden könnten. Drittens werde nicht nur eine unmittelbare, sondern auch eine mittelbare Einflussnahme auf den Vorstand durch die zusätzliche Regelung in der Satzung sowie in der Geschäftsordnung für den Aufsichtsrat und den Vorstand der ÖBB-Infrastruktur AG ausgeschlossen, wonach sämtliche dem Aufsichtsrat zukommenden Zustimmungsrechte nicht gälten, wenn dadurch die unionsrechtlich und durch das österreichische Eisenbahngesetz geforderte Unabhängigkeit der ÖBB-Infrastruktur AG in Angelegenheiten des Netzzugangs beeinträchtigt würde.

46.      Die betreffenden Richtlinien sähen kein Verbot von Doppelfunktionen vor. Bei einem Wechsel eines einzigen Vorstandsmitglieds der ÖBB-Infrastruktur AG in den Vorstand der ÖBB-Holding AG (als Kollegialorgan) bzw. bei einem Wechsel eines Vorstandsmitglieds der ÖBB-Infrastruktur AG in den Aufsichtsrat dieser Gesellschaft sei kein beherrschender Einfluss gegeben, da ein einzelnes Vorstandsmitglied der ÖBB-Holding AG bzw. ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied keinen Einfluss auf die ÖBB-Infrastruktur AG ausüben könne. Die im Eisenbahngesetz und im Bundesbahnstrukturgesetz 2003 für die Unabhängigkeit der Geschäftsführung und die Trennung von Infrastruktur- und Absatzbereich getroffenen Regelungen seien analog auch als Maßstab für Doppelfunktionen heranzuziehen.

47.      Was das Fehlen von Karenzzeiten zwischen einer Anstellung bei der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle als Mitglied des Leitungsgremiums oder als mit solchen Funktionen betraute Führungskraft und dem Bekleiden einer Führungsposition in der Holding angehe, rechtfertige der allgemeine Gesetzesvorbehalt in Art. 15 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union eine zeitliche Einschränkung der Berufsausübung nur, wenn dies gesetzlich vorgesehen und gerechtfertigt sei, was hier schon allein mangels einer entsprechenden Gesetzesbestimmung nicht der Fall sei. Der Vergleich mit den Vorschriften für den Elektrizitäts- und den Erdgassektor sei auch nicht einschlägig, insbesondere weil diese Bestimmungen erst kürzlich erlassen worden seien, ohne auf den Eisenbahnsektor anwendbar zu sein.

48.      Schließlich seien ausreichende Schutzvorkehrungen getroffen worden, und das Ziel der Sicherstellung eines funktionierenden diskriminierungsfreien Eisenbahnmarkts sei erfüllt. Sowohl die Unabhängigkeit des Managements und der mit den wesentlichen Funktionen betrauten Stelle als auch die wettbewerbsaufsichtsrechtliche Kontrolle durch die Regulierungsbehörde entsprächen nämlich den Richtlinien 2001/14 und 91/440.

49.      Die italienische Regierung weist darauf hin, dass die Pflicht zur Trennung, die vom Unionsgesetzgeber in Bezug auf die Funktionen des Erbringens von Eisenbahnverkehrsleistungen und des Betriebs der Infrastruktur angeordnet werde, die Rechnungsführung betreffe.

50.      In Bezug auf das Holding-Modell vertrete die Kommission dadurch, dass sie zu einer Vermutung der Unvereinbarkeit gelange, insofern einen widersprüchlichen Ansatz, als dieses Modell rechtlich anerkannt sei, aber mit den in Rede stehenden Richtlinien nur vereinbar sein könne, wenn die Holding keine der typischen Vorrechte einer Holding innehabe oder ausübe.

51.      Der Gesetzgeber habe keinesfalls Pflichten zur Eigentumstrennung oder eine Organisationsstruktur mit vergleichbaren Wirkungen auf der Ebene der Geschäftsführungsautonomie einführen, sondern die Entscheidungsfreiheit der Mitgliedstaaten und der betroffenen Unternehmen für verschiedene Organisationsmodelle achten und gewährleisten wollen.

52.      Die italienische Regierung könne weder angesichts des Wortlauts noch angesichts des Zwecks der Regelung der von der Kommission vertretenen Auffassung folgen, dass die wesentlichen Funktionen an Stellen außerhalb der Unternehmensgruppe, der ein Eisenbahnunternehmen angehöre, übertragen werden müssten.

V –    Analyse

A –    Vorbemerkungen

1.      Die Ausgangshypothesen der Vertragsverletzungsklage

53.      In Österreich sind mehrere der in Anhang II der Richtlinie 91/440 genannten wesentlichen Funktionen dem Infrastrukturbetreiber, der ÖBB-Infrastruktur AG, übertragen worden. Diese Gesellschaft ist rechtlich unabhängig, gehört aber zu einem von einer Holdinggesellschaft geleiteten Konzern, dem auch Unternehmen angehören, die Eisenbahnverkehrsdienste erbringen.

