Language of document : ECLI:EU:C:2017:618

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 26. Juli 2017(1)

Rechtssachen C643/15 und C647/15

Slowakische Republik und Ungarn

gegen

Rat der Europäischen Union

„Nichtigkeitsklage – Beschluss (EU) 2015/1601 – Vorläufige Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik – Durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet bestimmter Mitgliedstaaten verursachte Notlage – Umsiedlung dieser Staatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten – Umsiedlungskontingente – Art. 80 AEUV – Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten – Art. 78 Abs. 3 AEUV – Rechtsgrundlage – Begriff des ‚Gesetzgebungsakts‘ – Art. 289 Abs. 3 AEUV – Für den Rat der Europäischen Union verbindliche Wirkung der vom Europäischen Rat angenommenen Schlussfolgerungen – Art. 15 Abs. 1 EUV und Art. 68 AEUV – Verletzung wesentlicher Formvorschriften – Abänderung des Vorschlags der Europäischen Kommission – Erfordernisse einer erneuten Anhörung des Europäischen Parlaments und eines einstimmigen Beschlusses des Rates – Art. 293 AEUV – Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit“






1.        Mit ihren Klagen begehren die Slowakische Republik (C‑643/15) und Ungarn (C‑647/15) die Nichtigerklärung des Beschlusses (EU) 2015/1601 des Rates vom 22. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland(2).

2.        Diesen Beschluss hat der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen, wonach er, wenn „sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage [befinden], … auf Vorschlag der [Europäischen] Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen [kann]. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“

3.        Der angefochtene Beschluss ist eine Antwort auf die Flüchtlingskrise, in die die Europäische Union seit dem Jahr 2014 geraten ist und die sich dann im Jahr 2015, vor allem in den Monaten Juli und August dieses Jahres, verschärft hat, sowie auf die katastrophale humanitäre Situation, zu der diese Krise namentlich in den Mitgliedstaaten geführt hat, die sich wie die Italienische Republik und die Hellenische Republik an den Außengrenzen befinden und die einem massiven Zustrom von Flüchtlingen aus Drittländern wie der Arabischen Republik Syrien, der Islamischen Republik Afghanistan, der Republik Irak und dem Staat Eritrea ausgesetzt waren.

4.        Zur Bewältigung dieser Flüchtlingskrise und des von ihr ausgelösten Drucks auf die Asylregelungen der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik sieht der angefochtene Beschluss vor, dass 120 000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, im Lauf von zwei Jahren aus diesen beiden Mitgliedstaaten in die anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt werden. Diesem Beschluss sind zwei Anhänge beigefügt, nach deren Maßgabe die Verteilung von 66 000 Personen erfolgt, die in einer ersten Phase aus Italien (Quote von 15 600) und aus Griechenland (Quote von 50 400) umgesiedelt werden sollen, und zwar auf der Grundlage von Zuweisungen, die für jeden der anderen Mitgliedstaaten verbindlich festgesetzt sind(3).

5.        In Art. 2 Buchst. e des angefochtenen Beschlusses wird Umsiedlung als „die Überstellung eines Antragstellers aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der nach den Kriterien in Kapitel III der Verordnung (EU) Nr. 604/2013[(4)] für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in das Hoheitsgebiet des Umsiedlungsmitgliedstaats“ definiert. Bei Letzterem handelt es sich gemäß Art. 2 Buchst. f des angefochtenen Beschlusses um „den Mitgliedstaat, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz gemäß der [Dublin-III-Verordnung] … nach Umsiedlung des Antragstellers in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zuständig ist“.

6.        Die in dem angefochtenen Beschluss vorgesehene Regelung der vorübergehenden Umsiedlung ergänzt andere Maßnahmen, die auf Unionsebene bereits getroffen worden waren, um die Flüchtlingskrise zu überwinden, wie z. B. das europäische Programm zur „Neuansiedlung“(5) von 22 504 Personen, die internationalen Schutz benötigen, das am 20. Juli 2015 in Form einer „Entschließung“ zwischen den Mitgliedstaaten und den am Dublin-System beteiligten Staaten vereinbart wurde, und den Beschluss (EU) 2015/1523 des Rates vom 14. September 2015(6), der vorsieht, dass 40 000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, im Lauf von zwei Jahren aus Griechenland und Italien in die anderen Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer einvernehmlich festgelegten Verteilung umgesiedelt werden(7).

7.        Erwähnenswert ist auch, dass die Kommission am 9. September 2015 nicht nur den Vorschlag vorgelegt hat, aus dem der angefochtene Beschluss hervorgehen sollte(8), sondern auch einen Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Dublin-III-Verordnung(9). Dieser Vorschlag sieht einen „dauerhaften“ Umsiedlungsmechanismus vor, d. h. einen Mechanismus, der anders als der in dem Beschluss 2015/1523 und in dem angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlungsmechanismus zeitlich nicht befristet ist. Der letztgenannte Vorschlag ist jedoch immer noch nicht angenommen worden.

8.        Zur Entstehungsgeschichte des angefochtenen Beschlusses ist Folgendes zu bemerken.

9.        Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah die Umsiedlung von 120 000 internationalen Schutz beantragenden Personen aus Italien (15 600 Personen), aus Griechenland (50 400 Personen) und aus Ungarn (54 000 Personen) in die anderen Mitgliedstaaten vor. Unter den Anhängen, die diesem Vorschlag beigefügt waren, befanden sich als Anhänge I bis III drei Tabellen, in denen die Verteilung dieser Antragsteller aus jedem dieser drei Mitgliedstaaten auf die anderen Mitgliedstaaten, ausgenommen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, Irland und das Königreich Dänemark, in Form von für jeden dieser Mitgliedstaaten festgesetzten Kontingenten vorgenommen wurde.

10.      Am 13. September 2015 übermittelte die Kommission diesen Vorschlag den nationalen Parlamenten.

11.      Am 14. September 2015 übermittelte der Rat denselben Vorschlag dem Europäischen Parlament zur Anhörung.

12.      Am 17. September 2015 nahm das Parlament eine legislative Entschließung an, in der es den genannten Vorschlag insbesondere unter Hinweis auf „die außergewöhnliche Notsituation und die Notwendigkeit, die Situation ohne weitere Verzögerung zu bewältigen“, billigte, den Rat aber aufforderte, es erneut anzuhören, falls er beabsichtige, den Vorschlag der Kommission entscheidend zu ändern.

13.      Im Verlauf verschiedener Sitzungen zwischen dem 17. und dem 22. September 2015 nahm der Rat mehrere Änderungen an dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission vor.

14.      Bei diesen Sitzungen wies Ungarn insbesondere darauf hin, dass es nicht damit einverstanden sei, als „an den Außengrenzen befindlicher Mitgliedstaat“ qualifiziert zu werden, und nicht ebenso wie die Italienische Republik und die Hellenische Republik zu den Mitgliedstaaten gehören wolle, die aus der Umsiedlung einen Nutzen zögen. Folglich fehlt im endgültigen Text des Vorschlags, einschließlich des Titels, jeder Hinweis auf Ungarn als einen begünstigten Mitgliedstaat. Aus diesem Grund wurde auch Anhang III des ursprünglichen Vorschlags gestrichen, der die Verteilung von 54 000 Personen zum Gegenstand hatte, die eigentlich aus Ungarn umgesiedelt werden sollten. Dagegen wurde Ungarn als Umsiedlungsmitgliedstaat für die internationalen Schutz beantragenden Personen aus Italien bzw. aus Griechenland in die Anhänge I und II aufgenommen, in denen ihm daher auch Kontingente zugewiesen wurden.

15.      Am 22. September 2015 wurde der entsprechend geänderte Vorschlag der Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen. Die Tschechische Republik, Ungarn, Rumänien und die Slowakische Republik stimmten gegen die Annahme dieses Vorschlags. Die Republik Finnland enthielt sich der Stimme.

16.      Der angefochtene Beschluss ist ein Ausdruck der Solidarität, wie sie der Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten vorsieht.

17.      Die vorliegenden Klagen geben uns die Gelegenheit, daran zu erinnern, dass die Solidarität zu den wesentlichen Werten, ja sogar zu den Grundlagen der Union gehört. Wie sollte die Solidarität zwischen den Völkern Europas vertieft und ein immer engerer Zusammenschluss dieser Völker geschaffen werden, wie es in der Präambel des AEU-Vertrags gefordert wird, wenn es zwischen den Mitgliedstaaten an Solidarität fehlt, sobald sich einer von ihnen in einer Notlage befindet? Wir haben es hier mit dem Inbegriff dessen zu tun, was sowohl die Daseinsberechtigung als auch die Zielsetzung des Projekts Europa ausmacht.

18.      Es muss daher von vornherein darauf hingewiesen werden, dass die Solidarität einen Grundwert der Union darstellt, dem existenzielle Bedeutung zukommt.

19.      Das Gebot der Solidarität, das sich schon im Vertrag von Rom findet(10), ist weiterhin ein Kernstück des mit dem Vertrag von Lissabon verfolgten Integrationsprozesses. Obwohl unter den in Art. 2 Satz 1 EUV aufgeführten Werten, auf die sich die Union gründet, die Solidarität erstaunlicherweise nicht zu finden ist(11), wird sie doch in der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(12) als Bestandteil der „unteilbaren und universellen Werte“ erwähnt, auf die sich die Union gründet. Im Übrigen heißt es in Art. 3 Abs. 3 EUV, dass die Union nicht nur „die Solidarität zwischen den Generationen“, sondern auch „die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ fördert. Die Solidarität gehört mithin nach wie vor zu einem Werte- und Prinzipienkanon, der „die Basis des europäischen Aufbauwerks“ darstellt(13).

20.      Insbesondere ist die Solidarität sowohl ein Grundpfeiler als auch eine Richtschnur für die Politik der Union im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung gemäß Kapitel 2 des Titels V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) im Dritten Teil des AEU-Vertrags(14).

21.      Dies kommt in Art. 67 Abs. 2 AEUV zum Ausdruck, wonach die Union „eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen [entwickelt], die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist“. Außerdem bestimmt Art. 80 AEUV: „Für die unter dieses Kapitel fallende Politik der Union und ihre Umsetzung gilt der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht. Die aufgrund dieses Kapitels erlassenen Rechtsakte der Union enthalten, immer wenn dies erforderlich ist, entsprechende Maßnahmen für die Anwendung dieses Grundsatzes“(15).

22.      Da zwischen den Mitgliedstaaten je nach ihrer geografischen Lage und ihrer Schutzbedürftigkeit gegenüber den massiven Migrationsströmen de facto Unterschiede bestehen, ist es umso mehr geboten, Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV zu erlassen und effektiv anzuwenden. In diesem Sinne kann mit Maßnahmen, wie sie in dem angefochtenen Beschluss vorgesehen sind, der in Art. 80 AEUV niedergelegte Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten inhaltlich konkretisiert werden.

23.      Die Besonderheit des angefochtenen Beschlusses besteht darin, dass ein Umsiedlungsmechanismus eingeführt wird, der auf den Mitgliedstaaten verbindlich zugewiesenen Kontingenten beruht. Mit diesem Beschluss erhält die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten einen konkreten Inhalt sowie einen rechtsverbindlichen Charakter. Dieses wesentliche und innovative Merkmal des angefochtenen Beschlusses ist der Grund für die politische Problematik der vorliegenden Rechtssachen, da es den Widerstand von Mitgliedstaaten herauskristallisiert hat, die eine fakultativ gewährte, auf einer rein freiwilligen Selbstverpflichtung beruhende Solidarität befürworten.

24.      Dieser Widerstand könnte in Verbindung mit dem Befund einer sehr bruchstückhaften Anwendung des angefochtenen Beschlusses, auf die ich später noch zurückkommen werde(16), Anlass zu der Vermutung geben, dass sich hinter dem, was übereinstimmend als „Flüchtlingskrise des Jahres 2015“ bezeichnet wird, eine andere Krise verbirgt: die Krise des europäischen Einigungsvorhabens, das weitgehend auf einem Gebot der Solidarität zwischen den Staaten beruht, die sich dafür entschieden haben, bei diesem Vorhaben eine aktive Rolle zu spielen(17).

25.      Auf der anderen Seite könnte auch die Auffassung vertreten werden, dass die Union durch ihre entschlossene Reaktion auf diese Flüchtlingskrise demonstriert hat, dass sie über die notwendigen Instrumente verfügt und in der Lage ist, sie einzusetzen. Es bleibt zu prüfen, wozu wir durch die vorliegenden Klagen aufgerufen sind, ob die Union mit dem Erlass von Maßnahmen, wie sie in dem angefochtenen Beschluss enthalten sind, den durch die Verträge festgelegten rechtlichen Rahmen beachtet hat.

I.      Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

26.      In der Rechtssache C‑643/15 beantragt die Slowakische Republik, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

27.      In der Rechtssache C‑647/15 beantragt Ungarn, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, hilfsweise, für den Fall, dass diesem Klageantrag nicht stattgegeben werden sollte, den Ungarn betreffenden Teil dieses Beschlusses für nichtig zu erklären und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

28.      In den Rechtssachen C‑643/15 und C‑647/15 beantragt der Rat, die Klagen als unbegründet abzuweisen und der Slowakischen Republik bzw. Ungarn die Kosten des jeweiligen Verfahrens aufzuerlegen.

29.      Mit Beschluss vom 29. April 2016 hat der Präsident des Gerichtshofs das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Italienische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, das Königreich Schweden und die Kommission als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates in den Rechtssachen C‑643/15 und C‑647/15 zugelassen.

30.      Mit demselben Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs wurde die Republik Polen als Streithelferin in der Rechtssache C‑643/15 zur Unterstützung der Anträge der Slowakischen Republik und in der Rechtssache C‑647/15 zur Unterstützung der Anträge Ungarns zugelassen.

II.    Zu den Klagen

31.      Die Slowakische Republik stützt ihre Klageanträge auf sechs Klagegründe: erstens einen Verstoß gegen Art. 68 AEUV und gegen Art. 13 Abs. 2 EUV sowie gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts, zweitens einen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, gegen Art. 13 Abs. 2 EUV, gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV, gegen die Art. 3 und 4 des Protokolls (Nr. 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union und gegen die Art. 6 und 7 des Protokolls (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, die den Verträgen beigefügt sind(18), sowie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, der repräsentativen Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts, drittens (hilfsweise) eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften des Gesetzgebungsverfahrens sowie einen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, gegen Art. 13 Abs. 2 EUV und gegen die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung, viertens (zum Teil hilfsweise) eine Verletzung der in Art. 78 Abs. 3 AEUV und in Art. 293 AEUV niedergelegten wesentlichen Formvorschriften sowie einen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, gegen Art. 13 Abs. 2 EUV und gegen die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung, fünftens (hilfsweise) einen Verstoß gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV wegen Verkennung der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung und sechstens einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

32.      Ungarn stützt seine Klageanträge auf zehn Klagegründe.

33.      Mit den ersten beiden Klagegründen wird ein Verstoß gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV geltend gemacht, da diese Bestimmung keine geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass von Maßnahmen durch den Rat darstelle, die mit verbindlicher Wirkung von einem Gesetzgebungsakt abwichen, die eine Laufzeit von 24 Monaten, in bestimmten Fällen sogar von 36 Monaten, hätten und deren Wirkungen noch über diese Zeiträume hinausgingen, was mit dem Begriff „vorläufige Maßnahmen“ unvereinbar sei.

34.      Mit dem dritten bis sechsten Klagegrund rügt Ungarn eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften: Erstens habe der Rat bei der Annahme des angefochtenen Beschlusses gegen Art. 293 Abs. 1 AEUV verstoßen, weil er nicht einstimmig von dem Vorschlag der Kommission abgewichen sei (dritter Klagegrund); zweitens ordne der angefochtene Beschluss eine Abweichung von einem Gesetzgebungsakt an und sei inhaltlich selbst ein Rechtsakt mit Gesetzescharakter, so dass bei seinem Erlass – und zwar auch dann, wenn der Beschluss auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV hätte erlassen werden können – das in den Protokollen Nrn. 1 und 2 gewährleistete Recht der nationalen Parlamente auf Stellungnahme zu Gesetzgebungsakten hätte beachtet werden müssen (vierter Klagegrund); drittens habe der Rat nach der Anhörung des Parlaments den Vorschlag in wesentlichen Punkten geändert, ohne das Parlament dazu erneut anzuhören (fünfter Klagegrund); viertens hätten zum Zeitpunkt der Annahme des angefochtenen Beschlusses durch den Rat keine Sprachfassungen des Vorschlags in den Amtssprachen der Union zur Verfügung gestanden (sechster Klagegrund).

35.      Mit dem siebten Klagegrund wird ein Verstoß gegen Art. 68 AEUV und gegen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015(19) gerügt.

36.      Der achte Klagegrund ist auf eine Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit gestützt: Es sei in mehreren Punkten unklar, wie die Bestimmungen des angefochtenen Beschlusses anzuwenden seien und in welchem Verhältnis sie zu den Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung ständen.

37.      Mit dem neunten Klagegrund wird eine Verletzung der Grundsätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht: Da Ungarn nicht mehr zum Kreis der durch den vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus begünstigten Mitgliedstaaten gehöre, verfüge der angefochtene Beschluss zu Unrecht die Umsiedlung von 120 000 Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten.

38.      Mit dem zehnten Klagegrund wird hilfsweise ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV im Hinblick auf Ungarn gerügt: Obwohl Ungarn anerkanntermaßen ein Mitgliedstaat sei, in dessen Gebiet sehr viele irreguläre Migranten eingereist seien und Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten, habe der angefochtene Beschluss trotzdem für Ungarn eine verbindliche Aufnahmequote als Umsiedlungsmitgliedstaat festgelegt.

III. Rechtliche Würdigung

A.      Vorbemerkungen

39.      Da die Rechtsgrundlage für das beim Erlass eines Rechtsakts zu befolgende Verfahren maßgebend ist(20), sind zunächst die Klagegründe zu prüfen, mit denen geltend gemacht wird, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei nicht die geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses gewesen. Ich werde anschließend die Klagegründe prüfen, mit denen die Verletzung wesentlicher Formvorschriften beim Erlass dieses Beschlusses gerügt werden, und mich sodann den materiell-rechtlichen Klagegründen zuwenden.

40.      Außerdem werde ich mich im Rahmen dieser drei Prüfungsschritte zuerst mit den Klagegründen der Slowakischen Republik und Ungarns befassen, die sich ganz oder teilweise überschneiden; danach werde ich gegebenenfalls auf die Klagegründe eingehen, die nur von jeweils einer Klagepartei vorgebracht werden.

B.      Zu den Klagegründen, mit denen geltend gemacht wird, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei nicht die geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses gewesen

41.      Nach Ansicht der Slowakischen Republik (zweiter und fünfter Klagegrund) und Ungarns (erster und zweiter Klagegrund) kommt Art. 78 Abs. 3 AEUV nicht als Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses in Frage.

42.      Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen den Standpunkten dieser beiden Mitgliedstaaten. Während Ungarn nämlich einräumt, dass sich die Italienische Republik und die Hellenische Republik beim Erlass des angefochtenen Beschlusses in einer „durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachten Notlage“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV befunden hätten, dabei jedoch bestreitet, dass der angefochtene Beschluss die geeignete Maßnahme gewesen sei, um auf diese Situation zu reagieren, stellt die Slowakischen Republik das Bestehen einer solchen Notlage im Sinne dieser Bestimmung in Abrede (zweiter Teil des fünften Klagegrundes).

43.      Zur Begründung ihrer Kritik an der Wahl der Rechtsgrundlage für den angefochtenen Beschluss tragen diese beiden Mitgliedstaaten erstens vor, obwohl der angefochtene Beschluss nicht in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen worden und daher ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter sei, müsse er gleichwohl wegen seines Inhalts als Gesetzgebungsakt qualifiziert werden, weil er Gesetzgebungsakte ändere. Art. 78 Abs. 3 AEUV ermächtige jedoch nicht zum Erlass von Rechtsakten mit Gesetzescharakter.

44.      Die Slowakische Republik und Ungarn rügen zweitens, dass es sich bei dem angefochtenen Beschluss nicht um eine nur vorläufige Maßnahme handele.

45.      Die Slowakische Republik macht drittens im Gegensatz zu Ungarn geltend, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei deshalb keine geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses gewesen, weil die Voraussetzung des Bestehens einer „durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachten Notlage“ nicht erfüllt gewesen sei.

