Language of document : ECLI:EU:C:2016:459

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 16. Juni 2016(1)

Rechtssache C‑174/15

Vereniging Openbare Bibliotheken

gegen

Stichting Leenrecht

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag [Bezirksgericht Den Haag, Niederlande])

„Urheberrecht und verwandte Schutzrechte – Vermiet- und Verleihrecht an geschützten Werken – Richtlinie 2001/29/EG – Richtlinie 2006/115/EG – E‑Books – Öffentliche Bibliotheken“





 Einführung

1.        Die Bibliothek ist eine sehr alte Schöpfung der Menschheit. Sie ist um mehrere Jahrhunderte älter als die Erfindung des Papiers und das Erscheinen des Buches, so, wie wir es jetzt kennen. Sie konnte sich der Erfindung des Drucks im 15. Jahrhundert anpassen, und ihr musste sich das ungefähr im 18. Jahrhundert eingeführte Urheberrecht anpassen. Wir erleben gegenwärtig eine neue Revolution, die digitale Revolution. Wird die Bibliothek diese erneute Umwälzung ihrer Umwelt überleben? Ohne die Bedeutung der vorliegenden Rechtssache zu übertreiben, lässt sich nicht leugnen, dass sie eine echte Gelegenheit darstellt, um den Bibliotheken nicht nur zum Überleben, sondern auch zu neuem Schwung zu verhelfen.

2.        Es ist nämlich bereits eine Binsenweisheit, dass die digitale Technik und die Einführung des Internets zahlreiche Tätigkeitsbereiche, unter anderem den der – insbesondere literarischen – Schöpfung, tief greifend umgewälzt haben. Das Aufkommen der E‑Books hat sowohl das Verlagswesen als auch die Gewohnheiten der Leser stark verändert, und dies ist erst der Anfang des Prozesses. Zwar soll das E‑Book zweifelsohne nicht das Papierbuch ersetzen, doch gleicht bei einigen Kategorien von Büchern und auf bestimmten Märkten der Umfang der Verkäufe von E‑Books demjenigen der Verkäufe von Papierbüchern oder übersteigt ihn sogar, und einige Bücher werden allein in digitaler Form veröffentlicht(2). Ebenso neigen einige Leser, und sie werden immer zahlreicher, dazu, das Lesen von Papierbüchern zugunsten des E‑Book-Readers aufzugeben, und bei den Jüngsten unter ihnen haben einige niemals die Gewohnheit des Lesens von Papierbüchern angenommen.

3.        Passen sich die Bibliotheken dieser Entwicklung nicht an, so laufen sie Gefahr, an den Rand gedrängt zu werden und ihre Fähigkeit, die Rolle der Verbreitung der Kultur, die ihnen seit Tausenden von Jahren eignet, zu verlieren. Die Einführung eines geeigneten Regelungsrahmens für die Modernisierung der Funktionsweise der Bibliotheken ist seit einiger Zeit Gegenstand der Erörterung sowohl bei den Beteiligten als auch in der Lehre(3). Die Frage, ob – und auf welcher Rechtsgrundlage – die Bibliotheken das Recht haben, E‑Books zu verleihen, steht im Zentrum dieser Erörterung. Die vorliegende Rechtssache wird es dem Gerichtshof erlauben, diese Frage gerichtlich zu entscheiden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2001/29/EG

4.        Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte(4) sieht vor:

„Außer in den in Artikel 11 [betreffend technische Anpassungen einiger Richtlinien auf dem Gebiet des Urheberrechts] genannten Fällen lässt diese Richtlinie die bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über folgende Bereiche unberührt und beeinträchtigt sie in keiner Weise:

b)      über das Vermietrecht, das Verleihrecht und bestimmte dem Urheberrecht verwandte Schutzrechte im Bereich des geistigen Eigentums“.

5.        Art. 2 („Vervielfältigungsrecht“) Buchst. a der Richtlinie 2001/29 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten:

a)      für die Urheber in Bezug auf ihre Werke“.

6.        Art. 3 („Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände“) Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.“

7.        Art. 4 („Verbreitungsrecht“) der Richtlinie 2001/29 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern in Bezug auf das Original ihrer Werke oder auf Vervielfältigungsstücke davon das ausschließliche Recht zusteht, die Verbreitung an die Öffentlichkeit in beliebiger Form durch Verkauf oder auf sonstige Weise zu erlauben oder zu verbieten.

(2)      Das Verbreitungsrecht erschöpft sich in der Gemeinschaft in Bezug auf das Original oder auf Vervielfältigungsstücke eines Werks nur, wenn der Erstverkauf dieses Gegenstands oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung in der Gemeinschaft durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung erfolgt.“

8.        Art. 5 („Ausnahmen und Beschränkungen“) der Richtlinie sieht schließlich in den Abs. 1 und 2 Buchst. c vor:

„(1)      Die in Artikel 2 bezeichneten vorübergehenden Vervielfältigungshandlungen, die flüchtig oder begleitend sind und einen integralen und wesentlichen Teil eines technischen Verfahrens darstellen und deren alleiniger Zweck es ist,

b)      eine rechtmäßige Nutzung

eines Werks oder sonstigen Schutzgegenstands zu ermöglichen, und die keine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung haben, werden von dem in Artikel 2 vorgesehenen Vervielfältigungsrecht ausgenommen.

(2)      Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf das in Artikel 2 vorgesehene Vervielfältigungsrecht vorsehen:

c)      in Bezug auf bestimmte Vervielfältigungshandlungen von öffentlich zugänglichen Bibliotheken, Bildungseinrichtungen oder Museen oder von Archiven, die keinen unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen oder kommerziellen Zweck verfolgen“.

 Richtlinie 2006/115/EG

9.        Art. 1 („Regelungszweck“) der Richtlinie 2006/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums(5) bestimmt:

„(1)      In Übereinstimmung mit den Bestimmungen dieses Kapitels [Kapitel I, „Vermiet- und Verleihrecht“] sehen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Artikels 6 der Richtlinie das Recht vor, die Vermietung und das Verleihen von Originalen und Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke und anderer in Artikel 3 Absatz 1 bezeichneter Schutzgegenstände zu erlauben oder zu verbieten.

(2)      Die in Absatz 1 genannten Rechte werden weder durch die Veräußerung von in Artikel 3 Absatz 1 bezeichneten Originalen und Vervielfältigungsstücken von urheberrechtlich geschützten Werken und anderen Schutzgegenständen noch durch andere darauf bezogene Verbreitungshandlungen erschöpft.“

10.      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2006/115 sieht in Abs. 1 Buchst. b vor:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

b)      ‚Verleihen‘ ist die zeitlich begrenzte Gebrauchsüberlassung, die nicht einem unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen oder kommerziellen Nutzen dient und durch der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtungen vorgenommen wird“.

11.      Art. 3 („Rechtsinhaber und Gegenstand des Vermiet- und Verleihrechts“) Abs. 1 Buchst. a lautet:

„Das ausschließliche Recht, die Vermietung und das Verleihen zu erlauben oder zu verbieten, steht folgenden Personen zu:

a)      dem Urheber in Bezug auf das Original und auf Vervielfältigungsstücke seines Werkes“.

12.      Schließlich bestimmt Art. 6 („Ausnahme vom ausschließlichen öffentlichen Verleihrecht“) in den Abs. 1 und 3:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können hinsichtlich des öffentlichen Verleihwesens Ausnahmen von dem ausschließlichen Recht nach Artikel 1 vorsehen, sofern zumindest die Urheber eine Vergütung für dieses Verleihen erhalten. Es steht den Mitgliedstaaten frei, diese Vergütung entsprechend ihren kulturpolitischen Zielsetzungen festzusetzen.

(3)      Die Mitgliedstaaten können bestimmte Kategorien von Einrichtungen von der Zahlung der Vergütung im Sinne der Absätze 1 und 2 ausnehmen.“

 Niederländisches Recht

13.      Das Urhebergesetz (Auteurswet) regelt das Verleihrecht in Art. 12 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3. Die Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen ist in Art. 15c Abs. 1 dieses Gesetzes geregelt.

 Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, das Verfahren und die Vorlagefragen

14.      In mehreren Mitgliedstaaten, darunter den Niederlanden, gibt es eine lebhafte Diskussion betreffend das Verleihen von E‑Books durch Bibliotheken. Aufgrund eines Berichts im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Kultur und Wissenschaft wurde der Schluss gezogen, dass das Verleihen von E‑Books nicht unter das ausschließliche Verleihrecht im Sinne der Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie 2006/115 in niederländisches Recht falle. Infolgedessen kann der Verleih von E‑Books durch öffentliche Bibliotheken nicht in den Genuss der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie, der ebenfalls in niederländisches Recht umgesetzt wurde, vorgesehenen Ausnahme gelangen. Die Regierung erarbeitete einen auf dieser Prämisse beruhenden Entwurf eines Bibliotheksgesetzes.

15.      Indessen teilt die Vereniging Openbare Bibliotheken, eine Vereinigung der öffentlichen Bibliotheken in den Niederlanden (im Folgenden: VOB), die Klägerin des Ausgangsverfahrens, diesen Standpunkt nicht. In der Überzeugung, dass die einschlägigen Bestimmungen des niederländischen Rechts auch für das digitale Verleihen gelten müssten, erhob sie beim vorlegenden Gericht Klage gegen die Stichting Leenrecht, eine Stiftung, die mit dem Inkasso der den Urhebern aufgrund der Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen geschuldeten Vergütung betraut ist, auf Feststellung, erstens, dass das Verleihen von E‑Books unter das Verleihrecht fällt, zweitens, dass die zeitlich unbegrenzte Gebrauchsüberlassung von E‑Books einen Verkauf im Sinne der Bestimmungen zur Regelung des Vertriebsrechts darstellt, und drittens, dass das Verleihen von E‑Books durch öffentliche Bibliotheken bei einer angemessenen Vergütung für die Urheber keine Verletzung des Urheberrechts darstellt.