54.      Die Kommission wirft der Republik Österreich vor, keine wirkungsvollen Mechanismen vorgesehen zu haben, um sicherzustellen, dass der Infrastrukturbetreiber ÖBB-Infrastruktur AG organisatorisch und in seinen Entscheidungen unabhängig sei und seine wesentlichen Funktionen unabhängig ausübe, und dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 verstoßen zu haben.

55.      Die Argumentation der Kommission beruht auf drei Annahmen.

56.      Die erste Annahme besteht darin, dass – auch wenn eine Struktur, bei der der Infrastrukturbetreiber zur gleichen Unternehmensgruppe gehört wie eine Eisenbahngesellschaft, wobei beide Tochtergesellschaften einer Holding sind, als solche zulässig ist – die in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 vorgesehene Unabhängigkeit der wesentlichen Funktionen in einem solchen Fall nur verwirklicht werden kann, wenn dem in der genannten Bestimmung implizit enthaltenen Erfordernis der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Genüge getan ist.

57.      Die zweite Annahme besteht darin, dass eine solche wirtschaftliche Unabhängigkeit unter den Bedingungen einer Holdingstruktur nicht verwirklicht werden kann, es sei denn, der Mitgliedstaat sieht zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen vor, die einer positiven Pflicht für den Mitgliedstaat entsprechen, spezifische und detaillierte Regeln zu erlassen. Nach Ansicht der Kommission stellen die Maßnahmen, die in Anhang 5 des Arbeitspapiers SEK(2006) 530 der Kommissionsdienststellen aufgeführt sind, solche Maßnahmen dar, ungeachtet dessen, dass es sich um ein unverbindliches Dokument handelt.

58.      Die dritte Annahme der Kommission scheint mir darin zu bestehen, dass die betreffenden österreichischen Einrichtungen wegen der Holdingstruktur in der Lage wären, die vom Unionsgesetzgeber oder vom nationalen Gesetzgeber aufgestellten Verpflichtungen zu umgehen oder zu verletzen.

2.      Zum Vorliegen einer Vertragsverletzung des Mitgliedstaats

59.      Der Gerichtshof hatte schon mehrfach Gelegenheit, den Umfang der Verpflichtungen zu präzisieren, die sich aus den Richtlinien in Bezug auf ihre korrekte Umsetzung in den Mitgliedstaaten ergeben. Er hat u. a. festgestellt, dass es ihm nicht zukommt, eine den Wortlaut eines Richtlinienartikels korrigierende Auslegung vorzunehmen.

60.      Hierzu hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/Griechenland(11) entschieden, dass die Hellenische Republik berechtigt war, ihre nationalen Rechtsvorschriften auf den klaren Wortlaut von Art. 23 Nr. 2 der Richtlinie 92/83/EWG(12) zu stützen, wonach sie auf Ouzo einen ermäßigten Verbrauchsteuersatz anwenden durfte, der den Mindestsatz unterschritt. Infolgedessen wies der Gerichtshof die Klage der Kommission ab, mit der diese geltend gemacht hatte, dass der Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus Art. 90 Abs. 1 EG verstoßen habe und dass die Mitgliedstaaten selbst dann, wenn das abgeleitete Recht eine solche ausdrückliche Erlaubnis enthalte, nicht von der Pflicht zur Beachtung des Primärrechts befreit seien, was bedeute, dass der Mitgliedstaat, wenn sich die nationale Maßnahme als mit dem Primärrecht unvereinbar erweise, nicht befugt sei, von der Erlaubnis Gebrauch zu machen.

61.      In gleicher Weise hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich(13) festgestellt, dass dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, dessen nationale Regelung im Einklang mit dem klaren und genauen Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG(14) steht, nicht vorgeworfen werden kann, gegen seine Verpflichtungen aus eben dieser Bestimmung verstoßen zu haben, indem es versäumt habe, diese Bestimmung berichtigend auszulegen, um sie der allgemeinen Logik des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems anzupassen und einem Fehler des Unionsgesetzgebers abzuhelfen, den die Kommission geltend macht und der ihres Erachtens aus der Begründung für einen Richtlinienvorschlag hervorgeht.

62.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt, dass eine Unionsregelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen durch diese Regelung auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. Die Einzelnen müssen nämlich ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können(15). Diese Rechtsprechung betrifft zwar die Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der öffentlichen Gewalt. Sie ist jedoch auch im Rahmen der Umsetzung einer den Steuersektor betreffenden Richtlinie einschlägig.

