SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
Juliane Kokott
vom 6. September 2012(1)
Rechtssache C‑226/11
Expedia Inc.
gegen
Autorité de la concurrence u. a.
(Vorabentscheidungsersuchen der französischen Cour de cassation)
„Wettbewerb – Art. 81 EG – Spürbare Beeinträchtigung des Wettbewerbs – Beurteilung der Spürbarkeit bei bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen – ‚De-minimis-Bekanntmachung‘ der Kommission (‚Bagatell-Bekanntmachung‘) – Unterschreiten der Marktanteilsschwellen der De-minimis-Bekanntmachung – Befugnis nationaler Wettbewerbsbehörden, gleichwohl Art. 81 EG anzuwenden und Sanktionen zu verhängen – Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003“
I – Einleitung
1. Sind die Bekanntmachungen der Europäischen Kommission auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts bindend für die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte? Dies ist im Kern die Rechtsfrage, mit der der Gerichtshof im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren konfrontiert ist. Diese Frage stellt sich im Hinblick auf die sogenannte „De-minimis-Bekanntmachung“(2) (bisweilen auch als „Bagatell-Bekanntmachung“ bezeichnet), in der die Kommission ausführt, unter welchen Umständen sie eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 81 EG (nunmehr Art. 101 AEUV) annimmt.
2. Vorgelegt wurde diese Frage von der französischen Cour de cassation(3), die mit einem Rechtsstreit zwischen dem Online-Reisebüro Expedia und der französischen Wettbewerbsbehörde(4) befasst ist. Expedia hatte mit der staatlichen französischen Eisenbahngesellschaft Société nationale des chemins de fer (SNCF) ein Gemeinschaftsunternehmen zum Vertrieb von Bahnfahrkarten und anderen Reisedienstleistungen gegründet. Durch diese Zusammenarbeit erhielt Expedia einen privilegierten Zugang zu der von der SNCF ins Leben gerufenen Website „voyages-sncf.com“ und kam somit in den Genuss einer Vorzugsbehandlung für ihre Dienstleistungen, die anderen Reisevermittlern vorenthalten blieb. Darin sah die französische Wettbewerbsbehörde eine verbotene Wettbewerbsbeschränkung und verhängte Geldbußen gegen Expedia und die SNCF, wobei sie sowohl Art. 81 EG als auch die entsprechende Vorschrift des innerstaatlichen Wettbewerbsrechts als verletzt ansah.
3. Uneinigkeit besteht zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens vor allem darüber, ob von der streitigen Vereinbarung zwischen Expedia und der SNCF eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 81 EG ausging. Expedia behauptet, die von der Kommission in der De-minimis-Bekanntmachung zugrunde gelegte Marktanteilsschwelle von 10 % sei im vorliegenden Fall nicht erreicht worden, weshalb die französische Wettbewerbsbehörde ihrer Meinung nach keine spürbare Beeinträchtigung des Wettbewerbs hätte annehmen dürfen.
4. Vor diesem Hintergrund möchte die Cour de cassation wissen, ob es nationalen Stellen nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003(5) gestattet ist, auch unterhalb der besagten Marktanteilsschwelle von 10 % eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung anzunehmen. Dabei heben die obersten französischen Richter besonders hervor, dass die streitige Vereinbarung zwischen Expedia und der SNCF nach den im Ausgangsrechtsstreit getroffenen Feststellungen nicht nur eine wettbewerbswidrige Wirkung, sondern auch einen wettbewerbswidrigen Zweck hatte.
5. Mit seiner Antwort auf das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof ganz maßgeblich den Spielraum bestimmen, über den nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte künftig bei der Anwendung von Art. 101 AEUV verfügen. Außerdem gibt dieser Fall Anlass, die Anforderungen an die Feststellung bezweckter Wettbewerbsbeschränkungen – auf Unionsebene wie auf nationaler Ebene – weiter zu präzisieren. Für das Funktionieren des dezentralen Systems der Kartellrechtsdurchsetzung, welches mit der Verordnung Nr. 1/2003 ins Leben gerufen wurde, sind beide Punkte von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
6. Bei der Beantwortung dieses Vorabentscheidungsersuchens ist das Verbot wettbewerbswidriger Vereinbarungen (im Folgenden auch: Kartellverbot) in seiner Fassung vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zugrunde zu legen, da die im Ausgangsverfahren streitige Entscheidung des französischen Wettbewerbsrats im Februar 2009 erging. Der unionsrechtliche Rahmen dieses Falles wird deshalb durch Art. 81 Abs. 1 EG und die zu dessen Durchführung erlassene Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt. Auf die vom vorlegenden Gericht zitierte Vorschrift des Art. 101 AEUV sind jedoch meine Ausführungen zu Art. 81 EG entsprechend anwendbar.
