Language of document : ECLI:EU:C:2016:146

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 8. März 2016(1)

Rechtssache C‑695/15 PPU

Shiraz Baig Mirza

gegen

Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal

(Vorabentscheidungsersuchen des Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság [Ungarn])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzen, Asyl und Einwanderung – Verordnung Nr. 604/2013 (Dublin III) – Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz – Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts der Mitgliedstaaten, einen Antragsteller in einen sicheren Drittstaat zurück‑ oder auszuweisen – Pflichten des für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaats im Fall der Wiederaufnahme des Antragstellers“





I –    Einleitung

1.        Den Hintergrund der vorliegenden Rechtssache bildet die Ankunft einer großen Anzahl Drittstaatsangehöriger in der Europäischen Union, die das Ziel verfolgen, Ungarn zu durchqueren, um in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, im konkreten Fall Österreichs, zu gelangen.

2.        Im vorliegenden Fall gelangte der betreffende Drittstaatsangehörige, der die pakistanische Staatsangehörigkeit hat, aus Serbien in das ungarische Hoheitsgebiet. Zunächst stellte er bei den ungarischen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz, reiste dann aber ohne Erlaubnis in die Tschechische Republik ab, bevor er schließlich von den ungarischen Behörden wieder aufgenommen wurde. Nachdem der Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen wurde, beabsichtigen die ungarischen Behörden, den pakistanischen Staatsangehörigen nach Serbien auszuweisen, das sie als sicheren Drittstaat betrachten.

3.        Das vorlegende Gericht, bei dem der Rechtsbehelf des Antragstellers gegen die Maßnahmen der ungarischen Behörden anhängig ist, fragt uns nach den Voraussetzungen, unter denen ein Mitgliedstaat erwägen kann, eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013(2) (im Folgenden: Dublin-III-Verordnung) „in einen sicheren Drittstaat“ auszuweisen, ohne ihren Antrag in der Sache zu prüfen.

4.        Vorab ist zu betonen, dass die Möglichkeit einer Ausweisung keine grundsätzlichen Probleme aufzuwerfen scheint. Sie ist vielmehr in den Vorschriften vorgesehen. Daraus folgt, dass ein redlicher Antragsteller, der den Mitgliedstaat, in dem er seinen Antrag gestellt hat, nicht verlässt, Gefahr läuft, in einen sicheren Drittstaat ausgewiesen zu werden, ohne dass sein Antrag in der Sache geprüft wird.

5.        Wie ist es nun bei einem Antragsteller, der den Mitgliedstaat, in dem er seinen Antrag gestellt hat, verlässt, um sich unrechtmäßig in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben? Welches Verfahren ist anzuwenden, wenn die betreffende Person sodann vom erstgenannten Mitgliedstaat wieder aufgenommen wird? Steht Art. 18 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung, nach dem „die Prüfung seines Antrags abgeschlossen [werden muss]“, dann der Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz als unzulässig und der sofortigen Ausweisung des Betreffenden in einen sicheren Drittstaat entgegen?

6.        Dies sind die grundlegenden Fragen, die im Mittelpunkt der vorliegenden Rechtssache stehen. Auf diese wird das Eilvorabentscheidungsverfahren angewandt, weil sich der Steller des Antrags auf internationalen Schutz in Ungarn in Gewahrsam befindet.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Dublin-III-Verordnung

7.        Nach Art. 2 Buchst. d der Verordnung bezeichnet der Ausdruck „‚Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz‘ die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen oder Urteile der zuständigen Behörden in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß der Richtlinie 2013/32/EU[(3)] und der Richtlinie 2011/95/EU[(4)] mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß dieser Verordnung“.

8.        Nach Art. 2 Buchst. e der Verordnung bezeichnet der Ausdruck „‚Rücknahme eines Antrags auf internationalen Schutz‘ die vom Antragsteller im Einklang mit der Richtlinie 2013/32/EU ausdrücklich oder stillschweigend unternommenen Schritte zur Beendigung des Verfahrens, das aufgrund des von ihm gestellten Antrags auf internationalen Schutz eingeleitet worden ist“.

9.        In Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) der Verordnung heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger … stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)      Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta der Grundrechte der Europäischen Union] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

(3)      Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie [2013/32/EU] in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.“

10.      Art. 7 Abs. 2 der Verordnung lautet: „Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels[(5)] zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.“

11.      In Art. 13 Abs. 1 der Verordnung heißt es: „Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien … festgestellt, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.“

12.      Art. 17 („Ermessensklauseln“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1:

„Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. …“

13.      In Art. 18 („Pflichten des zuständigen Mitgliedstaats“) der Verordnung heißt es:

„(1)      Der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat ist verpflichtet:

c)      einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen;

(2)      …

Hat der zuständige Mitgliedstaat in den in den Anwendungsbereich von Absatz 1 Buchstabe c fallenden Fällen die Prüfung nicht fortgeführt, nachdem der Antragsteller den Antrag zurückgezogen hat, bevor eine Entscheidung in der Sache in erster Instanz ergangen ist, stellt dieser Mitgliedstaat sicher, dass der Antragsteller berechtigt ist, zu beantragen, dass die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wird, oder einen neuen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, der nicht als Folgeantrag im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU behandelt wird. In diesen Fällen gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Prüfung des Antrags abgeschlossen wird.

