Language of document : ECLI:EU:C:2006:234

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

M. POIARES MADURO

vom 6. April 20061(1)

Verbundene Rechtssachen C‑282/04 und C‑283/04

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Königreich der Niederlande

„Freier Kapitalverkehr – Vom niederländischen Staat gehaltene Golden Shares an der KPN N.V. und der TPG N.V.“






1.        Die vorliegenden Rechtssachen betreffen Golden Shares, die der niederländische Staat an der KPN N.V. (im Folgenden: KPN) und an der TPG N.V. (im Folgenden: TPG) hält. Die Kommission macht geltend, die Niederlande hätten dadurch, dass sie ihre Golden Shares an diesen Unternehmen behalten hätten, gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 43 EG und 56 EG verstoßen. Die Rechtssachen verlangen vom Gerichtshof eine weitere Klarstellung in Bezug darauf, welche Grenzen das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten setzt, wenn diese als Marktteilnehmer tätig werden.

I –    Sachverhalt und vorprozessuales Verfahren

2.        Im Jahr 1989 wurde das niederländische staatliche Post-, Telegrafen- und Telefonunternehmen zu einer Aktiengesellschaft, der Koninklijke PTT Nederland N.V. (im Folgenden: PTT). Die Börsenzulassung der PTT erfolgte 1994. Der niederländische Staat veräußerte eine erste Tranche von Aktien, die etwa 30 % des gezeichneten Kapitals ausmachte.

3.        Im Zusammenhang mit der Börsenzulassung wurde die Satzung der Gesellschaft geändert, und es wurde eine Regelung für Golden Shares aufgenommen, die der niederländische Staat halten sollte. Das Recht, eine Reihe von Entscheidungen der Gesellschaft von einer vorherigen Zustimmung abhängig zu machen, war mit den Golden Shares verbunden. Zwischen der PTT und dem niederländischen Staat wurde eine Vereinbarung (die so genannte „Afspraak op Hoofdlijnen“, im Folgenden: Vereinbarung) über die Ausübung dieser Rechte geschlossen. Nach dieser Vereinbarung darf der niederländische Staat seine Rechte nicht dazu benutzen, die Gesellschaft vor feindlichen Übernahmen zu schützen. 1995 verkaufte der niederländische Staat eine zweite Tranche von Aktien, die etwa 20 % des gezeichneten Kapitals ausmachte.

4.        Im Jahr 1998 wurde die PTT in zwei getrennte Gesellschaften aufgeteilt: die KPN für Telekommunikationstätigkeiten und die TPG für Logistik und Vertrieb.

5.        Die mit den Golden Shares des niederländischen Staates verbundenen Rechte blieben im Wesentlichen unverändert. Die von den Niederlanden gehaltenen Golden Shares an der KPN (Rechtssache C‑282/04) schließen ein Recht ein, folgende Arten von Entscheidungen von einer vorherigen Zustimmung abhängig zu machen:

–        die Ausgabe von Aktien der Gesellschaft und die Beschränkung oder die Aufhebung des Vorzugsrechts gewöhnlicher Aktionäre;

–        einen Aufruf zu einer zusätzlichen Einzahlung auf Vorzugsaktien des Typs A;

–        der Erwerb oder die Veräußerung durch die Gesellschaft von Anteilen an ihrem eigenen Kapital, die mehr als 1 % der platzierten gewöhnlichen Aktien ausmachen;

–        die Ausübung von Stimmrechten im Zusammenhang mit in Artikel 11 des Telekommunikationsgesetzes genannten juristischen Personen in Bezug auf Auflösung, Fusion und Aufspaltung, den Erwerb von Anteilen am Gesellschaftskapital durch derartige juristische Personen und die Änderung der Satzung derartiger juristischer Personen, soweit eine solche Änderung das Vorstehende betrifft;

–        eine Entscheidung des Vorstands, Investitionen zu tätigen, die dazu führen werden, dass das Eigenkapital der Gesellschaft, berechnet auf konsolidierter Grundlage, weniger als 30 % der gesamten Mittel darstellen wird;

–        einen Vorschlag des Vorstands, eine Dividende in Form von Aktien und/oder eine Dividende aus den Rücklagen zu zahlen;

–        eine Fusion oder eine Aufspaltung, an der die Gesellschaft beteiligt ist;

–        die Auflösung der Gesellschaft;

–        eine Änderung der Satzung, wenn eines der Ziele der Änderung darin besteht, den Gesellschaftsgegenstand zu ändern, soweit die Änderung das Funktionieren von Konzessionen oder Genehmigungen, die Streichung der besonderen Aktie, die Streichung der B-Vorzugsaktien, die Festlegung der Zahl der Kommissare des Aufsichtsgremiums durch den Minister für Kommunikation und öffentliche Arbeiten und die Änderung der mit der besonderen Aktie zusammenhängenden Rechte betrifft;

–        der Rückkauf der Golden Shares.