7. Für das „Verhältnis zwischen [Art. 81 EG] … und dem einzelstaatlichen Wettbewerbsrecht“ sieht Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 auszugsweise folgende Regelung vor:
„(1) Wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Artikels 81 [EG] an, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können, so wenden sie auch Artikel 81 [EG] auf diese Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen an. …
(2) Die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts darf nicht zum Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen führen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, aber den Wettbewerb im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 [EG] nicht einschränken oder die Bedingungen des Artikels 81 Absatz 3 [EG] erfüllen oder durch eine Verordnung zur Anwendung des Artikels 81 Absatz 3 [EG] erfasst sind. …
…“
8. Zur „Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“ ist in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 zu lesen:
„Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft eng zusammen.“
9. Ergänzend ist auf die Erläuterungen im 1., 6., 8., 14., 15., 22. und 34. Erwägungsgrund der Präambel der Verordnung Nr. 1/2003 hinzuweisen:
„(1) Zur Schaffung eines Systems, das gewährleistet, dass der Wettbewerb im [Binnenmarkt] nicht verfälscht wird, muss für eine wirksame und einheitliche Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags in der [Union] gesorgt werden. …
…
(6) Die wirksame Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] setzt voraus, dass die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung beteiligt werden. Dies wiederum bedeutet, dass sie zur Anwendung des [Unionsrechts] befugt sein sollten.
…
(8) Um die wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsregeln der [Union] und das reibungslose Funktionieren der in dieser Verordnung enthaltenen Formen der Zusammenarbeit zu gewährleisten, müssen die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte in den Mitgliedstaaten verpflichtet sein, auch die Artikel 81 [EG] und 82 [EG] anzuwenden, wenn sie innerstaatliches Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen und Verhaltensweisen, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, anwenden. Um für Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen gleiche Bedingungen im Binnenmarkt zu schaffen, ist es ferner erforderlich, … das Verhältnis zwischen dem innerstaatlichen Recht und dem Wettbewerbsrecht der [Union] zu bestimmen. Dazu muss gewährleistet sein, dass die Anwendung innerstaatlichen Wettbewerbsrechts auf Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 [EG] nur dann zum Verbot solcher Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmten Verhaltensweisen führen darf, wenn sie auch nach dem Wettbewerbsrecht der [Union] verboten sind. …
…
(14) In Ausnahmefällen, wenn es das öffentliche Interesse der [Union] gebietet, kann es auch zweckmäßig sein, dass die Kommission eine Entscheidung deklaratorischer Art erlässt, mit der die Nichtanwendung des in Artikel 81 [EG] oder Artikel 82 [EG] verankerten Verbots festgestellt wird, um die Rechtslage zu klären und eine einheitliche Rechtsanwendung in der [Union] sicherzustellen; dies gilt insbesondere in Bezug auf neue Formen von Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, deren Beurteilung durch die bisherige Rechtsprechung und Verwaltungspraxis noch nicht geklärt ist.
(15) Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sollen gemeinsam ein Netz von Behörden bilden, die die [EU]-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden. …
…
(22) In einem System paralleler Zuständigkeiten müssen im Interesse der Rechtssicherheit und der einheitlichen Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] einander widersprechende Entscheidungen vermieden werden. …
…
(34) Nach den Regeln … zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Grundsätze kommt den Organen der [Union] eine zentrale Stellung zu. Diese gilt es zu bewahren, doch müssen gleichzeitig die Mitgliedstaaten stärker an der Anwendung der Wettbewerbsregeln der [Union] beteiligt werden. …
…“
10. Für den vorliegenden Fall ist zudem die De-minimis-Bekanntmachung der Kommission aus dem Jahr 2001 von Bedeutung. Darin heißt es auszugsweise:
„…
2. In der vorliegenden Bekanntmachung quantifiziert die Kommission anhand von Marktanteilsschwellen, wann keine spürbare Wettbewerbsbeschränkung gemäß Artikel 81 [EG] vorliegt. …
…
4. In Fällen, die in den Anwendungsbereich dieser Bekanntmachung fallen, wird die Kommission weder auf Antrag noch von Amts wegen ein Verfahren eröffnen. Gehen Unternehmen gutgläubig davon aus, dass eine Vereinbarung in den Anwendungsbereich der Bekanntmachung fällt, wird die Kommission keine Geldbußen verhängen. Die Bekanntmachung soll auch den Gerichten und Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Artikel 81 [EG] als Leitfaden dienen, auch wenn sie für diese nicht verbindlich ist.