…“

2.      Richtlinie 2013/32

14.      Art. 28 („Verfahren bei stillschweigender Rücknahme des Antrags oder Nichtbetreiben des Verfahrens“) der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(1)      …

Die Mitgliedstaaten können insbesondere dann davon ausgehen, dass der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz stillschweigend zurückgezogen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, wenn er nachweislich

b)      untergetaucht ist oder seinen Aufenthaltsort oder Ort seiner Ingewahrsamnahme ohne Genehmigung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert hat …

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Antragsteller, der sich nach Einstellung der Antragsprüfung gemäß Absatz 1 wieder bei der zuständigen Behörde meldet, berechtigt ist, um Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht nach Maßgabe der Artikel 40 und 41 geprüft wird.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die betreffende Person nicht entgegen dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung abgeschoben wird.

Die Mitgliedstaaten können der Asylbehörde die Wiederaufnahme der Prüfung in dem Verfahrensabschnitt gestatten, in dem sie eingestellt wurde.

(3)      Dieser Artikel gilt unbeschadet der [Dublin-III-Verordnung].“

15.      Der zu Abschnitt II von Kapitel III der Richtlinie 2013/32 gehörende Art. 33 („Unzulässige Anträge“) bestimmt:

„(1)      Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin-III-Verordnung] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

c)      ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Antragsteller sicherer Drittstaat gemäß Artikel 38 betrachtet wird;

…“

16.      In Art. 38 („Das Konzept des sicheren Drittstaats“) der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können das Konzept des sicheren Drittstaats nur dann anwenden, wenn die zuständigen Behörden sich davon überzeugt haben, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in dem betreffenden Drittstaat nach folgenden Grundsätzen behandelt wird:

a)      keine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung;

b)      keine Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zu erleiden;

c)      Wahrung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung nach der Genfer Flüchtlingskonvention;

d)      Einhaltung des Verbots der Abschiebung, wenn diese einen Verstoß gegen das im Völkerrecht festgelegte Verbot der Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung darstellt, und

e)      Möglichkeit, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen und im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu erhalten.

(2)      Die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats unterliegt den Regeln, die im nationalen Recht festgelegt sind; dazu gehören

a)      Regeln, die eine Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem betreffenden Drittstaat verlangen, so dass es aufgrund dieser Verbindung vernünftig erscheint, dass diese Person sich in diesen Staat begibt;

b)      Regeln betreffend die Methodik, mit der sich die zuständigen Behörden davon überzeugen, dass das Konzept des sicheren Drittstaats auf einen bestimmten Staat oder einen bestimmten Antragsteller angewandt werden kann. Diese Methodik umfasst die Prüfung der Sicherheit des Staates im Einzelfall für einen bestimmten Antragsteller und/oder die nationale Bestimmung von Staaten, die als im Allgemeinen sicher angesehen werden;

c)      mit dem Völkerrecht vereinbare Regeln, die es ermöglichen, in Form einer Einzelprüfung festzustellen, ob der betreffende Drittstaat für einen bestimmten Antragsteller sicher ist, und die dem Antragsteller zumindest die Möglichkeit bieten, die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats mit der Begründung anzufechten, dass der betreffende Drittstaat für ihn in seiner besonderen Situation nicht sicher ist. Darüber hinaus ist dem Antragsteller die Möglichkeit einzuräumen, das Bestehen einer Verbindung gemäß Buchstabe a zwischen ihm und dem betreffenden Drittstaat anzufechten.

(3)      Wenn die Mitgliedstaaten eine Entscheidung durchführen, die ausschließlich auf diesem Artikel beruht,

a)      unterrichten sie den Antragsteller entsprechend und

b)      händigen ihm ein Dokument aus, in dem die Behörden des Drittstaats in der Sprache dieses Staats davon unterrichtet werden, dass der Antrag nicht in der Sache geprüft wurde.

(5)      Die Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission regelmäßig darüber, auf welche Staaten dieses Konzept gemäß den Bestimmungen dieses Artikels angewandt wird.“

17.      Art. 39 („Das Konzept des sicheren europäischen Drittstaats“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass keine oder keine umfassende Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz und der Sicherheit des Antragstellers in seiner spezifischen Situation nach Kapitel II erfolgt, wenn eine zuständige Behörde anhand von Tatsachen festgestellt hat, dass der Antragsteller aus einem sicheren Drittstaat nach Absatz 2 unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einzureisen versucht oder eingereist ist.