6.        Die Golden Shares, die die Niederlande an der TPG (Rechtssache C‑283/04) halten, begründen Rechte, die mit den mit den Golden Shares an der KPN verbundenen identisch oder diesen ähnlich sind, nämlich das Recht, folgende Arten von Entscheidungen von einer vorherigen Zustimmung abhängig zu machen:

–        die Ausgabe von Aktien der Gesellschaft und die Beschränkung oder die Aufhebung des Vorzugsrechts gewöhnlicher Aktionäre;

–        einen Aufruf zu einer zusätzlichen Einzahlung auf Vorzugsaktien des Typs A;

–        der Erwerb oder die Veräußerung durch die Gesellschaft von Anteilen an ihrem eigenen Kapital, die mehr als 1 % der platzierten gewöhnlichen Aktien ausmachen;

–        die Ausübung von Stimmrechten im Zusammenhang mit in Artikel 11 des Telekommunikationsgesetzes genannten juristischen Personen in Bezug auf Auflösung, Fusion und Aufspaltung, den Erwerb von Anteilen am Gesellschaftskapital durch derartige juristische Personen und die Änderung der Satzung derartiger juristischer Personen, soweit eine solche Änderung das Vorstehende betrifft;

–        eine Entscheidung des Vorstands, Investitionen zu tätigen, die dazu führen werden, dass das Eigenkapital der Gesellschaft, berechnet auf konsolidierter Grundlage, weniger als 15 % der gesamten Mittel darstellen wird;

–        einen Vorschlag des Vorstands, eine Dividende in Form von Aktien und/oder eine Dividende aus den Rücklagen zu zahlen;

–        eine Fusion oder eine Aufspaltung, an der die Gesellschaft beteiligt ist;

–        die Auflösung der Gesellschaft;

–        eine Änderung der Satzung, wenn eines der Ziele der Änderung darin besteht, den Gesellschaftsgegenstand zu ändern, soweit die Änderung das Funktionieren von Konzessionen oder Genehmigungen, die Streichung der besonderen Aktie, die Streichung der B-Vorzugsaktien, die Festlegung der Zahl der Kommissare des Aufsichtsgremiums durch den Minister für Kommunikation und öffentliche Arbeiten und die Änderung der mit der besonderen Aktie zusammenhängenden Rechte betrifft;

–        der Rückkauf der Golden Shares.

7.        Am 28. Juli 2000 richtete die Kommission zwei förmliche Mahnschreiben an das Königreich der Niederlande, von denen eines die KPN und das andere die TPG betraf. Es folgten dann Verfahren in Bezug auf beide Gesellschaften.

8.        Mit ihrem Schreiben vom 28. Juli 2000 betreffend KPN teilte die Kommission der niederländischen Regierung mit, dass Vorschriften in der Satzung der KPN über die mit den von den Niederlanden gehaltenen Golden Shares verbundenen Rechte und über die Vertretung des niederländischen Staates im Aufsichtsgremium der KPN ihrer Ansicht nach gegen die Vorschriften des Vertrages über den freien Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit verstießen.

9.        Die niederländische Regierung antwortete mit Schreiben vom 8. November 2000, in dem sie erklärte, dass die Beteiligung des niederländischen Staates an der KPN über seine Golden Shares und durch von der Regierung ernannte Kommissare im Aufsichtsgremium weder den freien Kapitalverkehr noch die Niederlassungsfreiheit beschränke.