16.      VOB führt weiter aus, ihre Klage betreffe das Verleihen nach dem Modell, welches das vorlegende Gericht als „One copy one user“ einstufe. Bei diesem Modell werde das E‑Book, über das die Bibliothek verfüge, vom Nutzer für die Dauer des Verleihs heruntergeladen und sei in dieser Zeit anderen Nutzern der Bibliothek nicht zugänglich. Nach Ablauf dieses Zeitraums sei das Buch automatisch für den betreffenden Nutzer nicht mehr nutzbar und könne dann von einem anderen Nutzer entliehen werden. VOB macht ferner geltend, sie wünsche den Bereich ihrer Klage auf „Romane, Sammlungen von Novellen, Biografien, Reiseberichte sowie Kinder- und Jugendbücher“ zu beschränken.

17.      Die Streithelfer des Ausgangsverfahrens sind die Stichting Lira, eine Organisation für die kollektive Verwaltung der Rechte der Urheber literarischer Werke (im Folgenden: Lira), und die Stichting Pictoright, eine Organisation für die kollektive Verwaltung der Rechte der Urheber von Werken der bildenden Kunst (im Folgenden: Pictoright), beide zur Unterstützung der Anträge von VOB, und die Vereniging Nederlands Uitgeversverbond, niederländischer Verlegerverband (im Folgenden: NUV), die den gegenteiligen Standpunkt vertritt.

18.      Die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) ist der Ansicht, dass die Entscheidung über die Anträge von VOB von der Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts abhängt, und hat dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 dahin auszulegen, dass unter „Verleihen“ im Sinne dieser Vorschriften auch die Gebrauchsüberlassung urheberrechtlich geschützter Romane, Erzählungssammlungen, Biografien, Reiseberichte, Kinderbücher und Jugendliteratur zu verstehen ist, die nicht einem unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen oder kommerziellen Nutzen dient und über eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung vorgenommen wird,

–        indem ein Vervielfältigungsstück in digitaler Form (Vervielfältigung A) auf dem Server der Einrichtung abgelegt und es dem Nutzer ermöglicht wird, dieses Vervielfältigungsstück durch Herunterladen auf seinem eigenen Computer zu vervielfältigen (Vervielfältigung B),

–        wobei das vom Nutzer während des Herunterladens angefertigte Vervielfältigungsstück (Vervielfältigung B) nach Ablauf eines begrenzten Zeitraums nicht mehr verwendbar ist und

–        andere Nutzer das Vervielfältigungsstück (Vervielfältigung A) während dieses Zeitraums nicht auf ihren Computer herunterladen können?

2.      Sofern Frage 1 zu bejahen ist: Hindert Art. 6 der Richtlinie 2006/115 und/oder eine andere Bestimmung des Unionsrechts die Mitgliedstaaten daran, die Anwendung der in Art. 6 der genannten Richtlinie enthaltenen Beschränkung des Verleihrechts mit der Bedingung zu verknüpfen, dass das von der Einrichtung zur Verfügung gestellte Vervielfältigungsstück des Werks (Vervielfältigung A) durch einen Erstverkauf dieses Vervielfältigungsstücks oder eine andere erstmalige Eigentumsübertragung in der Union durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 in den Verkehr gebracht worden ist?

3.      Sofern Frage 2 zu verneinen ist: Stellt Art. 6 der Richtlinie 2006/115 andere Anforderungen an die Herkunft des von der Einrichtung zur Verfügung gestellten Vervielfältigungsstücks (Vervielfältigung A) wie beispielsweise die Anforderung, dass dieses Vervielfältigungsstück aus einer rechtmäßigen Quelle stammt?

4.      Sofern Frage 2 zu bejahen ist: Ist Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen, dass unter dem Erstverkauf von Gegenständen oder einer anderen erstmaligen Eigentumsübertragung im Sinne dieser Vorschrift auch eine zeitlich unbegrenzte Gebrauchsüberlassung eines digitalen Vervielfältigungsstücks urheberrechtlich geschützter Romane, Erzählungssammlungen, Biografien, Reiseberichte, Kinderbücher und Jugendliteratur zu verstehen ist, die online durch Herunterladen vorgenommen wird?

19.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 17. April 2015 beim Gerichtshof eingegangen. Schriftliche Erklärungen sind von VOB, NUV, Lira und Pictoright sowie der deutschen, der griechischen, der französischen, der italienischen, der lettischen und der portugiesischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Europäischen Kommission eingereicht worden. In der mündlichen Verhandlung vom 9. März 2016 waren VOB, NUV, Lira und Pictoright, die tschechische, die griechische und die französische Regierung sowie die Kommission vertreten.

 Würdigung

20.      Das vorlegende Gericht stellt vier Vorlagefragen. Die Erste von ihnen hat überragende Bedeutung, denn sie betrifft die Frage, ob das Verleihen von E‑Books von der Richtlinie 2006/115 erfasst werden kann. Falls diese erste Frage verneint wird, sind die anderen nicht mehr erheblich. Ich werde daher meine Analyse auf die erste Frage konzentrieren. Die zweite, die dritte und die vierte Frage betreffen die Voraussetzungen, welche die E‑Books erfüllen müssen, um gegebenenfalls im Rahmen der Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen verliehen werden zu können. Ich werde sie gemeinsam und kurz behandeln.

 Zur ersten Vorlagefrage

 Vorbemerkungen

21.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die öffentliche Zugänglichmachung von E‑Books durch öffentliche Bibliotheken für begrenzte Zeit unter das in diesem Artikel verankerte Verleihrecht fällt.

22.      Entsprechend dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens, wie er durch die Klage von VOB bestimmt wird, beschränkt das vorlegende Gericht seine Frage auf „Romane, Erzählungssammlungen, Biografien, Reiseberichte, Kinderbücher und Jugendliteratur“. Auch wenn einzuräumen ist, dass die Problematik, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, unter den verschiedenen Kategorien der durch das Verleihrecht geschützten Gegenstände auf E‑Books beschränkt ist(6), erscheint es mir doch schwierig, sie so einzugrenzen, wie es das vorlegende Gericht tut. Die Kategorie der literarischen Werke, die es unterscheidet, beruht nämlich meines Erachtens auf keinem objektiven Kriterium, das eine unterschiedliche Behandlung dieser Kategorie rechtfertigen könnte. Die vom Gerichtshof zur Beantwortung der Vorlagefrage entwickelte Lösung muss daher unterschiedslos auf sämtliche Arten literarischer Werke angewandt werden, die als E‑Books vorliegen.

23.      Meines Erachtens ist es unerlässlich, dass die Auslegung der Richtlinie 2006/115 den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft entspricht, indem sie es ermöglicht, die verschiedenen im Spiel befindlichen Interessen miteinander zu vereinbaren. Gleichzeitig muss diese Auslegung mit den internationalen Verpflichtungen der Europäischen Union in Einklang stehen und sich in die Systematik der anderen Rechtsakte der Union im Bereich des Urheberrechts einfügen. Ich werde diese verschiedenen Probleme im Folgenden behandeln.

 Zu den axiologischen Grundlagen einer Auslegung der Richtlinie 2006/115 im Licht der gegenwärtigen Herausforderungen

24.      Die Richtlinie 2006/115 ist kein neuer Rechtsakt. Es handelt sich nämlich um eine Kodifizierung der Richtlinie 92/100/EWG des Rates vom 19. November 1992 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums(7), die einer der ersten beiden Rechtsakte im Bereich des Urheberrechts ist(8). In Bezug auf das Verleihrecht wurde diese Richtlinie in der Sache niemals geändert, weder bei der Kodifizierung durch die Richtlinie 2006/115 noch vorher. Die geltenden Bestimmungen über das Verleihrecht sind daher im Kern die gleichen, wie sie 1992 erlassen wurden.

25.      Es ist meines Erachtens unbestreitbar, dass der Unionsgesetzgeber seinerzeit nicht beabsichtigt hatte, das Verleihen von E‑Books in den Verleihbegriff der Richtlinie aufzunehmen, und sei es nur, weil die Technik der gewerblich nutzbaren E‑Books damals erst an ihrem Anfang stand. Außerdem bezog sich die Kommission, als sie in den Erwägungsgründen der Richtlinie 92/100 ausdrücklich ausschloss, dass diese auf die öffentliche Zugänglichmachung von Werken durch Herunterladen anwendbar sein sollte, ausschließlich auf Ton- und Tonbildträger(9). Die Frage des Herunterladens von Büchern ist dort nicht einmal erwähnt.

26.      Bedeutet dies, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2006/115 auch heute noch dahin auszulegen sind, dass das Verleihen von E‑Books vom Begriff des Verleihens im Sinne dieser Richtlinie ausgenommen ist? Ich denke, dass dies nicht der Fall ist, und zwar aus dreierlei Gründen.

27.      Erstens ist es meines Erachtens unerlässlich, Rechtsakten eine Auslegung beizulegen, welche die Entwicklung der Technik, des Marktes und der Verhaltensweisen berücksichtigt, und diese Rechtsakte nicht durch eine zu starre Auslegung in der Vergangenheit festzuhalten(10).