…
6. Die Bekanntmachung greift der Auslegung von Artikel 81 [EG] durch den Gerichtshof und das Gericht … nicht vor.
…
7. Die Kommission ist der Auffassung, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen, den Wettbewerb im Sinne des Artikels 81 Absatz 1 [EG] nicht spürbar beschränken,
a) wenn der von den an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen insgesamt gehaltene Marktanteil auf keinem der von der Vereinbarung betroffenen relevanten Märkte 10 % überschreitet in Fällen, wo die Vereinbarung zwischen Unternehmen geschlossen wird, die tatsächliche oder potenzielle Wettbewerber auf einem dieser Märkte sind (Vereinbarung zwischen Wettbewerbern) …
…
…
11. Die Ziffern 7, 8 und 9 gelten nicht für Vereinbarungen, die eine der nachstehenden schwerwiegenden Beschränkungen (Kernbeschränkungen) enthalten …
…“
B – Nationales Recht
11. Aus dem französischen Recht ist zunächst Art. L420-1 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) relevant, der im Wesentlichen das gleiche Verbot von Kartellabsprachen normiert, das auch auf Unionsebene in Art. 81 EG (nunmehr Art. 101 AEUV) vorgesehen ist.
12. Art. L464-6-1 des Code de commerce hat zudem die Schwellenwerte der De-minimis-Bekanntmachung der Kommission übernommen und stellt die Durchführung eines Verfahrens für Bagatellfälle(6) in das Ermessen der Wettbewerbsbehörde. Wenn folglich die in jener Bekanntmachung erwähnten Marktanteilsschwellen von den an einer Vereinbarung beteiligten Unternehmen nicht erreicht werden, kann die Wettbewerbsbehörde entscheiden, dass sie das Verfahren nicht weiterverfolgt.
III – Sachverhalt und Ausgangsverfahren
13. Die staatliche französische Eisenbahngesellschaft SNCF wollte ihren Vertrieb von Bahnfahrkarten und Reisen im Internet ausbauen und suchte dafür einen erfahrenen Partner. Ihre Wahl fiel auf Expedia, eine auf den Vertrieb von Reisen im Internet spezialisierte Gesellschaft US-amerikanischen Rechts. Im September 2001 schlossen die SNCF und Expedia über ihre Zusammenarbeit mehrere Vereinbarungen und gründeten eine gemeinsame Tochtergesellschaft, die GL Expedia, welche im Jahr 2004 in Agence Voyages-sncf.com (Agence VSC) umbenannt wurde. Die Website voyages-sncf.com, die bis dahin nur der Information, der Reservierung und dem Verkauf von Bahnfahrkarten im Internet gedient hatte, war fortan das Tätigkeitsfeld der gemeinsamen Gesellschaft und wurde umgestaltet, um neben den ursprünglichen Dienstleistungen auch die eines Online-Reisebüros anzubieten.
14. Auf die Beschwerde mehrerer Wettbewerber hin stellte die französische Wettbewerbsbehörde mit Entscheidung Nr. 09-D-06 vom 5. Februar 2009 fest, dass die SNCF und Expedia nach Art. L420-1 des Code de Commerce und Art. 81 EG verbotene Kartellpraktiken angewandt hätten. Sie stellte nach den Angaben des vorlegenden Gerichts fest, dass die von der SNCF und Expedia verabredete Verhaltensweise einen wettbewerbswidrigen Zweck gehabt habe. Als Sanktion verhängte sie gegen Expedia eine Geldbuße in Höhe von 500 000 Euro und gegen die SNCF eine Geldbuße in Höhe von 5 000 000 Euro.
15. Im Verwaltungsverfahren vor der Wettbewerbsbehörde hatte Expedia im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Schwellenwerte der De-minimis-Bekanntmachung der Kommission sowie die entsprechenden Grenzen in Art. L464-6-1 des Code de Commerce wegen eines angeblichen Rechenfehlers nicht erreicht seien(7). Mangels Vorliegens des 10%igen Marktanteils hätte deshalb gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 eine Ahndung durch die nationale Behörde nicht erfolgen dürfen, weil die De-minimis-Bekanntmachung vorgebe, wann eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Art. 81 EG vorliege. Das nationale Wettbewerbsrecht dürfe in diesem Punkt nicht strenger als das europäische sein.
16. Die Wettbewerbsbehörde wies dieses Vorbringen von Expedia mit dem Hinweis zurück, dass Expedia und die SNCF auf dem betroffenen Markt für Online-Dienste von Urlaubsreisebüros Wettbewerber seien und mehr als 10 % der Marktanteile hielten. Außerdem betonte die Wettbewerbsbehörde, dass die Vereinbarung zwischen Expedia und der SNCF einen wettbewerbswidrigen Zweck habe.
17. Gegen die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde rief Expedia die Cour d’appel de Paris an. Diese ging auf die Frage der Berechnung der Marktanteile der Agence VSC auf dem betroffenen Markt nicht unmittelbar ein. Vielmehr führte ihr Urteil vom 23. Februar 2010 unter Berufung auf die „Kann“-Bestimmung in Art. L464-6-1 des Code de Commerce aus, dass die Verfolgung und Ahndung von Kartellen auch bei Nichterreichen der Marktanteilsschwellen möglich sei. Sofern die Voraussetzungen des Art. 81 EG erfüllt seien – was die Cour d’appel für den vorliegenden Fall bejahte –, stehe der Verhängung von Geldbußen auch Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 nicht entgegen.