10.      Diese Antwort überzeugte die Kommission nicht, und sie richtete am 5. Februar 2003 an das Königreich der Niederlande eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie geltend machte, dass die Niederlande dadurch, dass sie ihre Golden Shares an der KPN und ihr Recht, Kommissare für das Aufsichtsgremium zu ernennen, behalten hätten, gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 43 EG und Artikel 56 EG verstoßen hätten. Die Niederlande waren immer noch anderer Meinung als die Kommission und antworteten mit Schreiben vom 28. April 2003.

11.      Die Kommission hat die Sache am 30. Juni 2004 vor den Gerichtshof gebracht, sie hat jedoch ihre die Ernennung von Kommissaren betreffende Rüge nicht aufrechterhalten, da dieses Recht in der Satzung gestrichen worden war.

12.      Mit ihrem Schreiben vom 28. Juli 2000 betreffend TPG teilte die Kommission der niederländischen Regierung mit, dass Vorschriften in der Satzung der TPG über die mit den von den Niederlanden gehaltenen Golden Shares zusammenhängenden Rechte und über die Vertretung des niederländischen Staates im Aufsichtsgremium der TPG ihrer Ansicht nach gegen die Vorschriften des Vertrages über den freien Kapitalverkehr und die Niederlassungsfreiheit verstießen.

13.      Die niederländische Regierung antwortete mit Schreiben vom 8. November 2000, in dem sie erklärte, dass die Beteiligung des niederländischen Staates an der TPG über seine Golden Shares und durch von der Regierung ernannte Kommissare im Aufsichtsgremium weder den freien Kapitalverkehr noch die Niederlassungsfreiheit beschränke. Als zusätzlichen Punkt trug die niederländische Regierung vor, dass, selbst wenn eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs oder der Niederlassungsfreiheit bestehen sollte, eine solche Beschränkung durch das Ziel gerechtfertigt wäre, die Verfügbarkeit eines Universalpostdienstes sicherzustellen.

14.      Diese Antwort hielt die Kommission für nicht zufrieden stellend und richtete am 5. Februar 2003 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Niederlande. Die Niederlande waren von der Auffassung der Kommission immer noch nicht überzeugt und antworteten mit Schreiben vom 28. April 2003.

15.      Die Kommission hat die Sache am 1. Juli 2004 vor den Gerichtshof gebracht. Wie im Fall der KPN hat die Kommission ihr Vorbringen, soweit dieses sich auf die Ernennung von Kommissaren bezieht, nicht aufrechterhalten, da dieses Recht in der Satzung gestrichen worden war.

16.      Durch Beschluss vom 30. Juni 2005 sind die beiden Rechtssachen gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung zu gemeinsamem mündlichem Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

II – Beurteilung

17.      Nach Auffassung der Kommission haben die Niederlande sowohl gegen Artikel 43 EG als auch gegen Artikel 56 EG verstoßen. Gemäß der feststehenden Praxis des Gerichtshofes werde ich zunächst das Artikel 56 EG betreffende Vorbringen prüfen(2).

18.      Die Kommission trägt vor, die Rechte, die mit den vom niederländischen Staat gehaltenen Golden Shares an der KPN und der TPG verbunden seien, könnten den Erwerb von Anteilen an den Gesellschaften erschweren und Investoren aus anderen Mitgliedstaaten leicht davon abhalten, derartige Investitionen zu tätigen. Die Ausübung dieser Rechte könne eine tatsächliche Beteiligung an der Geschäftsführung oder Kontrolle der Gesellschaften einschränken. Auf diese Weise könnte die Beteiligung der Niederlande am Kapital der KPN und der TPG Direktinvestitionen aus anderen Mitgliedstaaten behindern oder weniger attraktiv machen. Die Golden Shares stellten folglich ein Hindernis für den freien Kapitalverkehr im Sinne von Artikel 56 EG dar.

19.      In ihrer Klagebeantwortung haben die Niederlande an erster Stelle geltend gemacht, Artikel 56 EG sei nicht anwendbar, weil der Staat in seiner Eigenschaft als Aktionär der KPN und der TPG als Marktteilnehmer und nicht als öffentliche Stelle tätig werde. Ich werde mit der Behandlung dieses Arguments beginnen.

A –    Gilt Artikel 56 für den Staat, wenn dieser als Marktteilnehmer tätig wird?