28.      Eine solche Auslegung, die als „dynamisch“ oder „evolutionär“ eingestuft werden kann, ist meines Erachtens insbesondere in den Bereichen notwendig, die stark vom technischen Fortschritt betroffen sind, wie dies beim Urheberrecht der Fall ist. Dieser Fortschritt ist nämlich in unseren Tagen so schnell, dass er das Gesetzgebungsverfahren mit Leichtigkeit überholt und damit die Versuche einer Anpassung der Rechtsvorschriften auf diesem Weg oft vergeblich werden lässt, so dass die Rechtsakte auf diese Weise bereits bei ihrem Erlass oder kurz danach obsolet werden. Die Richtlinie 2006/115 macht dieses Phänomen selbst in perfekter Weise deutlich. Ihre Bestimmungen betreffend die Vermietung, mit denen der Markt für die Vermietung von Kassetten, CDs und DVDs geregelt werden sollte, sind heute überholt, denn die Vermietung von Tonträgern und Tonbildträgern ist jedenfalls auf dem europäischen Markt praktisch zugunsten der Online-Zugänglichmachung verschwunden(11). Dieser Anachronismus der Rechtsvorschriften im Verhältnis zur Wirklichkeit ist oft Quelle von Auslegungsproblemen, Unsicherheit oder Rechtslücken. In solchen Fällen ist nur eine angepasste Auslegung durch die Rechtsprechung in der Lage, die Wirksamkeit der in Rede stehenden Regelung angesichts der Schnelligkeit der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Bereich zu gewährleisten.

29.      Ein solcher Ansatz dürfte auch im Einklang mit den Absichten des Gesetzgebers bei der Anpassung unionsrechtlicher Bestimmungen im Bereich des Urheberrechts stehen. Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/115 heißt es nämlich, dass „das Urheberrecht … an neue wirtschaftliche Entwicklungen … angepasst werden [muss]“. Der gleiche Wille zur Anpassung an die neue technische und wirtschaftliche Wirklichkeit geht aus den Erwägungsgründen 2, 5 und 8 der Richtlinie 2001/29 hervor, die der wichtigste Unionsrechtsakt im Bereich des Urheberrechts bleibt. Wie sollte diese Anpassung und diese „Aktualisierung“ der Vorschriften anders gewährleistet werden als dadurch, dass ihnen eine geeignete Auslegung gegeben wird?

30.      Das Verleihen von E‑Books ist ein modernes Äquivalent für das Verleihen von Büchern auf Papier. Ich teile nicht das in der vorliegenden Rechtssache vorgetragene Argument, dass ein grundlegender Unterschied zwischen dem E‑Book und dem herkömmlichen Buch oder zwischen dem Verleihen eines E‑Books und demjenigen eines Papierbuchs bestehe. Klar ist, dass das E‑Book anders aussieht und in bestimmten Situationen bequemer sein kann (in anderen jedoch weniger) sowie bestimmte Funktionen erlaubt, wie die Suche von Wörtern und Übersetzungen, die ein Papierbuch nicht aufweist. Diese Merkmale sind jedoch zweitrangig, und ihre Bedeutung hängt von den persönlichen Präferenzen des jeweiligen Nutzers ab. Das Gleiche gilt für das Argument, der grundlegende Vorteil bestehe darin, dass das digitale Verleihen kein Aufsuchen der Bibliothek durch den Nutzer erfordere, da es aus der Ferne erfolge. Man könnte dem ebenso gut entgegenhalten, dass einige Personen es vorziehen, sich in die Bibliothek zu begeben, um in den Genuss eines menschlichen Kontakts zu gelangen.

31.      Entscheidend ist jedoch meines Erachtens der objektive Gesichtspunkt: Durch das Entleihen eines herkömmlichen Buches oder eines E‑Books in der Bibliothek möchte der Nutzer Kenntnis vom Inhalt dieses Buches erlangen, ohne ein Exemplar bei sich zu behalten. Aus diesem Blickwinkel unterscheiden sich das Papierbuch und das E-Book nicht wesentlich, ebenso wie die Modalitäten ihres Entleihens.

32.      Die Auslegung der Richtlinie 2006/115 muss daher dieser Wirklichkeit dadurch Rechnung tragen, dass sie den rechtlichen Rahmen des Verleihens von E‑Books demjenigen des Verleihens herkömmlicher Bücher angleicht.

33.      Zweitens besteht der Hauptzweck des Urheberrechts im Schutz der Interessen der Urheber. Nicht zufällig sind im Ausgangsverfahren die Organisationen, welche die Interessen der Urheber vertreten, also Lira und Pictoright, dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge von VOB beigetreten. Dies könnte paradox erscheinen, ergibt sich jedoch aus der Logik des Marktes, die derzeit im Bereich des Verleihens von E‑Books vorherrscht.

34.      Einen solchen Markt gibt es nämlich, die Bibliotheken verleihen tatsächlich Bücher in digitaler Form. Da jedoch von dieser Form des Verleihens angenommen wird, dass sie vom Begriff des Verleihens im Sinne der Richtlinie 2006/115 nicht erfasst wird, kann sie auch nicht in den Genuss der Ausnahmeregelung für das Verleihwesen in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie gelangen. Das Verleihen von E‑Books wird deshalb durch Lizenzverträge zwischen den Bibliotheken und den Verlegern organisiert. Die Verleger stellen die E‑Books zu einem zu diesem Zweck ausgehandelten Preis zur Verfügung, und die Bibliotheken haben sodann das Recht, sie an die Nutzer zu verleihen. Nach den Ausführungen von Lira und Pictoright kommen diese vertraglichen Beziehungen hauptsächlich den Verlegern oder den anderen Vermittlern des Handels mit E‑Books zugute, ohne dass die Urheber eine angemessene Vergütung erhalten.

35.      Würde dagegen angenommen, dass der digitale Verleih von der Richtlinie 2006/115 und somit von der Ausnahmeregelung in deren Art. 6 Abs. 1 erfasst wird, erhielten die Urheber aufgrund dessen gemäß dem in dieser Bestimmung enthaltenen Erfordernis eine Vergütung, die zu der Vergütung aus dem Verkauf der Bücher hinzukäme und die unabhängig von den mit den Verlegern geschlossenen Verträgen wäre.

36.      Eine Auslegung der Richtlinie 2006/115, wonach das digitale Verleihen vom Begriff des „Verleihens“ erfasst würde, wäre nicht nur für die Interessen der Urheber nicht schädlich, sondern würde im Gegenteil einen besseren Schutz ihrer Interessen im Vergleich zur gegenwärtigen Situation erlauben, die allein durch die Gesetze des Marktes geregelt wird.

37.      Drittens schließlich sind die Erwägungen, die mich eine Auslegung der Richtlinie 2006/115 befürworten lassen, welche die technische Entwicklung berücksichtigt, diejenigen, die ich im einleitenden Teil dieser Schlussanträge angeführt habe. Zu allen Zeiten haben Bibliotheken Bücher verliehen, ohne hierfür eine Genehmigung beantragen zu müssen. Einige von ihnen brauchten ihr Exemplar nicht einmal zu kaufen, da sie in den Genuss der Pflichtablieferung gelangen. Dies ist damit zu erklären, dass das Buch nicht als eine gewöhnliche Ware betrachtet wird und dass die literarische Schöpfung keine bloße wirtschaftliche Betätigung ist. Die Bedeutung, welche die Bücher für die Bewahrung der Kultur und den Zugang zu ihr sowie für die Wissenschaft haben, hatte stets Vorrang vor rein wirtschaftlichen Erwägungen.

38.      Gegenwärtig, im Zeitalter der Digitalisierung, müssen die Bibliotheken weiterhin die gleiche Rolle der Bewahrung und der Verbreitung der Kultur spielen können wie zu der Zeit, als das Buch nur in Papierform existierte. Dies ist jedoch in einem Umfeld, das allein von den Gesetzen des Marktes regiert wird, nicht zwangsläufig der Fall. Zum einen haben die Bibliotheken, vor allem die öffentlichen Bibliotheken, nicht immer die finanziellen Mittel, sich zu dem von den Verlegern verlangten hohen Preis E‑Books mit dem Recht zu verschaffen, sie zu verleihen. Dies betrifft speziell Bibliotheken, die sich in den am meisten benachteiligten Umgebungen betätigen, also dort, wo ihre Rolle besonders wichtig ist. Zum anderen zögern die Verleger und die Vermittler im Handel mit E‑Books häufig, mit Bibliotheken Verträge zu schließen, die diesen das digitale Verleihen erlauben. Sie befürchten nämlich, dass dieses Verleihen ihre Interessen dadurch beeinträchtigen könnte, dass es den Absatz verringere, oder dadurch, dass es ihnen nicht erlaube, ihre eigenen Geschäftsmodelle für die begrenzte Gebrauchsüberlassung zu entwickeln. Infolgedessen beschränken sie entweder vertraglich die Möglichkeiten des Verleihens von E‑Books durch die Bibliotheken dadurch, dass beispielsweise eine Höchstzahl von Verleihvorgängen oder ein Zeitraum nach der Veröffentlichung des Buches festgelegt wird, während dessen das Verleihen nicht möglich ist, oder dadurch, dass sie solche vertraglichen Beziehungen mit den Bibliotheken verweigern(12).

39.      Ohne den Genuss der Privilegien, die sich aus einer Ausnahme vom ausschließlichen Verleihrecht ergeben, laufen die Bibliotheken daher Gefahr, nicht mehr in der Lage zu sein, im digitalen Umfeld weiterhin die Rolle zu spielen, die sie stets in der Welt des Papierbuchs innehatten.

40.      Aus den zuvor dargestellten Gründen bin ich der Ansicht, dass man sich bei der Auslegung des Begriffs „Verleihen“ im Sinne der Richtlinie 2006/115 nicht auf das beschränken darf, was der Unionsgesetzgeber zum Zeitpunkt des ursprünglichen Erlasses dieser Richtlinie (d. h. der Richtlinie 92/100) im Sinn haben konnte, sondern ihm eine Definition beilegen muss, die im Gleichklang mit der inzwischen eingetretenen Entwicklung der Techniken und des Marktes steht. Daher muss nun geprüft werden, ob sich eine solche Auslegung bereits aus dem Wortlaut der Richtlinie 2006/115 ergibt und ob sie mit anderen Rechtstexten der Union im Bereich des Urheberrechts sowie mit den internationalen Verpflichtungen der Union kohärent ist.