1.      Zum zweiten Klagegrund der Slowakischen Republik und zum ersten Klagegrund Ungarns, mit denen geltend gemacht wird, der angefochtene Beschluss sei ein Rechtsakt mit Gesetzescharakter

46.      Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, obwohl der angefochtene Beschluss nicht in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen worden und daher formal ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter sei, müsse er dennoch wegen seines Inhalts und seiner Auswirkungen als Gesetzgebungsakt qualifiziert werden, da er Änderungen, und zwar solche grundlegender Art, an mehreren unionsrechtlichen Gesetzgebungsakten vornehme. Art. 78 Abs. 3 AEUV liefere jedoch keine Rechtsgrundlage für den Erlass von Legislativmaßnahmen, da er keinen Anhaltspunkt dafür enthalte, dass die auf seiner Grundlage getroffenen Maßnahmen im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden müssten.

47.      Wie der 23. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ausdrücklich bestätige, ändere Letzterer mehrere unionsrechtliche Gesetzgebungsakte. Diese Änderungen würden in dem angefochtenen Beschluss zwar als bloße Abweichungen, Ausnahmen oder Aussetzungen bezeichnet; der Unterschied zwischen diesen Bezeichnungen und einer Änderung sei jedoch gekünstelt, da die Wirkungen einer Abweichung, Ausnahme oder Aussetzung und diejenigen einer Änderung in der Praxis identisch seien: In beiden Fällen werde die Anwendung einer Rechtsnorm ausgeschlossen, deren Wirksamkeit somit de facto beeinträchtigt sei.

48.      Die Slowakische Republik wirft dem Rat insbesondere vor, Art. 78 Abs. 3 AEUV dadurch verletzt zu haben, dass der angefochtene Beschluss von Bestimmungen in Gesetzgebungsakten abweiche, während derartige Änderungen nur durch einen Gesetzgebungsakt vorgenommen werden dürften. Art. 78 Abs. 3 AEUV, in dem weder von dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren noch von einem besonderen Gesetzgebungsverfahren die Rede sei, ermächtige aber nicht zum Erlass von Gesetzgebungsakten. Folglich entspreche die Form des angefochtenen Beschlusses nicht dessen Inhalt.

49.      Indem der Rat den angefochtenen Beschluss auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen habe, habe er mithin nicht nur gegen diese Bestimmung verstoßen, sondern auch die Rechte der nationalen Parlamente und des Parlaments beeinträchtigt. Sowohl Erstere als auch Letzteres hätten kraft des Primärrechts an den Änderungen der Gesetzgebungsakte beteiligt werden müssen, von denen der Rat durch den angefochtenen Beschluss abgewichen sei. Diese Gesetzgebungsakte seien nämlich im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden.

50.      Die Slowakische Republik ist somit der Ansicht, dass der Rat durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht nur gegen Art. 78 Abs. 3 AEUV, sondern auch gegen Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, gegen Art. 13 Abs. 2 EUV, gegen die Art. 3 und 4 des Protokolls Nr. 1 und gegen die Art. 6 und 7 des Protokolls Nr. 2 sowie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, der repräsentativen Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts verstoßen habe.

51.      Ungarn teilt die Auffassung der Slowakischen Republik, wonach ein auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassener Rechtsakt, der – wie sich aus einem Umkehrschluss aus Art. 289 Abs. 2 und 3 AEUV ergebe – kein Gesetzgebungsakt sei, geltende Gesetzgebungsakte, die wie die Dublin-III-Verordnung im Rahmen ordentlicher oder besonderer Gesetzgebungsverfahren erlassen worden seien, nicht mit verbindlicher Wirkung, auch nicht vorläufig, ändern könne. Inhaltlich sei der angefochtene Beschluss zweifellos ein Gesetzgebungsakt. Da er von den Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung abweiche, könne er nicht auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen werden, der dem Rat nur die Befugnis zum Erlass von Rechtsakten außerhalb eines Gesetzgebungsverfahrens übertrage und ihn somit nur zum Erlass von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter ermächtige.

52.      Art. 78 Abs. 3 AEUV könne allenfalls als Rechtsgrundlage für den Erlass von Maßnahmen dienen, die auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassene Gesetzgebungsakte ergänzten, mit diesen aber im Einklang stünden, oder von Maßnahmen, die deren Umsetzung unter Berücksichtigung der Notlage erleichterten(21).

53.      Sollte der Gerichtshof den Erlass eines auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten Rechtsakts, der von einem aufgrund von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassenen Gesetzgebungsakt abweiche, für zulässig erachten, dann dürfe eine solche Abweichung jedenfalls nicht so weit gehen, dass sie den Wesensgehalt eines derartigen Gesetzgebungsakts antaste oder dessen grundlegende Bestimmungen leerlaufen lasse. Genau dies sei aber bei dem angefochtenen Beschluss der Fall, da er insbesondere den Kernpunkt der betreffenden Verordnung ändere, nämlich die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats. Der angefochtene Beschluss führe somit eine Abweichung von den Bestimmungen der betreffenden Verordnung ein, die angesichts ihrer Tragweite im Rahmen eines Rechtsakts ohne Gesetzescharakter inakzeptabel sei. Dies stelle eine Umgehung des in Art. 78 Abs. 2 AEUV vorgesehenen ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens dar.

54.      Schließlich behauptet Ungarn in seiner Erwiderung und in seiner Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen unter analoger Bezugnahme auf die Nrn. 151 bis 161 der Schlussanträge von Generalanwalt Wathelet in der Rechtssache Rat/Front Polisario(22), das Erfordernis einer Anhörung des Parlaments, wie es in Art. 78 Abs. 3 AEUV vorgesehen sei, könne als eine „Beteiligung“ des Parlaments im Sinne von Art. 289 Abs. 2 AEUV angesehen werden, so dass das besondere Gesetzgebungsverfahren Anwendung finde und der angefochtene Beschluss somit als Gesetzgebungsakt zu betrachten sei.

55.      Selbst in diesem Fall ermächtige Art. 78 Abs. 3 AEUV den Rat aber nicht zu einer Abweichung von einer wesentlichen Bestimmung eines auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassenen Gesetzgebungsakts.

56.      Diese verschiedenartigen Argumente überzeugen mich nicht. Nach meinem Dafürhalten konnte auf Art. 78 Abs. 3 AEUV als Rechtsgrundlage für einen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter wie den angefochtenen Beschluss zurückgegriffen werden, der vorübergehend und in einem eng begrenzten Rahmen von einzelnen Bestimmungen in Gesetzgebungsakten abweicht.

57.      Zunächst werde ich auf die Argumentation eingehen, die Ungarn in seiner Erwiderung(23) entwickelt hat: Der angefochtene Beschluss könne als Gesetzgebungsakt angesehen werden, obwohl in Art. 78 Abs. 3 AEUV nicht vorgesehen sei, dass die auf dieser Grundlage getroffenen Maßnahmen im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens erlassen würden. Ungarn beruft sich insoweit auf den Umstand, dass der angefochtene Beschluss vom Rat gemäß Art. 289 Abs. 2 AEUV „mit Beteiligung des Parlaments“ erlassen worden sei.

58.      Diese Rechtsfrage muss mit aller Klarheit beantwortet werden, da beim Erlass eines Gesetzgebungsakts bestimmte Anforderungen zu beachten sind, die für den Erlass eines Rechtsakts ohne Gesetzescharakter nicht gelten. Ich denke vor allem an die in den Art. 3 und 4 des Protokolls Nr. 1 und in den Art. 6 und 7 des Protokolls Nr. 2 vorgesehene Beteiligung der nationalen Parlamente sowie an das Erfordernis gemäß Art. 16 Abs. 8 EUV und Art. 15 Abs. 2 AEUV, dem zufolge der Rat öffentlich tagt, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt.

59.      Bei der aus dem Vertrag von Lissabon hervorgegangenen Typologie der Rechtsetzungsinstrumente der Union wurde erstmals aufgrund von Erwägungen vor allem organisations- und verfahrensrechtlicher Art zwischen Rechtsakten mit Gesetzescharakter und solchen ohne Gesetzescharakter differenziert(24).

60.      Art. 289 Abs. 3 AEUV definiert die Kategorie der „Gesetzgebungsakte“ als „Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden“. Das „Gesetzgebungsverfahren“ ist entweder das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ oder ein „besonderes Gesetzgebungsverfahren“. Nach Art. 289 Abs. 1 AEUV ist das ordentliche Gesetzgebungsverfahren dadurch gekennzeichnet, dass das Parlament und der Rat einen Rechtsakt auf Vorschlag der Kommission gemeinsam annehmen.

61.      Nach Art. 289 Abs. 2 AEUV handelt es sich bei einem „besonderen Gesetzgebungsverfahren“ um ein Verfahren, das „[i]n bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen“ in der „Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments“ besteht(25). Das besondere Gesetzgebungsverfahren ist also dadurch charakterisiert, dass Rat und Parlament am Erlass eines Unionsrechtsakts in unterschiedlichem Maß mitwirken.

62.      In den meisten Fällen, in denen ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vorgesehen ist, muss ein solcher Akt vom Rat einstimmig nach Zustimmung des Parlaments(26) oder häufiger nach dessen Anhörung erlassen werden(27). In einigen Fällen hat das Parlament den betreffenden Akt mit Zustimmung des Rates zu erlassen(28).

63.      Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass sich die Verfasser des Vertrags für ein rein formales Konzept entschieden haben(29), anhand dessen Gesetzgebungsakte als solche qualifiziert werden, wenn sie in dem ordentlichen oder in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden sind.

64.      Es ist also ein falscher Ansatz, den angefochtenen Beschluss, wie die Kläger vorschlagen, wegen seines Inhalts als Gesetzgebungsakt qualifizieren zu wollen.

65.      Die Argumentation Ungarns wirft die Frage auf, ob ein Rechtsakt nur dann ein Gesetzgebungsakt sein kann, wenn eine Vertragsbestimmung die ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass dieses Rechtsakts im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens enthält.

66.      Nach meiner Meinung muss diese Frage bejaht werden, da nur so eine hinreichende Bestimmtheit und Rechtssicherheit in Bezug auf die von den Verfassern des Vertrags vorgenommene Kategorisierung der Rechtsakte der Union gewährleistet ist.

67.      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Vertrag zahlreiche Bestimmungen enthält, die den Erlass von Unionsrechtsakten mit dem ausdrücklichen Hinweis vorsehen, wonach dieser Erlass am Ende eines „besonderen Gesetzgebungsverfahrens“ erfolgt, wobei die Modalitäten dieses Verfahrens sich allerdings hinsichtlich der Art und des Grades der Beteiligung des Rates und des Parlaments voneinander unterscheiden können. Der Nutzeffekt eines solchen Hinweises besteht darin, klarzustellen, dass das betreffende Verfahren unabhängig von seinen Modalitäten tatsächlich ein „Gesetzgebungsverfahren“ ist und somit zum Erlass eines Gesetzgebungsakts führen wird. Die Notwendigkeit dieses Hinweises ergibt sich auch bereits aus dem Wortlaut des Art. 289 Abs. 2 AEUV, wonach ein besonderes Gesetzgebungsverfahren nur „[i]n bestimmten, in den Verträgen vorgesehenen Fällen“ Anwendung findet.

68.      Dagegen sind Verfahren, die in ihrem Verlauf zwar besonderen Gesetzgebungsverfahren gleichen, im Vertrag aber nicht ausdrücklich als solche bezeichnet werden, als nicht legislative Verfahren zu qualifizieren, die somit zum Erlass von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter führen werden(30).

69.      Es lässt sich gewiss einwenden, dass eine auf einen solchen „rechtlichen Nominalismus“(31) zurückzuführende Unterscheidung zwischen Rechtsakten mit Gesetzescharakter und solchen ohne Gesetzescharakter Kohärenzprobleme aufwirft(32) und dass die Verfasser des Vertrags ihr Bemühen um eine Kategorisierung des Gesetzgebungsakts der Union nicht zu Ende geführt haben(33).

70.      Es kann aber auch die Auffassung vertreten werden – der ich den Vorzug gebe –, dass die Verfasser des Vertrags dadurch, dass sie den Gesetzgebungsakt rein formal definierten, im Gegenteil Rechtssicherheit bei der Bestimmung der Rechtsgrundlagen geschaffen haben, die die Organe der Union zum Erlass von Gesetzgebungsakten ermächtigen. Die Unvollständigkeit bei der Kategorisierung, in der manche sogar eine offensichtliche Widersprüchlichkeit sehen, ist somit darauf zurückzuführen, dass die Verfasser des Vertrags bestimmten Rechtsakten die Qualität eines Gesetzgebungsakts verleihen wollten, anderen jedoch nicht.

71.      Eine solche Prüfung des Wortlauts der Vertragsvorschriften daraufhin, ob ein Unionsrechtsakt als Gesetzgebungsakt zu qualifizieren ist, steht im Übrigen im Einklang mit der Feststellung des Gerichtshofs, wonach „nicht die Verfahren für die Wahl der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts maßgebend [sind], sondern die Rechtsgrundlage … für die beim Erlass des Rechtsakts anzuwendenden Verfahren [maßgebend ist]“(34).

72.      Nach der von mir befürworteten Auslegung ist dem angefochtenen Beschluss in der Tat der Charakter eines Gesetzgebungsakts abzusprechen.

73.      Der Wortlaut des Art. 78 Abs. 3 AEUV sieht nämlich zwar den Erlass von Maßnahmen durch den Rat nach Anhörung des Parlaments vor, ordnet jedoch nicht ausdrücklich an, dass derartige Maßnahmen im Rahmen eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden. Da ihr Erlass im Rahmen eines nicht legislativen Verfahrens erfolgt, haben diese Maßnahmen, wie sich aus einem Umkehrschluss aus Art. 289 Abs. 3 AEUV ergibt, den Charakter von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. In diesem Zusammenhang ist der Kontrast zu Art. 78 Abs. 2 AEUV deutlich, in dem es ausdrücklich heißt, dass die auf der Grundlage dieser Bestimmung getroffenen Maßnahmen im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens, nämlich des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, erlassen werden.

74.      Nach dieser Klarstellung werde ich nun auf das zentrale Anliegen der Slowakischen Republik und Ungarns eingehen und prüfen, ob und inwieweit Art. 78 Abs. 3 AEUV den Rat zum Erlass eines Rechtsakts ohne Gesetzescharakter ermächtigt, der eine Abweichung von Bestimmungen in Gesetzgebungsakten der Union vorsieht.

75.      Ebenso wie der Rat und dessen Streithelfer bin ich der Auffassung, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV die Befugnis zum Erlass von Maßnahmen einräumt, die als Reaktion auf eine eindeutig identifizierte Notlage von asylrechtlichen Gesetzgebungsakten befristet und in genau definierten Punkten abweichen.

76.      Diese Vertragsbestimmung soll es der Union gerade erlauben, auf eine durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachte Notlage schnell und wirksam zu reagieren. Da Art. 78 Abs. 2 AEUV die verschiedenen Aspekte des gemeinsamen europäischen Asylsystems erfasst und die auf seiner Grundlage erlassenen Maßnahmen Gesetzgebungsakte darstellen, lässt es sich nicht vermeiden, dass die aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV in Bezug auf dieses System erlassenen vorläufigen Maßnahmen eine vorübergehende Abweichung von bestimmten Vorschriften dieser Gesetzgebungsakte zur Folge haben. Der Begriff „vorläufige Maßnahmen“ im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV kann deshalb entgegen der Ansicht der Kläger nicht dahin verstanden werden, dass er sich auf ergänzende Maßnahmen operativer oder finanzieller Natur beschränkte; andernfalls würde der Anwendungsbereich und somit die praktische Wirksamkeit dieser Rechtsgrundlage übermäßig begrenzt. Nach meiner Meinung ist der Begriff „vorläufige Maßnahmen“ folglich weit auszulegen, so dass Art. 78 Abs. 3 AEUV den Rat ermächtigt, alle Maßnahmen zu erlassen, die er für erforderlich hält, um eine durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachte Notlage zu bewältigen.

77.      Maßnahmen können nur dann zu Recht auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützt werden, wenn sie nicht darauf gerichtet sind, Bestimmungen in Gesetzgebungsakten, die aufgrund von Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassen wurden, dauerhaft zu verdrängen, zu ersetzen oder abzuändern.

78.      Dies ist bei dem angefochtenen Beschluss gewiss nicht der Fall, der sich entsprechend seinem Wesen als vorläufige Maßnahme zur Bewältigung einer genau definierten Notlage darauf beschränkt, in einem eng begrenzten Rahmen vorübergehende Abweichungen von mehreren Bestimmungen in Gesetzgebungsakten der Union vorzusehen. Derartige Abweichungen können mithin entgegen der Ansicht der Kläger nicht als dauerhafte und generelle Änderungen dieser Gesetzgebungsakte verstanden werden.

79.      Dazu möchte ich klarstellen, dass die in dem angefochtenen Beschluss vorgesehenen Ausnahmeregelungen nur für die Dauer von zwei Jahren gelten und nur die begrenzte Zahl von 120 000 Drittstaatsangehörigen betreffen, die einen Antrag auf internationalen Schutz in Italien oder in Griechenland gestellt haben, eine der in Art. 3 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses genannten Staatsangehörigkeiten besitzen, aus einem dieser beiden Mitgliedstaaten umgesiedelt werden sowie zwischen dem 24. März 2015 und dem 26. September 2017 in diesen Mitgliedstaaten eingetroffen sind bzw. eintreffen werden.

80.      Wie der Rat bemerkt, werden nach Ablauf der Geltungsdauer des angefochtenen Beschlusses, d. h. am 26. September 2017, die Ausnahmebestimmungen automatisch außer Kraft treten und die allgemeinen Regelungen erneut Anwendung finden, ohne dass der Unionsgesetzgeber in irgendeiner Weise eingreifen müsste.

81.      Wie vorstehend ausgeführt, können diese punktuellen und befristeten Ausnahmeregelungen nicht einer dauerhaften Änderung der materiell-rechtlichen Vorschriften in asylrechtlichen Gesetzgebungsakten der Union gleichgestellt werden, die nur auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 AEUV möglich ist.

82.      Durch den auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten Erlass des angefochtenen Beschlusses wurde daher meines Erachtens nicht das in Art. 78 Abs. 2 AEUV vorgesehene ordentliche Gesetzgebungsverfahren umgangen.

83.      In diesem Zusammenhang ist zu klären, in welchem Verhältnis diese beiden Vertragsbestimmungen zueinander stehen.

84.      Art. 78 Abs. 3 AEUV bietet in Verbindung mit Art. 80 AEUV eine besondere Rechtsgrundlage für vorläufige Maßnahmen, die den Grundsatz der Solidarität in durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachten Notlagen konkretisieren.

85.      Das in Art. 78 Abs. 3 AEUV vorgesehene Verfahren ist durch die Dringlichkeit gekennzeichnet, mit der in einer Krisensituation gehandelt werden muss. Das ist die Rechtfertigung dafür, dass dieses Verfahren nicht auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren abgestimmt ist.

86.      Wie der Rat bemerkt, beruhen die in Art. 78 Abs. 2 und 3 AEUV vorgesehenen Maßnahmen jeweils auf einer autonomen Rechtsgrundlage des Vertrags; sie beziehen sich auf unterschiedliche Situationen und verfolgen unterschiedliche Ziele, ohne dass zwischen ihnen eine Rangordnung hergestellt werden müsste.

87.      Dabei ist zu betonen, dass die in Art. 78 Abs. 2 Buchst. e AEUV(35) und in Art. 78 Abs. 3 AEUV bestehenden Rechtsgrundlagen einander ergänzen. Ihre gleichzeitige oder sukzessive Verwendung versetzt die Union vor allem in die Lage, im Fall einer Flüchtlingskrise effektiv zu handeln. Dieser Ergänzungseffekt wird durch den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen und zur Änderung der Dublin-III-Verordnung veranschaulicht.

88.      In ihrem Vorschlag erläutert die Kommission mit aller Klarheit, welches die Wechselbeziehungen zwischen den Maßnahmen nach diesem Vorschlag und den Notfallumsiedlungsregelungen auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV sind.