(2)      Ein Drittstaat kann nur dann als sicherer Drittstaat für die Zwecke des Absatzes 1 betrachtet werden, wenn er

a)      die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert hat und deren Bestimmungen einhält,

b)      über ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren verfügt und

c)      die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifiziert hat und die darin enthaltenen Bestimmungen, einschließlich der Normen über wirksame Rechtsbehelfe, einhält.

(3)      Dem Antragsteller wird die Möglichkeit eingeräumt, die Anwendung des Konzepts des sicheren europäischen Drittstaats mit der Begründung anzufechten, dass der betreffende Drittstaat für ihn in seiner besonderen Situation nicht sicher ist.

(4)      Die betreffenden Mitgliedstaaten legen im nationalen Recht die Einzelheiten zu der Anwendung des Absatzes 1 und die Folgen von Entscheidungen gemäß diesen Bestimmungen im Einklang mit dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung fest; sie sehen unter anderem Ausnahmen von der Anwendung dieses Artikels aus humanitären oder politischen Gründen oder aufgrund des Völkerrechts vor.“

B –    Nationale Regelung

1.      Ungarisches Asylgesetz

18.      Nach § 51 Abs. 2 Buchst. e des Gesetzes Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht (a menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény, im Folgenden: Asylgesetz) ist der Asylantrag unzulässig, wenn es „für den Antragsteller einen Drittstaat gibt, der für ihn einen sicheren Drittstaat darstellt“.

19.      In § 51 Abs. 4 heißt es: „Der Antrag darf nur dann nach Abs. 2 Buchst. e für unzulässig erklärt werden, wenn der Antragsteller

a)      sich in einem sicheren Drittstaat aufgehalten hat und es ihm in diesem Staat möglich gewesen wäre, wirksamen Schutz … in Anspruch zu nehmen;

b)      das Hoheitsgebiet eines solchen Staates durchquert hat und es ihm in diesem Staat möglich gewesen wäre, wirksamen Schutz … in Anspruch zu nehmen …“

20.      § 53 des Asylgesetzes lautet: „Die Asylbehörde lehnt den Antrag mit Bescheid ab, wenn sie feststellt, dass eine der Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 vorliegt.“

2.      Regierungsverordnung vom 21. Juli 2015

21.      In § 2 der Regierungsverordnung Nr. 191/2015 (VII. 21.) zur Bestimmung der als sicher eingestuften Herkunftsstaaten und der sicheren Drittstaaten auf nationaler Ebene (191/2015. [VII. 21.] Kormányrendelet a nemzeti szinten biztonságosnak nyilvánított származási országok és biztonságos harmadik országok meghatározásáról, im Folgenden: Regierungsverordnung vom 21. Juli 2015) heißt es:

„Sichere Drittstaaten … sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und deren Beitrittskandidaten – mit Ausnahme der Türkei –, die Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums sowie die Bundesstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika, die die Todesstrafe nicht anwenden, ferner:

1. die Schweiz,

2. Bosnien-Herzegowina,

3. Kosovo,

4. Kanada,

5. Australien,

6. Neuseeland.“

22.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Republik Serbien am 19. Dezember 2009 einen förmlichen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union gestellt hat. Die Kommission gab am 12. Oktober 2011 eine befürwortende Stellungnahme ab und empfahl, Serbien den Status eines Bewerberlandes zuzuerkennen. Sodann wurde der Rat aufgefordert, im Februar 2012 zu entscheiden, ob Serbien der Status eines Bewerberlandes verliehen wird. Diese Entscheidung wurde vom Europäischen Rat im März 2012 bestätigt(6).

23.      § 3 Abs. 2 der Regierungsverordnung vom 21. Juli 2015 bestimmt:

„Hatte sich der Antragsteller, bevor er in das Hoheitsgebiet Ungarns eingereist ist, im Hoheitsgebiet eines sicheren Drittstaats im Sinne der Liste der sicheren Drittstaaten der Europäischen Union oder des § 2 aufgehalten oder dessen Hoheitsgebiet durchquert, so kann er im Asylverfahren nach dem Asylgesetz nachweisen, dass in seiner besonderen Situation in diesem Land keine Möglichkeit wirksamen Schutzes im Sinne von § 2 Buchst. i des Asylgesetzes bestand.“

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

24.      Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte am 7. August 2015 in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er im August 2015 unrechtmäßig aus Serbien in das ungarische Hoheitsgebiet eingereist war.

25.      Während das nationale Verfahren lief, reiste er an einen unbekannten Ort ab. Die mit seinem Fall befasste nationale Behörde schloss daraufhin die Prüfung seines Antrags mit Bescheid vom 9. Oktober 2015 ab, ohne den Antrag zuvor als unzulässig zurückgewiesen zu haben.