20.      Die niederländische Regierung macht geltend, die Golden Shares an der KPN und der TPG fielen nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 56 EG, weil der niederländische Staat sie nicht in seiner Eigenschaft als öffentliche Stelle, sondern vielmehr als privater Anteilseigner halte. Golden Shares oder „Vorzugsaktien“ seien im niederländischen Gesellschaftsrecht üblich. Die mit den Golden Shares des niederländischen Staates an der KPN und der TPG verbundenen Rechte unterschieden sich nicht von Rechten, die üblicherweise von privaten Beteiligten vereinbart würden. Der Staat habe die ihm nach dem Gesellschaftsrecht zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in der gleichen Weise genutzt, wie andere sie genutzt hätten.

21.      Ich teile diese Auffassung nicht.

22.      Die Vertragsbestimmungen über den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr erlegen den nationalen Stellen der Mitgliedstaaten unabhängig davon Verpflichtungen auf, ob diese Stellen in ihrer Eigenschaft als öffentliche Stelle oder als privatrechtliche Einrichtung tätig werden(3). Die Mitgliedstaaten unterliegen den Vorschriften über den freien Verkehr, deren Adressaten sie eindeutig sind, nicht wegen ihrer funktionalen Eigenschaft als öffentliche Stelle, sondern wegen ihrer Organeigenschaft als Unterzeichner des Vertrages(4). In dem Maße, in dem diese Vorschriften keine Verpflichtungen für Einzelne begründen, können Mitgliedstaaten, wenn sie als Marktteilnehmer tätig werden, Einschränkungen unterworfen sein, die für andere Marktteilnehmer nicht gelten(5).

23.      Darüber hinaus ist es für die Feststellung, ob der freie Kapitalverkehr beschränkt wird, wenn ein Mitgliedstaat über besondere Befugnisse in einem Unternehmen verfügt, unerheblich, wie diese Befugnisse eingeräumt werden oder welche rechtliche Form sie annehmen. Dass ein Mitgliedstaat im Rahmen seines nationalen Gesellschaftsrechts tätig wird, bedeutet nicht, dass seine besonderen Befugnisse keine Beschränkung im Sinne von Artikel 56 EG darstellen können(6).

24.      Selbst wenn es zuträfe, dass die niederländischen öffentlichen Stellen von der Geltung des Artikels 56 EG freigestellt sind, wenn sie wie jeder andere Aktionär im Rahmen des allgemeinen Gesellschaftsrechts tätig werden, könnte darüber hinaus die Frage aufgeworfen werden, ob Rechtsvorschriften, aufgrund deren einige Aktionäre bestimmte besondere Rechte erhalten können, um sie vom Geschehen auf dem Markt abzuschirmen, selbst eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellen können. Rechtsvorschriften dieser Art können den Zugang zu Kapital auf dem nationalen Markt dadurch beschränken, dass sie die Position bestimmter Unternehmer, die eine herausragende Stellung auf diesem Markt erworben haben, schützen. Außerdem sind derartige Unternehmer wahrscheinlich inländische Aktionäre. Derartige Rechtsvorschriften können daher den Zugang zum inländischen Markt für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Anleger behindern(7).

25.      Das Argument, dass die besonderen Befugnisse des niederländischen Staates bei der KPN und der TPG nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 56 EG fielen, da Vorzugsaktien im Gesellschaftsrecht nicht unüblich seien, ist folglich zurückzuweisen.

B –    Die Anwendung des Artikels 56 EG auf die streitigen Sonderrechte

26.      In den vorliegenden Rechtssachen wird der Gerichtshof im Wesentlichen darum ersucht, die Grenzen zu definieren, die das Gemeinschaftsrecht Mitgliedstaaten setzt, wenn diese auf dem Markt als Marktteilnehmer tätig werden. Diese Form des Tätigwerdens, die im Gegensatz zu den klassischen Formen der Staatstätigkeit steht, wie z. B. dem Erlass von Vorschriften oder öffentlichem Eigentum, stellt einen Versuch dar, sich eine gewisse Form von öffentlicher Kontrolle in einem privatisierten Wirtschaftssektor zu erhalten.