18. Infolge der von Expedia gegen das Urteil der Cour d’appel eingelegten Kassationsbeschwerde ist das Verfahren nunmehr bei der Cour de cassation(8), dem vorlegenden Gericht, anhängig.
IV – Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof
19. Mit Urteil vom 10. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Mai 2011, hat die französische Cour de cassation ihr Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 dahin auszulegen, dass sie der Verfolgung und Ahndung einer Praxis von Absprachen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, aber nicht die von der Europäischen Kommission in ihrer De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellenwerte erreicht, durch eine nationale Wettbewerbsbehörde auf der doppelten Grundlage des Art. 101 Abs. 1 AEUV und des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts entgegenstehen?
20. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben Expedia und die französische Wettbewerbsbehörde, ferner die Regierungen Frankreichs, Irlands, Italiens und Polens, die Europäische Kommission sowie die EFTA-Überwachungsbehörde schriftlich Stellung genommen. Mit Ausnahme der Regierungen Irlands, Italiens und Polens waren dieselben Beteiligten auch in der mündlichen Verhandlung vom 27. Juni 2012 vertreten.
V – Würdigung
21. Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Lösung dieses Falles sollte Art. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 sein. Diese Vorschrift stellt eine enge Verbindung zwischen dem unionsrechtlichen und dem einzelstaatlichen Kartellrecht her(9). Wird auf eine Vereinbarung von Unternehmen, die geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, das innerstaatliche Kartellverbot angewandt, so muss gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 1/2003 parallel dazu auch Art. 81 EG (Art. 101 AEUV) zur Anwendung kommen(10).
22. Kommt es zu einer solchen parallelen Anwendung von Unionskartellrecht und nationalem Kartellrecht, stellt zudem Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 sicher, dass sich die vorrangigen Wertungen des Unionskartellrechts durchsetzen. Kurz gesagt dürfen Unternehmensvereinbarungen nur dann nach nationalem Kartellrecht verboten werden, wenn sie auch nach Unionsrecht verboten sind(11). Das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht darf also nicht zu strengeren Ergebnissen führen als Art. 81 EG.
23. Da im Rahmen von Art. 81 EG nach ständiger Rechtsprechung nur solche Unternehmensvereinbarungen(12) verfolgt und geahndet werden dürfen, die eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken(13), gebietet es Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003, dass der Maßstab der Spürbarkeit auch beachtet wird, wenn – wie hier – Unionskartellrecht und nationales Kartellrecht vor mitgliedstaatlichen Behörden oder Gerichten parallel Anwendung finden.
24. In diesem Zusammenhang möchte die Cour de cassation wissen, ob sich die Beurteilung der Spürbarkeit einer Wettbewerbsbeschränkung durch nationale Behörden notwendigerweise nach denjenigen Kriterien zu richten hat, die auf Unionsebene in der De-minimis-Bekanntmachung der Kommission veröffentlicht sind. Insbesondere kommt es der Cour de cassation darauf an, zu erfahren, ob eine nationale Behörde eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung annehmen darf, wenn die von ihr untersuchte Unternehmensvereinbarung zwar nicht die in der De-minimis-Bekanntmachung festgelegten Marktanteilsschwellen erreicht, aber einen wettbewerbswidrigen Zweck aufweist.
25. Unter den Verfahrensbeteiligten, die vor dem Gerichtshof Stellungnahmen abgegeben haben, meint nur Expedia, die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte seien an die Marktanteilsschwellen der De-minimis-Bekanntmachung gebunden, und zwar auch bei Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Zwecks. Alle am Verfahren beteiligten Behörden und Regierungen vertreten demgegenüber die Auffassung, dass die De-minimis-Bekanntmachung für nationale Stellen nicht verbindlich sei. Einige von ihnen äußern zudem die Ansicht, dass es zur Verfolgung einer Unternehmensvereinbarung mit wettbewerbswidrigem Zweck keiner konkreten Prüfung der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung bedürfe.
A – Keine verbindlichen Rechtswirkungen der De-minimis-Bekanntmachung
26. Wie der Gerichtshof bereits in anderem Zusammenhang festgestellt hat, entfalten Bekanntmachungen der Kommission auf dem Gebiet des europäischen Wettbewerbsrechts für die nationalen Behörden und Gerichte keine verbindlichen Rechtswirkungen(14). So verhält es sich auch im vorliegenden Fall mit der De-minimis-Bekanntmachung und den darin enthaltenen Marktanteilsschwellen. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut jener Bekanntmachung, sondern auch aus ihren Zielen und aus dem Zusammenhang, in dem sie erlassen wurde.