 Zur Stichhaltigkeit der vorgeschlagenen Auslegung im Licht der geltenden Rechtstexte

–       Zu Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2006/115

41.      Zur Prüfung, ob sich die vorgeschlagene Auslegung aus Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2006/115 ergibt, muss erstens der Zweck des ausschließlichen Verleihrechts einerseits und der Ausnahme von diesem Recht für das öffentliche Verleihwesen andererseits berücksichtigt werden. Was das ausschließliche Verleihrecht angeht, besteht sein Zweck darin, den Urhebern eine angemessene Vergütung für diese Form der Verwertung ihrer Werke zu gewährleisten. Da die Verwertung der E‑Books in Form des Verleihens eine Tatsache ist, erscheint es mir völlig kohärent, diese Form des Verleihens in den Anwendungsbereich dieses ausschließlichen Rechts einzubeziehen.

42.      In Bezug auf den Zweck der Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen habe ich bereits die Argumente vorgetragen, die meines Erachtens dafür sprechen, den öffentlichen Bibliotheken die Möglichkeit zu geben, in den Genuss dieser Ausnahme in Bezug auf das Verleihen von E‑Books zu gelangen(13).

43.      Zweitens stellt sich die Frage, ob der Wortlaut der Richtlinie 2006/115 eine Auslegung ihrer Bestimmungen betreffend das Verleihen erlaubt, welche das Verleihen von E‑Books einschließt. Zur Erinnerung: Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt, dass „die Mitgliedstaaten … das Recht vor[sehen], die Vermietung und das Verleihen von Originalen und Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke … zu erlauben oder zu verbieten“(14). Daher könnte die Ansicht vertreten werden, dass diese Erwähnung von Originalen und Vervielfältigungsstücken den Umfang des Verleihrechts auf Werke beschränkt, die auf einen materiellen Träger aufgezeichnet worden sind, mit dem sie verliehen werden. Dies würde die E‑Books ausschließen, die gewöhnlich durch Herunterladen, also ohne Verbindung mit einem materiellen Träger, zugänglich gemacht werden(15). Indessen denke ich nicht, dass eine solche Auslegung richtig wäre.

44.      Meines Erachtens darf als Vervielfältigungsstück im Sinne der untersuchten Bestimmung nicht allein das materielle Exemplar des Werks verstanden werden. Das Vervielfältigungsstück ist nämlich nur das Ergebnis des Vorgangs der Vervielfältigung. Das Werk existiert nur in Form des Originals und seiner Vervielfältigungsstücke, die das Ergebnis der Vervielfältigung des Originals sind. Zwar ist ein herkömmliches Vervielfältigungsstück im Fall des Buches in Papierform notwendigerweise auf einem materiellen Träger enthalten, doch verhält es sich bei dem digitalen Vervielfältigungsstück anders. Ferner ist die Feststellung von Interesse, dass die französische Fassung des Vorschlags der Richtlinie 92/100 nicht den Begriff „copie“, sondern gerade den Begriff „reproduction“ verwendet(16). Zu behaupten, dass die Vervielfältigung des Werks nicht in der Schaffung eines Vervielfältigungsstücks bestehe, würde gegen die Systematik des Urheberrechts verstoßen.

45.      Der Umstand, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/115 den Begriff des Verleihens „von Gegenständen“ verwendet, kann meiner Auffassung nach ebenfalls nicht einer Auslegung dieser Richtlinie entgegenstehen, die das Verleihen von E‑Books einbezieht. Zum einen erscheint nämlich diese Hinzufügung des Wortes „Gegenstand“ nicht in allen Sprachfassungen. Vielmehr begnügen sich die meisten mit dem Wort „Verleihen“(17). Zum anderen verwendet die Richtlinie 2006/115 den Begriff „Gegenstände“ zur Bezeichnung sämtlicher Gegenstände des Verleih- und Vermietrechts, die in Art. 3 Abs. 1 aufgeführt sind(18). Dieser Begriff hat somit keine eigene Bedeutung, die sich von derjenigen in Bezug auf die Werke unterscheidet, die durch die Begriffe „Originale“ und „Vervielfältigungsstücke“ getragen wird.

46.      Was drittens das Vorbringen der französischen Regierung angeht, wonach der Grundsatz einer engen Auslegung von Ausnahmen der Erweiterung der Bedeutung des Begriffs „Verleihen“ auf das Verleihen von E‑Books entgegensteht, ist zu bemerken, dass es sich hier nicht um die Auslegung einer Ausnahme, sondern der Regel handelt, d. h. der Erweiterung des in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 vorgesehenen Verleihrechts.

47.      Zudem ist bezüglich der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 vorgesehenen Ausnahme darauf hinzuweisen, dass zwar die Ausnahmen vom Urheberrecht eng auszulegen sind, diese Auslegung es jedoch erlauben muss, die praktische Wirksamkeit der Ausnahme zu wahren und ihren Zweck zu berücksichtigen(19). Eine allzu restriktive Auslegung des Begriffs „Verleihen“ würde jedoch die praktische Wirksamkeit und den Zweck dieser Ausnahme in Bezug auf das Verleihen von E‑Books beeinträchtigen.

48.      Aus den oben dargestellten Gründen denke ich, dass eine Auslegung des Begriffs „Verleihen“, die das Verleihen von E‑Books einbezieht, weder gegen den Zweck noch gegen den Wortlaut der Richtlinie 2006/115 verstößt.

–       Zur Kohärenz in der Regelung des Urheberrechts im Unionsrecht

49.      Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache haben NUV sowie die deutsche und die französische Regierung geltend gemacht, die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Begriffs „Verleihen“ im Sinne der Richtlinie 2006/115 auf das Verleihen von E‑Books sei mit anderen Texten des Unionsrechts im Bereich des Urheberrechts, hauptsächlich mit der Richtlinie 2001/29, unvereinbar. Es handele sich erstens um eine terminologische Inkohärenz, da bestimmte Begriffe, wie beispielsweise „Vervielfältigungsstück“ und „Gegenstand“, in einem Verständnis verwendet würden, das mit dem Gedanken des digitalen Verleihens unvereinbar sei. Zweitens kollidiere eine solche weite Auslegung des Begriffs „Verleihen“ mit dem Recht der öffentlichen Wiedergabe und dem Recht der öffentlichen Zugänglichmachung, die in Art. 3 der Richtlinie 2001/29 verankert seien. Nach diesem Vorbringen fällt das Verleihen von E‑Books unter das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung, von dem es keine mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 vergleichbare Ausnahme gebe. Infolgedessen würde die Einbeziehung des digitalen Verleihens in die Richtlinie 2006/115 und die Anwendung dieser Ausnahme unter gegen Art. 3 der Richtlinie 2001/29 verstoßen.

50.      Was das erste dieser Argumente angeht, muss ich darauf hinweisen, dass bei bedingungsloser Anwendung des Grundsatzes der vollständigen terminologischen Kohärenz im Urheberrecht der Union die Definition einiger Begriffe, beispielsweise „Kopie“, „Verkauf“ und „Verbreitung“, die der Gerichtshof im Urteil Usedsoft(20) entwickelt hat, übernommen werden müsste. Bis jetzt ist nämlich dieses von der Großen Kammer erlassene und die Auslegung der Richtlinie 2009/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen(21) betreffende Urteil das einzige, in dem der Gerichtshof bestimmte Begriffe des Urheberrechts im Kontext des digitalen Umfeldes ausgelegt hat.

51.      So hat der Gerichtshof auf der Grundlage von Bestimmungen, die im Kern die gleiche Terminologie wie die Richtlinie 2001/29 verwenden (22), entschieden, dass das Herunterladen aus dem Internet sehr wohl eine Kopie des Werks, im konkreten Fall eines Computerprogramms(23), zum Gegenstand hat, und dass das Herunterladen in Verbindung mit einer Lizenz für die unbefristete Nutzung einen Verkauf der betreffenden Kopie darstellt und somit die Erschöpfung des Rechts zur Verbreitung dieser Kopie herbeiführt(24).

52.      Nach dem rigoros angewandten Grundsatz der terminologischen Kohärenz müsste der Begriff „Kopie“ oder „Vervielfältigungsstück“, der sowohl in der Richtlinie 2001/29 als auch in der Richtlinie 2006/115 verwendet wird, so verstanden werden, dass er digitale Kopien ohne materiellen Träger umfasst. Gerade dieser Grundsatz würde es im Übrigen erlauben, das in der Lehre umfassend erörterte Problem der Erschöpfung des Rechts zur Verbreitung nach einem Verkauf durch Herunterladen, das sich auch in der vorliegenden Rechtssache stellt, einfach zu lösen. Da nämlich Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 im Kern ebenso formuliert ist wie Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2009/24, müsste er grundsätzlich in gleicher Weise ausgelegt werden.

53.      Würde dagegen angenommen, dass die gleichen Begriffe im Rahmen der Richtlinie 2001/29 anders ausgelegt werden könnten, als dies der Gerichtshof im Urteil Usedsoft im Rahmen der Richtlinie 2009/24 getan hat, sehe ich nicht ein, weshalb im Verhältnis der Richtlinie 2001/29 zur Richtlinie 2006/115 nicht die gleiche „terminologische Selbständigkeit“ gelten sollte(25).