27.      Generalanwalt Ruiz‑Jarabo Colomer hat aus Artikel 295 EG gefolgert, da der Staat theoretisch die volle Kontrolle über Gesellschaften durch Staatseigentum behalten könne, könne er erst recht eine beschränkte Kontrolle der privatisierten Gesellschaften durch bestimmte Sonderrechte behalten(8). Der Gerichtshof ist dieser Argumentation nicht gefolgt. Er hat entschieden, dass Mitgliedstaaten „sich auf ihre Eigentumsordnung, die Gegenstand von Artikel 295 EG ist, [nicht] … berufen [können], um Beeinträchtigungen der im Vertrag vorgesehenen Freiheiten zu rechtfertigen, die sich aus Vorrechten ergeben, mit denen ihre Aktionärsstellung in einem privatisierten Unternehmen ausgestattet ist“(9).

28.      Meines Erachtens steht die Auffassung des Gerichtshofes im Einklang mit seiner Rechtsprechung in anderen Bereichen, in denen sich Fragen in Bezug darauf gestellt haben, welche Grenzen dem Staat gesetzt sind, wenn er als Marktteilnehmer tätig wird. Entscheidet ein Staat sich dafür, einen bestimmten Marktsektor zu öffnen, so muss er in einer Weise tätig werden, die mit dieser Entscheidung vereinbar ist. Dieses Erfordernis der Vereinbarkeit ergibt sich aus der Notwendigkeit, sicherzustellen, dass der Staat entweder im Einklang mit den Regeln des Marktes oder im Einklang mit den Regeln der Politik tätig wird(10).

29.      Im Fall der Privatisierung von früher im Eigentum des Staates stehenden Gesellschaften ist dieses Erfordernis von besonderer Bedeutung. Der Vertrag räumt den Mitgliedstaaten das Recht ein, das Staatseigentum an bestimmten Gesellschaften beizubehalten. Er gibt ihnen jedoch kein Recht dazu, den Zugang von Marktteilnehmern zu bestimmten Wirtschaftssektoren selektiv zu beschränken, sobald diese Sektoren privatisiert worden sind. Wäre der Staat berechtigt, besondere Formen der Marktkontrolle über privatisierte Gesellschaften beizubehalten, so könnte er die Anwendung der Vorschriften über den freien Verkehr leicht dadurch vereiteln, dass er nur selektiven und potenziellen diskriminierenden Zugang zu wesentlichen Teilen des nationalen Marktes gewähren würde.

30.      Privatisiert der Staat eine Gesellschaft, so gebietet der freie Kapitalverkehr daher, dass die wirtschaftliche Autonomie der Gesellschaft geschützt wird, es sei denn, es besteht eine Notwendigkeit, im Gemeinschaftsrecht anerkannte grundlegende öffentliche Interessen zu schützen. Somit muss die staatliche Kontrolle einer privatisierten Gesellschaft, da sie außerhalb der normalen Marktmechanismen liegt, mit der Ausübung der Tätigkeiten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verknüpft sein, die mit dieser Gesellschaft verbunden sind.

31.      Das Urteil des Gerichtshofes vom 4. Juni 2002 in der Rechtssache Kommission/Belgien ist ebenfalls in dieser Weise zu verstehen. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass bestimmte Bedenken „rechtfertigen können, dass die Mitgliedstaaten einen gewissen Einfluss auf ursprünglich öffentliche und später privatisierte Unternehmen behalten, wenn diese Unternehmen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder von strategischer Bedeutung erbringen“(11). Es ist jedoch klar, dass ein solcher Einfluss eng darauf begrenzt sein muss, die Erfüllung in einem grundlegenden öffentlichen Interesse liegender Verpflichtungen zu gewährleisten(12). Daher hat der Gerichtshof den „Grundsatz der Beachtung der Entscheidungsfreiheit des Unternehmens“ betont(13). Der Staat muss daher das spezifische öffentliche Interesse benennen, das einen Schutz rechtfertigt. Außerdem haben die Vorschriften, durch die dem Staat Sonderrechte eingeräumt werden, auf objektive und genaue Kriterien gestützt zu sein, die nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um den Schutz dieses öffentlichen Interesses sicherzustellen, und die Möglichkeit einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle zu gewährleisten(14).