89.      Die Kommission führt aus: „Der Vorschlag zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen ist von den Vorschlägen zu unterscheiden, die die Kommission auf der Grundlage von Artikel 78 Absatz 3 AEUV zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten angenommen hat, die mit einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in ihren Hoheitsgebieten konfrontiert sind“(36). Die Kommission fährt fort: „Während die von der Kommission auf der Grundlage von Artikel 78 Absatz 3 AEUV vorgeschlagenen Maßnahmen vorläufiger Natur sind, soll mit dem Vorschlag zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen ein Verfahren eingeführt werden, nach dem in Krisensituationen für einen befristeten Zeitraum bestimmt wird, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig ist, die in einem in einer Krisensituation befindlichen Mitgliedstaat gestellt wurden. Auf diese Weise soll eine gerechtere Verteilung der Antragsteller zwischen den in solchen Situationen befindlichen Mitgliedstaaten sichergestellt und das Funktionieren des Dublin-Systems auch in Krisenzeiten ermöglicht werden.“(37)

90.      Es handelt sich also im letzteren Fall anders als bei dem angefochtenen Beschluss um eine Regelung, die auf Dauer ein Verfahren einführt, nach dem bestimmt wird, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig ist, die in einem in einer Krisensituation befindlichen Mitgliedstaat gestellt wurden. Diese auf Dauer angelegte Regelung ist insoweit allgemein verbindlich, als ihre Anwendung nicht auf bestimmte Mitgliedstaaten abzielt, die sich gerade in einer Krisensituation befinden, sondern jedem Mitgliedstaat zugutekommen kann, der in eine solche Lage geraten sollte.

91.      Die Voraussetzungen für die Aktivierung des Umsiedlungsmechanismus sind in dem Verordnungsvorschlag festgelegt. Wie die Kommission in diesem Vorschlag erklärt, muss der betreffende Mitgliedstaat „mit einer Krisensituation konfrontiert [sein], die die Anwendung der Dublin-[III-]Verordnung beeinträchtigt, da aufgrund eines massiven und übermäßigen Zustroms von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der erhebliche Anforderungen an das Asylsystem stellt, ein enormer Druck entsteht“(38).

92.      Die Komplementarität der aufgrund von Art. 78 Abs. 2 Buchst. e AEUV und der aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassenen Maßnahmen wird von der Kommission noch wie folgt erläutert: „Die Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen berührt nicht die Möglichkeit, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten eines Mitgliedstaats erlässt, der sich in einer Notlage im Sinne von Artikel 78 Absatz 3 AEUV befindet. Der Erlass von Notfallmaßnahmen auf der Grundlage von Artikel 78 Absatz 3 kommt weiterhin in außergewöhnlichen Situationen in Frage, in denen zwar Sofortmaßnahmen, die möglicherweise eine umfassendere Migrationsunterstützung beinhalten, erforderlich sind, die Bedingungen für eine Nutzung des Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen jedoch möglicherweise nicht gegeben sind.“(39)

93.      Zu der gewählten Rechtsgrundlage bemerkt die Kommission in ihrem Vorschlag, dieser „änder[e] die [Dublin-III-]Verordnung und sollte daher auf derselben Rechtsgrundlage, d. h. auf Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe e AEUV, gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angenommen werden“(40). In der Tat ändert der Verordnungsvorschlag die Dublin-III-Verordnung, indem er dieser einen Abschnitt VII („Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen“) hinzufügt. Da dieser Vorschlag die genannte Verordnung ändert, wird er zu Recht auf Art. 78 Abs. 2 Buchst. e AEUV gestützt und somit dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unterworfen.

94.      Die Kommission führt außerdem aus: „Der in diesem Vorschlag vorgesehene Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen bedeutet dauerhafte Ausnahmeregelungen, die in bestimmten Krisensituationen zugunsten bestimmter Mitgliedstaaten aktiviert werden, unter anderem Ausnahmen vom Grundsatz in Artikel 3 Absatz 1 der [Dublin-III‑]Verordnung …, dem zufolge ein Antrag auf internationalen Schutz von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Anstelle dieses Grundsatzes wird mit dem Vorschlag für genau definierte Krisensituationen ein verbindlicher Verteilungsschlüssel für die Bestimmung der Zuständigkeit für die Prüfung von Anträgen festgelegt.“(41)

95.      Dem angefochtenen Beschluss und dem Verordnungsvorschlag ist gemeinsam, dass sie der Union die Instrumente zur Bewältigung von Krisensituationen an die Hand geben, die durch Migrationsströme verursacht werden. Während es sich jedoch bei Ersterem um eine aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassene vorläufige Maßnahme handelt, die auf die durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befindlichen Mitgliedstaaten abzielt, führt Letzterer einen Umsiedlungsmechanismus auf unbegrenzte Zeit ein, der nicht auf eine vorgegebene Anzahl von Drittstaatsangehörigen beschränkt ist und der nicht vorab einen oder mehrere Mitgliedstaaten als Nutznießer dieses Mechanismus benennt.

96.      Daraus folgt, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV die Rechtsgrundlage darstellt, mittels deren die Union vorläufig und in dringenden Fällen auf einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen reagieren kann, während Art. 78 Abs. 2 Buchst. e AEUV dazu dient, die Union mit einem Regelwerk auszustatten, das auf Dauer und ganz allgemein auf ein strukturelles Problem reagieren soll: den Umstand, dass Art. 3 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung sich als ungeeignet erweist, wenn die Mitgliedstaaten, die sich an den Außengrenzen der Union befinden, einem plötzlichen Migrationsdruck ausgesetzt sind.

97.      Infolgedessen bin ich der Ansicht, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV als Rechtsgrundlage für vorläufige Maßnahmen, wie sie in dem angefochtenen Beschluss vorgesehen sind, herangezogen werden kann, mit denen eine Notlage bewältigt werden soll, selbst wenn sie Abweichungen von einzelnen Bestimmungen in unionsrechtlichen Gesetzgebungsakten enthalten, vorausgesetzt, diese Abweichungen sind in sachlicher und zeitlicher Hinsicht eng begrenzt.

98.      Der zweite Klagegrund der Slowakischen Republik und der erste Klagegrund Ungarns sind daher als unbegründet zurückzuweisen.

2.      Zum ersten Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum zweiten Klagegrund Ungarns, mit denen geltend gemacht wird, der angefochtene Beschluss sei keine vorläufige Maßnahme

99.      Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei keine geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses, da Letzterer im Gegensatz zu dem, was diese Bestimmung verlange, keine vorläufige Maßnahme darstelle.

100. Der angefochtene Beschluss gilt nach seinem Art. 13 Abs. 1 und 2 vom 25. September 2015 bis zum 26. September 2017, d. h. während eines Zeitraums von 24 Monaten. Außerdem gilt er nach seinem Art. 13 Abs. 3 für Personen, die in diesem Zeitraum im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik eintreffen, sowie für Personen, die seit dem 24. März 2015 im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten eingetroffen sind und die internationalen Schutz beantragen.

101. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass der zeitliche Geltungsbereich des angefochtenen Beschlusses genau begrenzt ist. Der Beschluss sieht unmissverständlich einen befristeten Notfallmechanismus vor; es lässt sich daher meines Erachtens nicht bestreiten, dass er eine vorläufige Maßnahme darstellt.

102. Aus der Tatsache, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV anders als der frühere Art. 64 Abs. 2 EG-Vertrag die Geltungsdauer der auf dieser Grundlage erlassenen vorläufigen Maßnahmen nicht mehr auf höchstens sechs Monate beschränkt, ist zu schließen, dass diese Maßnahmen eine längere Geltungsdauer haben dürfen.

103. Im Gegensatz zum Vorbringen der Slowakischen Republik und Ungarns ist der Umstand, dass der angefochtene Beschluss aufgrund der dauerhaften Bindungen, die zwischen den internationalen Schutz beantragenden Personen und den Umsiedlungsmitgliedstaaten möglicherweise entstehen, seine Wirkungen über den in diesem Beschluss genannten Zeitraum hinaus entfalten kann, meines Erachtens irrelevant. Solche mehr oder weniger langfristigen Auswirkungen gehören nämlich zum Wesen des internationalen Schutzes, der im Umsiedlungsmitgliedstaat erlangt werden kann. Folgte man der von der Slowakischen Republik und Ungarn vertretenen These, könnte keinerlei Umsiedlungsmechanismus auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV eingeführt werden.

104. Da Art. 78 Abs. 3 AEUV im Übrigen keine genaue Frist festsetzt, sondern nur den Erlass vorläufiger Maßnahmen vorsieht, bin ich der Ansicht, dass der Rat, ohne gegen diese Bestimmung zu verstoßen und ohne den ihm darin eingeräumten Beurteilungsspielraum zu überschreiten, einen vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus für die Dauer von 24 Monaten einführen durfte. In diesem Zusammenhang ist auf das Anliegen hinzuweisen, das die Kommission in ihrem Beschlussvorschlag zum Ausdruck gebracht hat: Die Geltungsdauer der vorläufigen Maßnahmen sollte „nicht zu kurz bemessen sein, damit sie praktische Wirkung entfalten und [der Italienischen Republik] [sowie] [der Hellenischen Republik] … bei der Bewältigung des Zustroms der Migranten konkrete Unterstützung leisten können“(42). Im Übrigen ist eine Geltungsdauer von 24 Monaten auch im Hinblick auf den Zeitraum gerechtfertigt, der voraussichtlich erforderlich ist, um die Durchführung des Umsiedlungsverfahrens in allen Mitgliedstaaten vorzubereiten, wenn man überdies, worauf die Hellenische Republik in der mündlichen Verhandlung zu Recht hingewiesen hat, die Neuartigkeit dieses Verfahrens berücksichtigt.

105. Das weitere Argument der Slowakischen Republik und Ungarns, wonach die Geltungsdauer und die Wirkungen einer aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassenen Maßnahme nicht die für die Annahme eines Gesetzgebungsakts gemäß Art. 78 Abs. 2 AEUV notwendige Dauer überschreiten dürften, findet im Wortlaut dieser beiden Bestimmungen keine Stütze. Zudem dürfte sich die von der Slowakischen Republik und Ungarn vertretene These nach meiner Meinung unmöglich in die Praxis umsetzen lassen, da nicht im Voraus die Zeitspanne festgelegt werden kann, die für die Annahme eines auf Art. 78 Abs. 2 AEUV gestützten Gesetzgebungsakts zur Einführung eines dauerhaften Umsiedlungsmechanismus erforderlich ist. Diese Unsicherheit kann durch die Tatsache veranschaulicht werden, dass der Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung eines dauerhaften Umsiedlungsmechanismus zwar am 9. September 2015 vorgelegt wurde, also am selben Tag wie der Vorschlag, aus dem der angefochtene Beschluss hervorgehen sollte, dass dieser Verordnungsvorschlag aber immer noch nicht angenommen worden ist und keinerlei Gewissheit hinsichtlich seiner Annahme bis zum 26. September 2017, dem Tag, an dem der angefochtene Beschluss außer Kraft tritt, oder zu einem späteren Zeitpunkt besteht.

106. Die übrigen Argumente der Slowakischen Republik und Ungarns sind nicht geeignet, meine Beurteilung zu ändern. So steht der Umstand, dass der angefochtene Beschluss unter Berücksichtigung der Gegebenheiten geändert werden kann, ebenso wenig im Widerspruch zu seiner Vorläufigkeit wie die in Art. 4 Abs. 5 vorgesehene Möglichkeit einer Verlängerung seiner Geltungsdauer um höchstens zwölf Monate(43).

107. Daher sind der erste Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik und der zweite Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

3.      Zum zweiten Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik, mit dem geltend gemacht wird, der angefochtene Beschluss erfülle nicht die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 78 Abs. 3 AEUV

108. Nach Ansicht der Slowakischen Republik erfüllt der angefochtene Beschluss aus drei Gründen die Voraussetzung für die Anwendung von Art. 78 Abs. 3 AEUV nicht, wonach sich der Mitgliedstaat, dem die vorläufigen Maßnahmen zugutekommen sollen, „aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ befinden muss.

109. Die Slowakische Republik macht erstens geltend, der Zustrom von Drittstaatsangehörigen nach Italien und Griechenland sei zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses oder unmittelbar zuvor realistischerweise vorhersehbar gewesen und könne deshalb nicht als „plötzlich“ bezeichnet werden. Aus den Statistiken für die Jahre 2013–2014 und für die ersten Monate des Jahres 2015 gehe nämlich hervor, dass die Zahl der auf dem Weg nach Italien und Griechenland befindlichen Drittstaatsangehörigen ständig zugenommen habe und dass diese Zunahme seit der Zeitspanne 2013–2014 beträchtlich gewesen sei. Außerdem deuteten in Bezug auf Italien die aktuellen Daten vielmehr auf einen jahresübergreifenden Rückgang der Flüchtlingszahlen hin.

110. Dieses Argument kann meines Erachtens nicht durchgreifen.

111. Ich möchte zunächst aus allgemeiner Sicht unter Bezugnahme auf den „annual brief 2015“ von Frontex darauf hinweisen, dass im Jahr 2015 mehr als 1,8 Millionen Drittstaatsangehörige über die Außengrenzen der Union irregulär eingereist sind, während diese Zahl sich im Jahr 2014 auf 285 532 belief, was eine Zunahme um 546 % bedeutet. Da diese Staatsangehörigen hauptsächlich über Griechenland und Italien in die Union einreisten, waren diese beiden Mitgliedstaaten einem besonders starken Migrationsdruck ausgesetzt.

112. Art. 78 Abs. 3 AEUV bietet eine besondere Rechtsgrundlage, damit auf migrationsbedingte Notlagen, in denen sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten befinden, durch den Erlass vorläufiger Maßnahmen reagiert werden kann, die, wie die Kommission in ihrem Beschlussvorschlag hervorgehoben hat, „ihrem Wesen nach nur in Ausnahmefällen zum Tragen“ kommen und „nur dann ergriffen werden [können], wenn die durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachten Probleme im Asylsystem eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besonders dringlich und schwerwiegend sind“(44).

113. Ebenso wie der Rat und seine Streithelfer stelle ich fest, dass der massive Anstieg des Zustroms an Drittstaatsangehörigen im Lauf des Jahres 2015, insbesondere in den Monaten Juli und August dieses Jahres, eine objektive Tatsache darstellt, die in den im 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses erwähnten Angaben von Frontex zum Ausdruck kommt. Diese Angaben lassen für Italien 42 356 irreguläre Grenzübertritte im Juli und August 2015, d. h. einen Anstieg um 20 % gegenüber Mai und Juni 2015, erkennen. Für Griechenland belief sich diese Zahl im Juli und August 2015 auf 137 000, was einen Anstieg um 250 % bedeutet.

114. Wie aus dem 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, trug der Rat dem Umstand Rechnung, dass sehr viele dieser Migranten aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit mit der Gewährung internationalen Schutzes rechnen konnten.

115. Im Übrigen ergibt sich aus dem 14. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass nach den Angaben von Eurostat und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) von Januar bis Juli 2015 ein starker Anstieg der Zahl der Personen beobachtet wurde, die in Italien und in Griechenland internationalen Schutz beantragten, was die Feststellung einer exponentiellen Zunahme des auf den Asylsystemen der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik lastenden Drucks in vollem Umfang bestätigt.

116. Ich füge hinzu, dass der Rat ausweislich des 16. Erwägungsgrundes des angefochtenen Beschlusses auch berücksichtigt hat, dass die in der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik bestehende Notlage angesichts der anhaltenden Instabilität und Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft dieser beiden Mitgliedstaaten mit großer Wahrscheinlichkeit andauern würde. Der Nachweis, dass die Asylsysteme der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik einem ständigen Druck ausgesetzt waren, der diese wiederholt erschütterte, machte es umso notwendiger, dass die Union mit auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten vorläufigen Maßnahmen sofort auf den Eintritt einer Notlage reagierte, die durch den plötzlichen und massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen in diese beiden Mitgliedstaaten verursacht wurde(45).

117. Die Plötzlichkeit des Zustroms von Drittstaatsangehörigen ergibt sich also aus objektiven Daten. Diese machen deutlich, dass die Zahl der Neuankömmlinge aus Drittländern in Italien und in Griechenland innerhalb kurzer Zeit rasch angestiegen ist. Das Unvermögen der beiden Mitgliedstaaten, dieses Phänomen zu bewältigen, lässt die Notlage entstehen, die der angefochtene Beschluss beheben soll.

118. Um den Rückgriff auf Art. 78 Abs. 3 AEUV zu rechtfertigen, kommt es darauf an, dass dieser Zustrom von Drittstaatsangehörigen – unabhängig davon, ob er vorhersehbar war oder nicht – wegen seiner Schnelligkeit und seines Ausmaßes eine rasche Reaktion der Union durch den Erlass vorläufiger Maßnahmen zur Entlastung des einem erheblichen Druck ausgesetzten italienischen und griechischen Asylsystems erforderlich machte, wie es im 26. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses heißt.

119. Unerheblich ist ferner, dass die Tendenz einer steigenden Zahl irregulär nach Italien und Griechenland einreisender Drittstaatsangehöriger schon vor 2015 erkennbar gewesen sei. Wie vorstehend ausgeführt, kommt es nur auf den Befund eines plötzlichen Anstiegs dieser Zahl an, wie er aus den vorerwähnten objektiven Daten hervorgeht, deren Richtigkeit die Kläger nicht bestreiten.

120. Die Slowakische Republik trägt zweitens vor, nach Art. 78 Abs. 3 AEUV müsse sich der Mitgliedstaat in einer Notlage befinden, die allein aufgrund des plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen entstanden sei, was aus der Verwendung des Begriffs „caractérisée“ in der französischen Fassung dieser Bestimmung („aufgrund“ in der deutschen Fassung) hervorgehe. Zumindest im Fall der Hellenischen Republik scheine dieser Kausalzusammenhang nicht zu bestehen. Das griechische (wie auch das italienische) Asyl- und Migrationssystem stehe nämlich nachweislich seit Langem vor großen Problemen, die unmittelbar nichts mit dem Migrationsphänomen während des Zeitraums zu tun hätten, in dem der angefochtene Beschluss erlassen worden sei.

121. Dieses Argument ist meines Erachtens zurückzuweisen.

122. Zwar unterscheiden sich, wie der Rat bemerkt, die Sprachfassungen des Art. 78 Abs. 3 AEUV insoweit, als in 15 Fassungen das Wort „caractérisée“, in neun Fassungen hingegen das Wort „causée“ (für „aufgrund“ in der deutschen Fassung) verwendet wird. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um die Bedingung, wonach zwischen der Notlage, die den Erlass vorläufiger Maßnahmen erforderlich macht, und dem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen ein enger Zusammenhang bestehen muss. Wie aus den Erwägungsgründen 13 und 26 des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hat der plötzliche Zustrom von Drittstaatsangehörigen im Lauf des Jahres 2015, insbesondere in den Monaten Juli und August, sehr wohl dazu beigetragen, dass das italienische und das griechische Asylsystem einem unhaltbaren Druck ausgesetzt waren, wie er für eine Notlage charakteristisch ist.

123. In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, dass das italienische und das griechische Asylsystem zuvor bereits geschwächt waren. Wie der Rat zu Recht hervorhebt, hätte der starke Druck, unter dem das italienische und das griechische System standen, wahrscheinlich jedwedes Asylsystem schwer erschüttern können, sogar ein System ohne Strukturschwächen.

124. Die Slowakische Republik macht drittens geltend, der angefochtene Beschluss könne nicht auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützt werden, da er nicht auf die Bewältigung einer bestehenden oder unmittelbar bevorstehenden Notlage der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik, sondern zumindest teilweise auf künftige und hypothetische Situationen abziele, hinsichtlich deren man beim Erlass des angefochtenen Beschlusses noch nicht mit hinreichender Gewissheit habe annehmen können, dass sie eintreten würden.

125. Die zwei- und sogar dreijährige Geltungsdauer des angefochtenen Beschlusses sei zu lang, als dass behauptet werden könnte, dass die getroffenen Maßnahmen während dieses gesamten Zeitraums auf die bestehende oder unmittelbar bevorstehende Notlage der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik zugeschnitten wären. So könne es sein, dass im Lauf dieser Zeit die Notlage in diesen Mitgliedstaaten ihr Ende finde. Außerdem stelle die Regelung zur Umsiedlung der Reserve von zusätzlichen 54 000 Personen gemäß Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses auf völlig hypothetische Situationen in anderen Mitgliedstaaten ab.

126. Die Republik Polen unterstützt diese Ansicht mit dem Hinweis darauf, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV eine bereits bestehende und gegenwärtige Notlage betreffe, die den Erlass unmittelbarer Abhilfemaßnahmen erforderlich mache, nicht aber – wie dies bei dem angefochtenen Beschluss der Fall sei – Notlagen, die in der Zukunft entstehen könnten, deren Eintritt, Art und Umfang jedoch ungewiss oder schwer vorhersehbar seien.

127. Im Gegensatz zur Slowakischen und zur Polnischen Republik bin ich der Auffassung, dass die Tatsache, dass sich der angefochtene Beschluss auf künftige Ereignisse oder Situationen bezieht, keineswegs im Widerspruch zu Art. 78 Abs. 3 AEUV steht.