27. Schon aus dem Wortlaut der De-minimis-Bekanntmachung folgt unzweifelhaft, dass diese lediglich die Rechtsauffassung der Kommission zum Ausdruck bringt(15) und für die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten „nicht verbindlich ist“(16). Auch eine Bindung der Unionsgerichte ist übrigens von vornherein ausgeschlossen, stellt doch die Bekanntmachung ausdrücklich klar, dass ihr Inhalt der Auslegung von Art. 81 EG durch den Gerichtshof und das Gericht „nicht vorgreift“(17).
28. Die mit der De-minimis-Bekanntmachung verfolgte Zielsetzung spricht ebenfalls gegen den zwingenden Charakter der in ihr gemachten Aussagen. Denn mit dieser Bekanntmachung bezweckte die Kommission lediglich, ihre Verwaltungspraxis bei der Anwendung von Art. 81 EG transparent zu machen(18) sowie einen Leitfaden mit nützlichen Auslegungshinweisen für die auf dem Binnenmarkt tätigen Unternehmen und für die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bereitzustellen(19).
29. Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man den Zusammenhang bedenkt, in den sich die De-minimis-Bekanntmachung einbettet. Die Kommission hat jene Bekanntmachung nicht etwa in Ausübung von Rechtsetzungsbefugnissen, sondern vielmehr in ihrer Eigenschaft als Wettbewerbsbehörde der Europäischen Union herausgebracht. Einerseits handelt es sich bei dieser Bekanntmachung um eine Erläuterung der eigenen Verwaltungspraxis der Kommission, andererseits gibt die Kommission darin eine allgemeine wettbewerbspolitische Stellungnahme oder Empfehlung ab, im Rahmen der ihr übertragenen Verantwortung für die Aufrechterhaltung und Entwicklung eines Systems des unverfälschten Wettbewerbs im europäischen Binnenmarkt(20). Dazu ist sie nach Art. 85 EG in Verbindung mit Art. 211 zweiter Gedankenstrich EG (nunmehr Art. 105 AEUV in Verbindung mit Art. 292 Satz 4 AEUV) befugt(21).
30. Solche Stellungnahmen oder Empfehlungen sind allerdings nicht verbindlich (Art. 249 Abs. 5 EG, nunmehr Art. 288 Abs. 5 AEUV). Rechtlich bindende Vorschriften zur Verwirklichung der in den europäischen Verträgen enthaltenen Wettbewerbsregeln können allein vom Rat in Form von Verordnungen oder Richtlinien erlassen werden (Art. 83 EG, nunmehr Art. 103 AEUV(22)). Lediglich Gruppenfreistellungsverordnungen dürfen von der Kommission erlassen werden, und auch dies nur mit Ermächtigung des Rates (Art. 85 Abs. 3 EG, nunmehr Art. 105 Abs. 3 AEUV).
31. Abgesehen davon hat die Kommission zwar nach Art. 10 der Verordnung Nr. 1/2003 eine Befugnis, in Ausnahmefällen deklaratorische Entscheidungen zur Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Art. 81 EG zu erlassen. Solche Entscheidungen können aber nur Einzelfälle („eine Vereinbarung“) betreffen und sind zudem insbesondere auf neuartige Formen von Vereinbarungen oder Verhaltensweisen gemünzt(23). Darüber hinausgehende wettbewerbspolitische Aussagen allgemeiner Art wie jene zur Spürbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen in der De-minimis-Bekanntmachung würden den Rahmen von Art. 10 der Verordnung Nr. 1/2003 sprengen.
32. Darüber hinaus zeigt die Veröffentlichung der De-miminis-Bekanntmachung in Reihe C des Amtsblatts der Europäischen Gemeinschaften, dass mit ihr nicht der Erlass bindender Rechtsvorschriften beabsichtigt war. Denn anders als in der Reihe „L“ des Amtsblatts sollen in der Reihe „C“ keine rechtlich verbindlichen Rechtsakte, sondern nur Informationen, Empfehlungen und Stellungnahmen betreffend die Union veröffentlicht werden(24).
33. Schließlich erfordert auch der auf Unionsebene anerkannte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen (nulla poena sine lege)(25) nicht, die De-minimis-Bekanntmachung als bindende Rechtsnorm anzusehen. Anders als nämlich Expedia zu meinen scheint, liegt die Rechtsgrundlage für das Vorgehen der Wettbewerbsbehörden gegen wettbewerbswidrige Unternehmensvereinbarungen nicht in der De-minimis-Bekanntmachung als solcher. Das unionsrechtliche Kartellverbot ist vielmehr schon auf der Ebene des Primärrechts in Art. 81 EG verankert, also in einer Vertragsbestimmung, die unmittelbare Wirkung zugunsten wie zulasten von Unternehmen entfaltet(26). Und was die von der französischen Wettbewerbsbehörde verhängten Sanktionen anbelangt, so ergeben sich diese aus dem innerstaatlichen Gesetz(27).