26.      Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde sodann in der Tschechischen Republik aufgegriffen, als er im Begriff stand, nach Österreich zu reisen. Die tschechischen Behörden ersuchten Ungarn, ihn wieder aufzunehmen; Ungarn entsprach diesem Ersuchen gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. c der Dublin-III-Verordnung.

27.      Dem vorlegenden Gericht zufolge geht aus den Verfahrensunterlagen nicht hervor, dass die tschechischen Behörden darüber informiert gewesen wären, dass die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in Ungarn in Anbetracht der durch Verordnung festgelegten Liste sicherer Drittstaaten zur Ausweisung des Betreffenden nach Serbien ohne Prüfung seines Antrags in der Sache führen konnte.

28.      Nach seiner Wiederaufnahme in Ungarn stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens dort am 2. November 2015 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag ist Gegenstand eines zweiten Verfahrens, in dessen Verlauf der Betreffende in Gewahrsam genommen wurde.

29.      Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde im Rahmen dieses zweiten Verfahrens am 2. November 2015 angehört. Im Lauf dieser Anhörung wurde er darüber in Kenntnis gesetzt, dass sein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen werden könne, falls er nicht beweise, dass Serbien in Anbetracht seiner besonderen Situation für ihn kein sicherer Drittstaat sei. Obwohl er darauf erwiderte, dass er in Serbien nicht in Sicherheit sei, wiesen die ungarischen Behörden seinen Antrag als unzulässig zurück, da sie von den insoweit vorgelegten Beweisen nicht überzeugt waren. Sie ordneten in ihrem Bescheid zudem Rückführungs- und Ausweisungsmaßnahmen gegenüber dem Betreffenden an.

30.      Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat gegen den genannten Bescheid vor dem vorlegenden Gericht einen Rechtsbehelf eingelegt und geltend gemacht, dass er nicht nach Serbien zurückgeschickt werden wolle, wo er nicht in Sicherheit sei.

31.      Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht beschlossen, die Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens zu beantragen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Wie ist Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung auszulegen:

a)      Dürfen die Mitgliedstaaten das Recht, den Antragsteller in einen sicheren Drittstaat aus- oder zurückzuweisen, ausschließlich vor der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats oder auch nach dessen Bestimmung ausüben?

b)      Ändert sich die Antwort auf diese Frage, wenn der Mitgliedstaat seine eigene Zuständigkeit nicht bei der erstmaligen Antragstellung bei ihm nach Art. 7 Abs. 2 sowie Kapitel III der Dublin-III-Verordnung bestimmt, sondern den Antragsteller auf ein Überstellungs- oder Wiederaufnahmegesuch hin aus einem anderen Mitgliedstaat nach den Kapiteln V und VI der Dublin-III-Verordnung aufnimmt?

2.      Falls der Gerichtshof die Frage 1 in dem Sinne beantwortet, dass ein Mitgliedstaat das Recht, den Antragsteller in einen sicheren Drittstaat aus- oder zurückzuweisen, auch nach der Aufnahme gemäß dem Dublin-Verfahren ausüben darf:

Kann Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten dieses Recht auch dann ausüben dürfen, wenn der überstellende Mitgliedstaat nicht über die einschlägige nationale Regelung in Bezug auf die Ausübung dieses Rechts bzw. die angewandte nationale Praxis unterrichtet wurde?

3.      Kann Art. 18 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung dahin ausgelegt werden, dass bei einem nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. c wieder aufgenommenen Antragsteller das Verfahren in dem Verfahrensabschnitt fortzusetzen ist, in dem es während des vorhergehenden Verfahrens unterbrochen wurde?

32.      In Bezug auf die Eilbedürftigkeit hat das vorlegende Gericht hervorgehoben, dass in Anbetracht der üblichen Dauer eines gewöhnlichen Vorabentscheidungsverfahrens tatsächlich das Risiko bestehe, dass es im Fall eines solchen Verfahrens das nationale Verfahren nicht abschließen könne, zumal sich der Kläger des Ausgangsverfahrens, wenn er sich wieder auf freiem Fuß befinden sollte, womöglich erneut an einen unbekannten Aufenthaltsort begeben werde.

33.      Im Anschluss an die Verwaltungssitzung vom 11. Januar 2016 hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs beschlossen, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren im Sinne von Art. 107 der Verfahrensordnung zu unterwerfen.

IV – Würdigung der Vorlagefragen

A –    Zur ersten Frage

34.      Die erste Vorlagefrage betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung.

35.      Das vorlegende Gericht fragt sich im Wesentlichen, ob der Umstand, dass ein Mitgliedstaat zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz für zuständig erklärt worden ist (Unterfrage a) bzw. dass er im Rahmen von Art. 18 seine Zuständigkeit anerkannt und den Antragsteller wieder aufgenommen hat (Unterfrage b), diesen Mitgliedstaat daran hindert, den Antragsteller sodann gemäß Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung in ein sicheres Drittland auszuweisen.