63.      In einem kürzlich ergangenen Urteil hat der Gerichtshof den objektiven Charakter der Feststellung einer Vertragsverletzung hervorgehoben(16). Eine Vertragsverletzung kann jedoch nicht vorliegen, wenn die Maßnahme, die die Kommission von dem Mitgliedstaat verlangt, nicht im Wortlaut der Richtlinie enthalten ist und nur eine der möglichen Handlungen zur Umsetzung der Richtlinie darstellt.

64.      Die Kommission hebt hervor, dass sich die vorliegende Rechtssache auf die unvollständige Umsetzung und nicht auf die falsche Anwendung der Richtlinie bezieht. Daher ist zu prüfen, ob die Holdingstruktur, die den mit wesentlichen Funktionen betrauten Infrastrukturbetreiber und Eisenbahngesellschaften umfasse, nur dann mit Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 vereinbar ist, wenn der Infrastrukturbetreiber von seiner Muttergesellschaft wirtschaftlich unabhängig ist, und ob eine solche Unabhängigkeit nicht verwirklicht werden kann, ohne dass der Mitgliedstaat von der Kommission verlangte positive Maßnahmen trifft.

B –    Unabhängigkeit der mit wesentlichen Funktionen betrauten Organe

65.      Durch die Richtlinie 91/440 wurde mittels Schaffung eines Zugangsrechts der Verkehrsunternehmen zur Eisenbahninfrastruktur die Liberalisierung des Eisenbahnverkehrs eingeleitet. Die dieses Zugangsrecht begleitende wichtige Maßnahme war die Trennung des Betriebs der Infrastruktur von den Verkehrsleistungen. Der Trennungsgrundsatz betraf allerdings nicht die Strukturen, sondern die Funktionen, und davon wiederum nur die Rechnungsführungsfunktion. Nur als Option wird erwähnt, dass die Trennung „organisch voneinander getrennte Unternehmensbereiche innerhalb desselben Unternehmens“ umfassen kann oder dass „eine getrennte Einrichtung den Betrieb der Infrastruktur übernimmt“. Das integrierte nationale Modell blieb damit erhalten.

66.      Die Richtlinien 95/18/EG und 95/19/EG(17) und sodann die Richtlinien des ersten Eisenbahnpakets von 2001 zielten auf die Umsetzung des Rechts auf einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang ab, indem sie die Erteilung von Genehmigungen an Verkehrsunternehmen und Regeln für die Zuweisung von Kapazitäten und die Gestaltung der Wegeentgelte vorsahen. Um einen solchen Zugang zu gewährleisten, wurde in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 der Grundsatz der Unabhängigkeit des mit wesentlichen Funktionen betrauten Organs verankert.

67.      Die wesentlichen Funktionen sind in Anhang II der Richtlinie 91/440 genannt. Es handelt sich um die Zulassung von Eisenbahnunternehmen, die Zuweisung von Kapazitäten, die Zuweisung einzelner Zugtrassen, die Bestimmung des von den Verkehrsunternehmen zu entrichtenden Entgelts und die Überwachung der Einhaltung von Gemeinwohlverpflichtungen.

68.      Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und die Art. 4 Abs. 2 und 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 nehmen Bezug auf die Unabhängigkeit von „Stellen oder Unternehmen“, die den Netzzugang verwalten, eine „entgelterhebende Stelle“ und eine „Zuweisungsstelle“ für Fahrwegkapazität. Es handelt sich um drei Funktionen, die keinesfalls von einem Verkehrsunternehmen wahrgenommen werden dürfen. Diese Funktionen können entweder vom Betreiber wahrgenommen werden, wenn er „selbst“ keine Verkehrsleistungen erbringt und von allen Eisenbahnunternehmen, insbesondere dem traditionellen Betreiber, unabhängig ist, oder – andernfalls – von einer „Einrichtung“, d. h. einer Stelle oder einem Unternehmen, die oder das „rechtlich, organisatorisch und in [den] Entscheidungen“ von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.

69.      Gegen alle Entscheidungen der mit wesentlichen Funktionen betrauten Organe kann die durch Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 geschaffene unabhängige Regulierungsstelle angerufen werden.

70.      Beim integrierten System der Holdinggesellschaft ist der Infrastrukturbetreiber zugleich das für die Trassenzuweisung, die Trassenentgelte, die Sicherheitsbescheinigung und die Erstellung von Regeln über die Funktionsweise verantwortliche unabhängige Organ. Auch nach Erlass des ersten Eisenbahnpakets war anerkannt, dass dieses System nach wie vor zulässig ist(18). Im Bericht von 2006 über die Umsetzung des ersten Eisenbahnpakets vertraten die Dienststellen der Kommission den Standpunkt, dass die institutionelle Trennung keinesfalls aus dem Wortlaut der Richtlinie hergeleitet werden könne; sie erklären dort auch, dass sie dieser institutionellen Trennung den Vorzug gäben(19).