128. In der Tat geht aus den Erwägungsgründen 13 und 26 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass dessen Erlass vor allem mit der Notwendigkeit begründet wurde, auf eine Notlage zu reagieren, die insbesondere in den Monaten Juli und August 2015 in Italien und in Griechenland in Erscheinung getreten war. Der Umstand, dass der angefochtene Beschluss mehrere Bestimmungen enthält, die seine Anpassung an die Entwicklung dieser Lage gestatten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Beschluss ein Problem beheben soll, das vor seinem Erlass entstanden ist.

129. Wie dem auch sei, Art. 78 Abs. 3 AEUV schließt meines Erachtens nicht aus, dass der angefochtene Beschluss mehrere Bestimmungen enthält, die seine Anpassung an die Entwicklung der Migrationsströme erlauben. Diese Vorschrift räumt dem Rat einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Wahl der Maßnahmen ein, die er zu treffen hat, um auf eine durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachte Notlage angemessen zu reagieren. Da eine solche Notlage lange anhalten, sich wandeln und andere Mitgliedstaaten erfassen kann, durfte der Rat eine eventuelle Anpassung seiner Maßnahme, insbesondere der Merkmale und der Modalitäten für die Anwendung des vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus, in Betracht ziehen.

130. Die in Art. 78 Abs. 3 AEUV als Rechtsgrundlage manifestierte Notwendigkeit, auf eine Notlage mit vorläufigen Maßnahmen zu reagieren, schließt somit weder die Anpassung einer Maßnahme wie des angefochtenen Beschlusses an die Entwicklung der Lage noch den Erlass von Durchführungsakten seitens des Rates aus. Auf eine Notlage zu reagieren, schließt nicht aus, dass die Reaktion einen Wandel und eine Anpassung erfährt, vorausgesetzt, sie bleibt vorläufig.

131. Von daher stehen Bestimmungen wie Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 4 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses in vollem Einklang mit Art. 78 Abs. 3 AEUV, denen zufolge die Kommission, wenn sie der Ansicht ist, dass eine Anpassung der Umsiedlungsregelung durch die Entwicklung der Situation vor Ort gerechtfertigt ist oder dass sich ein Mitgliedstaat infolge einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen in einer Notlage befindet, die von einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen geprägt ist, dem Rat entsprechende Vorschläge unterbreiten kann.

132. Der Rat durfte auch, ohne dass der angefochtene Beschluss dadurch rechtswidrig geworden wäre, in dessen Art. 9 Satz 1 die Voraussetzungen wiedergeben, unter denen vorläufige Maßnahmen – und zwar andere als die in dem angefochtenen Beschluss enthaltenen – auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV getroffen werden können, und die sich daraus ergebenden Folgen für die Anwendung dieses Beschlusses regeln.

133. Schließlich ist der angefochtene Beschluss, wie der Rat zu Recht bemerkt, nicht deshalb rechtswidrig, weil er den Erlass von Durchführungsakten vorsieht(46) und deren Erlass von künftigen Ereignissen oder Situationen abhängig macht. Wie nämlich aus dem 28. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, ist die Ausübung derartiger Durchführungsbefugnisse durch den Rat erforderlich, damit der vorübergehende Umsiedlungsmechanismus umgehend an sich rasch entwickelnde Situationen angepasst werden kann.

134. Der zweite Teil des fünften Klagegrundes der Slowakischen Republik ist somit unbegründet.

135. Daher sind die Klagegründe, mit denen die Slowakische Republik und Ungarn geltend machen, Art. 78 Abs. 3 AEUV sei nicht die geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass des angefochtenen Beschlusses gewesen, allesamt als unbegründet zurückzuweisen.

C.      Zu den die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens für den Erlass des angefochtenen Beschlusses betreffenden Klagegründen, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften geltend gemacht wird

1.      Zum ersten Klagegrund der Slowakischen Republik und zum siebten Klagegrund Ungarns, mit denen ein Verstoß gegen Art. 68 AEUV gerügt wird

136. Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, da der angefochtene Beschluss über die Leitlinien hinausgehe, die der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 25. und 26. Juni 2015 verabschiedet habe und denen zufolge die Verteilung der umgesiedelten Personen „einvernehmlich“ und „unter Berücksichtigung der besonderen Situationen der Mitgliedstaaten“ beschlossen werden solle(47), habe der Rat gegen Art. 68 AEUV verstoßen und wesentliche Formvorschriften verletzt.

137. Art. 15 Abs. 1 EUV lautet: „Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest. Er wird nicht gesetzgeberisch tätig.“

138. Nach Art. 68 AEUV legt der „Europäische Rat … die strategischen Leitlinien für die gesetzgeberische und operative Programmplanung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fest“.

139. Zwar enthalten die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 tatsächlich die Bestimmung, wonach die Mitgliedstaaten „einvernehmlich“ und „unter Berücksichtigung der besonderen Situationen der Mitgliedstaaten“ über die Verteilung der Personen entscheiden sollten, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten(48); diese Bestimmung bezieht sich jedoch auf die Umsiedlung von 40 000 Personen aus Italien und aus Griechenland, die vorübergehend und ausnahmsweise innerhalb von zwei Jahren erfolgen sollte. Diese Umsiedelung von 40 000 Personen war Gegenstand des Beschlusses 2015/1523, der somit genau der Leitlinie des Europäischen Rates entspricht.

140. Die Slowakische Republik und Ungarn sind der Ansicht, eine neue Umsiedlungs-Dringlichkeitsmaßnahme, wie sie in dem angefochtenen Beschluss vorgesehen sei, habe nicht vorgeschlagen, geschweige denn erlassen werden dürfen, solange sich der Europäische Rat nicht in diesem Sinne geäußert habe.

141. Die Slowakische Republik macht geltend, der Rat habe durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses ohne vorherige Änderung oder Erweiterung der in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 enthaltenen Handlungsvollmacht in die Aufgaben und die Zuständigkeiten des Europäischen Rates eingegriffen. Er habe daher gegen Art. 68 AEUV sowie gegen Art. 13 Abs. 2 EUV und gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts verstoßen. Art. 15 EUV sei zudem, wie Ungarn vorträgt, dahin auszulegen, dass die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates für die Organe der Union bindend seien.

142. Gemäß Art. 13 Abs. 2 EUV handelt jedes Organ „nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind“. In dieser Bestimmung kommt der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts zum Ausdruck, der für den organisatorischen Aufbau der Union kennzeichnend ist und der gebietet, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt(49).

143. Nach meiner Meinung haben weder die Kommission noch der Rat dadurch, dass sie den angefochtenen Beschluss vorgeschlagen bzw. erlassen haben, die ihnen durch Art. 78 Abs. 3 AEUV zugewiesenen Befugnisse überschritten.

144. Vor allem können die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 nicht bewirken, dass es der Kommission untersagt wäre, eine Regelung vorzuschlagen, die zur Ergänzung des Beschlusses 2015/1523 die vorläufige und verbindliche Umsiedlung von internationalen Schutz beantragenden Personen vorsieht, und dass der Rat eine solche Regelung dann nicht erlassen dürfte.

145. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass die vorläufigen Maßnahmen, die der Rat aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV treffen kann, auf Vorschlag der Kommission erlassen werden. Dieses der Kommission durch Art. 17 Abs. 2 EUV allgemein eingeräumte Initiativrecht könnte in Frage gestellt werden, wenn man es von der vorherigen Annahme von Schlussfolgerungen durch den Europäischen Rat abhängig machen wollte. Dies gilt umso mehr, wenn eine Vertragsvorschrift wie Art. 78 Abs. 3 AEUV der Kommission die Befugnis überträgt, eine sofortige Reaktion der Union auf einen Notfall vorzuschlagen. Es muss der Kommission, die nach Art. 17 Abs. 1 EUV „die allgemeinen Interessen der Union [fördert] und [zu diesem Zweck] … geeignete Initiativen [ergreift]“, in Ausübung ihres Initiativrechts zustehen, den Gegenstand, das Ziel und den Inhalt ihres Vorschlags zu bestimmen(50).

146. Wie die Italienische Republik und das Großherzogtum Luxemburg im Wesentlichen bemerken, stellt der angefochtene Beschluss die Reaktion auf einen neuen Notfall dar, der in den Monaten Juli und August des Jahres 2015 eingetreten ist. Die auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützte Einführung eines vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus für 120 000 internationalen Schutz beantragende Personen musste nicht eigens zuvor in Schlussfolgerungen des Europäischen Rates behandelt werden. Abgesehen davon, dass der Wortlaut dieser Bestimmung ein solches Erfordernis nicht enthält, hätte dieses zur Folge, das Reaktionsvermögen zu beeinträchtigen, das die Unionsorgane zeigen müssen, wenn Mitgliedstaaten in eine Notlage geraten.

147. Im Übrigen dürfen in die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 keine Wirkungen hineingelesen werden, die über den Erlass speziell der Maßnahme hinausgehen, mit der diese Schlussfolgerungen umgesetzt werden sollten, nämlich den Erlass des Beschlusses 2015/1523, der die freiwillige Umsiedlung von 40 000 Personen zum Gegenstand hat.

148. Jedenfalls vermag ich in dem auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten Vorgehen der Kommission und des Rates beim Erlass des angefochtenen Beschlusses – selbst wenn anzunehmen wäre, dass mit dem Beschluss 2015/1523 den in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 enthaltenen Empfehlungen noch nicht vollständig nachgekommen wurde – keinen grundsätzlichen Widerspruch zu den Leitlinien zu erkennen, die der Rat in diesen Schlussfolgerungen aufgestellt hat.

149. Der Europäische Rat erklärt nämlich in Nr. 2 dieser Schlussfolgerungen, die Arbeit sollte „[a]usgehend von der Europäischen Migrationsagenda der Kommission“ vorangebracht werden. Diese Agenda sieht aber die Aktivierung des Dringlichkeitsmechanismus gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV vor. Außerdem ruft der Europäische Rat in Nr. 3 der genannten Schlussfolgerungen zu „umfassendere[n] Anstrengungen … [auf], um die wachsenden Ströme illegaler Migration besser einzudämmen“, und zu diesem Zweck u. a. den Bereich Umsiedlung voranzubringen. Mit dem Vorschlag und dem darauffolgenden Erlass des angefochtenen Beschlusses gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV hielten sich die Kommission und der Rat daher im Rahmen der Handlungsanweisungen des Europäischen Rates.

150. Soweit sich die Kritik der Slowakischen Republik und Ungarns schließlich im Kern dagegen richten sollte, dass der angefochtene Beschluss mit qualifizierter Mehrheit erlassen wurde, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV dem Rat gestattet, Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit zu erlassen; es ist daher in Ermangelung einer gegenteiligen Vertragsbestimmung ausgeschlossen, dass der Europäische Rat diese Abstimmungsregel ändert und dem Rat bei der Abstimmung Einstimmigkeit vorschreibt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können nämlich ‒ da die Grundsätze über die Willensbildung der Unionsorgane in den Verträgen festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen ‒ allein die Verträge ein Organ in besonderen Fällen dazu ermächtigen, ein von ihnen geschaffenes Entscheidungsverfahren zu ändern(51).

151. Der erste Klagegrund der Slowakischen Republik und der siebte Klagegrund Ungarns sind somit als unbegründet zurückzuweisen.

2.      Zum dritten Teil des dritten Klagegrundes und zum ersten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik sowie zum fünften Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften insoweit geltend gemacht wird, als der Rat entgegen seiner Verpflichtung aus Art. 78 Abs. 3 AEUV das Parlament nicht angehört habe

152. Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, da der Rat wesentliche Änderungen an dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission vorgenommen und den angefochtenen Beschluss ohne erneute Anhörung des Parlaments erlassen habe, habe er die in Art. 78 Abs. 3 AEUV vorgesehenen wesentlichen Formvorschriften verletzt, was zur Nichtigerklärung dieses Beschlusses führen müsse. Nach Ansicht der Slowakischen Republik hat der Rat dadurch auch gegen Art. 10 Abs. 1 und 2 EUV, gegen Art. 13 Abs. 2 EUV sowie gegen die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen.

153. In diesem Zusammenhang verweisen die Slowakische Republik und Ungarn auf die folgenden wesentlichen Änderungen.

154. In dem angefochtenen Beschluss sei Ungarn nicht mehr unter den durch den Umsiedlungsmechanismus begünstigten Mitgliedstaaten, sondern unter den Umsiedlungsmitgliedstaaten aufgeführt, was zur Streichung von Anhang III des ursprünglichen Vorschlags und zur Aufnahme Ungarns in die Anhänge I und II des angefochtenen Beschlusses geführt habe.

155. Die grundlegende Änderung bestehe darin, dass zwar die Gesamtzahl von 120 000 Personen beibehalten worden sei, die darin enthaltenen 54 000 Personen, die ursprünglich aus Ungarn hätten umgesiedelt werden sollen, jedoch in eine „Reserve“ überführt worden seien, die in dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission nicht in Betracht gezogen worden sei. Infolgedessen seien die Struktur und mehrere wesentliche Elemente dieses Vorschlags grundlegend geändert worden, wie etwa dessen Titel und persönlicher Anwendungsbereich, die Liste der begünstigten und der Umsiedlungsmitgliedstaaten sowie die Zahl der in jeden dieser Mitgliedstaaten umzusiedelnden Personen. Diese Änderungen hätten Eingang in die Art. 1 und 3 sowie in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses gefunden.

156. Die Slowakische Republik nennt weitere Änderungen des ursprünglichen Kommissionsvorschlags: Im Gegensatz zu diesem Vorschlag enthalte der angefochtene Beschluss in Art. 4 Abs. 3 die Vorschrift, der zufolge der Umsiedlungsmechanismus anderen Mitgliedstaaten zugutekommen könne, wenn sie die darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllten. Im Übrigen gelte der angefochtene Beschluss gemäß Art. 13 Abs. 3 rückwirkend für Antragsteller, die seit dem 24. März 2015 eingetroffen seien, d. h. während eines Zeitraums, der bis zu sechs Monaten vor den Erlass des Beschlusses zurückreiche, während die Kommission diese Rückwirkung in ihrem ursprünglichen Vorschlag auf einen Monat begrenzt habe.

157. Art. 4 Abs. 5 und 6 des angefochtenen Beschlusses enthalte ebenfalls wesentliche Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag in Bezug auf die Regelung zur zeitweiligen Aussetzung der Beteiligung eines Mitgliedstaats an dem Umsiedlungsprozess. Nach dem angefochtenen Beschluss stehe nämlich die Befugnis zur Entscheidung über eine solche Aussetzung dem Rat zu, während die Kommission vorgeschlagen habe, diese Befugnis ihr selbst zu übertragen. Der angefochtene Beschluss beschränke die Aussetzung auch auf 30 % der dem betroffenen Mitgliedstaat zugewiesenen Antragsteller, während in dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag eine derartige Beschränkung gefehlt habe. Während dieser Vorschlag ferner dem von seiner Verpflichtung entbundenen Mitgliedstaat eine Ausgleichszahlung auferlegt habe, enthalte der angefochtene Beschluss keine solche Zahlungspflicht.

158. Schließlich habe der 25. Erwägungsgrund des ursprünglichen Kommissionsvorschlags den Verteilungsschlüssel für die Zahl der in die einzelnen Mitgliedstaaten umzusiedelnden Personen enthalten, wohingegen ein solcher Verteilungsschlüssel in dem angefochtenen Beschluss fehle, so dass Letzterem nicht zu entnehmen sei, nach welchen zahlenmäßigen Kriterien diese Personen den einzelnen Mitgliedstaaten zugewiesen würden.

159. Die Kläger werfen dem Rat vor, das Parlament nicht erneut angehört zu haben, nachdem er diese grundlegenden Änderungen an dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag vorgenommen habe, obwohl das Parlament ihn in seiner Entschließung vom 17. September 2015 aufgefordert habe, es erneut anzuhören, falls er beabsichtige, den Vorschlag der Kommission entscheidend zu ändern.

160. Zwar habe die Präsidentschaft der Union das Parlament, vor allem dessen Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, regelmäßig über die Entwicklung des Vorgangs innerhalb des Rates unterrichtet; dies könne jedoch eine in einer Plenarsitzung angenommene förmliche Entschließung des Parlaments nicht ersetzen.

161. Ungarn verweist auf zwei Schreiben des Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Parlaments an den Präsidenten des Parlaments, denen zufolge dieser Ausschuss ebenfalls zu der Ansicht gelangt sei, dass der Rat den ursprünglichen Kommissionsvorschlag mit dem Ausschluss Ungarns aus dem Kreis der begünstigten Mitgliedstaaten wesentlich geändert habe, so dass das Parlament erneut hätte angehört werden müssen. Dieser Ausschuss habe dem Parlament allerdings aus politischen Gründen empfohlen, von einem Streitbeitritt in den vorliegenden beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen abzusehen.

162. Der Rat verwahrt sich gegen die Verwendung dieser beiden Schreiben im Rahmen der vorliegenden Verfahren und hat u. a. beantragt, der Gerichtshof möge Beweis erheben, um deren Echtheit zu überprüfen. Nach meiner Meinung braucht sich der Gerichtshof mit diesen beiden Schreiben nicht zu befassen; er hat unabhängig von deren Inhalt letztverbindlich darüber zu entscheiden, ob der Rat seiner Verpflichtung, das Parlament gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV anzuhören, nachgekommen ist.

163. Dem Gerichtshof zufolge stellt „[i]n den vom Vertrag vorgesehenen Fällen … die ordnungsgemäße Anhörung des Parlaments ein wesentliches Formerfordernis dar, dessen Nichtbeachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung zur Folge hat“(52). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Parlament außerdem, wenn es nach dem Vertrag angehört werden muss, „erneut anzuhören, wenn der endgültig verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört worden ist, und die Änderungen nicht im Wesentlichen einem vom Parlament selbst geäußerten Wunsch entsprechen“(53).

164. Daher ist zu prüfen, ob die von den Klägern erwähnten Änderungen das Wesen des Textes als Ganzes gesehen betreffen.

165. Dazu ist festzustellen, dass sowohl der ursprüngliche als auch der geänderte Kommissionsvorschlag zur Bewältigung einer durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen hervorgerufenen Notlage einen vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus für 120 000 Personen vorsahen, die während einer bestimmten Zeitspanne rechtsverbindlich auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt werden sollten. Das Ausscheiden Ungarns aus dem Kreis der durch diesen Mechanismus begünstigten Mitgliedstaaten stellt zwar eine rechtliche Änderung, jedoch keine Beeinträchtigung der wesentlichen Merkmale dieses Mechanismus dar.

166. Nach diesem Ausscheiden musste der ursprüngliche Vorschlag der Kommission zwar noch mehrfachen Feineinstellungen unterzogen werden, insbesondere hinsichtlich der Reserve von 54 000 Personen. Diese Anpassungen berühren jedoch nicht die Grundstruktur des angefochtenen Beschlusses. Im Übrigen erscheinen mir die anderen von der Slowakischen Republik kritisierten Änderungen nicht geeignet, den ursprünglichen Vorschlag in seinem harten Kern, wie ich ihn oben herausgearbeitet habe, anzutasten.

167. Unter dem Strich haben also die verschiedenen Änderungen, die die Kommission an ihrem Vorschlag vorgenommen hat, meines Erachtens das Wesen des angefochtenen Beschlusses als Ganzes gesehen nicht beeinträchtigt, so dass das Parlament nicht erneut angehört zu werden brauchte.

168. Ich füge hinzu, dass man sich fragen darf, ob eine erneute Anhörung des Parlaments notwendig ist, wenn die zentrale Änderung, die der Rat am ursprünglichen Kommissionsvorschlag vornimmt, nicht auf einer von ihm getroffenen freien Entscheidung beruht, sondern ausschließlich auf einen neuen, seiner Kontrolle entzogenen Umstand zurückzuführen ist, dem er überdies Rechnung tragen muss.

169. Im vorliegenden Fall konnte der Rat Ungarn nicht zwingen, Begünstigter des vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus zu bleiben, wie dies in dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag vorgesehen war. Der Rat konnte also nur den von diesem Mitgliedstaat geäußerten Willen zur Kenntnis nehmen, aus dem Kreis der Mitgliedstaaten auszuscheiden, zu deren Gunsten dieser Mechanismus angewandt werden sollte.

170. Außerdem liegt der Grund für die Anhörung des Parlaments – es sei denn, man betrachtet diese als rein formalen Akt – darin, dass die vom Rat an dem vorgelegten Text vorgenommenen Änderungen gegebenenfalls in die vom Parlament gewünschte Richtung gehen. Im vorliegenden Fall blieb dem Rat aber nichts anderes übrig, als das Ausscheiden Ungarns zur Kenntnis zu nehmen und seinen Beschluss diesem Umstand, der von seinem Willen unabhängig war, anzupassen.