34. Alles in allem ist also davon auszugehen, dass die De-minimis-Bekanntmachung für sich allein genommen nicht dazu berufen ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.
B – Die De-minimis-Bekanntmachung als Leitfaden mit Hinweischarakter für die Anwendung von Art. 81 EG (Art. 101 AEUV)
35. Obgleich es also der De-minimis-Bekanntmachung, wie soeben gezeigt, an verbindlichen Rechtswirkungen fehlt, wäre es verfehlt, ihr jegliche rechtliche Bedeutung für Kartellverfahren abzusprechen(28). Veröffentlichungen wie die De-minimis-Bekanntmachung haben nämlich den Charakter von „soft law“, dessen Stellenwert in Kartellverfahren – sowohl auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene – nicht zu unterschätzen ist.
36. Mit Blick auf kartellrechtliche Verwaltungsverfahren auf Unionsebene ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Kommission durch den Erlass von Bekanntmachungen zu ihrer Verwaltungspraxis eine Selbstbindung eingeht. Es handelt sich um Verhaltensnormen, von denen die Kommission im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen und nicht ohne Beachtung des Grundsatzes der Gleichbehandlung abweichen darf(29). Eine solche Selbstbindung folgt auch aus der hier interessierenden De-minimis-Bekanntmachung, in der die Kommission ausdrücklich ausführt, sie werde in Bagatellfällen „weder auf Antrag noch von Amts wegen ein Verfahren eröffnen“(30). Ferner verlautbart die Kommission, sie werde keine Geldbußen verhängen, wenn Unternehmen gutgläubig davon ausgehen, dass eine Vereinbarung von der De-minimis-Bekanntmachung erfasst sei(31).
37. Was kartellrechtliche Verfahren auf mitgliedstaatlicher Ebene anbelangt, so erhebt die De-minimis-Bekanntmachung ausdrücklich den Anspruch, nationalen Gerichten und Behörden bei der Anwendung von Art. 81 EG als „Leitfaden“ zu dienen, „auch wenn sie für diese nicht verbindlich ist“(32). Ein solcher Leitfaden ist für das Funktionieren des dezentralen Systems der Kartellrechtsdurchsetzung, wie es durch die Verordnung Nr. 1/2003 geschaffen wurde(33), von entscheidender Bedeutung. Er trägt zu dem grundlegenden Ziel einer unionsweit möglichst wirksamen und einheitlichen Anwendung von Art. 81 EG und 82 EG (nunmehr Art. 101 AEUV und 102 AEUV) bei(34). Gleichzeitig unterstützt er die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt („level playing field“)(35) und steigert zudem die Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen(36). Auf diesen Umstand hat nicht zuletzt Expedia zu Recht hingewiesen.
38. Die im System der Verordnung Nr. 1/2003 fest verankerte Führungsrolle der Kommission bei der Ausgestaltung der europäischen Wettbewerbspolitik(37) würde untergraben, wenn die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten eine wettbewerbspolitische Bekanntmachung der Kommission kurzerhand ignorierten. Aus der allen mitgliedstaatlichen Stellen obliegenden Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (Art. 10 EG, nunmehr Art. 4 Abs. 3 EUV)(38) folgt daher, dass die nationalen Behörden und Gerichte wettbewerbspolitische Bekanntmachungen der Kommission – etwa die De-minimis-Bekanntmachung – bei der Ausübung der ihnen nach der Verordnung Nr. 1/2003 zustehenden Befugnisse gebührend berücksichtigen müssen(39).
39. Selbst wenn also für die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte aus der De-minimis-Bekanntmachung der Kommission keine zwingenden Vorgaben für die wettbewerbsrechtliche Beurteilung von Unternehmensvereinbarungen folgen, müssen sich diese Behörden und Gerichte doch mit der in jener Bekanntmachung zum Ausdruck kommenden Einschätzung der Kommission zur Spürbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen auseinandersetzen und gerichtlich überprüfbare Gründe für etwaige Abweichungen davon angeben(40).
40. Daraus folgt freilich kein absolutes Verbot für nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte, gegen Unternehmensvereinbarungen unterhalb der von der Kommission definierten De-minimis-Marktanteilsschwellen vorzugehen.
41. Zum einen sind nämlich Marktanteile nur einer von verschiedenen Anhaltspunkten quantitativer und qualitativer Art, nach denen beurteilt werden kann, ob von einer Vereinbarung zwischen Unternehmen eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung ausgeht oder nicht. Wie die italienische Regierung zutreffend ausführt, kommt es über die jeweiligen Marktanteile der betroffenen Unternehmen hinaus auf den gesamten wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang an, in den sich eine bestimmte Vereinbarung einbettet(41).