71.      Aus Art. 6 der Richtlinie 91/440 ergibt sich, dass eine institutionelle Trennung den Mitgliedstaaten nicht auferlegt werden kann. Art. 6 Abs. 1 verpflichtet, im Wesentlichen im Rahmen staatlicher Beihilfen, zu einer Trennung der Rechnungsführung für die Erbringung von Verkehrsleistungen und für den Betrieb der Infrastruktur. Der Wortlaut von Abs. 2 zeigt klar, dass es grundsätzlich keine Pflicht zur institutionellen Trennung gibt: „Die Mitgliedstaaten können ferner vorsehen, dass diese beiden Tätigkeiten in organisch voneinander getrennten Unternehmensbereichen innerhalb desselben Unternehmens ausgeübt werden oder dass eine getrennte Einrichtung den Betrieb der Infrastruktur übernimmt.“

72.      Erst Abs. 3 von Art. 6 verlangt, in Bezug auf „die [wesentlichen] Funktionen nach Anhang II, die für einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur ausschlaggebend sind“, eine Trennung, da die damit betrauten Stellen oder Unternehmen selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen dürfen. Gleichwohl wird in dieser Bestimmung hinzugefügt, dass es „[u]ngeachtet der Organisationsstrukturen“ keine Zwänge institutioneller Art gibt, sofern das Ziel des gerechten und nichtdiskriminierenden Zugangs nachweislich erreicht werden kann.

73.      Im Ergebnis lässt die Richtlinie somit das integrierte System der Holdinggesellschaft zu und zwingt nicht zu einer institutionellen Trennung zwischen Betreiber und traditionellem Betreiber. Im Rahmen der Wahrnehmung der wesentlichen Funktionen kann das Holdingmodell jedoch Schwierigkeiten bereiten, da eine solche Holdinggesellschaft dem Verkehrsunternehmen und dem Betreiber vorsteht.

74.      Nach der Richtlinie 2001/14 bezieht sich der Grad der Unabhängigkeit der mit wesentlichen Funktionen betrauten Organe auf die Unabhängigkeit in rechtlicher und organisatorischer Hinsicht sowie in den Entscheidungen(20).

75.      Bei der Holdingstruktur wurden zweifellos sowohl das erste als auch das zweite Kriterium eingehalten. Dass die von einer Holdinggesellschaft gegründete Tochtergesellschaft rechtlich unabhängig ist, steht außer Frage. Die organisatorische Unabhängigkeit ergibt sich zum Teil aus der gesonderten Rechtspersönlichkeit, die eigene Beschlussfassungsorgane der Gesellschaft erfordert. Dieses Erfordernis erstreckt sich teilweise auf die tatsächliche Ebene der Organisation. Die Einrichtung darf keine leere Hülle bleiben, sondern muss über ihre eigenen Personal- und Sachmittel verfügen. Schließlich verlangt Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 die Erbringung des Nachweises für die Unabhängigkeit der mit wesentlichen Funktionen betrauten Organe. Somit erweist sich das dritte Kriterium als problematisch.

76.      Die Kommission fordert, mehrere nicht im Wortlaut der Richtlinien 91/440 und 2001/14 enthaltene Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass das – im vorliegenden Fall im Holding-Modell – mit wesentlichen Funktionen betraute Organ, d. h. der Infrastrukturbetreiber, in seinen Entscheidungen unabhängig ist. Es trifft zu, dass alle diese Maßnahmen dazu beitragen, eine tatsächliche Unabhängigkeit des Verkehrsbetreibers in dessen Entscheidungen zu gewährleisten.

77.      Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 enthält keine näheren Angaben zu den Voraussetzungen dieser Unabhängigkeit. Diese Lücke versucht die Kommission zu füllen, u. a. durch Bezugnahme auf Anhang 5 des Arbeitspapiers SEK(2006) 530 ihrer Dienststellen, das dem Bericht über die Umsetzung des ersten Eisenbahnpakets beigefügt ist.

78.      In diesem Anhang heißt es, dass das Kontrollorgan zur Prüfung der Frage tätig wird, ob die Unabhängigkeit auch tatsächlich gewahrt ist, sowie bei der Ernennung und Abberufung der Mitglieder des Leitungsgremiums des Infrastrukturbetreibers. Außerdem werden dort ein Verbot von Doppelfunktionen in den Leitungsorganen des gesamten Konzerns, eine Karenzzeit des Führungspersonals beim Wechsel von einer Einrichtung der Holdinggesellschaft zu einer anderen und die Vertraulichkeit der vom Infrastrukturbetreiber herangezogenen Informationen gefordert.