171. Alles in allem bin ich der Ansicht, dass ein Element, das dem Einfluss des Rates entzogen ist, bei der Prüfung der Frage, ob das Parlament zu einer Regelung erneut angehört werden musste, nicht als wesentliches Merkmal dieser Regelung angesehen werden kann. Im vorliegenden Fall haben wir es nicht mit dem Ergebnis eines politischen Kompromisses zu tun, sondern mit der Weigerung eines Mitgliedstaats, von einer auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützten vorläufigen Maßnahme Gebrauch zu machen. Zwar kann der Rat die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 80 AEUV dazu zwingen, Solidarität zu üben und ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen, um eine Notlage zu bewältigen; er kann einen Mitgliedstaat allerdings meines Erachtens nicht zwingen, diese Solidarität in Anspruch zu nehmen.

172. Selbst wenn anzunehmen wäre, dass der letztlich verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von dem Text abweicht, zu dem das Parlament seine legislative Entschließung vom 17. September 2015 abgegeben hat, bin ich der Auffassung, dass – unter Berücksichtigung der durch Dringlichkeit gekennzeichneten Umstände, unter denen eine auf Art. 78 Abs. 3 AEUV gestützte Maßnahme wie der angefochtene Beschluss erlassen wird – das Parlament auf jeden Fall während des gesamten Verfahrens sowohl zu dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag als auch zu den daran vorgenommenen Änderungen ordnungsgemäß angehört wurde.

173. Aus den beim Gerichtshof vor allem vom Rat und vom Großherzogtum Luxemburg eingereichten Stellungnahmen geht hervor, dass der Rat bei zahlreichen formellen und inoffiziellen Kontakten das Parlament über nahezu alle Änderungen des ursprünglichen Textes unterrichtete und dass dieses hiergegen keine Einwände erhob.

174. Der Rat trägt im Einzelnen vor, ohne auf Widerspruch zu stoßen, dass er am 14. September 2015 um 12 Uhr beschlossen habe, das Parlament zu dem Vorschlag der Kommission anzuhören. Am selben Tag habe der Generalsekretär des Rates dem Präsidenten des Parlaments ein förmliches Konsultationsschreiben übersandt, in dem der Rat sich verpflichtet habe, das Parlament über die weitere Entwicklung dieses Vorgangs umfassend auf dem Laufenden zu halten. Am 16. September 2015 habe Jean Asselborn, luxemburgischer Minister für Immigration und Asyl sowie Präsident des Rates, an der außerordentlichen Plenartagung des Parlaments teilgenommen. Bei dieser Gelegenheit habe er die Ergebnisse der Tagung des Rates „Justiz und Inneres“ vom 14. September 2015 vorgestellt. In diesem Zusammenhang habe er angekündigt, dass Ungarn sich geweigert habe, als an den Außengrenzen befindlicher Mitgliedstaat behandelt zu werden und von dem Solidaritätsmechanismus Gebrauch zu machen, und dass trotz dieses Rückzugs von Ungarn an der Zahl von 120 000 umzusiedelnden Personen festgehalten werde.

175. Wie das Großherzogtum Luxemburg zu Recht bemerkt, ist das Parlament auf diese Weise in die Lage versetzt worden, diesem Umstand bei der Annahme seiner legislativen Entschließung vom 17. September 2015 Rechnung zu tragen. Es konnte somit bei seiner förmlichen Anhörung zur Kenntnis nehmen, dass Ungarn aus dem Kreis derjenigen ausgeschieden war, denen der vorübergehende Umsiedlungsmechanismus für 120 000 Personen zugutekommen sollte. Wenn das Parlament der Meinung gewesen wäre, dass dieser neue Umstand dem Erlass des angefochtenen Beschlusses entgegenstehe, wäre es mithin in der Lage gewesen, diese Meinung kundzutun.

176. Es spielt meines Erachtens keine Rolle, dass dieses Ausscheiden Ungarns in der legislativen Entschließung des Parlaments vom 17. September 2015 nicht zur Sprache kommt und dass es keine andere Entschließung gibt, der zu entnehmen wäre, dass das Parlament zu den nach diesem Ausscheiden an dem Kommissionsvorschlag vorgenommenen Änderungen förmlich angehört wurde.

177. Die besonderen Merkmale der in Art. 78 Abs. 3 AEUV bestehenden Rechtsgrundlage sprechen nach meiner Ansicht für eine relative Flexibilität bei der Prüfung, ob das Parlament nach dem Ausscheiden Ungarns und den infolgedessen vorgenommenen Änderungen des ursprünglichen Vorschlags ordnungsgemäß erneut angehört wurde.

178. Im Übrigen hat das Parlament diesen Aspekt der Dringlichkeit im Rahmen seiner Anhörung umfassend berücksichtigt. Die legislative Entschließung des Parlaments vom 17. September 2015 wurde nämlich im Dringlichkeitsverfahren gemäß Art. 154 der Geschäftsordnung dieses Organs angenommen. In dieser Entschließung hat das Parlament auch auf „die außergewöhnliche Notsituation und die Notwendigkeit, die Situation ohne weitere Verzögerung zu bewältigen“, hingewiesen.

179. Zwar fordert das Parlament in derselben Entschließung „den Rat auf, es erneut anzuhören, falls er beabsichtigt, den Vorschlag der Kommission entscheidend zu ändern“. Wegen der vom Parlament selbst hervorgehobenen außergewöhnlichen Notsituation und Notwendigkeit einer schnellen Reaktion auf die Flüchtlingskrise ist es nach meinem Dafürhalten nicht erforderlich, dass eine erneute Anhörung in einem klar festgelegten formellen Verfahren durchgeführt wird.

180. Der Rat erläutert übrigens im Einzelnen, wie er das Parlament zwischen dem 17. September 2015, als dieses seine legislative Entschließung annahm, und dem 22. September 2015, als der angefochtene Beschluss erlassen wurde, regelmäßig unterrichtet hat.

181. So hat die Ratspräsidentschaft im Rahmen der in dem Konsultationsschreiben angekündigten inoffiziellen Kontakte eine konsolidierte Fassung des Vorschlags mit allen vom Rat bis zum 21. September 2015, 22 Uhr, vorgenommenen Änderungen für das Parlament vorbereitet. Dieser Text wurde dem Parlament am 22. September 2015 um 9 Uhr übermittelt. Am selben Tag hielt der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, bei dem es sich unbestritten um den für Asylfragen zuständigen Parlamentsausschuss handelt, eine Sitzung ab, auf der die Ratspräsidentschaft den geänderten Kommissionsvorschlag präsentierte. Dabei konnte die Ratspräsidentschaft die letzten Änderungen in ihre Präsentation einarbeiten, die auf der außerordentlichen Sitzung des Ausschusses der Ständigen Vertreter vom selben Morgen an dem Text vorgenommen worden waren. Das Parlament wurde auch über die Tagesordnung der für denselben Tag um 14:30 Uhr vorgesehenen Sitzung des Rates sowie über die Intentionen der Präsidentschaft und die denkbare Entwicklung des Vorgangs bei dieser Ratssitzung informiert. Daraufhin führte der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres im Hinblick auf die außerordentliche Sitzung des Rates eine Aussprache über den auf diese Weise geänderten Text durch.

182. Daraus ergibt sich, dass der Rat das Parlament in die Erarbeitung des angefochtenen Beschlusses eng eingebunden hat. In Anbetracht der durch Dringlichkeit gekennzeichneten Umstände, die das Parlament selbst anerkannt und berücksichtigt hat, sowie der unter solchen Umständen für das Verfahren gebotenen Flexibilität ist davon auszugehen, dass das Parlament im Einklang mit der Vorschrift des Art. 78 Abs. 3 AEUV ordnungsgemäß angehört wurde.

183. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, den dritten Teil des dritten Klagegrundes und den ersten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik sowie den fünften Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

3.      Zum zweiten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum dritten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften insoweit geltend gemacht wird, als der Rat entgegen Art. 293 Abs. 1 AEUV nicht einstimmig entschieden habe

184. Die Slowakische Republik und Ungarn tragen vor, der Rat habe durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses die in Art. 293 Abs. 1 AEUV niedergelegte wesentliche Formvorschrift verletzt, indem er den Vorschlag der Kommission abgeändert habe, ohne dem in dieser Bestimmung vorgeschriebenen Erfordernis der Einstimmigkeit nachzukommen. Nach Ansicht der Slowakischen Republik hat der Rat dadurch auch gegen Art. 13 Abs. 2 EUV sowie gegen die Grundsätze des institutionellen Gleichgewichts und der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen.

185. Die Kläger machen geltend, das in Art. 293 Abs. 1 AEUV vorgesehene Erfordernis der Einstimmigkeit gelte für jede Änderung des Kommissionsvorschlags, einschließlich geringfügiger Änderungen, und unabhängig davon, ob die Kommission die Änderungen, die bei den Diskussionen im Rat an ihrem Vorschlag vorgenommen worden seien, ausdrücklich oder stillschweigend akzeptiert habe.

186. Nichts deute darauf hin, dass die Kommission im Lauf des Verfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt habe, ihren Vorschlag zurückgezogen und einen neuen Vorschlag vorgelegt hätte, dessen Wortlaut mit demjenigen des später erlassenen angefochtenen Beschlusses identisch gewesen wäre. Aus dem Protokoll über die Ratstagung vom 22. September 2015 gehe vielmehr hervor, dass die Kommission weder einen neuen Vorschlag vorgelegt noch eine vorherige Erklärung zu dem geänderten Vorschlag abgegeben habe, der in dieser Fassung schließlich vom Rat angenommen worden sei. Die Kommission müsse aber an den in Rede stehenden Änderungen aktiv und ausdrücklich mitwirken, damit angenommen werden könne, dass sie ihren Vorschlag im Sinne von Art. 293 Abs. 2 AEUV geändert habe. Im Übrigen unterscheide sich der vorliegende Fall von der Rechtssache, in der das Urteil vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat(54), ergangen sei.

187. Schließlich seien die beiden Mitglieder der Kommission, die an den verschiedenen Sitzungen des Rates teilgenommen hätten, vom Kollegium der Mitglieder der Kommission nicht ordnungsgemäß zur Billigung des vom Rat letztlich angenommenen Textes ermächtigt worden.

188. Ich teile die Auffassung der Kläger nicht.

189. Wie ich zuvor bereits ausgeführt habe, räumt der AEU-Vertrag der Kommission ein Initiativrecht für Rechtsetzungsvorschläge ein. Art. 293 Abs. 1 AEUV stattet dieses Recht insofern mit einer Garantie aus, als er bestimmt, dass der Rat, wenn er aufgrund der Verträge auf Vorschlag der Kommission tätig wird, diesen Vorschlag außer in den Fällen, die von den dort genannten Bestimmungen des AEU-Vertrags erfasst werden, nur einstimmig abändern kann(55).

190. Im Übrigen sieht Art. 293 Abs. 2 AEUV vor: „Solange ein Beschluss des Rates nicht ergangen ist, kann die Kommission ihren Vorschlag jederzeit im Verlauf der Verfahren zur Annahme eines Rechtsakts der Union ändern.“

191. Im Zusammenhang mit dem Verfahren, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, ist das Initiativrecht der Kommission, das Art. 293 AEUV gewährleisten soll, meines Erachtens nicht beeinträchtigt worden. Die Kommission hat sich übrigens im Rahmen des vorliegenden Verfahrens selbst dahin geäußert, dass ihre institutionellen Vorrechte gewahrt worden seien.

192. Aus den Erklärungen, die die Kommission vor dem Gerichtshof abgegeben hat, geht hervor, dass sie sich auf ihrer Sitzung vom 16. September 2015 das vorrangige Ziel gesetzt hat, den Rat dazu zu bringen, anlässlich seiner Tagung vom 22. September 2015 einen rechtsverbindlichen und sofort anwendbaren Beschluss zur Umsiedlung von 120 000 Personen zu erlassen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten. Um dieses vorrangige Ziel zu erreichen, hat die Kommission ihren Angaben zufolge ihrem Ersten Vizepräsidenten, Frans Timmermans, und dem für Migration, Inneres und Bürgerschaft zuständigen Kommissionsmitglied, Dimitris Avramopoulos, den notwendigen Handlungsspielraum hinsichtlich der anderen Aspekte des Vorschlags eingeräumt.

193. Wie die Kommission ausführt, ist sie nach Art. 13 ihrer Geschäftsordnung befugt, „eines oder mehrere ihrer Mitglieder [zu] beauftragen, den Wortlaut eines Beschlusses oder eines den übrigen Organen vorzulegenden Vorschlags, dessen wesentlichen Inhalt sie bereits in ihren Beratungen festgelegt hat, im Einvernehmen mit dem Präsidenten endgültig anzunehmen“. Die Kläger haben nichts vorgelegt, was prima facie ihre Behauptung belegen könnte, die beiden Kommissionsmitglieder seien vom Kollegium der Mitglieder der Kommission nicht ordnungsgemäß ermächtigt worden, die Änderungen des ursprünglichen Vorschlags im Namen der Kommission zu billigen. Angesichts der Erklärungen seitens der Kommission ist deshalb nach meiner Ansicht zu vermuten, dass der Erste Vizepräsident der Kommission und das für Migration, Inneres und Bürgerschaft zuständige Kommissionsmitglied vom Kollegium der Mitglieder der Kommission ordnungsgemäß ermächtigt worden waren, im Namen der Kommission voll und ganz an dem Verfahren mitzuwirken, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat.

194. Das Initiativrecht der Kommission wurde im Rahmen des Verfahrens, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat, insoweit gewahrt, als davon auszugehen ist, dass die Kommission entsprechend der durch Art. 293 Abs. 2 AEUV gebotenen Möglichkeit ihren Vorschlag geändert hat.

195. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof der Form, die der geänderte Vorschlag annehmen kann, keine Bedeutung beimisst. Dem Gerichtshof zufolge sind „[s]olche geänderten Vorschläge … Teil des … Rechtsetzungsverfahrens [der Union], das sich durch eine gewisse Flexibilität auszeichnet, die erforderlich ist, um zwischen den Organen eine Meinungsübereinstimmung zu erreichen“(56).

196. Der Entscheidungsprozess bedarf einer gewissen Flexibilität zur Erleichterung der Suche nach politischen Kompromissen vor allem dann, wenn es um die durch Dringlichkeit gekennzeichnete Umsetzung des Art. 78 Abs. 3 AEUV geht.

197. Bei der Prüfung, ob das Initiativrecht der Kommission gewahrt wurde, kommt es folglich darauf an, ob diese den Änderungen, die an ihrem Vorschlag vorgenommen wurden, zugestimmt hat oder nicht. Wie der Rat zu Recht bemerkt, folgt aus einer Gesamtschau der Bestimmungen des Art. 293 Abs. 1 und 2 AEUV, dass das Einstimmigkeitserfordernis für den Rat nur dann gilt, wenn sich die Kommission einer Änderung ihres Vorschlags widersetzt.

198. Aus den Akten geht aber hervor, dass der Erste Vizepräsident der Kommission und das für Migration, Inneres und Bürgerschaft zuständige Kommissionsmitglied aktiv und kontinuierlich an der Suche nach einem politischen Kompromiss innerhalb des Rates mitgewirkt haben. Zu diesem Zweck haben diese beiden Kommissionsmitglieder die Änderungen akzeptiert, die der Rat an dem ursprünglichen Vorschlag vornahm. Als der Rat seinen Beschluss erließ, war er daher mit einem Kommissionsvorschlag befasst, der im Einklang mit Art. 293 Abs. 2 AEUV gemäß dem politischen Kompromiss geändert worden war, dem zwei von der Kommission zu diesem Zweck ordnungsgemäß ermächtigte Kommissionsmitglieder zugestimmt hatten(57).

199. Deshalb schlage ich dem Gerichtshof vor, den zweiten Teil des vierten Klagegrundes der Slowakischen Republik und den dritten Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

4.      Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes der Slowakischen Republik und zum vierten Klagegrund Ungarns, mit denen eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften insoweit geltend gemacht wird, als das Recht der nationalen Parlamente auf Abgabe einer Stellungnahme gemäß dem Protokoll Nr. 1 und dem Protokoll Nr. 2 nicht beachtet worden sei

200. Ungarn und die Slowakische Republik tragen vor – Letztere hilfsweise –, beim Erlass des angefochtenen Beschlusses sei das im Protokoll Nr. 1 und im Protokoll Nr. 2 vorgesehene Recht der nationalen Parlamente auf Abgabe einer Stellungnahme zu Gesetzgebungsakten nicht beachtet worden.

201. Der angefochtene Beschluss sei insoweit, als er unionsrechtliche Gesetzgebungsakte ändere, inhaltlich ein Gesetzgebungsakt; daher hätte dieser Beschluss in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen werden müssen, so dass das Recht der nationalen Parlamente auf Abgabe einer Stellungnahme zum Entwurf dieses Gesetzgebungsakts hätte beachtet werden müssen. Die am 13. September 2015 zu bloßen Informationszwecken erfolgte Übermittlung des Entwurfs an die nationalen Parlamente habe deshalb nicht genügt. Jedenfalls sei der Entwurf in seiner geänderten Fassung vom Rat am 22. September 2015 verabschiedet worden, so dass die den nationalen Parlamenten nach Art. 4 des Protokolls Nr. 1 und Art. 6 des Protokolls Nr. 2 für ihre Stellungnahme zur Verfügung stehende Frist von acht Wochen nicht eingehalten worden sei.

202. Außerdem sei die in Art. 4 des Protokolls Nr. 1 vorgesehene Ausnahme für dringende Fälle, in denen diese achtwöchige Frist verkürzt werden könne, nicht anwendbar, da sich der Rat in keinem Schriftstück darauf berufe, dass die nationalen Parlamente wegen der Dringlichkeit des Vorgangs ihre Stellungnahme zu dem Entwurf in einer kürzeren Frist hätten abgeben müssen.

203. Zusammen mit dem Rat bin ich der Auffassung, dass der angefochtene Beschluss, wie vorstehend dargelegt, ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter ist, weshalb für ihn die im Protokoll Nr. 1 und im Protokoll Nr. 2 vorgesehenen Anforderungen hinsichtlich der Beteiligung der nationalen Parlamente am Erlass eines Gesetzgebungsakts nicht galten.

204. Der zweite Teil des dritten Klagegrundes der Slowakischen Republik und der vierte Klagegrund Ungarns sind daher als unbegründet zurückzuweisen.

5.      Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes der Slowakischen Republik, mit dem eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften insoweit geltend gemacht wird, als das Erfordernis der öffentlichen Beratung und Abstimmung im Rat missachtet worden sei

205. Die Slowakische Republik trägt hilfsweise vor, der Rat habe – falls der Gerichtshof entscheiden sollte, dass der angefochtene Beschluss im Gesetzgebungsverfahren erlassen worden und somit ein Gesetzgebungsakt sei – eine wesentliche Formvorschrift verletzt, indem er diesen Beschluss unter Ausschluss der Öffentlichkeit erlassen habe; nach Art. 16 Abs. 8 EUV und Art. 15 Abs. 2 AEUV tage der Rat nämlich öffentlich, wenn er über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berate oder abstimme.

206. Zusammen mit dem Rat bin ich der Auffassung, dass der angefochtene Beschluss, wie vorstehend dargelegt, ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter ist, weshalb die Voraussetzungen für den Erlass eines Gesetzgebungsakts, wie etwa das Öffentlichkeitsgebot für die Beratungen und die Abstimmung des Rates, für ihn nicht gelten.

207. Der erste Teil des dritten Klagegrundes der Slowakischen Republik ist daher als unbegründet zurückzuweisen.

6.      Zum sechsten Klagegrund Ungarns, mit dem eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften insoweit geltend gemacht wird, als der Rat beim Erlass des angefochtenen Beschlusses die unionsrechtliche Sprachenregelung nicht beachtet habe

208. Ungarn trägt vor, der Rat habe eine wesentliche Formvorschrift verletzt, da er den angefochtenen Beschluss erlassen habe, obwohl dessen zur Abstimmung vorgelegter Text nicht in allen Amtssprachen der Union zur Verfügung gestanden habe.

209. Der Rat habe konkret die unionsrechtliche Sprachenregelung und insbesondere Art. 14 Abs. 1 seiner Geschäftsordnung(58) missachtet, da die Texte mit den an dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag nach und nach vorgenommenen Änderungen – darunter auch der Text des angefochtenen Beschlusses, wie er vom Rat schließlich erlassen worden sei – an die Delegationen der Mitgliedstaaten nur in englischer Sprache verteilt worden seien.