42. Zum anderen mag es auf den verschiedenen Märkten in den Mitgliedstaaten besondere nationale oder regionale Wettbewerbsprobleme geben, auf die die jeweilige Behörde und das jeweilige Gericht wirksam reagieren können müssen. Zu Recht hat außerdem die französische Wettbewerbsbehörde im Verfahren vor dem Gerichtshof ausgeführt, dass es objektive Unterschiede in der Verfolgungspraxis der Wettbewerbsbehörden geben kann, selbst wenn alle diese Behörden Teil des Europäischen Wettbewerbsnetzes (EWN)(42) sind und sich eng untereinander abstimmen(43).
43. Dementsprechend steht es nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichten frei, auch unterhalb der Schwellenwerte der De-minimis-Bekanntmachung gegen Unternehmensvereinbarungen vorzugehen, sofern sie sich mit den Hinweisen der Kommission in jener Bekanntmachung gebührend auseinandergesetzt haben und im konkreten Einzelfall andere Anhaltspunkte als die Marktanteile der betroffenen Unternehmen bestehen, die auf die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeeinträchtigung schließen lassen.
C – Unbeachtlichkeit der De-minimis-Marktanteilsschwellen bei der Beurteilung von Unternehmensvereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck
44. Zu prüfen bleibt noch, welche Aussagekraft den Marktanteilsschwellen der De-minimis-Bekanntmachung als Leitfaden für die nationalen Behörden und Gerichte zukommt, wenn Unternehmensvereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck betroffen sind. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts steht nämlich fest, dass die streitige Vereinbarung zwischen Expedia und der SNCF einen wettbewerbswidrigen Zweck hatte(44), mögen auch Expedia, die französische Regierung und die Kommission dies vor dem Gerichtshof in Zweifel ziehen.
45. Vor diesem Hintergrund gilt es zu klären, ob nach der De-minimis-Bekanntmachung die Annahme einer spürbaren Wettbewerbsbeeinträchtigung möglich ist, wenn zwar die De-minimis-Marktanteilsschwellen der Kommission unterschritten werden, aber ein wettbewerbswidriger Zweck verfolgt wird. Wie vor allem die mündliche Verhandlung gezeigt hat, wäre eine Klarstellung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Punkt besonders wünschenswert.
46. Zunächst ist anzumerken, dass die mangelnde Rechtsverbindlichkeit einer Handlung der Kommission wie der De-minimis-Bekanntmachung den Gerichtshof nicht daran hindert, diese im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV auszulegen(45).
47. Inhaltlich baut die De-minimis-Bekanntmachung auf der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf, wonach das Kartellverbot des Art. 81 EG (nunmehr Art. 101 AEUV) nur spürbare Beschränkungen des Wettbewerbs erfasst(46). Diese grundlegende Feststellung hat der Gerichtshof sowohl im Hinblick auf Unternehmensvereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck als auch in Bezug auf solche mit wettbewerbswidriger Wirkung getroffen(47). Mit anderen Worten gilt das Erfordernis der Spürbarkeit im Grundsatz für bezweckte wie für bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen.
48. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Anforderungen an den Nachweis der Spürbarkeit in beiden Fällen dieselben wären. Im Gegenteil unterscheiden sich diese Anforderungen, je nachdem, ob eine Vereinbarung zwischen Unternehmen einen wettbewerbswidrigen Zweck hat oder lediglich eine wettbewerbswidrige Wirkung entfaltet.
49. Denn nur wenn keine hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Zwecks bestehen, erfordert die Anwendung von Art. 81 Abs. 1 EG den Nachweis konkreter wettbewerbswidriger Auswirkungen einer Vereinbarung. Steht hingegen fest, dass die betreffende Vereinbarung einen wettbewerbswidrigen Zweck hat, so erübrigt sich nach ständiger Rechtsprechung der konkrete Nachweis nachteiliger Auswirkungen dieser Vereinbarung auf den Wettbewerb. Es genügt dann, darzulegen, dass diese Vereinbarung konkret geeignet ist, den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen(48).
50. Diese unterschiedlichen Beweisanforderungen beruhen auf dem Umstand, dass bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen schon ihrer Natur nach als schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs angesehen werden(49). Vereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck sind anerkanntermaßen sozialschädlich(50). Sie können schwerlich als Bagatelldelikte angesehen werden. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass Unternehmen, die eine Vereinbarung mit einem wettbewerbswidrigen Zweck treffen, damit stets eine spürbare Beeinträchtigung des Wettbewerbs beabsichtigen, gleichviel, wie hoch ihre jeweiligen Marktanteile und Umsätze sein mögen.
51. Zu diesen direkt aus Art. 81 EG folgenden Vorgaben darf sich die Kommission in ihrer De-minimis-Bekanntmachung nicht in Widerspruch setzen(51). Dementsprechend nimmt auch die De-minimis-Bekanntmachung bestimmte „Kernbeschränkungen“ ausdrücklich von der Geltung der Marktanteilsschwellen aus(52). Wie die Kommission selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof eingeräumt hat, ist damit freilich keine abschließende Aufzählung aller Vereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck verbunden(53).