32.      Meines Erachtens können im Licht der vorhandenen Rechtsprechung kaum Zweifel daran bestehen, dass die Golden Shares an der KPN und der TPG eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellen. Sie räumen dem Staat ein Recht ein, eine Reihe von wichtigen Entscheidungen, u. a. Entscheidungen der Hauptversammlung der Aktionäre über die Fusion, die Aufspaltung oder die Auflösung der Gesellschaft und über verschiedene Änderungen der Satzung der Gesellschaft, von einer vorherigen Zustimmung abhängig zu machen. Ein solches System der vorherigen Zustimmung berührt „die Situation des Erwerbers einer Beteiligung als solche“(15) und kann daher „Anleger aus anderen Mitgliedstaaten davon abhalten, in das Kapital dieser Unternehmen zu investieren“(16). Die besonderen Befugnisse des Staates in der KPN und in der TPG beschränken daher den freien Kapitalverkehr(17).

33.      Es ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Beschränkung durch einen legitimen Zweck gerechtfertigt ist und, wenn ja, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet ist(18).

34.      Im Fall der KPN beruft sich die niederländische Regierung nicht auf eine Rechtfertigung, die auf etwaige zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützt ist. Was die Golden Shares an der KPN angeht, haben die Niederlande daher gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 56 EG verstoßen(19).

35.      Im Fall der TPG berufen die Niederlande sich jedoch auf die Notwendigkeit, die ordnungsgemäße Erbringung eines Universalpostdienstes sicherzustellen. Die Niederlande tragen vor, ihre Golden Shares an der TPG erlaubten ihr, die Zahlungsfähigkeit und den Fortbestand der Gesellschaft zu schützen. Da die TPG derzeit das einzige Unternehmen sei, das fähig sei, einen Universalpostdienst in dem Umfang und mit der Qualität zu erbringen, die nach dem innerstaatlichen Recht vorgeschrieben seien, sei es notwendig, die Zahlungsfähigkeit und den Fortbestand der TPG sicherzustellen, um die Erbringung dieses Dienstes zu gewährleisten.

36.      Es ist unstreitig, dass das Interesse daran, die ordnungsgemäße Erbringung eines Universalpostdienstes zu gewährleisten, ein mit dem Allgemeininteresse zusammenhängendes zwingendes Erfordernis darstellen kann(20). Es muss daher festgestellt werden, ob die besonderen Befugnisse des niederländischen Staates erforderlich sind, um die Erbringung eines Universalpostdienstes sicherzustellen, und ob dieses Ziel mit Maßnahmen, die den freien Kapitalverkehr weniger einschränken, erreicht werden könnte(21).

37.      In dieser Hinsicht stimme ich mit der Kommission darin überein, dass es keinen Grund für die Annahme gibt, dass die Geschäftsführungsorgane der TPG ohne die hier erörterten besonderen Befugnisse nicht in der Lage wären, die Zahlungsfähigkeit und den Fortbestand der Gesellschaft angemessen zu schützen. Es ist nicht dargetan worden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass übereilte Investitionen die TPG in finanzielle Schwierigkeiten stürzen können, die das Überleben eines ordnungsgemäßen Universalpostdienstes gefährden würden, so groß ist, dass sie das umfassende und allgemeine System einer vorherigen Zustimmung, das im vorliegenden Verfahren im Streit ist, rechtfertigen würde.

38.      In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass die besonderen Befugnisse des niederländischen Staates in der TPG nicht auf die Tätigkeiten der TPG als Erbringerin eines Universalpostdienstes beschränkt sind(22). Auf jeden Fall kann das ordnungsgemäße Funktionieren eines Universalpostdienstes, wie die Kommission richtigerweise dargelegt hat, durch besser geeignete und weniger einschränkende Mittel im Einklang mit dem gemeinschaftsrechtlichen Regelungsrahmen auf diesem Gebiet(23) sichergestellt werden.

39.      Ferner ist das System einer vorherigen Zustimmung nicht auf klare und objektive Kriterien gestützt, die einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Die allgemeinen Vorschriften des Privatrechts sowie die Vereinbarung, die zwischen der TPG und dem Staat gilt, verlangen von diesem lediglich, dass er seine Befugnisse vernünftig ausübt. Außerdem verpflichtet die Satzung der TPG den Inhaber der Golden Shares nicht dazu, eine förmliche Begründung für die Ausübung seiner Rechte vorzulegen. In diesem Sinne unterscheidet sich das hier geprüfte System von Sonderrechten von dem System, dass der Gerichtshof im Urteil Kommission/Belgien bestätigt hat(24).