210. Die Slowakische Republik hat denselben Klagegrund in ihrem Erwiderungsschriftsatz erhoben. Im Rahmen der von diesem Mitgliedstaat erhobenen Klage ist dieser Klagegrund meines Erachtens als verspätet und somit als unzulässig anzusehen.

211. Art. 14 („Beratungen und Beschlüsse auf der Grundlage von Schriftstücken und Entwürfen in den in der geltenden Sprachenregelung vorgesehenen Sprachen“) der Geschäftsordnung des Rates lautet:

„(1)      Der Rat berät und beschließt nur auf der Grundlage von Schriftstücken und Entwürfen, die in den in der geltenden Sprachenregelung vorgesehenen Sprachen vorliegen, es sei denn, dass er aus Dringlichkeitsgründen einstimmig anders entscheidet.

(2)      Jedes Ratsmitglied kann gegen die Beratung Einspruch erheben, wenn der Wortlaut etwaiger Änderungsvorschläge nicht in denjenigen der in Absatz 1 genannten Sprachen abgefasst ist, die von ihm bezeichnet werden.“

212. Der Rat trägt vor, diese Bestimmung seiner Geschäftsordnung sei dahin zu verstehen, dass nach Abs. 1 die Schriftstücke und Entwürfe, die die „Grundlage“ der Beratungen des Rates bildeten – im vorliegenden Fall der ursprüngliche Vorschlag der Kommission –, den Mitgliedstaaten in allen Amtssprachen der Union zur Verfügung gestellt werden müssten, während Abs. 2 eine vereinfachte Regelung für Änderungen enthalte, die nicht zwingend in allen Amtssprachen der Union verfügbar sein müssten. Nur im Fall eines Widerspruchs von Seiten eines Mitgliedstaats müsse auch die von Letzterem genannte Sprachfassung dem Rat vorgelegt werden, bevor dieser seine Beratungen fortsetzen könne.

213. Diese Erläuterung des Rates zur Auslegung von Art. 14 seiner Geschäftsordnung(59) erscheint mir überzeugend, da sie einen ausgewogenen und flexiblen Ansatz darstellt, der es ermöglicht, die Effizienz der Arbeiten des Rates vor allem im Fall von Dringlichkeit, wie sie für die aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassenen vorläufigen Maßnahmen charakteristisch ist, zu sichern. Diese Erläuterung stimmt außerdem mit dem Verlauf des Verfahrens überein, das zum Erlass des angefochtenen Beschlusses geführt hat.

214. Im vorliegenden Fall hat die Kommission, wie der Rat unwidersprochen darlegt, ihren Beschlussvorschlag allen Delegationen der Mitgliedstaaten in allen Amtssprachen der Union zur Verfügung gestellt. Im Übrigen hat der Rat von den Klägern unbestritten erklärt, dass alle Änderungen, die von verschiedenen Mitgliedstaaten mündlich verlangt und in auf Englisch abgefasste Arbeitsdokumente aufgenommen sowie an die Delegationen verteilt worden seien, vom Ratspräsidenten vorgelesen und simultan in alle Amtssprachen der Union gedolmetscht worden seien. Kein einziger Mitgliedstaat habe Einspruch nach Art. 14 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Rates erhoben.

215. Schließlich ergibt sich auf jeden Fall aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie der Rat zu Recht bemerkt, dass, selbst wenn er mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses Art. 14 seiner Geschäftsordnung verletzt haben sollte, eine solche Unregelmäßigkeit nur dann zur Nichtigerklärung des schließlich erlassenen Rechtsakts führen könnte, wenn bei einem Fehlen dieser Unregelmäßigkeit das Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können(60). Ungarn hat jedoch nichts vorgebracht, was belegen könnte, dass das Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können, wenn die Änderungen des ursprünglichen Kommissionsvorschlags in allen Amtssprachen der Union abgefasst worden wären.

216. Somit ist der sechste Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen.

217. Daher ergibt sich aus der Prüfung der die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens für den Erlass des angefochtenen Beschlusses betreffenden Klagegründe, mit denen die Slowakische Republik und Ungarn eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften rügen, dass diese Klagegründe allesamt als unbegründet zurückzuweisen sind.

D.      Zu den materiell-rechtlichen Klagegründen

1.      Zum sechsten Klagegrund der Slowakischen Republik sowie zum neunten und zum zehnten Klagegrund Ungarns, mit denen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht wird

218. Sowohl die Slowakische Republik als auch Ungarn tragen vor, der angefochtene Beschluss verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wobei sie in einzelnen Punkten unterschiedlich argumentieren.

219. Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Handlungen der Unionsorgane zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen(61).

220. Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Einhaltung dieses Grundsatzes betrifft, so verfügen die Organe der Union nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs über ein weites Ermessen in Bereichen, in denen von ihnen politische Entscheidungen verlangt werden und in denen sie komplexe Prüfungen durchführen müssen. In solchen Situationen kann die Rechtmäßigkeit einer in einem dieser Bereiche erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das die zuständigen Organe verfolgen, offensichtlich ungeeignet ist(62).

221. Es unterliegt meines Erachtens keinem Zweifel, dass diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall Anwendung findet, da der angefochtene Beschluss politische Entscheidungen widerspiegelt, die der Rat getroffen hat, um eine Notlage zu bewältigen, und da die Reaktion des Rates auf das Phänomen des plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Union das Ergebnis komplexer Prüfungen ist, die der Gerichtshof nicht anstelle des Rates durchführen kann.

222. Das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel besteht nach Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 12 und 26 dieses Beschlusses darin, die Italienische Republik und die Hellenische Republik dabei zu unterstützen, eine durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet geprägte Notlage besser zu bewältigen, und zwar durch den Erlass vorläufiger Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes, mit denen die einem erheblichen Druck ausgesetzten Asylsysteme dieser beiden Mitgliedstaaten entlastet werden sollen.

223. Nur die Feststellung, dass der angefochtene Beschluss offensichtlich ungeeignet ist, das mit ihm verfolgte Ziel zu erreichen, oder dass er die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, kann die Nichtigerklärung dieses Beschlusses zur Folge haben.

224. Es ist nun der Inhalt der Klagegründe zu prüfen, mit denen die Slowakische Republik und Ungarn die Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses in Frage stellen.

a)      Zur Eignung des angefochtenen Beschlusses, das mit ihm verfolgte Ziel zu erreichen

225. Die Slowakische Republik macht mit Unterstützung der Polnischen Republik geltend, der angefochtene Beschluss sei nicht geeignet, das mit ihm verfolgte Ziel zu erreichen, da der Druck auf das italienische und das griechische Asylsystem auf die erheblichen strukturellen Unzulänglichkeiten dieser Systeme, wie die fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten und die Kapazitätsengpässe bei der Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz, zurückzuführen sei. Der in dem angefochtenen Beschluss vorgesehene vorübergehende Umsiedlungsmechanismus sei nicht geeignet, derartigen strukturellen Unzulänglichkeiten abzuhelfen.

226. Dieser Argumentation kann ich mich nicht anschließen.

227. Indem der angefochtene Beschluss die Bearbeitung zahlreicher Anträge auf internationalen Schutz der Zuständigkeit der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik entzieht, trägt er automatisch dazu bei, die Asylsysteme beider Mitgliedstaaten von dem erheblichen Druck zu entlasten, dem diese Systeme infolge der Flüchtlingskrise des Sommers 2015 ausgesetzt waren. Dieser Befund kann nicht dadurch kaschiert werden, dass der angefochtene Beschluss nicht primär darauf gerichtet ist, die strukturellen Unzulänglichkeiten dieser Asylsysteme zu beheben.

228. Im Übrigen lässt sich keineswegs behaupten, dass eine Verbesserung der Funktionsweise der Asylsysteme der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik im Rahmen des angefochtenen Beschlusses keine Rolle spielen würde.

229. In Art. 8 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses heißt es nämlich: „[Die Italienische Republik] und [die Hellenische Republik] legen eingedenk der Verpflichtungen nach Artikel 8 Absatz 1 des Beschlusses … 2015/1523 bis zum 26. Oktober 2015 dem Rat und der Kommission jeweils einen aktualisierten Fahrplan vor, der der Notwendigkeit, eine angemessene Durchführung des vorliegenden Beschlusses zu gewährleisten, Rechnung trägt.“ Nach Art. 8 Abs. 1 des Beschlusses 2015/1523 handelt es sich hierbei um einen Fahrplan u. a. „mit adäquaten Maßnahmen im Bereich Asyl, Erstaufnahme und Rückkehr, die zur Verbesserung der Kapazität, Qualität und Effizienz [der] Systeme [der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik] in diesem Bereich beitragen“. Der 18. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses stellt dazu klar, dass der Beschluss 2015/1523 „[die Italienische Republik] und [die Hellenische Republik] verpflichtet, als Reaktion auf die Krisensituation einen soliden strategischen Rahmen zu schaffen und den bereits eingeleiteten Reformprozess in diesen Bereichen zu verstärken, um so zu einer strukturellen Lösung für die Bewältigung des außergewöhnlichen Drucks auf ihre Asyl- und Migrationssysteme zu gelangen“. Dadurch, dass der angefochtene Beschluss eine Aktualisierung der von der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik in Anwendung des Beschlusses 2015/1523 aufgestellten Fahrpläne verlangt, wahrt er die Kontinuität mit dem letztgenannten Beschluss. Diese beiden Mitgliedstaaten sollen hiermit dazu angehalten werden, ihre Asylsysteme so auszubauen, dass sie nach Ablauf der Geltungsdauer des angefochtenen Beschlusses in der Lage sind, einen etwaigen Anstieg des Zustroms von Migranten in ihr Hoheitsgebiet besser zu verkraften.

230. Italien und Griechenland sind nach dem angefochtenen Beschluss also verpflichtet, parallel zu den Umsiedlungen aus ihrem Hoheitsgebiet die strukturellen Unzulänglichkeiten ihrer Asylsysteme zu korrigieren. Kommt einer dieser beiden Mitgliedstaaten dieser Verpflichtung nicht nach, so kann dies nach Art. 8 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses dazu führen, dass die Anwendung dieses Beschlusses in Bezug auf den betreffenden Mitgliedstaat für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, der einmal verlängert werden kann, ausgesetzt wird.

231. Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass der angefochtene Beschluss nicht die einzige Maßnahme ist, die die Union zur Entlastung des italienischen und des griechischen Asylsystems getroffen hat. Wie das Großherzogtum Luxemburg hervorgehoben hat, ist dieser Beschluss als Teil eines Maßnahmenpakets aufzufassen, wobei eine der wichtigsten Maßnahmen auf operativer Ebene zweifellos die Einrichtung von „Hotspots“ (Brennpunkten) darstellt(63).

232. Schließlich teile ich, wie vorstehend ausgeführt, die Ansicht des Rates, wonach der starke Druck, dem das italienische und das griechische Asylsystem ausgesetzt waren, wahrscheinlich jedwedes Asylsystem hätte schwer erschüttern können, sogar ein System ohne Strukturschwächen. Ich halte daher die von der Slowakischen Republik vertretene Ansicht, der auf die Asylsysteme der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik ausgeübte Druck sei allein eine Folge der strukturellen Unzulänglichkeiten dieser Systeme, für unzutreffend.

233. Angesichts dieser Umstände stellt es sich nach meiner Meinung nicht so dar – geschweige denn offensichtlich –, dass die Umsiedlung zahlreicher Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, und die damit verbundene Entlastung des italienischen und des griechischen Asylsystems von der Bearbeitung der entsprechenden Anträge ungeeignet wären, tatsächlich und wirksam zur Erreichung des Ziels einer Entlastung von dem erheblichen Druck beizutragen, dem diese beiden Asylsysteme ausgesetzt sind.

234. Nach Ansicht der Slowakischen Republik und Ungarns wird die fehlende Eignung des angefochtenen Beschlusses, das mit ihm verfolgte Ziel zu erreichen, auch durch die geringe Zahl der aufgrund dieses Beschlusses vorgenommenen Umsiedlungen bestätigt.

235. Wie der Rat zu Recht erwähnt, ist die Verhältnismäßigkeit anhand der Umstände zu beurteilen, die ihm zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses bekannt waren.

236. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Rechtmäßigkeit einer Handlung im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses der Handlung zu beurteilen ist und insbesondere nicht von nachträglichen Betrachtungen über deren Wirkungsgrad abhängen kann(64). Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass die Beurteilung des Unionsgesetzgebers, wenn er künftige Auswirkungen einer zu erlassenden Regelung zu beurteilen hat, die sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen lassen, nur beanstandet werden kann, wenn sie sich im Licht der Informationen, über die er zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden Regelung verfügte, als offensichtlich fehlerhaft erweist(65).

237. Wie aus mehreren Erwägungsgründen des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, hat sich der Rat auf eine detaillierte Analyse der Gründe und der Auswirkungen der Krisensituation während des Sommers 2015 gestützt, und zwar auf der Grundlage des Zahlenmaterials, über das er zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses verfügte.

238. Wie der Rat hervorhebt, lässt sich die geringe Wirksamkeit der in dem angefochtenen Beschluss vorgesehenen Maßnahmen(66) durch mehrere Faktoren erklären, die er, als er diesen Beschluss erließ, nicht vorhersehen konnte: insbesondere die von einigen Mitgliedstaaten betriebene Politik des freien Grenzübertritts, die eine chaotische Wanderungsbewegung sehr vieler Flüchtlinge, die in andere Mitgliedstaaten einreisen wollten, zur Folge hatte, die Schwerfälligkeit der Umsiedlungsverfahren, die Unsicherheit, die durch die zahlreichen Fälle hervorgerufen wurde, in denen einige Umsiedlungsmitgliedstaaten die Einreise unter Berufung auf Gründe der öffentlichen Ordnung verweigerten, sowie die unzureichende Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des angefochtenen Beschlusses.

239. Was letzteren Punkt betrifft, so füge ich hinzu: Die Argumentation der Kläger läuft im Grunde genommen darauf hinaus, dass sie einen Vorteil daraus ziehen wollen, dass sie dem angefochtenen Beschluss nicht nachgekommen sind. In der Tat haben die Slowakische Republik und Ungarn durch die Missachtung ihrer Umsiedlungsverpflichtungen dazu beigetragen, dass das in dem angefochtenen Beschluss festgelegte Ziel von 120 000 Umsiedlungen auch heute noch längst nicht erreicht ist.

240. Dazu ist festzustellen, dass nach dem Stand vom 10. April 2017(67) Ungarn keine einzige Person aus Italien und Griechenland umgesiedelt hat. Die Slowakische Republik hat nur 16 Personen aus Griechenland und niemanden aus Italien umgesiedelt. Diese Zahlen entsprechen 0 % bzw. 2 % der Umsiedlungskontingente, die Ungarn und der Slowakischen Republik durch den angefochtenen Beschluss zugewiesen wurden. Ich weise außerdem darauf hin, dass weder die Slowakische Republik noch Ungarn die Anwendung des in Art. 4 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses vorgesehenen Mechanismus der zeitweiligen Aussetzung ihrer Verpflichtungen beantragt haben.

241. Wenngleich die Eignung des angefochtenen Beschlusses, das mit ihm verfolgte Ziel zu erreichen, meines Erachtens von den Klägern eindeutig nicht unter Hinweis auf seinen geringen Durchsetzungsgrad oder seine Unwirksamkeit in der Praxis in Frage gestellt werden kann, erscheint mir doch eine Sache unbestreitbar: Mit diesem Beschluss kann die Notlage, die seinen Erlass rechtfertigt, nur dann bewältigt werden, wenn alle Mitgliedstaaten sich in demselben Geist der Solidarität, der die Daseinsberechtigung des Beschlusses darstellt, seiner Umsetzung widmen.

242. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass die unterlassene Anwendung des angefochtenen Beschlusses auch die in Art. 80 AEUV niedergelegte Pflicht zur Solidarität und zur gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten verletzt. Es unterliegt in meinen Augen keinem Zweifel, dass der mit einer entsprechenden Vertragsverletzungsklage befasste Gerichtshof die säumigen Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen erinnern würde, und zwar mit festen Worten, wie er dies in der Vergangenheit bereits getan hat(68).

b)      Zur Notwendigkeit des angefochtenen Beschlusses für die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels

1)      Die von der Slowakischen Republik vorgetragenen Argumente

243. Die Slowakische Republik macht geltend, das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel hätte genauso wirksam durch Maßnahmen im Rahmen bestehender Instrumente erreicht werden können, die für die Mitgliedstaaten weniger belastend hinsichtlich ihrer Auswirkung auf das souveräne Recht eines jeden Mitgliedstaats, über die Einreise von Drittstaatsangehörigen in sein Hoheitsgebiet frei zu entscheiden, und auf den in Art. 5 des Protokolls Nr. 2 vorgesehenen Anspruch der Mitgliedstaaten darauf, die finanzielle Belastung und den Verwaltungsaufwand so gering wie möglich zu halten, gewesen wären.

244. Was in erster Linie die möglichen weniger restriktiven Maßnahmen betrifft, erwähnt die Slowakische Republik zunächst die Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten(69). Diese Richtlinie sei durch die Einführung eines vorübergehenden Schutzes geeignet, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 8, 9 und 13 sowie aus ihrem Art. 1 ergebe, eine Reaktion auf dieselben Situationen eines Massenzustroms von Flüchtlingen zu ermöglichen wie der angefochtene Beschluss, allerdings in mehrerlei Hinsicht auf weniger restriktive Weise als Letzterer. Außerdem sehe Art. 26 der Richtlinie 2001/55 ausdrücklich ein Verfahren zur Umsiedlung der vorübergehenden Schutz genießenden Personen vor.

245. Diese Richtlinie beeinträchtige die Interessen der Mitgliedstaaten weniger, denn sie sehe die Rückkehr der betroffenen Personen vor, sobald der vorübergehende Schutz abgelaufen sei. Im Übrigen sehe Art. 25 dieser Richtlinie im Geist der Solidarität vor, dass die Mitgliedstaaten ihre Aufnahmekapazität anhand von Zahlen oder allgemein angäben und dass sie die Entscheidung über die Zahl der aufzunehmenden Personen unter Beachtung ihrer Souveränität träfen.

246. Die Polnische Republik, die diese Argumentation der Slowakischen Republik unterstützt, trägt vor, die Richtlinie 2001/55 beruhe auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, so dass eine Überstellung nur mit Zustimmung der umgesiedelten Person und des Umsiedlungsmitgliedstaats erfolge. Auch gewähre der in dieser Richtlinie vorgesehene vorübergehende Schutzstatus vor allem in Bezug auf die Dauer des Schutzes weniger Rechte als der internationale Schutzstatus nach dem angefochtenen Beschluss, was den Umsiedlungsmitgliedstaat deutlich weniger belaste.

247. Die Slowakische Republik macht sodann geltend, die Italienische Republik und die Hellenische Republik hätten das in Art. 8a der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union(70) vorgesehene „Katastrophenschutzverfahren der Union“ einleiten können, wodurch sie die notwendige materielle Unterstützung erhalten hätten. Die Italienische Republik und die Hellenische Republik hätten auch bei der Agentur Frontex eine Unterstützung in Form von „Sofortmaßnahmen“ beantragen können. Ein wirksamer Grenzschutz für die Mitgliedstaaten, deren Grenzen die Außengrenzen der Union bildeten, hänge unmittelbar mit dem Zustand der Asyl- und Migrationssysteme der betroffenen Mitgliedstaaten zusammen.

248. Auch hätten die Italienische Republik und die Hellenische Republik zur Entlastung ihrer Asylsysteme gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. f und Art. 9 Abs. 1 und 1b der Verordnung Nr. 2007/2004 bei der Agentur Frontex die notwendige Unterstützung zur Organisation von Rückführungsaktionen anfordern können.

249. Im Übrigen sei es in Anbetracht des Beschlusses 2015/1523, der es den Mitgliedstaaten überlasse, im Geist der Solidarität zu entscheiden, inwieweit sie sich an der gemeinsamen Verpflichtung beteiligen wollten, und der ihre Souveränität daher weniger beeinträchtige, nicht nötig gewesen, andere Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV zu erlassen. Da der angefochtene Beschluss außerdem nur acht Tage nach dem Beschluss 2015/1523 erlassen worden sei, habe in einer so kurzen Zeitspanne unmöglich die Unzulänglichkeit des letzteren Beschlusses festgestellt werden können. Beim Erlass des angefochtenen Beschlusses habe der Rat keinen Anlass zu der Annahme gehabt, dass die in dem Beschluss 2015/1523 vorgesehenen Aufnahmekapazitäten rasch erschöpft würden und deshalb im Rahmen des angefochtenen Beschlusses zusätzliche Kapazitäten vorgesehen werden müssten.