52. Die Nichtanwendung der De-minimis-Marktanteilsschwellen auf Vereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck macht nicht nur rechtlich, sondern auch wettbewerbspolitisch Sinn: Marktanteilsschwellen wie die in der De-minimis-Bekanntmachung enthaltenen sollen Rechtssicherheit schaffen. Sie bilden eine Sicherheitszone (Englisch: „safe harbour“), innerhalb deren die an einer Vereinbarung beteiligten Unternehmen nicht befürchten müssen, einen Verstoß gegen das Kartellverbot zu begehen. Eine derartige Vorzugsbehandlung kann schwerlich Unternehmen zugutekommen, die Vereinbarungen mit einem wettbewerbswidrigen Zweck treffen. Ansonsten würden Unternehmen, deren Marktanteile unterhalb der Schwellen der De-minimis-Bekanntmachung liegen, geradezu eingeladen, auf wirksamen Wettbewerb untereinander zu verzichten und sich unter Verstoß gegen grundlegende Prinzipien des Binnenmarkts zu Kartellen zusammenzuschließen. Darauf hat nicht zuletzt Polen mit Recht hingewiesen.
53. Insgesamt bleibt somit festzuhalten, dass die Marktanteilsschwellen der De-minimis-Bekanntmachung unbeachtlich sind, wenn es gilt, die Spürbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen zu beurteilen, die von Unternehmensvereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck ausgehen. Dies haben zutreffend die französische Wettbewerbsbehörde sowie die Regierungen Frankreichs, Italiens und Irlands angemerkt. Auch die Kommission hat sich dieser Auffassung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof im Wesentlichen angeschlossen.
54. Zwar lassen sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinzelt Urteile ausmachen, die das Kartellverbot auch im Fall von Unternehmensvereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck für unanwendbar erklären, sofern diese Vereinbarungen „den Markt mit Rücksicht auf die schwache Stellung der Beteiligten auf dem Markt der fraglichen Erzeugnisse nur geringfügig beeinträchtig[en]“(54). Dies darf jedoch nicht dahin gehend missverstanden werden, dass die Spürbarkeit von bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen anhand von Marktanteilsschwellen gemessen werden müsste, und erst recht nicht anhand der gleichen Schwellen, die bei der Prüfung der Spürbarkeit von bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen zugrunde gelegt werden(55). Ansonsten würde der grundlegende Unterschied zwischen bezweckten und bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen in unzulässiger Weise verwischt.
55. Dementsprechend hat der Gerichtshof selbst bei vergleichsweise geringen Marktanteilen, die deutlich unter der im vorliegenden Fall diskutierten „De-minimis-Schwelle“ von 10 % lagen, nicht gezögert, die Spürbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen zu bejahen, sofern die beteiligten Unternehmen mit ihrer Verhaltensweise einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgten(56). Einige Urteile der Unionsgerichte verlangten sogar überhaupt keine konkreten Anhaltspunkte für die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung, wenn feststand, dass eine Unternehmensvereinbarung einen wettbewerbswidrigen Zweck hatte(57).
56. All dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass an den Nachweis der Spürbarkeit einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung auf keinen Fall höhere Anforderungen gestellt werden sollten als im Rahmen der sogenannten „Zwischenstaatlichkeitsklausel“ von Art. 81 Abs. 1 EG (Art. 101 Abs. 1 AEUV) an den Nachweis der Spürbarkeit der Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten(58).
57. Steht also – wie im vorliegenden Fall – fest, dass eine Unternehmensvereinbarung mit wettbewerbswidrigem Zweck geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen(59), so kann daraus zugleich ohne Weiteres gefolgert werden, dass diese Vereinbarung auch geeignet ist, den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts spürbar einzuschränken, zu verfälschen oder gar zu verhindern.
VI – Ergebnis
58. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die von der französischen Cour de cassation vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:
1. Art. 81 Abs. 1 EG und Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 sind dahin auszulegen, dass die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats eine Vereinbarung zwischen Unternehmen selbst dann als wettbewerbswidrig verfolgen und ahnden darf, wenn die von der Europäischen Kommission in ihrer „De-minimis-Bekanntmachung“ festgelegten Marktanteilsschwellen nicht erreicht werden, vorausgesetzt, die einzelstaatliche Behörde hat diese Bekanntmachung gebührend berücksichtigt und weist anderweitig nach, dass eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wird.
2. Die „De-minimis-Bekanntmachung“ der Kommission ist dahin auszulegen, dass die in ihr definierten Marktanteilsschwellen unbeachtlich sind, wenn es gilt, die Spürbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen zu beurteilen, die von Unternehmensvereinbarungen mit wettbewerbswidrigem Zweck ausgehen.