36.      Vorab ist daran zu erinnern, dass sich die Zuständigkeit Ungarns für den Antragsteller daraus ergibt, dass es seine Zuständigkeit anlässlich der Wiederaufnahme des Betreffenden anerkannt hat; die Zuständigkeit hätte aber auch ohne ausdrückliche Anerkennung entweder aus Art. 13 der Verordnung abgeleitet werden können, weil der Antragsteller unrechtmäßig von Serbien aus die ungarische Grenze überschritt, oder auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung anerkannt werden können, da Ungarn der erste Mitgliedstaat war, bei dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde.

37.      Nach dieser Vorbemerkung ist festzustellen, dass sich die Antwort auf den ersten Teil der Frage schon aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung ergibt. Nach dieser Vorschrift behält jeder Mitgliedstaat „das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie [2013/32/EU] in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen“.

38.      Wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung zutreffend ausgeführt hat, ist in dieser Vorschrift der Grundsatz verankert, dass das Recht der Aus‑ oder Zurückweisung ohne zeitliche Grenze aufrechterhalten bleibt. Nichts legt daher den Schluss nahe, dass das Recht, den Betreffenden auszuweisen, im Anschluss an die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats erlöschen sollte.

39.      Darüber hinaus wäre es, wenn „jeder Mitgliedstaat“, also auch ein Staat, der nach der Dublin-III-Verordnung nicht der zuständige Mitgliedstaat ist(7), das Recht hat, „einen Antragsteller … in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen“, zumindest seltsam, wenn man diese Möglichkeit gerade demjenigen Mitgliedstaat vorenthielte, der tatsächlich für die Prüfung des Falles zuständig ist.

40.      Auch Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 steht dieser Lesart von Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung nicht entgegen. Insoweit genügt der Hinweis, dass Art. 33 der Richtlinie 2013/32 für die Rechte, die sich aus der Dublin-III-Verordnung ergeben, keine Beschränkung des Anwendungsbereichs vorsieht.

41.      Man könnte allenfalls die Frage aufwerfen, ob ein Mitgliedstaat die Befugnis nach Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung verlieren könnte, wenn er, statt sich schon bei der Einreichung des ersten Antrags auf internationalen Schutz auf dieses Recht zu berufen, zunächst in eine Sachprüfung des Antrags einträte und die Möglichkeit einer Ausweisung erst in einem späteren Stadium des Verfahrens geltend machte. Im Schrifttum scheint unter solchen Umständen eine Verwirkung der Befugnis nach Art. 3 tatsächlich erwogen zu werden, wobei damit argumentiert wird, dass der Antragsteller nach der Sachprüfung seines Antrags berechtigtes Vertrauen erworben habe(8).

42.      In Anbetracht der Besonderheiten des Falles des Klägers des Ausgangsverfahrens sind hier derartige Erwägungen jedoch nicht angebracht. Zum einen hat sich der Antragsteller selbst nicht gutgläubig verhalten, als er Ungarn vor dem Abschluss seines Verfahrens verließ. Ein solches Vorgehen ist mit dem Konzept des berechtigten Vertrauens kaum in Einklang zu bringen. Zum anderen hat sein zweiter Antrag auf internationalen Schutz, den er nach seiner Rückkehr nach Ungarn stellte, weil seine vorzeitige Abreise in einen anderen Mitgliedstaat als Rücknahme des Antrags gemäß Art. 28 der Richtlinie 2013/32 galt, mit dem das nationale Recht in Einklang steht, und weil die ungarischen Behörden daraufhin die Akte des Antragstellers schlossen, ein neuerliches Verfahren entstehen lassen, dessen Prüfung in keiner Weise von dem vorherigen Verfahren berührt wird.

43.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Umstand, dass ein Mitgliedstaat als „zuständiger“ Mitgliedstaat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz bestimmt worden ist, diesen Mitgliedstaat nicht daran hindert, den Antragsteller sodann nach Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung in einen sicheren Drittstaat zurück‑ oder auszuweisen.

44.      Diese Feststellung gilt jedenfalls für den redlichen Antragsteller, der das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der ersten Antragstellung niemals verlassen hat.

45.      Jedoch könnte sich die Sachlage anders darstellen, wenn der Steller des Antrags auf internationalen Schutz – wie der Kläger des Ausgangsverfahrens –, nachdem er sich unerlaubt entfernt hatte, vom ersten Mitgliedstaat gemäß Art. 18 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung wieder aufgenommen wird. Nach Art. 18 Abs. 2 der Verordnung ist dieser Staat dann gehalten, die Prüfung des Antrags abzuschließen. Dies ist Gegenstand des zweiten Teils der ersten Vorlagefrage.

