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Klage, eingereicht am 26. November 2010 - Europäische Kommission / Bundesrepublik Deutschland

(Rechtssache C-556/10)

Verfahrenssprache: Deutsch

Parteien

Klägerin: Europäische Kommission (Prozessbevollmächtigte: G. Braun und H. Støvlbæk, Bevollmächtigte)

Beklagte: Bundesrepublik Deutschland

Anträge der Klägerin

Die Kommission beantragt, der Gerichtshof möge

feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Umsetzung des ersten Eisenbahnpakets ihren Verpflichtungen aus

Artikel 6 Abs 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440/EWG1 sowie Artikel 4 Absatz 2 und Artikel 14 Absatz 2 der Richtlinie 2001/14/EG2,

-Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie 2001/14/EG

Artikel 7 Absatz 3, Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie 2001/14/EG und

Artikel 30 Absatz 4 der Richtlinie 2001/14/EG in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 7 der Richtlinie 91/440/EWG,

nicht nachgekommen ist.

der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegen.

Klagegründe und wesentliche Argumente

Die Richtlinien 91/440/EWG und 2001/14/EG zielten auf gleichen und nicht diskriminierenden Zugang zur Schieneninfrastruktur für alle Unternehmen und auf Förderung eines wettbewerbsorientierten, dynamischen und transparenten Eisenbahnmarktes in Europa. Art 6 Abs 3 der Richtlinie 91/440/EWG schreibe vor, dass die Ausübung "wesentlicher Funktionen" eines Infrastrukturbetreibers Stellen oder Unternehmen zu übertragen ist, "die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen."

Nach Ansicht der Kommission ist die von der Richtlinie vorgeschriebene Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers bei der Ausübung wesentlicher Funktionen in Deutschland nicht gewährleistet, da mehrere dieser "wesentlichen Funktionen" einer Gesellschaft übertragen worden seien, die zwar rechtlich unabhängig, jedoch Teil einer Holding sei, zu der unter anderem Unternehmen gehörten, die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen.

Die in der Richtlinie 200l/14/EG normierte Unabhängigkeit müsste sich nicht bloß rechtlich, sondern auch organisatorisch und in der Entscheidungsfindung ausdrücken. Daraus folge, dass das mit wesentlichen Funktionen betraute Unternehmen nur dann gemeinsam mit Eisenbahnverkehrsleistungen erbringenden Unternehmen in derselben Holding organisiert sein dürfe, wenn es von diesen nicht nur rechtlich getrennt ist, sondern nachweisbar auch keine wirtschaftliche Einheit mit ihnen bildet, also auch wirtschaftlich unabhängig von diesen ist. Würden also im Rahmen einer Holdingkonstruktion die "wesentlichen Funktionen" durch eine Tochtergesellschaft erbracht, sei durch Schutzvorkehrungen dafür zu sorgen, dass Mutter und Tochter nicht in wirtschaftlicher Einheit und somit nicht als ein Unternehmen agieren können. Diese angemessenen und ausreichenden Schutzvorkehrungen, die auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers von den Eisenbahnverkehrsunternehmen gewährleisten könnten, seien aber in Deutschland nicht geschaffen worden. Die von Deutschland ins Treffen geführten Schutzvorkehrungen reichten nicht aus, um die Unabhängigkeit der wesentlichen Funktionen zu gewährleisten, Interessenkonflikte zu vermeiden und der Holding die Kontrolle über die mit wesentlichen Funktionen betraute Stelle zu entziehen.

Einerseits werde die Erfüllung der Unabhängigkeitsanforderungen nicht von einer unabhängigen Behörde überwacht und den Wettbewerbern stehe bei Verstöβen gegen das Unabhängigkeitsgebot keine Beschwerdemöglichkeit offen. Andererseits sei die Unabhängigkeit der Mitarbeiter, beziehungsweise der Leitungsgremien und Führungskräfte der mit den wesentlichen Funktionen betrauten Stelle von der Holdinggesellschaft aus den folgenden Gründen nicht gewahrt:

Vorstandsmitglieder der Holding oder der anderen zur Holding gehörenden Gesellschaften seien nicht daran gehindert, auch einen Sitz im Vorstand der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle innezuhaben.

Es sei nicht vorgesehen, dass Mitglieder des Leitungsgremiums der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle sowie deren leitendes und mit der Ausübung der wesentlichen Funktionen betrautes Personal nach Aufgabe ihrer Tätigkeit für die betreffende Stelle während einer angemessenen Anzahl von Jahren keine Führungsposition in der Holding oder in anderen von der Holding kontrollierten Einrichtungen bekleiden können.

Das Leitungsgremium der mit wesentlichen Funktionen betrauten Stelle werde nicht unter klar definierten Bedingungen ernannt und mit entsprechenden rechtlichen Verpflichtungen verbunden, damit die völlige Unabhängigkeit der Beschlussfassung sichergestellt ist.

Die mit wesentlichen Funktionen betraute Stelle verfüge über kein eigenes, in separaten bzw. zugangsgesicherten Räumlichkeiten untergebrachtes Personal, deren Kontakte mit der Holdinggesellschaft und anderen von ihr kontrollierten Unternehmen auf die offiziellen Mitteilungen zu beschränken sind, die mit der Ausübung der wesentlichen Funktionen verbunden sind.

Der Zugang zu den Informationssystemen sei nicht gesichert, wodurch es nicht ausgeschlossen werde, dass die Holding in den Besitz von Informationen gelangen kann, die die Ausübung der wesentlichen Funktionen betreffen.

Neben dem oben beschriebenen Verstoß gegen das Erfordernis der Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers bei der Ausübung wesentlicher Funktionen habe die Bundesrepublik Deutschland auch insoweit gegen ihre Verpflichtungen aus den Richtlinien 91/440 und 2001/14 verstoßen, als sie

die Vorschriften der Richtlinie 2001/14/EG über die Wegeentgelte nicht hinreichend klar umgesetzt habe und es unterlassen habe, die Voraussetzungen der fehlerhaften Anwendung des Vollkostenprinzips zu schaffen;

nicht die erforderlichen Maßnahmen erlassen habe, um die Betreiber der Infrastrukturen zur Senkung der Infrastrukturkosten und der Wegeentgelte für den Zugang zum Schienennetz zu verpflichten;

es unterlassen habe, die Regulierungsbehörde zu ermächtigen, ihr Auskunftsverlangen gegenüber dem Infrastrukturbetreiber auch durch geeignete Sanktionsmöglichkeiten durchzusetzen.

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1 - Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft; ABl. L 237, S. 25

2 - Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung; ABl. L 75, S. 29