54.      Ich möchte noch hinzufügen, dass das Urteil Art & Allposters International(26) die Schlussfolgerungen, die sich aus dem Urteil Usedsoft ergeben, meiner Ansicht nach weder in Frage stellt noch begrenzt. Das erstgenannte Urteil betraf nämlich die Übertragung des Werks mittels eines chemischen, nicht digitalen Verfahrens von einem materiellen Träger (Papier) auf einen anderen materiellen Träger (Leinwand). In diesem Rahmen hat der Gerichtshof in diesem Urteil entschieden, dass der Unionsgesetzgeber den Urhebern durch die Einräumung des Verbreitungsrechts die Kontrolle über das erste Inverkehrbringen eines jeden das Werk verkörpernden Gegenstands geben wollte(27), während die Ersetzung des Trägers zur Schaffung eines neuen (körperlichen) Gegenstands führt(28), und dass daher die Erschöpfung dieses Verbreitungsrechts nicht stattfinden konnte(29). Dagegen betraf kein Aspekt dieser Rechtssache die Frage, ob die Erschöpfung dieses Rechts nach der Übertragung des Eigentums an einer digitalen Kopie eines Werks eintreten konnte.

55.      Was das zweite oben in Nr. 49 erwähnte, auf das Recht auf Wiedergabe und öffentliche Zugänglichmachung gestützte Argument angeht, genügt die Feststellung, dass die Richtlinie 92/100 älter als die Richtlinie 2001/29 ist und dass die Letztgenannte gemäß ihrem Erwägungsgrund 20 und ihrem Art. 1 Abs. 2 Buchst. b die geltenden Bestimmungen des Unionsrechts betreffend u. a. das in der Richtlinie 92/100 (kodifiziert durch die Richtlinie 2006/115) vorgesehene Verleihrecht unberührt lässt und in keiner Weise beeinträchtigt. Die letztgenannte Richtlinie stellt somit eine lex specialis gegenüber der Richtlinie 2001/29 dar. Das gleiche Argument ist übrigens in der Rechtssache vorgetragen worden, in der das Urteil Usedsoft ergangen ist, und der Gerichtshof hat es in vergleichbarer Weise beantwortet(30). Die Einstufung des Verleihens von E‑Books als „Verleihen“ im Sinne der Richtlinie 2006/115 dürfte daher nicht im Widerspruch zu Art. 3 der Richtlinie 2001/29 stehen.

56.      Es ist noch geltend gemacht worden, das Verleihen von E‑Books umfasse neben dem eigentlichen Verleihvorgang Vervielfältigungshandlungen sowohl seitens der Bibliothek als auch des Nutzers, was das in Art. 2 der Richtlinie 2001/29 verankerte ausschließliche Recht der Urheber verletzen könnte, eine solche Vervielfältigung zu erlauben oder zu verbieten.

57.      Was indessen die Vervielfältigung durch die Bibliotheken angeht, so ist diese meines Erachtens durch die in Art. 5 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29 vorgesehene Ausnahme vom Vervielfältigungsrecht, ausgelegt im Licht des Urteils des Gerichtshofs Technische Universität Darmstadt(31), gedeckt. Diese Bestimmung sieht eine Ausnahme vom Vervielfältigungsrecht für „bestimmte Vervielfältigungshandlungen von öffentlich zugänglichen Bibliotheken …, die keinen unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen oder kommerziellen Zweck verfolgen“, vor. In dem erwähnten Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Ausnahmeregelung angewandt werden kann, um es den Bibliotheken zu erlauben, Handlungen der öffentlichen Wiedergabe gemäß einer anderen Ausnahmeregelung in Art. 5 Abs. 3 Buchst. n der Richtlinie 2001/29 vorzunehmen(32). Entsprechend müsste die Ausnahme von Art. 5 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie greifen können, um den Bibliotheken den Genuss der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 vorgesehenen Ausnahme vom Verleihrecht zu erlauben.

58.      Was die Vervielfältigung durch den Nutzer auf seinem Computer oder einem anderen Lesegerät für E‑Books beim Herunterladen des von der Bibliothek entliehenen Buches angeht, ist diese meines Erachtens durch die in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 vorgesehene zwingende Ausnahme gedeckt. Diese Vervielfältigung ist nämlich vorübergehend, da die Kopie auf dem Gerät des Nutzers automatisch am Ende des Verleihzeitraums gelöscht oder deaktiviert wird. Sie ist auch begleitend und integraler Teil eines technischen Verfahrens, nämlich des Herunterladens. Schließlich besteht ihr alleiniger Zweck darin, eine rechtmäßige Nutzung des Werks, nämlich die Nutzung im Rahmen des digitalen Verleihs, zu ermöglichen, und hat keine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung. Eine solche Vervielfältigung erfüllt daher die in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29, wie er vom Gerichtshof ausgelegt worden ist, aufgeführten Voraussetzungen(33).

59.      Schließlich ist in der vorliegenden Rechtssache insbesondere von der französischen Regierung das Argument vorgebracht worden, die vom Gerichtshof in den Urteilen Kommission/Frankreich(34) und Kommission/Luxemburg(35) anerkannte unterschiedliche mehrwertsteuerliche Behandlung von Büchern auf materiellem Träger und von durch Herunterladen verbreiteten Büchern belege, dass diese beiden Formen von Büchern nicht gleichwertig seien. Ich muss dennoch erstens bemerken, dass sich in der vorliegenden Rechtssache nicht die Frage stellt, ob Papierbücher und E‑Books als solche vergleichbar sind, sondern ob das Verleihen von E‑Books dem Verleihen herkömmlicher Bücher gleichwertig ist. Unter diesem Gesichtspunkt sind, wie ich in Nr. 31 der vorliegenden Schlussanträge festgestellt habe, diese beiden Formen des Verleihen meines Erachtens in Bezug auf ihre wesentlichen und objektiv maßgebenden Merkmale gleichwertig.

60.      Zweitens ist anzumerken, dass die vom Gerichtshof in den beiden erwähnten Urteilen entwickelte Lösung auf dem Wortlaut der Bestimmungen des Unionsrechts betreffend die Mehrwertsteuer beruht, die durch die Betrachtung der digital erbrachten Leistungen als Dienstleistungen nicht die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Bücher ohne materiellen Träger erlauben. Das Verleihen ist jedoch stets eine Dienstleistung, unabhängig davon, ob es ein E-Book oder ein Papierbuch betrifft. Infolgedessen findet die geltend gemachte Unterscheidung durch die Rechtsprechung keine Anwendung.

61.      Außerdem wirft diese Unterscheidung zwischen Papierbüchern und E‑Books unter dem Gesichtspunkt der Besteuerung ernstliche Fragen nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Neutralität auf, die im steuerlichen Bereich Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist(36). Es ist zu erwähnen, dass die Kommission vor kurzem einen Aktionsplan zur Mehrwertsteuer veröffentlicht hat, in dem ausdrücklich vorgesehen ist, den auf E-Books und E‑Papers anwendbaren Mehrwertsteuersatz demjenigen für Papierbücher anzugleichen(37). Diese Vorgehensweise bestätigt den Standpunkt der Kommission, der auch im Rahmen der vorliegenden Rechtssache vorgetragen worden ist, wonach E‑Books und Papierbücher grundsätzlich gleichwertig sind.

62.      Ich schließe aus den vorstehenden Erwägungen, dass eine Auslegung des Begriffs „Verleihen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115, die das Verleihen von E‑Books einbezieht und auf diese Weise die Anwendung der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahme vom Verleihrecht erlaubt, in keiner Weise mit sämtlichen Bestimmungen des Unionsrechts im Bereich des Urheberrechts unvereinbar oder inkohärent ist.

–       Zur Vereinbarkeit mit den internationalen Verpflichtungen

63.      Die Union ist Vertragspartei mehrerer internationaler Übereinkünfte im Bereich des Urheberrechts, insbesondere des am 20. Dezember 1996 in Genf geschlossenen Urheberrechtsvertrags der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WCT)(38). Die Akte des abgeleiteten Rechts müssen daher mit diesem Vertrag in Einklang stehen und auch mit ihm konform ausgelegt werden(39). Daher ist zu prüfen, ob eine Auslegung des Begriffs „Verleihen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115, die das Verleihen von E‑Books einbezieht, mit dem Urheberrechtsvertrag in Einklang stehen kann.

64.      Dieser Vertrag enthält keine Bestimmungen über das Verleihrecht. In Art. 7 behandelt er lediglich das Mietrecht, d. h. das Recht auf gewerbliche Vermietung von Computerprogrammen, Filmwerken und auf Tonträger aufgenommenen Werken(40). Weder der öffentliche Verleih noch E‑Books sind von dieser Bestimmung erfasst.

65.      Wenn das Verleihen, jedenfalls das Verleihen von E‑Books, vom Urheberrechtsvertrag erfasst wird, so deshalb, weil es eine besondere Form der Verwertung des in Art. 8 dieses Vertrags verankerten Rechts der öffentlichen Wiedergabe ist(41). Dieses Recht wird grundsätzlich in Art. 3 der Richtlinie 2001/29 in Unionsrecht umgesetzt. Jedoch stellt die Richtlinie 2006/115 eine lex specialis gegenüber der Richtlinie 2001/29 einschließlich deren Art. 3 dar(42).

66.      Der Urheberrechtsvertrag sieht allerdings in Art. 10 Abs. 1 vor, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die nach diesem Vertrag gewährten Rechte Beschränkungen oder Ausnahmen vorsehen können, sofern es sich um „bestimmte Sonderfälle“ handelt, „die weder die normale Verwertung der Werke beeinträchtigen, noch die berechtigten Interessen der Urheber unzumutbar verletzen“. Diese Voraussetzungen werden im Allgemeinen als „Dreistufentest“ bezeichnet. Nach meinem Dafürhalten erfüllt die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 vorgesehene Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen in Bezug auf das Verleihen von E‑Books diese drei Voraussetzungen.