46.      Das vorlegende Gericht scheint der Ansicht zu sein, dass sich aus Art. 18 eine Verpflichtung des zuständigen Mitgliedstaats ergeben könnte, den Antrag des wieder aufgenommenen Antragstellers in der Sache zu prüfen. Eine solche Verpflichtung stünde einer Zurückweisung seines Antrags als unzulässig und einer Ausweisung des Antragstellers ohne Sachprüfung seines Antrags nach Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung entgegen.

47.      So ist Art. 3 in Verbindung mit Art. 18 der Dublin-III-Verordnung indessen nicht zu verstehen.

48.      Zum einen enthält Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung keine Aussage über die Befugnis, einen Antragsteller in einen Drittstaat auszuweisen. Diese Bestimmung unterstreicht nämlich nur den Grundsatz, wonach die Prüfung eines im ersten Mitgliedstaat(9) eingeleiteten Verfahrens „abgeschlossen“ werden muss, ohne aber der Rückführung des Betreffenden in einen Drittstaat entgegenzustehen und ohne eine Sachprüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zu erfordern. Es erschiene vielmehr normal, davon auszugehen, dass die Prüfung eines unzulässigen Antrags im Sinne von Art. 18 der Dublin-III-Verordnung vollständig „abgeschlossen“ wird, wenn ein solcher Antrag ohne Sachprüfung als unzulässig zurückgewiesen wird.

49.      Zum anderen sind die Voraussetzungen, unter denen ein Antrag als unzulässig zurückgewiesen werden kann, nicht in Art. 18 der Dublin-III-Verordnung geregelt, sondern in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32. Nach Buchst. c dieser Bestimmung kann ein Antrag als unzulässig zurückgewiesen werden, wenn „ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Antragsteller sicherer Drittstaat gemäß Artikel 38 betrachtet wird“. Ebenso erlaubt es Art. 39 der Richtlinie dem zuständigen Mitgliedstaat, keine „umfassende Prüfung“ des Antrags auf internationalen Schutz durchzuführen, wenn erwiesen ist, dass „der Antragsteller aus einem sicheren [europäischen] Drittstaat … unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats … eingereist ist“.

50.      Folglich ist eine Sachprüfung des Antrags dann nicht erforderlich, wenn entweder die Voraussetzungen von Art. 33 der Richtlinie oder die Voraussetzungen ihres Art. 39 vorliegen.

51.      Diese beiden Bestimmungen geben Anlass zu folgenden Bemerkungen.

52.      Zunächst ist die Frage, ob ein zuständiger Mitgliedstaat gehalten ist, eine umfassende Prüfung des bei ihm eingereichten Antrags auf internationalen Schutz anzustellen, nicht im Licht des nationalen Rechts oder im Licht von Art. 18 der Dublin-III-Verordnung zu beurteilen, sondern anhand der Richtlinie 2013/32.

53.      Sodann ist zu Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 festzustellen, dass diese Bestimmung nur dann einschlägig sein und es Ungarn ermöglichen kann, den Antrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn Serbien als ein „sicherer Drittstaat“ im Sinne von Art. 38 der Richtlinie angesehen werden kann. Für alle Fälle sei darauf hingewiesen, dass die im nationalen Recht enthaltene Einstufung Serbiens als sicherer Drittstaat den mit der Sache befassten Richter nicht davon freistellt, eine eigene Analyse vorzunehmen, um sich „davon [zu überzeugen], dass eine Person … in dem betreffenden Drittstaat [im vorliegenden Fall: Serbien] nach [den in Art. 38 der Richtlinie aufgeführten] Grundsätzen behandelt wird“.

54.      Schließlich ist in Bezug auf Art. 39 der Richtlinie 2013/32 festzustellen, dass diese Vorschrift eine vereinfachte Regelung vorsieht, um Anträge von Antragstellern aus sicheren europäischen Drittstaaten zurückzuweisen, wenn sie, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gelangt sind.

55.      Diese Vorschrift sieht indessen drei Voraussetzungen vor, die kumulativ vorliegen müssen, damit Serbien in die Kategorie des sicheren europäischen Drittstaats fallen kann: Erstens muss das Land die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert haben und deren Bestimmungen einhalten, zweitens muss es über ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren verfügen, und drittens muss es die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifiziert haben und die darin enthaltenen Bestimmungen, einschließlich der Normen über wirksame Rechtsbehelfe, einhalten.

56.      Nur wenn diese Voraussetzungen kumulativ vorliegen, kann Ungarn sich zum einen auf Art. 39 der Richtlinie berufen, um von einer umfassenden Prüfung des Antrags abzusehen, und zum anderen in Erwägung ziehen, den Antragsteller gemäß Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung nach Serbien auszuweisen. Soweit § 2 der Regierungsverordnung hierzu keine einschlägigen Informationen enthält, ist es Sache des mit dem Antrag befassten Gerichts, vorab zu prüfen, ob diese drei Voraussetzungen auf Serbien zutreffen.