250. Schließlich hätten aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV auch weniger einschneidende Maßnahmen zur Erreichung des verfolgten Ziels erlassen werden können; u. a. wäre es möglich gewesen, eine Hilfe zur Erleichterung der Rückführung und der Registrierung oder eine finanzielle, materielle, technische und personelle Unterstützung für das italienische und das griechische Asylsystem zur Verfügung zu stellen. Die Mitgliedstaaten könnten auch auf freiwilliger Basis bilaterale Initiativen ergreifen, um eine solche Unterstützung zu gewähren.

251. In zweiter Linie führe die in dem angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlung der Antragsteller unweigerlich zu einer finanziellen Belastung und zu Verwaltungsaufwand. Da es nicht notwendig sei, derartige Belastungen zu tragen, stelle der Beschluss eine überflüssige und verfrühte Maßnahme dar, die gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen Art. 5 des Protokolls Nr. 2 verstoße.

252. In Erwiderung auf diese Argumente ist auf den besonders prekären Kontext hinzuweisen, in dem der angefochtene Beschluss erlassen wurde: die durch einen plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen in den Monaten Juli und August 2015 hervorgerufene Notlage. Die Mitgliedstaaten waren verpflichtet, so schnell wie möglich wirksam auf den erheblichen Druck zu reagieren, der auf dem italienischen und dem griechischen Asylsystem lastete.

253. Mit dem Rat bin ich der Auffassung, dass zwar zumindest manche der von der Slowakischen Republik vorgeschlagenen Alternativlösungen zur Erreichung des mit dem angefochtenen Beschluss verfolgten Ziels beitragen könnten; diese Feststellung reicht jedoch angesichts des dem Rat zuzuerkennenden weiten Beurteilungsspielraums nicht aus, um die offensichtliche Unverhältnismäßigkeit dieses Beschlusses darzutun und seine Rechtmäßigkeit in Frage zu stellen. Meines Erachtens durfte der Rat, als er den angefochtenen Beschluss erließ, zu Recht davon ausgehen, dass es keine alternative Maßnahme gab, durch die das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel genauso wirksam bei geringerer Beeinträchtigung der Souveränität oder der finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten verwirklicht werden könnte.

254. Ich teile den Standpunkt der Bundesrepublik Deutschland, wonach der in Art. 80 AEUV für die Politik der Union im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung ausdrücklich niedergelegte Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten bei der Auslegung des Art. 78 Abs. 3 AEUV eine wesentliche Rolle spielt. Es scheint mir daher im Einklang mit dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 80 AEUV zu stehen, wenn eine vorläufige Maßnahme wie der angefochtene Beschluss die vorgesehenen Lasten rechtsverbindlich unter den Mitgliedstaaten aufteilt.

255. Die Hellenische Republik weist außerdem darauf hin, dass die Notwendigkeit, ein Programm zur rechtsverbindlichen Umsiedlung der internationalen Schutz beantragenden Personen aus Griechenland und Italien anhand von Kontingenten je Mitgliedstaat aufzustellen, ihre Erklärung in den noch nicht dagewesenen Wanderungsbewegungen finde, die in diesen beiden Mitgliedstaaten 2015, vor allem in den Monaten Juli und August, zu beobachten gewesen seien. Die Maßnahmen, die schrittweise bis zum Erlass des angefochtenen Beschlusses getroffen worden seien, hätten sich als unzureichend erwiesen, um die aus der Zulassung und der Bearbeitung von Anträgen so vieler Flüchtlinge für Griechenland und Italien resultierende Belastung substanziell zu reduzieren. Mir liegen keine stichhaltigen Belege vor, die geeignet wären, diesen Befund der Hellenischen Republik zu entkräften.

256. Folglich bin ich in Anbetracht der in den Erwägungsgründen des angefochtenen Beschlusses enthaltenen Zahlenangaben zu der Flüchtlingskrise 2015 und angesichts des Bündels von Maßnahmen, die die Slowakische Republik als Reaktion auf diese Krise vorgeschlagen hat, nicht der Meinung, dass in dem durch den angefochtenen Beschluss eingeführten vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus eine Maßnahme zu sehen wäre, die das für eine wirksame Bewältigung dieser Krise erforderliche Maß offensichtlich übersteigen würde.

257. Was zunächst die Alternativmaßnahme betrifft, die in der Durchführung der Richtlinie 2001/55 bestehen soll, so stellt diese, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a.(71), festgestellt hat, ein Beispiel für die in Art. 80 AEUV vorgesehene Solidarität unter den Mitgliedstaaten dar(72). Wie aus dem 20. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, besteht eines ihrer Ziele darin, einen Solidaritätsmechanismus zu schaffen, um dazu beizutragen, dass die Belastungen, die sich im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Aufnahme dieser Personen und den damit verbundenen Folgen ergeben, auch ausgewogen auf die Mitgliedstaaten verteilt werden.

258. Zwar soll die Anwendung eines solchen Solidaritätsmechanismus ebenso wie die des Mechanismus nach dem angefochtenen Beschluss offenbar außergewöhnlichen Fällen eines Massenzustroms von Vertriebenen vorbehalten sein(73); beide Mechanismen unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Anders als die Richtlinie 2001/55 sieht der durch den angefochtenen Beschluss eingeführte vorübergehende Umsiedlungsmechanismus eine rechtsverbindliche zahlenmäßige Aufteilung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, auf die Mitgliedstaaten vor. In Anbetracht der durch Dringlichkeit gekennzeichneten Umstände, unter denen der angefochtene Beschluss erlassen wurde, und angesichts der Unmöglichkeit, von den Mitgliedstaaten zahlenmäßig festgeschriebene Verpflichtungen hinsichtlich einer Aufteilung der internationalen Schutz beantragenden Personen je Mitgliedstaat zu erhalten, hat der Rat meines Erachtens eine sachgemäße Entscheidung getroffen, als er einer raschen und rechtsverbindlichen Antwort den Vorzug gab, um auf die Flüchtlingskrise zu reagieren, mit der die Union konfrontiert war. Jedenfalls kann eine solche Entscheidung nicht als offensichtlich ungeeignet qualifiziert werden.

259. In diesem Zusammenhang hält die Behauptung – die den Widerstand einiger Mitgliedstaaten gegen den angefochtenen Beschluss auf den Punkt bringt –, das mit diesem Beschluss verfolgte Ziel wäre allein durch freiwillige Selbstverpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Aufnahme einer bestimmten Zahl von Antragstellern durchzusetzen gewesen, einem Faktencheck nicht Stand. Die Entstehungsgeschichte des angefochtenen Beschlusses zeigt nämlich, dass dem Weg über einen obligatorischen Umsiedlungsmechanismus, d. h. auf der Grundlage rechtsverbindlicher Kontingente, gerade deshalb der Vorzug gegeben wurde, weil kein Konsens zwischen allen Mitgliedstaaten über eine freiwillige Aufteilung der internationalen Schutz beantragenden Personen je Mitgliedstaat gefunden wurde. Insoweit bin ich der Meinung, dass den Organen der Union, denen so oft ihre Ohnmacht und Untätigkeit vorgehalten wird, nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, dass sie sich dafür entschieden haben, den Mitgliedstaaten Quoten umzusiedelnder Antragsteller vorzuschreiben, anstatt das Projekt eines Umsiedlungsmechanismus ganz aufzugeben.

260. Daraus schließe ich, dass der Erlass des angefochtenen Beschlusses anstelle einer Umsetzung der Richtlinie 2001/55 eine politische Entscheidung der drei Organe darstellt, die an dem Verfahren zum Erlass dieses Beschlusses beteiligt waren, und dass die Slowakische Republik nach meiner Meinung mit keinem ihrer Argumente die offensichtliche Fehlerhaftigkeit dieser Entscheidung unter dem Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dartun kann.

261. Was sodann das Argument anbelangt, der Erlass des angefochtenen Beschlusses sei nicht erforderlich gewesen, da zuvor der Beschluss 2015/1523 erlassen worden sei, so stelle ich fest, dass die Kommission in ihrem Beschlussvorschlag klar darauf hingewiesen hat, dass seit der im Rat am 20. Juli 2015 erzielten inhaltlichen Einigung über die Umsiedlung von 40 000 Personen aus Italien und Griechenland, die in den Beschluss 2015/1523 Eingang finden sollte, „sich der Migrationsdruck auf der zentralen und östlichen Mittelmeerroute verstärkt. In den Sommermonaten hat sich der Strom von Migranten und Flüchtlingen mehr als verdoppelt und damit erneut Anlass für eine Notfall-Umsiedlungsregelung gegeben, um die Italienische Republik, die Hellenische Republik und auch Ungarn zu entlasten“(74).

262. Diese Feststellung einer Verschärfung der Migrationslage, die die Einführung eines zusätzlichen Umsiedlungsmechanismus erforderlich machte, kommt im zwölften Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wie folgt zum Ausdruck: „In den letzten Monaten hat sich der Migrationsdruck an den südlichen Land- und Seeaußengrenzen erneut drastisch erhöht, und die Migrationsströme haben sich infolge der zunehmenden Zahl von Migranten, die in und aus Griechenland ankommen, weiter vom zentralen zum östlichen Mittelmeerraum und zur Westbalkanroute verlagert. In Anbetracht der Lage sind weitere vorläufige Maßnahmen zur Entlastung der Asylsysteme der Italienischen Republik und der Hellenischen Republik angezeigt.“ Dieser Befund wird mit den Zahlenangaben im 13. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses untermauert.

263. Während der durch den Beschluss 2015/1523 eingeführte Mechanismus einer freiwilligen Umsiedlung von 40 000 Personen, wie aus den statistischen Daten in den Erwägungsgründen 10, 11 und 21 dieses Beschlusses hervorgeht, auf den Zustrom von Migranten reagieren soll, der im Jahr 2014 und in den ersten Monaten des Jahres 2015 festgestellt wurde, soll mit dem in dem angefochtenen Beschluss vorgesehenen obligatorischen Umsiedlungsmechanismus, wie sich aus den statistischen Daten in seinen Erwägungsgründen 12, 13 und 26 ergibt, auf den aus dem Zustrom von Migranten in den Monaten Juli und August 2015 resultierenden Druck reagiert werden.

264. Diese Faktoren scheinen mir hinreichend zu belegen, dass dem Rat kein offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen ist, als er annahm, dass infolge des plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Union während der Monate Juli und August 2015 und angesichts der ihm vorliegenden aktuellsten Daten eine zusätzliche vorläufige Maßnahme zur Umsiedlung von 120 000 Personen erforderlich sei.

265. Soweit die Slowakische Republik meint, eine verstärkte Überwachung der Außengrenzen der Union stelle eine Alternative zu dem angefochtenen Beschluss dar, genügt meines Erachtens der Hinweis, dass eine solche gewiss nützliche Überwachungsmaßnahme einen Umsiedlungsmechanismus nicht ersetzen kann, dessen Hauptzweck darin besteht, einen Zustrom von Drittstaatsangehörigen zu bewältigen, der bereits stattgefunden hat. Diese verstärkte Überwachung der Außengrenzen der Union ist nach meiner Meinung daher als solche nicht geeignet, das italienische und das griechische Asylsystem von dem Druck zu entlasten, der durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen im Sommer 2015 entstanden war. In dieser Überwachungsmaßnahme ist daher eine Ergänzung und kein Ersatz der in dem angefochtenen Beschluss vorgesehenen Maßnahme zu sehen.

266. Dies gilt auch für die Maßnahme zur finanziellen, materiellen, technischen und personellen Unterstützung des italienischen und des griechischen Asylsystems.

267. Dazu führt der Rat unwidersprochen aus, die Union habe vom Beginn der Flüchtlingskrise an eine finanzielle Unterstützung in Höhe von 9,2 Milliarden Euro für 2015 und 2016 geleistet. Im Übrigen sieht Art. 10 des angefochtenen Beschlusses eine finanzielle Unterstützung für jede nach diesem Beschluss umgesiedelte Person vor.

268. Außerdem ist in den verschiedenen Sachstandsberichten der Kommission die Rede von Maßnahmen zur operativen Unterstützung durch Agenturen wie das EASO und die Mitgliedstaaten(75). Übrigens erwähnt auch der 15. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses, dass „bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen [wurden], um die Italienische Republik und die Hellenische Republik im Rahmen der Migrations- und Asylpolitik zu unterstützen, unter anderem durch substanzielle Soforthilfe und operative Unterstützung seitens des EASO“.

269. So zweckmäßig diese verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen auch sein mögen, die Organe der Union durften meines Erachtens berechtigterweise annehmen, dass diese Maßnahmen, ohne dass ihre Zweckmäßigkeit dadurch in Frage gestellt würde, gleichwohl nicht ausreichten, um auf die Notlage zu reagieren, in der sich die Italienische Republik und die Hellenische Republik ab dem Sommer 2015 befanden(76).

270. Soweit die Slowakische Republik schließlich die durch den angefochtenen Beschluss den Mitgliedstaaten auferlegten übermäßigen administrativen und finanziellen Lasten anführt, bringt sie keinen Beleg dafür bei, dass die von ihr vorgeschlagenen Alternativmaßnahmen geringere Kosten verursachen würden als ein vorübergehender Umsiedlungsmechanismus.

271. Infolgedessen sind die Argumente, mit denen die Slowakische Republik die Notwendigkeit des angefochtenen Beschlusses bestreitet, meines Erachtens allesamt zurückzuweisen.

272. Wenden wir uns nun den Argumenten zu, mit denen Ungarn die Notwendigkeit des angefochtenen Beschlusses bestreitet.

2)      Die von Ungarn vorgetragenen Argumente

273. Ungarn macht mit Unterstützung der Polnischen Republik erstens geltend, anders als es in dem Beschlussvorschlag der Kommission vorgesehen gewesen sei, gehöre Ungarn nicht mehr zu den durch den Umsiedlungsmechanismus begünstigten Mitgliedstaaten; daher sei es nicht gerechtfertigt, in dem angefochtenen Beschluss die Umsiedlung von 120 000 Antragstellern vorzusehen, weshalb dieser Beschluss gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. In der Tat gehe die Festsetzung dieser Gesamtzahl von 120 000 Antragstellern über das zur Erreichung des mit dem angefochtenen Beschluss verfolgten Ziels erforderliche Maß hinaus, da diese Zahl die 54 000 Antragsteller einschließe, die nach dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag aus Ungarn hätten umgesiedelt werden sollen. Es gebe keine Erklärung dafür, warum eine so hohe Gesamtzahl von Antragstellern, die auf der Grundlage eines Umsiedlungsmechanismus festgesetzt worden sei, der drei Mitgliedstaaten begünstigt habe, immer noch notwendig sein sollte, obwohl die Zahl der begünstigten Mitgliedstaaten von drei auf zwei verringert worden sei.

274. Ungarn trägt weiter vor, die Verteilung der 54 000 Antragsteller, die ursprünglich aus Ungarn hätten umgesiedelt werden sollen, sei hypothetisch und ungewiss geworden, da nach dem angefochtenen Beschluss darüber in einem endgültigen Beschluss unter Berücksichtigung der späteren Entwicklungen entschieden werden solle.

275. Dazu ist zu bemerken, dass der Rat, wie aus dem 26. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hervorgeht, unter Berücksichtigung der Gesamtzahl der Drittstaatsangehörigen, die 2015 irregulär nach Italien und Griechenland gelangten, sowie der Zahl der Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten, der Auffassung war, dass trotz der Entscheidung Ungarns, nicht zu den durch den vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus begünstigten Mitgliedstaaten zu gehören, insgesamt 120 000 Antragsteller, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten, aus Italien und Griechenland umgesiedelt werden sollten.

276. In demselben Erwägungsgrund heißt es, diese Zahl entspreche „etwa 43 % aller Drittstaatsangehörigen, die im Juli und August 2015 irregulär nach Italien und Griechenland gelangt sind und unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten“. In der mündlichen Verhandlung hat der Rat klargestellt, dass dieser Prozentsatz auf einem technischen Fehler beruhe und durch die Angabe von 78 % zu ersetzen sei.

277. Bei der Festsetzung einer solchen Zahl musste der Rat zwei Erfordernisse miteinander in Einklang bringen: Zum einen musste diese Zahl hoch genug sein, damit tatsächlich eine Entlastung des italienischen und des griechischen Asylsystems erreicht wurde; zum anderen durfte diese Zahl nicht so hoch angesetzt werden, dass die Umsiedlungsmitgliedstaaten überlastet würden.

278. Ich kann der Argumentation Ungarns nichts entnehmen, was geeignet wäre darzulegen, dass der Rat mit seinem Handeln den ihm zuzugestehenden Beurteilungsspielraum offensichtlich überschritten hätte. Ich bin im Gegenteil der Meinung, dass der Rat – in Anbetracht der ihm beim Erlass des angefochtenen Beschlusses vorliegenden Daten zur Zahl der irregulären Einwanderungen und da seinerzeit fundierte Gründe dafürsprachen, dass die Flüchtlingskrise den Zeitpunkt, als dieser Beschluss erlassen wurde, überdauern würde – die Zahl der umzusiedelnden Antragsteller auf ein vernünftiges Niveau festgesetzt hat. Wie bereits oben erwähnt, kann die Tatsache, dass diese Zahl heute bei Weitem nicht erreicht wird, diese Wertung nicht entkräften.

279. Was die 54 000 Antragsteller betrifft, die ursprünglich aus Ungarn umgesiedelt werden sollten, so sieht Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses vor, dass sie „im Verhältnis zu den Zahlen in den Anhängen I und II entweder gemäß Absatz 2 des vorliegenden Artikels oder durch eine in Artikel 1 Absatz 2 und Absatz 3 des vorliegenden Artikels genannte Änderung dieses Beschlusses in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt“ werden.

280. Dazu führt die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen aus, nach der Weigerung dieses Mitgliedstaats, zu den durch die Umsiedlungsmaßnahme begünstigten Mitgliedstaaten zu gehören, sei entschieden worden, in Art. 4 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses vorzusehen, dass diese 54 000 Antragsteller ab dem 26. September 2016 mangels Alternative aus Italien und Griechenland in die anderen Mitgliedstaaten umgesiedelt werden sollten, und in Art. 4 Abs. 3 des angefochtenen Beschlusses eine flexible Bestimmung einzufügen, die eine Anpassung des Umsiedlungsmechanismus für diese 54 000 Personen ermöglichen sollte, wenn die Entwicklung der Situation vor Ort dies rechtfertigte oder wenn sich ein anderer Mitgliedstaat infolge einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen in einer durch den plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen verursachten Notlage befände.

281. Indem der Rat somit eine Reserve entsprechend der Zahl von 54 000 Antragstellern vorgesehen hat, die unter den in dem angefochtenen Beschluss genau festgelegten Bedingungen umgesiedelt werden sollen, hat er meines Erachtens nicht nur nicht unverhältnismäßig gehandelt, sondern voll und ganz berücksichtigt, dass der vorübergehende Umsiedlungsmechanismus an die Entwicklung der Situation angepasst werden muss.

282. In einem solchen Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits hervorgehoben, dass die Organe der Union für eine Anpassung ihrer Regelung an die neuen Gegebenheiten sorgen müssen(77). Dieses Erfordernis, seine Rechtsnorm im Bedarfsfall anzupassen, hat der Rat genau in dem angefochtenen Beschluss, speziell in dessen Art. 1 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 3, vorgesehen.

283. Dadurch, dass der Rat eine Reserve von 54 000 Antragstellern vorgesehen hat, die je nach den Umständen in der einen oder anderen Form verwendet werden kann, hat er schon zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses diesem Anpassungsgebot Rechnung getragen, und zwar angesichts der unsicheren Entwicklung der Migrationsströme auf eine besonders zweckdienliche Weise. Wie der Rat zu Recht erklärt, ist eine solche flexible Lösung wegen der ausgeprägten Dynamik der Migrationsströme gerechtfertigt; sie macht es möglich, den angefochtenen Beschluss im Interesse der Solidarität und der Effizienz sowie aus Gründen der Verhältnismäßigkeit inhaltlich an die jeweiligen Umstände anzupassen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass der Rat durch dieses Handeln das Maß überschritten hätte, das zur Erreichung des mit dem angefochtenen Beschluss verfolgten Ziels erforderlich ist.