67.      Erstens ist in Bezug auf die Voraussetzung, wonach die Ausnahme bestimmte Sonderfälle betrifft, festzustellen, dass die Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen auf zwei Punkte beschränkt ist. Zum einen betrifft sie nicht alle Formen der öffentlichen Wiedergabe, sondern nur eine bestimmte Form, das Verleihen, also die befristete Zugänglichmachung. Zum anderen sind die durch diese Ausnahme Begünstigten beschränkt auf öffentlich zugängliche Einrichtungen (Bibliotheken), die keinen Gewinn aus ihrer Verleihtätigkeit erzielen. Im Übrigen wird mit der Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen ein rechtmäßiger Zweck im öffentlichen Interesse verfolgt, der, ganz allgemein gesprochen, im umfassenden Zugang zur Kultur besteht.

68.      Zweitens ist in Bezug auf die Voraussetzung, wonach die normale Verwertung des Werks nicht beeinträchtigt werden darf, insbesondere von NUV in ihren Erklärungen ausgeführt worden(43), dass das Verleihen von E‑Books durch Herunterladen im Gegensatz zum herkömmlichen Verleihen von Papierbüchern so sehr gewöhnlichen Formen des Vertriebs dieser Bücher nahekomme, dass es die gewöhnliche Verwertung der Urheberrechte dadurch beeinträchtige, dass es zu leicht den Erwerb des Buches auf dem Markt ersetze. Dies gehe hauptsächlich darauf zurück, dass das digitale Verleihen nicht notwendigerweise ein physisches Aufsuchen der Bibliothek durch den Nutzer voraussetze und damit einem Erwerb über das Internet ähnle und dass das in der Bibliothek entliehene E‑Book, das sich nicht durch den Gebrauch abnutze, einen ähnlichen Anblick wie ein erworbenes Buch biete, d. h., dass es stets „neu“ sei. Zudem erhöhe die Leichtigkeit der Vervielfältigung der E‑Books ohne Qualitätsverlust die Gefahr einer Nutzung, die über das hinausgehe, was im Rahmen des Entleihens erlaubt sei.

69.      Allerdings berücksichtigt dieses Vorbringen nicht die anderen Merkmale des Verleihens eines E‑Books, die dieses vom Erwerb unterscheiden. Erstens ist dieses Verleihen befristet, es ermöglicht daher nur, Kenntnis vom Inhalt des Buches zu nehmen, ohne ein Exemplar davon zu behalten. Da sodann die Möglichkeiten dieses Verleihens durch die Anzahl von Exemplaren (oder digitalen Kopien) begrenzt sind, die der Bibliothek zur Verfügung stehen, ist der Nutzer nicht sicher, ob er ein bestimmtes E‑Book zur gewünschten Zeit entleihen kann. Schließlich belegen mehrere Studien, dass das Verleihen von Büchern, herkömmlich oder als E‑Books, deren Absatz nicht verringert, sondern es im Gegenteil erlaubt, ihn zu erhöhen, indem es die Lesepraxis fördert(44).

70.      Der bloße Umstand, dass einige Händler mit E‑Books Geschäftsmodelle entwickelt haben, die demjenigen des digitalen Verleihs ähneln, kann für sich genommen kein Hemmnis für die Anwendung der Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen auf E‑Books bilden. Diese Ausnahme verfolgt nämlich ein berechtigtes Ziel des öffentlichen Interesses, das nicht auf die nicht von der wirtschaftlichen Betätigung erfassten Bereiche beschränkt werden kann. Andernfalls könnte jede Verleihtätigkeit durch die gewerbliche Vermietung verdrängt werden, unabhängig davon, ob es sich um materielle oder immaterielle Güter handelt, so dass die in Rede stehende Ausnahme jede praktische Wirksamkeit verlöre.

71.      Dagegen belegt der Umstand, dass die Verleger und die Vermittler den Bibliotheken Lizenzen für das digitale Verleihen anbieten oder ihre eigenen Modelle des Vermietens im Sinne einer befristeten Zurverfügungstellung entwickeln, dass das digitale Verleihen als solches der Verwertung der Urheberrechte entgegen dem, was mitunter behauptet wird, nicht schadet.

72.      In Bezug auf die mit dem Verleihen von E‑Books verbundenen Risiken ist zu bemerken, dass die technischen Schutzmaßnahmen, die heute allgemein im Gebrauch sind, wie die automatische Deaktivierung der Kopie nach Ablauf der Verleihfrist, die Unmöglichkeit des Ausdruckens oder die Blockierung zusätzlicher Kopien, es erlauben, diese Risiken erheblich zu begrenzen.

73.      Jedenfalls wird es letztlich Sache der Mitgliedstaaten sein, wenn sie die Ausnahme für das öffentliche Verleihen von E‑Books einführen möchten, die Bestimmungen für diese Ausnahme so zu gestalten, dass diese Verleihform tatsächlich ein funktionelles Äquivalent des herkömmlichen Verleihs ist und dass sie die gewöhnliche Verwertung der Urheberrechte nicht beeinträchtigt. Lösungen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende „One-copy-one-user“-Modell oder die zwingende Verwendung technischer Schutzmaßnahmen werden es erlauben, dieses Ergebnis zu erzielen.

74.      Drittens schließlich darf gemäß der letzten Voraussetzung die Ausnahme den berechtigten Interessen der Urheber keinen ungerechtfertigten Schaden zufügen. Diese Interessen sind in Bezug auf die Verwertung der Eigentumsrechte der Urheber hauptsächlich wirtschaftlicher Art. In einem allein durch die Gesetze des Marktes geregelten Umfeld hängt die Fähigkeit der Urheber, ihre Interessen zu vertreten, vor allem von ihrer Verhandlungsfähigkeit gegenüber den Verlegern ab. Einige von ihnen sind sicherlich in der Lage, zufriedenstellende Bedingungen zu erzielen, andere jedoch nicht, wie dies der Standpunkt von Lira und Pictoright in der vorliegenden Rechtssache darlegt. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 sieht für den Fall der Einführung der Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen eine Vergütung für die Urheber vor. Da diese Vergütung von der Verhandlung zwischen dem Urheber und dem Verleger unabhängig ist, erlaubt sie nicht nur, die berechtigten Interessen der Urheber zu wahren, sondern könnte sogar für diese günstiger sein.

75.      Art. 8 des Urheberrechtsvertrags in Verbindung mit Art. 10 dieses Vertrags steht daher meines Erachtens einer Auslegung des Begriffs „Verleihen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 dahin, dass das Verleihen von E-Books einbezogen wird, nicht entgegen.

76.      Es könnte noch eingewandt werden, die Begriffe „Original“ und „Vervielfältigungsstück“ der Richtlinie 2006/115 müssten in gleicher Weise verstanden werden wie die in den Art. 6 und 7 des Urheberrechtsvertrags verwendeten entsprechenden Begriffe „Original“ und „Vervielfältigungsstück“. Nach der Vereinbarten Erklärung betreffend diese beiden Artikel im Anhang dieses Vertrags „beziehen“ sich diese Begriffe „ausschließlich auf Vervielfältigungsstücke, die als körperliche Gegenstände in Verkehr gebracht werden können“(45). Dies schließt also das Verleihen von E‑Books vom Begriff „Verleihen von Originalen und Vervielfältigungsstücken“ der Richtlinie 2006/115 aus.

77.      Allerdings betreffen die erwähnten Bestimmungen des Urheberrechtsvertrags das Verbreitungsrecht (Art. 6) und das Recht der gewerbsmäßigen Vermietung anderer Gegenstände als Bücher (Art. 7). Ich denke daher nicht, dass diese Vereinbarte Erklärung, auf die Richtlinie 2006/115 entsprechend angewandt, daran hindern könnte, diese entsprechenden Begriffe in Bezug auf eine von Art. 8 dieses Vertrags erfasste Verwertungsform anders auszulegen.

78.      Wenn außerdem der Gerichtshof in seinem Urteil Usedsoft(46), betreffend das Recht auf Verbreitung von Computerprogrammen, das eindeutig von der in Rede stehenden Vereinbarten Erklärung erfasst wird, entschieden hat, dass das Recht auf Verbreitung und der Grundsatz seiner Erschöpfung auch auf den Verkauf durch Herunterladen Anwendung finden, dann kann dies im Fall des Verleihens, der weder vom Verbreitungsrecht noch vom Vermietrecht erfasst wird, erst recht genauso gelten.

 Ergebnis zur ersten Vorlagefrage

79.      Die obigen Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen. Das Verleihen von E‑Books durch öffentliche Bibliotheken ist kein Zukunftsprojekt und erst recht kein frommer Wunsch. Ganz im Gegenteil ist es ein tatsächlich bestehendes Phänomen. Als Folge der in den Mitgliedstaaten vorherrschenden engen Auslegung des Begriffs „Verleihrecht“ unterliegt dieses Phänomen in vollem Umfang den Gesetzen des Marktes, im Gegensatz zum Verleihen herkömmlicher Bücher, das in den Genuss einer bibliotheksfreundlichen Regelung gelangt. Daher ist meines Erachtens eine angepasste Auslegung des bestehenden rechtlichen Rahmens notwendig, um es den Bibliotheken zu erlauben, im modernen digitalen Umfeld in den Genuss der gleichen günstigen Bedingungen zu gelangen. Eine solche Auslegung liegt nicht nur im öffentlichen Interesse am Zugang zu Wissenschaft und Kultur, sondern auch im Interesse der Urheber. Gleichzeitig verstößt sie weder gegen den Wortlaut noch gegen die Systematik der geltenden Rechtstexte. Im Gegenteil wird nur eine solche Auslegung es ihnen erlauben, die ihnen vom Gesetzgeber zugewiesene Rolle einer Anpassung des Urheberrechts an die Wirklichkeit der Informationsgesellschaft voll und ganz wahrzunehmen.