57.      Wenn entweder die Voraussetzungen von Art. 33 oder die von Art. 39 der Richtlinie 2013/32 erfüllt sind, steht Art. 18 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung einer Zurückweisung des Antrags und einer Rückführung des Betreffenden in einen sicheren Drittstaat im Sinne der Richtlinie nicht entgegen.

58.      Jede andere Auslegung der vorgenannten Bestimmungen und insbesondere eine solche, die Art. 18 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung zu einem absoluten Prinzip der Sachprüfung des Antrags hochstilisieren würde, würde nur unsachgemäß die Antragsprüfung bei demjenigen Antragsteller bevorzugt behandeln, der die Flucht ergriffen hat und unter Art. 18 der Dublin-III-Verordnung fällt, und zwar gegenüber einem redlichen Antragsteller, auf den Art. 18 nicht angewandt werden kann.

59.      Schlimmer noch: Hätte Art. 18 tatsächlich zur Folge, dass für den wieder aufgenommenen Antragsteller eine günstige Sachbehandlung gewährleistet würde, würde diese Vorschrift jeden Antragsteller dazu ermutigen, in einen anderen Mitgliedstaat zu fliehen, und sei es nur mit dem Ziel, zu vermeiden, dass sein Antrag als unzulässig zurückgewiesen wird, und um sofortigen Ausweisungsmaßnahmen zu entgehen.

60.      Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Umstand, dass ein Mitgliedstaat als „zuständiger“ Staat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz bestimmt worden ist, diesen Mitgliedstaat, selbst wenn er seine Zuständigkeit im Rahmen von Art. 18 der Dublin-III-Verordnung anerkannt und den Antragsteller wieder aufgenommen hat, nicht daran zu hindern vermag, den Antragsteller sodann gemäß Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung auszuweisen, wenn die in der Richtlinie 2013/32 aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind.

B –    Zur zweiten Frage

61.      Für den Fall, dass es einem Mitgliedstaat grundsätzlich unbenommen bleibt, das Recht wahrzunehmen, einen Antragsteller nach seiner Wiederaufnahme aus einem anderen Mitgliedstaat in einen sicheren Drittstaat auszuweisen, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen weiter wissen, ob die Ausweisung des Antragstellers in einen sicheren Drittstaat in Anbetracht von Art. 18 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung und des Rechts des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz möglich ist, obwohl der Mitgliedstaat, der den Antragsteller überstellt, im Verlauf des Wiederaufnahmeverfahrens weder über die nationale Regelung für die Ausweisung von Antragstellern in sichere Drittstaaten informiert wurde noch über die auf diesem Gebiet von den zuständigen Behörden angewandte Praxis.

62.      Diese Frage gibt Anlass zu drei Bemerkungen.

63.      Zunächst vermag das Fehlen von Informationen im ersuchenden Mitgliedstaat, bei dem es sich um den Staat handelt, in den der Antragsteller geflohen ist, über anschließende Praktiken im ersuchten Staat, im vorliegenden Fall Ungarn, die Rechtmäßigkeit der im ersuchten Staat durchgeführten Verfahren nicht zu beeinflussen.

64.      Das Überstellungsverfahren (das vom ersuchenden Staat ausgeht) und das Verfahren in Bezug auf die Antragsprüfung (im ersuchten Staat) sind zwei verschiedene Verfahren, die jeweils ihren eigenen Regeln unterliegen. Zwar sollen sie auch für den Betreffenden effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleisten, doch sind die Garantien, die zugunsten des Antragstellers bei seiner Überstellung zu gewährleisten sind, in den Art. 26 ff. der Dublin-III-Verordnung beschrieben und sehen keine besonderen Garantien in Bezug auf die Praktiken im ersuchten Staat vor.

65.      Sodann ist, auch wenn Art. 38 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 von den Mitgliedstaaten verlangt, „die Kommission regelmäßig darüber [zu unterrichten], auf welche [sicheren Drittstaaten] dieses Konzept … angewandt wird“, keine derartige Verpflichtung zugunsten der Mitgliedstaaten vorgesehen(10).

66.      Schließlich bestimmt der letzte Satz von Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung, dass die Prüfung des Antrags im ersuchten Staat abgeschlossen werden muss. Zwar schließt dieser Grundsatz es aus, dass der Antragsteller in irgendeiner Weise benachteiligt wird, doch kann dieser sich nicht auf eine günstigere Behandlung berufen als diejenige, die vor seiner Flucht für ihn gegolten hätte. Im Klartext: Der Antragsteller kann sich nicht darauf berufen, dass die Behörden des ersuchenden Staates, in den er sich unter rechtswidrigen Umständen begab, nicht hinreichend informiert gewesen seien, um zu verhindern, dass allgemein anerkannte Praktiken im ersuchten Staat, bei dem es sich um den im Sinne der Dublin-III-Verordnung zuständigen Staat handelt, auf ihn Anwendung finden.