40.      Man muss daher zu dem Ergebnis gelangen, dass das System von besonderen Befugnissen, die mit den Golden Shares an der TPG verbunden sind, über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die ordnungsgemäße Erbringung eines Universalpostdienstes sicherzustellen. Die Niederlande haben dadurch, dass sie ihre Golden Shares an der TPG behalten haben, daher gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 56 EG verstoßen.

C –    Die auf Artikel 43 EG gestützte Rüge der Kommission

41.      Die Kommission trägt vor, die Sonderrechte in der KPN und in der TPG stellten auch einen Verstoß gegen Artikel 43 EG dar. Es besteht jedoch Einverständnis zwischen den Parteien darüber, dass eine Untersuchung auf der Grundlage des Artikels 43 EG zu dem gleichen Ergebnis führen würde wie eine Untersuchung im Rahmen von Artikel 56 EG. In seiner früheren Rechtsprechung zu Golden Shares hat der Gerichtshof nämlich die Auffassung vertreten, dass keine Notwendigkeit für eine gesonderte Untersuchung im Rahmen von Artikel 43 EG bestehe(25). Der Gerichtshof hat entschieden, dass, soweit die besonderen Befugnisse zu Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit führten, diese „die unmittelbare Folge der … Hindernisse für den freien Kapitalverkehr [sind], mit denen sie untrennbar verbunden sind“(26). Ich lege dem Gerichtshof nahe, sich in den vorliegenden Rechtssachen dieselbe Betrachtungsweise zu Eigen zu machen.

III – Ergebnis

42.      Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor,

in der Rechtssache C‑282/04

–        festzustellen, dass das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 56 EG verstoßen hat, dass es bestimmte Vorschriften der Satzung der Gesellschaft Koninklijke KPN N.V. beibehalten hat, nämlich dass zu den Anteilen der Gesellschaft ein besonderer Anteil gehört, der im Eigentum des niederländischen Staates steht und mit dem besondere Rechte in Bezug auf die Zustimmung zu bestimmten von den entsprechenden Organen der Gesellschaft getroffenen Entscheidungen verbunden sind;

und in der Rechtssache C‑283/04

–        festzustellen, dass das Königreich der Niederlande dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 56 EG verstoßen hat, dass es bestimmte Vorschriften der Satzung der Gesellschaft TPG N.V. beibehalten hat, nämlich dass zu den Anteilen der Gesellschaft ein besonderer Anteil gehört, der im Eigentum des niederländischen Staates steht und mit dem besondere Rechte in Bezug auf die Zustimmung zu bestimmten von den entsprechenden Organen der Gesellschaft getroffenen Entscheidungen verbunden sind.


1 – Originalsprache: Portugiesisch.


2 – Urteile vom 4. Juni 2002 in der Rechtssache C‑367/98, Kommission/Portugal, Slg. 2002, I‑4731, in der Rechtssache C‑483/99, Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I‑4781, und in der Rechtssache C‑503/99, Kommission/Belgien, Slg. 2002, I‑4809, vom 13. Mai 2003 in der Rechtssache C‑463/00, Kommission/Spanien, Slg. 2003, I‑4581, und in der Rechtssache C‑98/01, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2003, I‑4641.


3 – Diese Streitfrage darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob private Einrichtungen den Regeln über den freien Verkehr unterliegen. Nimmt eine private Einrichtung eine öffentliche Aufgabe wahr, so kann daraus gefolgert werden, dass der Staat durch diese Einrichtung tätig wird und dass die Regeln über den freien Verkehr ratione personae anwendbar sind. Siehe z. B. die Urteile vom 18. Mai 1989 in den verbundenen Rechtssachen 266/87 und 267/87, The Queen/The Pharmaceutical Society, Slg. 1989, 1295, vom 11. August 1995 in der Rechtssache C‑16/94, Dubois, Slg. 1995, I‑2421, Randnr. 20, vom 5. Februar 2004 in der Rechtssache C‑157/02, Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I‑1477, Randnr. 24, sowie die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 17. November 2005 in der Rechtssache C‑470/03, AGM‑COS.MET, derzeit beim Gerichtshof anhängig, Randnr. 87.


4 – Siehe auch in entsprechender Anwendung die Urteile vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Randnr. 49, und vom 12. Juli 1990 in der Rechtssache C‑188/89, Foster, Slg. 1990, I‑3313, Randnr. 17.