79.      Der Gerichtshof wird aufgefordert, den Mitgliedstaaten alle diese genauen Voraussetzungen vorzuschreiben, die nur im Bericht über die Umsetzung des ersten Eisenbahnpakets und folglich nicht im Wortlaut der Richtlinie 91/440 zu finden sind.

80.      Nach ständiger Rechtsprechung trägt die Kommission die Beweislast für das Vorliegen der Vertragsverletzung; ihr obliegt es, „dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, wobei sie sich nicht auf irgendeine Vermutung stützen kann“.

81.      Die Kommission erkennt selbst an, dass es sich bei ihren Forderungen an die Mitgliedstaaten, die zur Anrufung des Gerichtshofs geführt haben, um ihre Auslegung der Richtlinie 91/440 in Anhang 5 des Arbeitspapiers SEK(2006) 530 handelt. Dieser Anhang ist rechtlich nicht bindend. In ihm kommt eine von den Dienststellen der Kommission vorgeschlagene Auslegung des Begriffs der Unabhängigkeit in rechtlicher und organisatorischer Hinsicht sowie in den Entscheidungen zum Ausdruck. Ich weise darauf hin, dass die streitigen positiven Pflichten nie im Wortlaut der Richtlinie oder eines anderen verbindlichen Rechtstexts der Union zu finden waren, weder bei Erlass der Richtlinie noch bei Ablauf der Umsetzungsfrist.

82.      Die Kommission stützt sich, neben einer konstruktiven Auslegung des in den Richtlinien 91/440 und 2001/14 aufgestellten Grundsatzes der Unabhängigkeit in organisatorischer Hinsicht sowie in den Entscheidungen, auf eine aus zwei Teilen bestehende Argumentation, die an die praktische Wirksamkeit anknüpft.

83.      Der erste Teil beruht auf dem Wettbewerbsrecht und, in Anbetracht des Holding-Modells und damit des Vorhandenseins einer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaften, auf einer Auslegung des Grundsatzes der Unabhängigkeit des Betreibers, wonach dieser nur ein „eigenständiges Unternehmen“ im Sinne des Wettbewerbsrechts sein dürfe. Bestimmte Befugnisse, die der Holdinggesellschaft normalerweise gegenüber ihrer als Betreiber tätigen Tochtergesellschaft im Sinne des Gesellschaftsrechts zustünden, würden dadurch ausgeschlossen.

84.      Der zweite Teil beruht auf dem Regulierungsrecht und geht von dem Gedanken aus, dass für den Eisenbahnsektor ein gemeinsames Regulierungsrecht in Bezug auf die Unabhängigkeit des Betreibers und die Befugnisse des Kontrollorgans gelten müsse. Die Kommission beruft sich dabei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Netzen.

85.      Nach Ansicht der Kommission ist mangels eines Gegenbeweises zu vermuten, dass die Holdinggesellschaft tatsächlich eine wirtschaftliche Kontrolle über die als Infrastrukturbetreiberin mit wesentlichen Funktionen betraute Tochtergesellschaft ausübt. Ich halte die Analogie zur wirtschaftlichen Einheit von Mutter- und Tochtergesellschaften im Sinne des Wettbewerbsrechts jedoch nicht für überzeugend, da sie das Holdingsystem als solches in Frage stellt, obwohl die Richtlinien 91/440 und 2001/14 es ausdrücklich zulassen. Die Republik Österreich kommt zu Recht zu dem Ergebnis, dass die Option der Heranziehung einer Holdingstruktur, obwohl sie nach dem Unionsrecht zulässig ist, faktisch ausgeschlossen würde, wenn die Tochtergesellschaft einer Holdinggesellschaft die wesentlichen Funktionen eines Infrastrukturbetreibers nicht wahrnehmen dürfte, sofern eine andere Tochtergesellschaft der Holdinggesellschaft Eisenbahnverkehrsdienste erbringt.