80.      Ich schlage daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die öffentliche Zugänglichmachung von E‑Books durch öffentliche Bibliotheken für begrenzte Zeit unter das in diesem Artikel verankerte Verleihrecht fällt. Die Mitgliedstaaten, welche die in Art. 6 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme für das Verleihen von E-Books einführen möchten, müssen sich vergewissern, dass die Voraussetzungen dieses Verleihens die gewöhnliche Verwertung des Werks nicht beeinträchtigen und den berechtigten Interessen der Urheber keinen ungerechtfertigten Schaden zufügen.

 Zur zweiten, zur dritten und zur vierten Vorlagefrage

81.      Die zweite, die dritte und die vierte Vorlagefrage, die meines Erachtens gemeinsam zu untersuchen sind, betreffen die Anforderungen an die Herkunft des von der Bibliothek verliehenen Vervielfältigungsstücks, die der nationale Gesetzgeber dadurch festlegen darf, dass er die in Art. 6 Abs. 1 der 2006/115 vorgesehene Ausnahme für das Verleihen von E‑Books einführt. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass der nationale Gesetzgeber ermächtigt ist, zu verlangen, dass das von der Bibliothek verliehene Vervielfältigungsstück des E‑Books durch einen Erstverkauf oder eine andere erstmalige Übertragung des Eigentums an diesem Vervielfältigungsstück in der Union durch den Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 erfolgt ist. Für den Fall, dass dies bejaht wird, fragt das vorlegende Gericht, ob die öffentliche Gebrauchsüberlassung eines E‑Books diesen Erstverkauf oder diese andere erstmalige Eigentumsübertragung darstellt. Falls dieser erste Punkt jedoch verneint wird, befragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof nach der Möglichkeit, weitere Anforderungen, beispielsweise die Anforderung, dass das zu verleihende Vervielfältigungsstück aus einer rechtmäßigen Quelle stammt, einzuführen.

82.      Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts selbst in der Vorlageentscheidung stehen diese Fragen im Zusammenhang mit den geltenden niederländischen Bestimmungen, die eine solche Anforderung im Rahmen der Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen betreffend Papierbücher enthalten. Durch die Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29 führt das vorlegende Gericht die Frage der Erschöpfung des Verbreitungsrechts in die vorliegende Rechtssache ein. Ich denke jedoch, dass dieser Mechanismus der Erschöpfung keinen Zusammenhang mit dem Verleihrecht aufweist, um das das es in der vorliegenden Rechtssache geht.

83.      Das Verleihrecht, so wie es in der Richtlinie 2006/115 konzipiert ist, ist nämlich völlig unabhängig von der Erschöpfung des Verbreitungsrechts. Zum einen werden nach Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie das Verleih- und das Vermietrecht nicht durch die Erschöpfung des Verbreitungsrechts erschöpft. Mit anderen Worten, es genügt nicht, ein Vervielfältigungsstück eines Werks zu kaufen, um es frei verleihen oder vermieten zu können. Es muss noch getrennt das Recht erworben werden, dieses Vervielfältigungsstück zu verleihen oder zu vermieten, sei es mit Zustimmung des Rechtsinhabers, vertraglich oder aufgrund der in Art. 6 der Richtlinie 2006/115 vorgesehenen Ausnahme für das öffentliche Verleihwesen, sofern diese Bestimmung in nationales Recht umgesetzt worden ist.

84.      Zum anderen steht der Erwerb des Rechts zum Verleih oder zur Vermietung eines Werks in der Richtlinie 2006/115 nicht unter der Bedingung der Erschöpfung des Verbreitungsrechts. Das Recht zum Verleih oder zur Vermietung kann beispielsweise Werke betreffen, die nicht zu öffentlicher Verbreitung bestimmt sind, wie Manuskripte, Dissertationen usw.

85.      Erfolgt der Erwerb des Verleih- oder Vermietrechts mit Zustimmung des Urhebers, kann angenommen werden, dass dessen Interessen hinreichend geschützt sind. Entsteht hingegen das Verleihrecht aus der Ausnahme, so könnte seine Anwendung auf Werke, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, die berechtigten – im Übrigen nicht nur vermögensrechtlichen – Interessen des Urhebers beeinträchtigen. Daher erscheint es mir gerechtfertigt, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 vorgesehenen Ausnahme verlangen können, dass E‑Books, die verliehen werden, zuvor vom Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung öffentlich zugänglich gemacht worden sind. Diese Begrenzung darf wohlverstanden nicht so formuliert werden, dass sie die Tragweite der Ausnahme beschränkt, und zwar auch was das Format angeht, in dem die Werke verliehen werden können.

86.      Was schließlich die Frage der rechtmäßigen Quelle des Vervielfältigungsstücks des Werks angeht, hat der Gerichtshof bereits in Bezug auf die in Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29 vorgesehene Ausnahme für Privatkopien entschieden, dass diese Ausnahme den Inhabern des Urheberrechts nicht auferlegt, Verletzungen ihrer Rechte, die mit der Anfertigung von Privatkopien einhergehen können, zu tolerieren. Daher ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass sie nicht für den Fall gilt, dass Privatkopien auf der Grundlage einer unrechtmäßigen Quelle angefertigt werden(47).

87.      Die gleiche Auslegung muss meines Erachtens entsprechend für den Fall der Ausnahme beim Verleihrecht in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 in Bezug auf E‑Books gelten. Dies umso mehr, als diese Ausnahme für Einrichtungen gilt, die überwiegend öffentliche Einrichtungen sind und von denen besondere Aufmerksamkeit für die Beachtung des Gesetzes verlangt werden kann. Dieser Punkt scheint mir keiner weiteren Ausführungen zu bedürfen.

88.      Ich schlage daher vor, auf die zweite, die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat, der die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme eingeführt hat, nicht daran hindert, zu verlangen, dass E‑Books, die gemäß dieser Ausnahme verliehen werden, zuvor vom Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung öffentlich zugänglich gemacht worden sind, wobei diese Begrenzung nicht so formuliert werden darf, dass sie die Tragweite der Ausnahme beschränkt. Die erwähnte Bestimmung ist dahin auszulegen, dass sie nur E‑Books betrifft, die aus rechtmäßigen Quellen stammen.

 Ergebnis

89.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.      Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums ist dahin auszulegen, dass die öffentliche Zugänglichmachung von E‑Books durch öffentliche Bibliotheken für begrenzte Zeit unter das in diesem Artikel verankerte Verleihrecht fällt. Die Mitgliedstaaten, welche die in Art. 6 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme für das Verleihen von E‑Books einführen möchten, müssen sich vergewissern, dass die Voraussetzungen dieses Verleihens die gewöhnliche Verwertung des Werks nicht beeinträchtigen und den berechtigten Interessen der Urheber keinen ungerechtfertigten Schaden zufügen.

2.      Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115 ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat, der die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme eingeführt hat, nicht daran hindert, zu verlangen, dass E‑Books, die gemäß dieser Ausnahme verliehen werden, zuvor vom Rechtsinhaber oder mit dessen Zustimmung öffentlich zugänglich gemacht worden sind, wobei diese Begrenzung nicht so formuliert werden darf, dass sie die Tragweite der Ausnahme beschränkt. Die erwähnte Bestimmung ist dahin auszulegen, dass sie nur E‑Books betrifft, die aus rechtmäßigen Quellen stammen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Beispielsweise Un tour sur le Bolide (Originaltitel: Riding the Bullet) von Stephen King (Simon & Schuster 2000) oder Starość Aksolotla (nach meiner Kenntnis gibt es keine französische Übersetzung, englischer Titel: The Old Axolotl) von Jacek Dukaj (Allegro 2015).


3 – Um nur einige Beispiele zu geben, vgl. Davies, P., „Access v. contract: competing freedoms in the context of copyright limitations and exceptions for libraries“, European Intellectual Property Review, 2013/7, S. 402; Dreier, T., „Musées, bibliothèques et archives: de la nécessité d’élargir les exceptions au droit d’auteur“, Propriétés intellectuelles, 2012/43, S. 185; Dusollier, S., „A manifesto for an e‑lending limitation in copyright“, Journal of Intellectual Property, Information Technology and E-Commerce Law, 2014/5(3); Matulionyte, R., „E‑lending and a public lending right: is it really a time for an update?“, European Intellectual Property Review, 2016/38(3), S. 132; Siewicz, K., „Propozycja nowelizacji prawa autorskiego w zakresie działalności bibliotek“, Zeszyty naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego. Prace z prawa własności intelektualnej, 2013/122, S. 54; Zollinger, A., „Les bibliothèques numériques, ou comment concilier droit à la culture et droit d’auteur“, La semaine juridique. Entreprise et affaires, 2007/25, S. 18.


4 – ABl. 2001, L 167, S. 10.


5 – ABl. 2006, L 376, S. 28.


6 – Eine differenzierende Behandlung dürfte bereits durch den Wortlaut von Art. 6 der Richtlinie 2006/115 erlaubt sein, dessen Abs. 2 die Möglichkeit vorsieht, das Verleihrecht auf Tonträger, Filme und Computerprogramme nicht anzuwenden, sofern eine Vergütung für die Urheber eingeführt wird. Da außerdem Tonträger (einschließlich der Hörbücher) und Tonbildträger gewöhnlich auf einem materiellen Träger aufgezeichnet werden, bietet der Umstand, dass sie in dieser Form in das Verleihrecht einbezogen werden, kein Problem. Dies gilt jedoch offensichtlich nicht bei E‑Books, die üblicherweise nur durch Herunterladen verbreitet werden.


7 – ABl. 1992, L 346, S. 61.


8 –      Der Zweite ist die Richtlinie 91/250/EWG des Rates vom 14. Mai 1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (ABl. 1991, L 122, S. 42).