67.      Nach alledem bleibt die Ausweisung des Antragstellers in einen sicheren Drittstaat möglich, obwohl der überstellende Mitgliedstaat im Lauf des Wiederaufnahmeverfahrens weder über die nationale Regelung für die Ausweisung von Antragstellern in sichere Drittstaaten informiert wurde noch über die auf diesem Gebiet von den zuständigen Behörden verfolgte Praxis.

C –    Zur dritten Frage

68.      Für den Fall, dass es dem zuständigen Mitgliedstaat unbenommen bleibt, das Recht zur Ausweisung eines Antragstellers in einen sicheren Drittstaat nach dessen Wiederaufnahme auszuüben, stellt sich die Frage, ob Art. 18 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung so ausgelegt werden kann, dass das Verfahren in dem Stadium wieder aufgenommen werden muss, in dem es eingestellt wurde, als der erste Antrag auf internationalen Schutz im zuständigen Mitgliedstaat geprüft wurde.

69.      Insoweit genügt es, zum einen zu betonen, dass Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung von den Mitgliedstaaten nicht verlangt, die Antragsprüfung in dem Stadium, in dem sie eingestellt wurde, wieder aufzunehmen. Nach diesem Artikel ist es den zuständigen Behörden anheimgestellt, entweder mit der Prüfung des ursprünglichen Antrags, der als zurückgenommen gilt, fortzufahren oder es dem Antragsteller zu ermöglichen, einen neuen Antrag zu stellen.

70.      Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass es in Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 4 der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich heißt: „Die Mitgliedstaaten können der Asylbehörde die Wiederaufnahme der Prüfung in dem Verfahrensabschnitt gestatten, in dem sie eingestellt wurde.“ Ihnen wird somit völlige Freiheit gelassen, entweder die Prüfung im fraglichen Verfahrensabschnitt wieder aufzunehmen oder das Verfahren von Beginn an erneut durchzuführen.

71.      Somit ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung von den Mitgliedstaaten nicht verlangt, dass sie die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in dem Verfahrensabschnitt wieder aufnehmen, in dem sie eingestellt wurde.

V –    Ergebnis

72.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen wie folgt zu antworten:

Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat als „zuständiger“ Staat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz bestimmt worden ist, vermag diesen Mitgliedstaat, selbst wenn er seine Zuständigkeit im Rahmen von Art. 18 der Dublin-III-Verordnung anerkannt und den Antragsteller wieder aufgenommen hat, nicht daran zu hindern, den Antragsteller sodann gemäß Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung auszuweisen, wenn die in der Richtlinie 2013/32 aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind.

Die Ausweisung des Antragstellers in einen sicheren Drittstaat bleibt möglich, obwohl der überstellende Mitgliedstaat im Lauf des Wiederaufnahmeverfahrens weder über die nationale Regelung für die Ausweisung von Antragstellern in sichere Drittstaaten informiert wurde noch über die auf diesem Gebiet von den zuständigen Behörden verfolgte Praxis.

Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung verlangt von den Mitgliedstaaten nicht, dass sie die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in dem Verfahrensabschnitt wieder aufnehmen, in dem sie eingestellt wurde.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) (ABl. L 180, S. 31).


3 – Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180, S. 60).


4 – Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9).


5 – Es handelt sich um Kapitel III („Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“).


6 – Vgl. hierzu die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 1. und 2. März 2012, EUCO 4/3/12, Nr. 39.


7 – In den Rn. 24 bis 26 ihrer schriftlichen Stellungnahme scheint die Kommission sogar geneigt, davon auszugehen, dass der Rückgriff auf Art. 3 Abs. 3 durch einen Mitgliedstaat voraussetzt, dass dieser seine Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags anerkannt hat. Vgl. auch Rn. 52 der schriftlichen Stellungnahme des Klägers des Ausgangsverfahrens.


8 – Filzwieser, C./Sprung, A., DublinIII-Verordnung, Wien/Graz 2014, S. 103, K 24.


9 – Nach dieser Vorschrift steht es dem betreffenden Mitgliedstaat frei, entweder mit der Prüfung des ursprünglichen Antrags fortzufahren, die nach dem Verschwinden des Betreffenden, das als konkludente Rücknahme nach Art. 28 der Richtlinie 2013/32 gilt, unterbrochen wurde, oder es ihm zu ermöglichen, einen neuen Antrag zu stellen.


10 – Vgl. in diesem Sinne Rn. 27 der schriftlichen Stellungnahme Ungarns.