86.      Überdies muss im Rahmen des Wettbewerbsrechts die wirtschaftliche Einheit nachgewiesen werden. Dies gilt erst recht im Rahmen einer Klage auf Feststellung einer Vertragsverletzung, die eine unvollständige Umsetzung betrifft und erhoben wird, obwohl der Wortlaut der Richtlinie nicht in diese Richtung geht. Gleichwohl kann die durch das Wettbewerbsrecht auferlegte Pflicht, sodann die Unabhängigkeit der Tochtergesellschaft zu beweisen, nicht auf das Vertragsverletzungsverfahren übertragen werden. Die bloße Tatsache, dass die Holdinggesellschaft die meisten oder sämtliche Anteile oder damit verbundenen Stimmrechte der mit wesentlichen Funktionen betrauten Einrichtung hält, reicht nicht aus, denn sonst würde das „normale“ System der Holdinggesellschaft als solches in Frage gestellt. Außerdem erscheint es mir zweifelhaft, die von der Kommission vorgeschlagene Vorgehensweise auf Fälle anzuwenden, in denen das ausdrückliche Ziel der Holdingstruktur darin besteht, eine mit öffentlichen Aufgaben betraute Tochtergesellschaft zu schaffen, deren Unabhängigkeit spezielle Bestimmungen vorsehen. Meines Erachtens muss aber eine etwaige faktische Kollusion zwischen den Tochtergesellschaften einer Holdinggesellschaft nachgewiesen werden.

87.      Die Kommission muss daher nachweisen, dass das System einen offenkundigen Interessenkonflikt schafft, der keinen anderen Schluss als den auf eine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit bei der Ausübung der wesentlichen Funktionen zulässt. Wie die Kommission anerkennt, hat der Gerichtshof entschieden, dass die 100%ige Kontrolle durch die Muttergesellschaft ein unabhängiges Verhalten der Tochtergesellschaft nicht ausschließt(21). Folglich obliegt der Kommission der Nachweis, dass die Gefahr eines Interessenkonflikts so groß ist, dass sie Präventivmaßnahmen erfordert, die im Wortlaut der Richtlinie nicht vorgesehen sind.

88.      Der auf der Hypothese einer Form des „automatischen Missbrauchs“, der sich aus der Struktur der Holdinggesellschaft als solcher ergeben soll, beruhenden Auffassung der Kommission kann im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens, das nicht eine falsche Anwendung, sondern eine unvollständige Umsetzung der Richtlinie betrifft, nicht gefolgt werden.

89.      Zudem erscheint es mir nicht schlüssig, von einem Mitgliedstaat den Erlass zusätzlicher Vorschriften zu verlangen, wenn die betreffenden Rechtssubjekte ex hypothesi die die Unabhängigkeit der Tochtergesellschaft schützenden Rechtspflichten nicht beachten.

90.      Hinzuzufügen ist, dass die Frage des Netzbetreibers die kontroverseste Frage des dritten Energiepakets war. Die Bestimmungen zur Umwandlung der integrierten Unternehmen in Aktiengesellschaften, in deren Rahmen der Betreiber in den Genuss einer Geschäftsführung und eines Verwaltungsrats kommt, die von der Muttergesellschaft getrennt sind, befinden sich in den Art. 9 ff. der Kapitel IV und V der Richtlinie 2009/72/EG und den entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2009/73/EG(22). Die betreffenden Bestimmungen der Richtlinie 2009/72 genügen allen Anforderungen, die die Kommission an die Republik Österreich gestellt hat.

91.      Im Ergebnis ist der Kommission meines Erachtens nicht der Nachweis gelungen, dass das einzige Mittel zur Erfüllung des Erfordernisses der Unabhängigkeit in rechtlicher und organisatorischer Hinsicht sowie in den Entscheidungen darin besteht, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften oder vertragliche Regeln vorzusehen, die den in der Klageschrift aufgezählten Maßnahmen entsprechen.

92.      Die Anforderungen an die Befugnisse des durch Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 geschaffenen unabhängigen Kontrollorgans können nicht aus Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 abgeleitet werden, da diese Frage in vollem Umfang in der erstgenannten Bestimmung geregelt wird, die dem Kontrollorgan Befugnisse im Fall der ungleichen oder diskriminierenden Behandlung eines Bewerbers und in Bezug auf die Beachtung der Entgeltvorschriften verleiht(23).

93.      Ein Verbot von Doppelfunktionen knüpft an den Grundsatz der Inkompatibilität an, der dem Begriff der Unabhängigkeit in den Entscheidungen innewohnt. Dieser Grundsatz, den der Unionsgesetzgeber in den Richtlinien 91/440 und 2001/14 nicht definiert hat, kann jedoch anhand verschiedener Abstraktionsgrade ausgedrückt werden und ist in den verschiedenen Regelungen in unterschiedlicher Form verankert.

94.      Im Kontext einer Holdingstruktur haben die Bestimmungen des Gesellschaftsrechts Einfluss auf die konkrete Anwendung des Grundsatzes der Inkompatibilität; eine Doppelfunktion im System eines Mitgliedstaats A kann sich als praktisch folgenlos erweisen, auch wenn sie im System eines Mitgliedstaats B als unvereinbar mit der Unabhängigkeit der Tochtergesellschaft in ihren Entscheidungen angesehen werden mag. Aus diesem Grund kann das Fehlen einer dahin gehenden Vorschrift nicht automatisch als Verstoß des Mitgliedstaats angesehen werden.