9 –      KOM(90) 586 endg., S. 33 bis 35. Ebenso hatten die Vertreter der Lehre, welche die Anwendung dieser Richtlinie auf das elektronische Verleihen und die elektronische Vermietung akzeptierten, dies nicht für Bücher, sondern für Ton- und Tonbildaufnahmen im Sinn. Die „elektronische“ Vermietung ähnelte ihres Erachtens eher einer Art von „Video on Demand“ durch Fernsehausstrahlung (vgl. Reinbothe, J., von Lewinsky, S., The EC directive on rental and lending rights and on piracy, London 1993, S. 41 und 42).


10 – Unter Beachtung aller Unterschiede kann die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 immer noch angewandt werden, und einige Artikel der Magna Charta von 1215 können immer noch Teil der Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sein, weil nämlich die Auslegung, die ihnen beigemessen wird, nicht die zur Zeit von George Washington oder Johann Ohneland geltende, sondern eine den modernen Zeiten angepasste ist.


11 – Dieses Phänomen des beschleunigten Veraltens trifft auch die Lehre. So stellte ein Verfasser fest: „Bei der Betrachtung eines vor 15 Jahren geschriebenen Buches … mit dem Titel ‚Internet und Recht‘, meines Buches über interaktives Fernsehen von vor fünf Jahren, aber auch eines Artikels über die Speicherung der Werke im Internet von vor drei Jahren, stelle ich mit Bedauern fest, wie sehr sie überholt sind“ (Markiewicz, R., „Internet i prawo autorskie – wykaz problemów i propozycje ich rozwiązań“, Zeszyty naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego. Prace z prawa własności intelektualnej, 2013/121, S. 5). Was soll man dann von einer Richtlinie sagen, die in ihrer ursprünglichen Fassung beinahe 25 Jahre alt ist?


12 – Für weitere Informationen über die Funktionsweise des digitalen Verleihens vgl. den Bericht von Mount, D., für Taalunie, Bibnet and Bibliotheek.nl, A Review of Public Library E-Lending Models, Dezember 2014 (http://stichting.bibliotheek.nl), angeführt von Lira und Pictoright in ihren schriftlichen Erklärungen. Vgl. auch The European Bureau of Library, Information and Documentation Associations (EBLIDA) Position Paper The Right to Eread, Mai 2014, www.eblida.org; Davies, P., ebd.; Dusollier, S., ebd.; Fédération Internationale des Associations de Bibliothécaires et des Bibliothèques (IFLA), IFLA 2014 eLending Background Paper, www.ifla.org; Fischman Afori, O., „The Battle Over Public E‑Libraries: Taking Stock and Moving Ahead“, International Review of Intellectual Property and Competition Law, 2013, S. 392; Matulionyte, R., ebd.; O’Brien, D. R., Gasser, U., Palfrey, J., E‑books in Libraries, A Briefing Document developed in preparation for a Workshop on E‑Lending in Libraries, Berkman Center Research Publication Nr. 2012-15 (betreffend den amerikanischen Markt).


13 – Vgl. insbesondere Nrn.33 bis 39 der vorliegenden Schlussanträge.


14 – Hervorhebung nur hier.


15 – Dieser Träger ist nämlich zunächst der Server der Einrichtung, die das E‑Book zugänglich macht, sodann der Computer oder ein anderes elektronisches Gerät des Nutzers. Die Verbindung mit dem materiellen Träger wird daher bei der Übertragung unterbrochen.


16 – KOM(90) 586 endg. (ABl. 1990, C 53, S. 35). Diese Analyse wird auch durch die deutsche Fassung der Richtlinie 2006/115 bestätigt, die den Begriff „Vervielfältigungsstück“ verwendet, der auf die Handlung der „Vervielfältigung“ verweist – vgl. die deutsche Fassung der Richtlinie 2001/29, Art. 2. Vgl. in diesem Sinne auch Gautrat, P., „Prêt public et droit de location: l’art et la manière“, RTD Com., 2008, S. 752 (Nr. 16).


17 – Vgl. beispielsweise die deutsche, die polnische und die englische Fassung.


18 – Nämlich die Originale und Vervielfältigungsstücke von Werken, die Aufzeichnungen von Darbietungen, die Tonträger und die Filme.


19 – Vgl. insbesondere Urteile vom 4. Oktober 2011, Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 163), und vom 3. September 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds (C‑201/13, EU:C:2014:2132, Rn. 23).


20 – Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).


21 – ABl. 2009, L 111, S. 16.


22 – Grundsätzlich in Bezug auf die Begriffe „Kopie“, „Vervielfältigung“ und „Verkauf“.


23 – Urteil vom 3. Juli 2012, Usedsoft (C‑128/11, EU:C:2012:407, insbesondere Rn. 35, 37 und 47).


24 – Urteil vom 3. Juli 2012, Usedsoft (C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 47 und 48).


25 – Diese These wird meines Erachtens nicht durch das kürzlich ergangene Urteil vom 31. Mai 2016, Reha Training (C‑117/15, EU:C:2016:379), entkräftet. In dieser Rechtssache war der Gerichtshof um Entscheidung über eine angeblich abweichende Auslegung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“ im Rahmen der Richtlinie 2001/29 einerseits und im Rahmen der Richtlinie 2006/115 andererseits ersucht worden. Der Gerichtshof hat unter Verwendung der Formulierung eines vorhergehenden Urteils entschieden, dass die von den beiden in Rede stehenden Richtlinien verwendeten Begriffe dieselbe Bedeutung haben müssen, es sei denn, dass der Unionsgesetzgeber in einem konkreten gesetzgeberischen Kontext einen anderen Willen zum Ausdruck gebracht hat (Rn. 28). Allerdings besteht meines Erachtens keinerlei Streit darüber, dass der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Rahmen dieser beiden Richtlinien in gleicher Weise auszulegen ist. Außerdem hat die Zusammenstellung der vorherigen Rechtsprechung in den Rn. 35 bis 52 des Urteils Reha Training keine Inkohärenz bei der Auslegung dieses Begriffs gezeigt. Dagegen hat der Gesetzgeber in Bezug auf den Begriff „Vervielfältigungsstück“ in Erwägungsgrund 29 der Richtlinie 2001/29 den genauen Kontext angegeben, in dem dieser Begriff in dieser Richtlinie verwendet wird, nämlich das Recht der Verbreitung, dessen Erschöpfung nicht durch die Online-Verbreitung eintreten kann. Eine solche Beschränkung des Begriffs „Vervielfältigungsstück“ – die meines Erachtens die digitalen Vervielfältigungsstücke umfasst (vgl. Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge) – ist in Bezug auf das durch die Richtlinie 2006/115 geregelte Verleihrecht nicht erforderlich, denn dieses Recht kann sich jedenfalls – unabhängig von der gewählten Definition des Begriffs „Vervielfältigungsstück“ – nicht erschöpfen.


26 – Urteil vom 22. Januar 2015 (C‑419/13, EU:C:2015:27).


27 – Urteil vom 22. Januar 2015, Art & Allposters International (C‑419/13, EU:C:2015:27, Rn. 37).


28 – Urteil vom 22. Januar 2015, Art & Allposters International (C‑419/13, EU:C:2015:27, Rn 43).


29 – Urteil vom 22. Januar 2015, Art & Allposters International (C‑419/13, EU:C:2015:27, Rn 49 und Tenor).


30 – Urteil vom 3. Juli 2012, Usedsoft (C‑128/11, EU:C:2012:407, Rn. 51).


31 – Urteil vom 11. September 2014, Eugen Ulmer (C‑117/13, EU:C:2014:2196).


32 – Urteil vom 11. September 2014, Eugen Ulmer (C‑117/13, EU:C:2014:2196, Rn. 43 bis 46).


33 – Vgl. Urteile vom 4. Oktober 2011, Football Association Premier League u. a. (C‑403/08 und C‑429/08, EU:C:2011:631, Rn. 161 bis 180), und vom 5. Juni 2014, Public Relations Consultants Association (C‑360/13, EU:C:2014:1195, Rn. 22 bis 52, insbesondere Rn. 29 bis 33).


34 – Urteil vom 5. März 2015 (C‑479/13, EU:C:2015:141).


35 – Urteil vom 5. März 2015 (C‑502/13, EU:C:2015:143).


36 – Vgl. das Vorabentscheidungsersuchen des polnischen Verfassungsgerichtshofs in der Rechtssache Rzecznik Praw Obywatelskich (C‑390/15), das gegenwärtig beim Gerichtshof anhängig ist.


37 – Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Wirtschafts- und Sozialausschuss vom 7. April 2016, Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum – Zeit für Reformen (COM[2016] 148 final, S. 12).


38 – Im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt durch den Beschluss 2000/278/EG des Rates vom 16. März 2000 (ABl. 2000, L 89, S. 6).


39 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Januar 2015, Art & Allposters International (C‑419/13, EU:C:2015:27, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).


40 – Vgl. Art. 7 Abs. 1 des Urheberrechtsvertrags.


41 – Nach diesem Artikel „haben die Urheber von Werken der Literatur und Kunst das ausschließliche Recht, die öffentliche drahtlose oder drahtgebundene Wiedergabe ihrer Werke zu erlauben, einschließlich der Zugänglichmachung ihrer Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit an Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind“.


42 – Vgl. Nr. 55 der vorliegenden Schlussanträge.


43 –      Vgl. auch Matulionyte, R., a. a. O.


44 –      Dusollier, S., a. a. O.; EBLIDA, ebd., S. 13 und die dort angeführten Dokumente, sowie Matulionyte, R., a. a. O. und die dort angeführten Dokumente.


45 –      Hervorhebung nur hier.


46 –      Urteil vom 3. Juli 2012 (C‑128/11, EU:C:2012:407).


47 –      Urteil vom 10. April 2014, ACI Adam u. a. (C‑435/12, EU:C:2014:254, Rn. 31 und 41).