5 – Siehe Urteil vom 13. Dezember 1983 in der Rechtssache 222/82, Apple & Pear Development Council, Slg. 1983, 4083, Randnr. 17. Die Vorschriften über das öffentliche Auftragswesen bieten ein anderes Beispiel für Beschränkungen, die für Mitgliedstaaten gelten, wenn sie als Marktteilnehmer tätig werden, nicht aber für andere Marktteilnehmer.


6 – In diesem Sinne: Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz‑Jarabo Colomer vom 6. Februar 2003 in der Rechtssache C‑463/00, Kommission/Spanien, und in der Rechtssache C‑98/01, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2003, I‑4581, Randnr. 48.


7 – Siehe in diesem Sinne meine Schlussanträge in der Rechtssache C‑446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I‑0000, Nrn. 37 bis 40, sowie die Nrn. 55 und 56 meiner Schlussanträge in der Rechtssache C‑94/04, Cippolla, und in der Rechtssache C‑202/04, Macrino, derzeit beim Gerichtshof anhängig, und die Nrn. 54 und 55 meiner Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C‑158/04 und C‑159/04, Trofo Super Markets, derzeit beim Gerichtshof anhängig.


8 – Schlussanträge in den Rechtssachen C‑367/98, C‑483/99 und C‑503/99, insbesondere Nr. 66. Siehe auch die Nrn. 54 bis 57 seiner Schlussanträge in den oben zitierten Rechtssachen Kommission/Spanien und Kommission/Vereinigtes Königreich.


9 – Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 67.


10 – Siehe in diesem Sinne meine Schlussanträge in der Rechtssache C‑205/03, FENIN, derzeit beim Gerichtshof anhängig, Nr. 25, sowie die Nrn. 31 und 32 meiner Schlussanträge in den oben zitierten Rechtssachen Cippolla und Macrino.


11 – Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 43.


12 – Siehe in dieser Hinsicht Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 47, und Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 82.


13 – Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 49.


14 – Urteil Kommission/Belgien, Randnrn. 51 und 52.


15 – Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 47; Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 61.


16 – Urteil Kommission/Frankreich, Randnr. 41.


17 – Siehe dazu das Urteil Kommission/Frankreich, Randnr. 37, und in neuester Zeit das Urteil vom 2. Juni 2005 in der Rechtssache C‑174/04, Kommission/Italien, Slg. 2005, I‑4933, Randnr. 28.


18 – In diesem Sinne: Urteil vom 14. Dezember 1995 in den verbundenen Rechtssachen C‑163/94, C‑165/94 und C‑250/94, Sanz de Lera u. a., Slg. 1995, I‑4821, Randnr. 23, Urteil Kommission/Portugal, Randnr. 50, Urteil Kommission/Italien, Randnr. 35, und Urteil vom 1. Dezember 2005 in der Rechtssache C‑213/04, Burtscher, Slg. 2005, I‑0000, Randnr. 44.


19 – Siehe in entsprechender Anwendung das Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnrn. 49 und 50.


20 – Siehe in entsprechender Anwendung das Urteil vom 21. Februar 2002 in den verbundenen Rechtssachen C‑388/00 und C‑429/00, Radiosistemi, Slg. 2002, I‑1831, Randnr. 43. Siehe in diesem Zusammenhang auch das Urteil vom 19. Mai 1993 in der Rechtssache C‑320/91, Corbeau, Slg. 1993, I‑2533, Randnr. 15, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass Universalpostdienste eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse darstellen.


21 – Siehe z. B. Urteil Sanz de Lera u. a., Randnr. 23, und Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 48.


22 – Siehe im Gegensatz dazu das Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 50.


23 – Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (ABl. 1998, L 15, S. 14) in der durch die Richtlinie 2002/39/EG vom 10. Juni 2002 (ABl. L 176, S. 21) geänderten Fassung.


24 – Siehe insbesondere die Randnrn. 51 und 52 des Urteils in jener Rechtssache.


25 – Siehe z. B. Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 59, und Urteil vom 23. Mai 2000 in der Rechtssache C‑58/99, Kommission/Italien, Slg. 2000, I‑3811, Randnr. 20.


26 – Urteile Kommission/Portugal, Randnr. 56, Kommission/Frankreich, Randnr. 56, Kommission/Spanien, Randnr. 86, Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 52.