95.      Die von der Kommission verlangte, ein Verbot von Doppelfunktionen betreffende Maßnahme erfasst jedenfalls nicht alle Sachverhalte, bei denen die Unabhängigkeit der wesentlichen Funktionen Anlass zu Bedenken aufgrund von Inkompatibilitäten geben könnte. Nennen ließe sich etwa der Fall, dass drei Brüder den Verwaltungsräten angehören, der ältere in der Holdinggesellschaft und die beiden jüngeren in der mit dem Betrieb der Infrastruktur und der mit den Eisenbahndiensten betrauten Tochtergesellschaft. Aus Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 lässt sich aber keine Pflicht ableiten, ex ante eine Vorschrift aufzustellen, die Doppelfunktionen verbietet, auch wenn die konkreten Fälle spezieller Doppelfunktionen meines Erachtens ohne Weiteres als falsche Anwendung der genannten Bestimmung angesehen werden könnten.

96.      Die gleichen Erwägungen gelten für das Erfordernis, dass die Mitglieder des Leitungsgremiums der mit den wesentlichen Funktionen betrauten Einrichtung sowie die mit der Ausübung der wesentlichen Funktionen betrauten Führungskräfte und Mitarbeiter während einer angemessenen Zahl von Jahren nach dem Verlassen der betreffenden Einrichtung daran gehindert sein sollten, eine Stelle als Führungskraft bei der Holdinggesellschaft oder anderen von ihr kontrollierten Einrichtungen zu bekleiden.

97.      Eine dahin gehende Vorschrift enthält Art. 19 Abs. 3 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73, der vorsieht, dass Führungskräfte und Mitglieder der Verwaltungsorgane nicht ernannt werden können, wenn sie nicht dartun, dass zwischen ihnen und dem integrierten Unternehmen seit drei Jahren keine beruflichen Beziehungen bestanden. Art. 19 Abs. 7 bestimmt, dass diese Personen nach Beendigung ihres Vertragsverhältnisses vier Jahre lang keine Beziehungen zu dem integrierten Unternehmen unterhalten dürfen. Schließlich dürfen die Beschäftigten des Übertragungsnetzbetreibers nach Art. 19 Abs. 4 bei anderen Unternehmensteilen der Holdinggesellschaft des Energiesektors keine beruflichen Positionen bekleiden.

98.      Die einschlägigen Richtlinien für den Eisenbahnsektor enthalten aber keine solche eingehende Regelung, und sie kann ihnen auch nicht im Wege der Auslegung entnommen werden.

99.      Zu dem Erfordernis, dass der Infrastrukturbetreiber über eigenes Personal und eigene Räumlichkeiten verfügen muss, ist festzustellen, dass ihm in der Republik Österreich de facto entsprochen wird und dass sich eine Pflicht zur Schaffung einer dahin gehenden speziellen Vorschrift aus Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 nicht ableiten lässt. Was die Kommunikation zwischen dem Personal des Infrastrukturbetreibers und dem Personal anderer Unternehmen des Konzerns angeht, teile ich die Argumentation der Republik Österreich, dass die Kommission nicht dargetan habe, inwiefern die Klauseln zum Schutz der Vertraulichkeit in den Verträgen der Mitarbeiter nicht ausreichten.

100. Schließlich hat die Kommission in ihrer Erwiderung die Rüge betreffend die Sicherheit der Informationssysteme aufgegeben, so dass es keiner Erörterung dieses Punkts bedarf.

101. Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die die unvollständige Umsetzung der Richtlinie betreffende Klage keinen Erfolg haben kann. Hinsichtlich der Anwendung der Richtlinie ist das Holdingmodell nicht frei von Problemen, wie ich bereits im Rahmen meiner Schlussanträge in der Rechtssache Westbahn Management ausgeführt habe(24). Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache wirft die Kommission der Republik Österreich jedoch keine falsche Anwendung der Richtlinie vor und liefert dafür keine stichhaltigen Beweise.

VI – Kosten

102. Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

103. Da die Republik Österreich beantragt hat, der Kommission die Kosten aufzuerlegen, ist diesem Antrag stattzugeben, wenn, wie von mir vorgeschlagen, die Vertragsverletzungsklage in vollem Umfang abgewiesen wird.

104. Nach Art. 69 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt die Italienische Republik, die beantragt hat, dem vorliegenden Rechtsstreit als Streithelfer beizutreten, ihre eigenen Kosten.

VII – Ergebnis

105. Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.         Die Klage wird abgewiesen.

2.         Die Europäische Kommission trägt die Kosten.

3.         Die Italienische Republik trägt ihre eigenen Kosten.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. L 237, S. 25).


3 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 (ABl. L 75, S. 1).


4 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (ABl. L 75, S. 29).


5 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 164, S. 44). Es ist darauf hinzuweisen, dass der Titel der Richtlinie 2001/14 durch Art. 30 der Richtlinie 2004/49 geändert wurde. Er lautet nunmehr: „Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur“.


6 – Es handelt sich um folgende beim Gerichtshof anhängige Rechtssachen: Kommission/Ungarn (C‑473/10), Kommission/Spanien (C‑483/10), Kommission/Polen (C‑512/10), Kommission/Griechenland (C‑528/10), Kommission/Tschechische Republik (C‑545/10), Kommission/Deutschland (C‑556/10), Kommission/Portugal (C‑557/10), Kommission/Frankreich (C‑625/10), Kommission/Slowenien (C‑627/10), Kommission/Italien (C‑369/11) und Kommission/Luxemburg (C‑412/11).


7 – BGBl. Nr. 825/1992 in der im BGBl. I Nr. 95/2009 veröffentlichten geänderten Fassung.


8 – BGBl. Nr. 60/1957 in der im BGBl. I Nr. 95/2009 veröffentlichten geänderten Fassung.


9 – BGBl. Nr. 98/1965.


10 – Commission staff working document SEK(2006) 530 vom 3. Mai 2006, „Annexes to the Communication on the implementation of the railway infrastructure package Directives (‚First Railway Package‘), COM(2006) 189 final“, S. 31. Nur in englischer Sprache verfügbar.


11 – Urteil vom 5. Oktober 2004 (C‑475/01, Slg. 2004, I‑8923).


12 – Richtlinie des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. L 316, S. 21).


13 – Urteil vom 15. Juli 2010 (C‑582/08, Slg. 2010, I‑7191, Randnrn. 46 bis 51).


14 – Dreizehnte Richtlinie des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 326, S. 40).


15 – Urteil vom 10. März 2009, Heinrich (C‑345/06, Slg. 2009, I‑1659, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16 – Vgl. Urteil vom 10. Mai 2012, Kommission/Estland (C‑39/10, Randnr. 63).


17 – Richtlinie 95/18/EG des Rates vom 19. Juni 1995 über die Erteilung von Genehmigungen an Eisenbahnunternehmen (ABl. L 143, S. 70) und Richtlinie 95/19/EG des Rates vom 19. Juni 1995 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Berechnung von Wegeentgelten (ABl. L 143, S. 75).


18 – Bei der Annahme dieses Pakets durch den Rat der Europäischen Union hat die Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass die wesentlichen Funktionen und die Eisenbahnverkehrsleistungen von „rechtlich getrennten, aber in Form einer Holding verbundenen Unternehmen“ wahrgenommen werden können (2324. Tagung des Rates „Verkehr“ am 20. und 21. Dezember 2000). Die Republik Österreich erläutert die Entwicklung der einschlägigen Unionsregelung im Einzelnen.


19 – „The Directives do not formally require institutional separation between the activities of infrastructure manager and railway undertaking, but this separation seems to be the best way of ensuring fair and non-discriminatory treatment for all railway undertakings wishing to gain access to the infrastructure“; vgl. Commission staff working document SEK(2006) 530, S. 31.


20 – Hervorzuheben ist, dass diese „Unabhängigkeit“ von anderer Art ist als z. B. in der Wendung „in völliger Unabhängigkeit“, die nach Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 2 der der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. L 281, S. 31) auf die mit dem Schutz personenbezogener Daten betrauten Stellen Anwendung findet. Vgl. dazu Urteil vom 9. März 2010, Kommission/Deutschland (C‑518/07, Slg. 2010, I‑1885, Randnrn. 17 ff.), und die Nrn. 20 ff. der Schlussanträge von Generalanwalt Mazák in der Rechtssache Kommission/Österreich (C‑614/10, beim Gerichtshof anhängig).


21 ‑ Die Kommission verweist auf die Urteile vom 14. Juli 1972, Imperial Chemical Industries/Kommission (48/69, Slg. 1972, 619, Randnr. 134), und vom 24. Oktober 1996, Viho/Kommission (C‑73/95 P, Slg. 1996, I‑5457, Randnrn. 6 und 13 bis 18).


22 ‑ Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (ABl. L 211, S. 55) und Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. L 211, S. 94).


23 ‑ Insoweit verweise ich auf die vierte Rüge der Kommission in der Rechtssache Kommission/Deuschland, in der die Kommission eine weite Auslegung von Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 2001/14 und Art. 7 Abs. 10 der Richtlinie 91/440 befürwortet.


24 ‑ Vgl. Nrn. 47 ff. meiner Schlussanträge in der Rechtssache Westbahn Management (C‑136/11, beim Gerichtshof anhängig).