284. Zuletzt sei erwähnt, dass die Reserve von 54 000 Antragstellern im Einklang mit ebendiesem Anpassungsgebot schließlich in die zwischen der Union und der Türkei am 18. März 2016 vereinbarte Neuansiedlungsregelung übernommen wurde(78).

285. Ungarn trägt zweitens hilfsweise vor, falls der Gerichtshof keinem seiner Nichtigkeitsgründe stattgeben sollte, sei der angefochtene Beschluss dennoch rechtswidrig, soweit speziell Ungarn betroffen sei, da er Art. 78 Abs. 3 AEUV und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich dieses Mitgliedstaats missachte.

286. Aus dem Vorbringen Ungarns zur Begründung dieses zehnten Klagegrundes geht hervor, dass dem Rat vorgeworfen wird, in dem angefochtenen Beschluss Ungarn zu den Umsiedlungsmitgliedstaaten gezählt zu haben, obwohl Ungarn in der Zeit vor wie auch bei Erlass dieses Beschlusses unbestreitbar einem besonders starken Migrationsdruck ausgesetzt gewesen sei. Unter diesen Umständen erlege der angefochtene Beschluss Ungarn dadurch eine unverhältnismäßig hohe Last auf, dass er zu seinen Lasten eine obligatorische Umsiedlungsquote genau wie für die anderen Mitgliedstaaten festsetze.

287. Wenn es das Ziel des Art. 78 Abs. 3 AEUV sei, diejenigen Mitgliedstaaten zu unterstützen, die sich wegen des Migrationsdrucks in einer Notlage befänden, dann sei es mit diesem Ziel unvereinbar, einem Mitgliedstaat, der sich effektiv in einer solchen Lage befinde, eine zusätzliche Last aufzubürden.

288. Ungarn beanstandet im Grunde genommen, dass seine Weigerung, zu den durch den vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus begünstigten Mitgliedstaaten zu gehören, automatisch dazu geführt habe, dass Ungarn zu den durch den angefochtenen Beschluss belasteten Mitgliedstaaten, d. h. zu den Umsiedlungsmitgliedstaaten, gezählt worden sei.

289. Ungarn erläutert seine Weigerung, zu den Mitgliedstaaten zu gehören, die durch den mit dem angefochtenen Beschluss eingeführten vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus begünstigt würden, wie folgt. Zunächst weist Ungarn den Gedanken zurück, als „an den Außengrenzen befindlicher Mitgliedstaat“ qualifiziert zu werden. Die Italienische Republik und die Hellenische Republik seien insoweit die Mitgliedstaaten, die aufgrund ihrer geografischen Lage für die internationalen Schutz beantragenden Personen den Ort des ersten Eintritts in die Europäische Union darstellten, im Gegensatz zu Ungarn, dessen Hoheitsgebiet solche Antragsteller unter Berücksichtigung der Migrationsrouten und der geografischen Gegebenheiten nur über Griechenland erreichen könnten. Durch eine Qualifizierung Ungarns als „an den Außengrenzen befindlicher Mitgliedstaat“ wäre diese Realität kaschiert sowie suggeriert worden, dass Ungarn als der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat angesehen werden könne, was nicht akzeptabel gewesen wäre. Sodann erklärt Ungarn, es habe einer auf Quoten gestützten Umsiedlung der Antragsteller widersprochen, weil es sich dabei nach seiner Meinung um ein Instrument handle, mittels dessen die Flüchtlingskrise nicht adäquat bewältigt werden könne; dies gelte vor allem für die obligatorischen Quoten je Mitgliedstaat, die im Widerspruch zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015 ständen. Ungarn habe auch nicht dem Gedanken einer Umsiedlung von Antragstellern aus seinem Hoheitsgebiet zustimmen können, weil dies mit der von ihm eingenommenen Grundsatzposition unvereinbar gewesen wäre. All dies könne jedoch nicht dahin gehend verstanden werden, dass Ungarn nicht selbst mit den Folgen der Flüchtlingskrise konfrontiert gewesen wäre und sich nicht selbst in einer Notlage befunden hätte.

290. Indem Ungarn darauf verzichtet habe, internationalen Schutz beantragende Personen aus seinem Hoheitsgebiet umzusiedeln, habe es „seinen Teil der gemeinsamen Last“ getragen. Ungarn verstoße deshalb nicht gegen den Grundsatz der Solidarität. Ungarn gehöre weiterhin zu den Mitgliedstaaten, die die Italienische Republik und die Hellenische Republik unterstützten, selbst wenn es dies wegen seiner eigenen Situation, d. h. des Umstands, dass es sich selbst in einer Notlage befinde, auf andere Art tue als die übrigen Mitgliedstaaten.

291. Aus der Klageschrift, der Erwiderung und der Stellungnahme Ungarns zu den Streithilfeschriftsätzen ergibt sich, dass dieser hilfsweise vorgebrachte zehnte Klagegrund den ebenfalls hilfsweise gestellten Antrag Ungarns stützt, „den Ungarn betreffenden Teil“ des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären.

292. Meines Erachtens soll mit diesem Antrag erreicht werden, dass der angefochtene Beschluss teilweise für nichtig erklärt wird. Ungarn will so den Kreis der Umsiedlungsmitgliedstaaten verlassen, indem es beantragt, die Bestimmung des angefochtenen Beschlusses für nichtig zu erklären, die die Zahl der nach Ungarn umzusiedelnden Flüchtlinge festlegt.

293. Einen solchen Antrag halte ich für unzulässig.

294. Nach ständiger Rechtsprechung ist die teilweise Nichtigerklärung eines Unionsrechtsakts nämlich nur möglich, soweit sich die Teile, deren Nichtigerklärung beantragt wird, vom Rest des Rechtsakts trennen lassen(79). Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass dieses Erfordernis der Abtrennbarkeit nicht erfüllt ist, wenn die teilweise Nichtigerklärung eines Rechtsakts zur Folge hätte, dass der Wesensgehalt dieses Aktes verändert würde(80).

295. Der von Ungarn gestellte Hilfsantrag auf teilweise Nichtigerklärung zielt eigentlich auf zwei Zahlen ab, die speziell diesen Mitgliedstaat betreffen und die sich in den Anhängen des angefochtenen Beschlusses finden. Ein Wegfall dieser Zahlen hätte jedoch die Annullierung dieser Anhänge insgesamt zur Folge: Man müsste die Zahlen für die übrigen Mitgliedstaaten neu berechnen, um die Gesamtzahl von 120 000 Umsiedlungen beibehalten zu können. Damit würde ein wesentliches Element des angefochtenen Beschlusses angetastet: die rechtsverbindliche Festsetzung der Kontingente je Mitgliedstaat, durch die der in Art. 80 AEUV niedergelegte Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten eine konkrete Bedeutung erhält.

296. Wie sich ferner aus den Erwägungsgründen 2, 16, 26 und 30 des angefochtenen Beschlusses ergibt, in denen dieser Grundsatz bekräftigt wird, stellt der Gedanke, die in Italien und Griechenland eingetroffenen internationalen Schutz beantragenden Personen auf alle anderen Mitgliedstaaten aufzuteilen, ein grundlegendes Element des angefochtenen Beschlusses dar. Eine Begrenzung des territorialen Anwendungsbereichs des angefochtenen Beschlusses als Folge von dessen teilweiser Nichtigerklärung würde somit dessen Kernbereich beeinträchtigen. Daraus schließe ich, dass sich der Teil, dessen Nichtigerklärung Ungarn beantragt, von dem angefochtenen Beschluss nicht abtrennen lässt, da sein Wegfall objektiv den Wesensgehalt dieses Beschlusses verändern würde.

297. Folglich sind die beanstandeten Bestimmungen, die den Ungarn zugewiesenen Kontingenten an Antragstellern aus Italien und aus Griechenland entsprechen und die sich in den Anhängen I und II des angefochtenen Beschlusses finden, untrennbar mit den übrigen Teilen dieses Beschlusses verbunden. Der von Ungarn gestellte Antrag auf teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses und der darauf bezogene zehnte Klagegrund sind mithin nach meinem Dafürhalten als unzulässig ab- bzw. zurückzuweisen.

298. Sollte der zehnte Klagegrund Ungarns dahin zu verstehen sein, dass er allgemein auf die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses insgesamt mit der Begründung abzielt, die Missachtung der besonderen Lage dieses Mitgliedstaats verstoße als solche gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, was diesen Beschluss insgesamt rechtswidrig mache, so wäre ein solcher Klagegrund meines Erachtens jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen.

299. Im Einzelnen bin ich der Meinung: Selbst wenn sich Ungarn beim Erlass des angefochtenen Beschlusses, wie behauptet, tatsächlich in einer durch einen konstanten Migrationsdruck verursachten Notlage befunden hätte(81), folgt daraus meines Erachtens nicht, dass die Zuweisungen von aus Italien und Griechenland umzusiedelnden Antragstellern an Ungarn dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widerspräche.

300. In der Tat ist zunächst daran zu erinnern, dass der Rückzug Ungarns aus dem Kreis der durch den vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus begünstigten Mitgliedstaaten ausschließlich auf die von diesem Mitgliedstaat manifestierte Weigerung zurückzuführen ist. Auf welchen Gründen diese Weigerung auch immer beruhen mochte, die Organe der Union hatten keine andere Wahl, als diese zur Kenntnis zu nehmen.

301. Wie das Großherzogtum Luxemburg im Kern hervorhebt: Da Ungarn ausdrücklich darum gebeten hatte, nicht zu den Mitgliedstaaten zu gehören, die durch den vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus begünstigt wurden, war im Einklang mit dem Grundsatz der Solidarität davon auszugehen, dass Ungarn zu den Umsiedlungsmitgliedstaaten gehören würde.

302. Sodann ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass nicht allein deshalb, weil ein Rechtsakt der Union einen Mitgliedstaat mehr beeinträchtigen kann als andere, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen wird, sofern die vom Gerichtshof für die Beachtung dieses Grundsatzes aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind(82).

303. Dazu möchte ich bemerken, dass der angefochtene Beschluss Auswirkungen in allen Mitgliedstaaten hat und die Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den verschiedenen betroffenen Interessen unter Berücksichtigung des mit ihm verfolgten Ziels voraussetzt. Dass bei dem Versuch, ein solches Gleichgewicht herzustellen, nicht die besondere Situation eines einzelnen Mitgliedstaats, sondern die Situation aller Mitgliedstaaten der Union berücksichtigt wird, kann deshalb keinen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begründen(83). Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung des in Art. 80 AEUV niedergelegten Grundsatzes der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, dem zufolge die Belastungen, die mit den zugunsten eines oder mehrerer in einer migrationsbedingten Notlage befindlicher Mitgliedstaaten aufgrund von Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassenen vorläufigen Maßnahmen verbunden sind, unter allen übrigen Mitgliedstaaten aufgeteilt werden müssen.

304. Im Übrigen ist der angefochtene Beschluss differenzierter, als Ungarn ihn darstellen möchte. Dieser Beschluss lässt sich nicht auf ein binäres Schema reduzieren, in dem die durch den vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus begünstigten Mitgliedstaaten auf der einen Seite den Mitgliedstaaten, denen Kontingente an umzusiedelnden Personen zugeteilt werden, auf der anderen Seite gegenüberstehen.

305. Der angefochtene Beschluss enthält nämlich Abstimmungsmechanismen, die es ermöglichen, ihn an die Entwicklung der Wanderungsbewegungen anzupassen und so der durch einen variablen Migrationsdruck gekennzeichneten besonderen Situation Rechnung zu tragen, mit der gewisse Mitgliedstaaten konfrontiert werden könnten.

306. So kann die Kommission nach Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 des angefochtenen Beschlusses, wenn sie der Ansicht ist, dass eine Anpassung der Umsiedlungsregelung durch die Entwicklung der Situation vor Ort gerechtfertigt ist oder dass sich ein Mitgliedstaat infolge einer deutlichen Verlagerung von Wanderungsbewegungen in einer Notlage befindet, die von einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen geprägt ist, dem Rat entsprechende Vorschläge unterbreiten. Ebenso kann ein Mitgliedstaat nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 des angefochtenen Beschlusses dem Rat und der Kommission unter Angabe berechtigter Gründe mitteilen, dass er sich in einer ähnlichen Notlage befindet, woraufhin die Kommission die Begründung prüft und dem Rat gegebenenfalls Vorschläge gemäß Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses unterbreitet.

307. Außerdem kann nach Art. 4 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses die Umsiedlung von Antragstellern für solche Mitgliedstaaten zeitweilig ausgesetzt werden, die dem Rat und der Kommission eine Mitteilung in diesem Sinne machen.

308. Im Übrigen verweist Art. 9 dieses Beschlusses darauf, dass der Rat vorläufige Maßnahmen gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV erlassen kann, sofern dessen Voraussetzungen erfüllt sind, wobei derartige Maßnahmen gegebenenfalls eine Aussetzung der Beteiligung des einem plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen ausgesetzten Mitgliedstaats an der in dem angefochtenen Beschluss vorgesehenen Umsiedlung umfassen können.

309. Ich weise darauf hin, dass die Republik Österreich und das Königreich Schweden diese Anpassungsmechanismen für sich in Anspruch genommen haben(84).

310. Ungarn hingegen hat sich auf keinen einzigen dieser Mechanismen berufen, was offenbar im Widerspruch zu seiner These steht, Ungarn sei kein vollwertiger Umsiedlungsmitgliedstaat.

311. Die Existenz von Anpassungsmechanismen in dem angefochtenen Beschluss zeigt auf, dass entgegen den Andeutungen Ungarns die Situation nicht binär ist. Indem der Rat solche Mechanismen vorgesehen hat, die der Republik Österreich und dem Königreich Schweden zugutegekommen sind, ist es ihm gelungen, einen Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Solidarität und der Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse herzustellen, die bestimmte Mitgliedstaaten je nach der Entwicklung der Wanderungsbewegungen geltend machen können. Ein solcher Ausgleich scheint mir übrigens in vollem Einklang mit Art. 80 AEUV zu stehen, der, wie eine aufmerksame Lektüre zeigt, eine „gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“(85) vorsieht.

312. Die Existenz derartiger Anpassungsmechanismen in dem angefochtenen Beschluss kann also nur meine Feststellung bekräftigen, wonach dieser Beschluss dadurch, dass Ungarn Kontingente an umzusiedelnden Antragstellern aus Italien und Griechenland zugewiesen wurden, nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat.

313. Zudem ist es unbestritten, dass die in den Anhängen des angefochtenen Beschlusses angeführten Kontingente auf der Grundlage eines Verteilungsschlüssels festgesetzt wurden, der im 25. Erwägungsgrund des Beschlussvorschlags der Kommission näher erläutert ist. Um eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten zu gewährleisten, berücksichtigt dieser Verteilungsschlüssel die Bevölkerungszahl, das Gesamt-Bruttoinlandsprodukt, die durchschnittliche Zahl der Asylanträge je 1 Million Einwohner im Zeitraum 2010 bis 2014 und die Arbeitslosenquote. Auf dieser Basis trägt der Verteilungsschlüssel somit zur Verhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses bei.

314. Infolgedessen sind die Argumente, mit denen Ungarn die Notwendigkeit des angefochtenen Beschlusses bestreitet, meines Erachtens allesamt zurückzuweisen.

315. Abschließend müssen wir noch auf das Argument eingehen, mit dem die Republik Polen behauptet, der angefochtene Beschluss sei deshalb unverhältnismäßig, weil er unter Verstoß gegen Art. 72 AEUV die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berühre. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssten die durch die Handlungen der Unionsorgane bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den mit diesen Handlungen angestrebten Zielen stehen(86). Der angefochtene Beschluss sehe jedoch keine hinreichenden Mechanismen vor, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen würden, zu kontrollieren, dass die Antragsteller keine Gefahr für die Sicherheit darstellten.

316. Ich meine hingegen, dass der angefochtene Beschluss mit der Einführung eines geordneten und gesteuerten Umsiedlungsmechanismus für Personen, die internationalen Schutz beantragen, voll und ganz dem Erfordernis, die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung der Mitgliedstaaten zu schützen, Rechnung trägt. So beherrscht dieses Erfordernis die „enge administrative Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten“(87), die bei der Umsetzung des angefochtenen Beschlusses zum Tragen kommen muss. Dazu heißt es im 32. Erwägungsgrund dieses Beschlusses: „Der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung sollte während des gesamten Umsiedlungsverfahrens bis zum Abschluss der Überstellung des Antragstellers Rechnung getragen werden. Unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte des Antragstellers … sollte ein Mitgliedstaat die anderen Mitgliedstaaten unterrichten, wenn er berechtigte Gründe zu der Annahme hat, dass ein Antragsteller eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt.“ In der Beschreibung des Umsiedlungsverfahrens gemäß Art. 5 des angefochtenen Beschlusses kommt folgerichtig das Bestreben der Unionsorgane zum Ausdruck, dem Erfordernis, die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung der Mitgliedstaaten zu schützen, Rechnung zu tragen. So ist in diesem Artikel nicht nur ausdrücklich vorgesehen, dass die Personen, die internationalen Schutz beantragen, im Rahmen des Umsiedlungsverfahrens identifiziert, registriert und der Abnahme von Fingerabdrücken unterzogen werden müssen, sondern Art. 5 Abs. 7 des angefochtenen Beschlusses bestimmt: „Die Mitgliedstaaten behalten nur dann das Recht, die Umsiedlung eines Antragstellers abzulehnen, wenn berechtigte Gründe dafür vorliegen, dass der Antragsteller als Gefahr für ihre nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung betrachtet wird oder wenn schwerwiegende Gründe für die Anwendung der Ausnahmen gemäß den Artikeln 12 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU[(88)] vorliegen.“

317. Deshalb greift nach meiner Meinung dieses Argument nicht durch, das die Polnische Republik zur Stützung der Klagegründe vorgebracht hat, mit denen die Unverhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses gerügt wird.

318. Folglich sind, da es weder Ungarn noch der Slowakischen noch der Polnischen Republik gelungen ist darzulegen, dass der angefochtene Beschluss im Hinblick auf die mit ihm verfolgten Ziele unverhältnismäßig wäre, die entsprechenden Klagegründe als unbegründet zurückzuweisen.

2.      Zum achten Klagegrund Ungarns, mit dem ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit sowie gegen das Genfer Abkommen geltend gemacht wird

319. Ungarn trägt erstens vor, der angefochtene Beschluss missachte die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit, weil in mehreren Punkten unklar sei, wie die Bestimmungen dieses Beschlusses anzuwenden seien bzw. in welchem Verhältnis sie zu den Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung ständen.

320. So werde im 35. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zwar die Frage der Verfahrens- und Garantievorschriften in Bezug auf die Umsiedlungsentscheidungen angesprochen, keine seiner Rechtsvorschriften treffe jedoch insoweit eine Regelung oder nehme Bezug auf die einschlägigen Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung. Dies werfe vor allem eine Frage hinsichtlich der Rechtsbehelfe von Antragstellern auf, insbesondere von solchen, die nicht für eine Umsiedlung vorgeschlagen würden.

321. Der angefochtene Beschluss lege auch nicht eindeutig die Auswahlkriterien für die Umsiedlung der Antragsteller fest. Die Art und Weise, wie die Behörden der begünstigten Mitgliedstaaten über die Überstellung der Antragsteller in einen Umsiedlungsmitgliedstaat zu entscheiden hätten, mache es für Letztere extrem schwer, vorab zu erfahren, ob sie zu den umgesiedelten Personen gehörten und, wenn ja, in welchen Mitgliedstaat sie umgesiedelt würden. Das Fehlen objektiver Kriterien zur Bestimmung der umzusiedelnden Antragsteller verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und mache die Auswahl willkürlich, wodurch die Grundrechte der Antragsteller verletzt würden.

322. Darüber hinaus definiere der angefochtene Beschluss auch nicht angemessen den Status der Antragsteller im Umsiedlungsmitgliedstaat und gewährleiste nicht, dass die Antragsteller in diesem Mitgliedstaat tatsächlich bis zur Entscheidung über ihren Antrag verbleiben könnten. Was die sogenannte Sekundärmigration anbelange, so reiche Art. 6 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses für sich allein nicht aus, um sicherzustellen, dass die mit diesem Beschluss verfolgten Ziele, nämlich die Verteilung der Antragsteller auf die Mitgliedstaaten, erreicht würden, wenn es keine Garantie dafür gebe, dass die Antragsteller effektiv in den Umsiedlungsmitgliedstaaten verblieben.

323. Zweitens werfe der Umstand, dass die Antragsteller gewärtigen müssten, gegebenenfalls in einen Mitgliedstaat umgesiedelt zu werden, mit dem sie nichts Besonderes verbinde, die Frage auf, ob der angefochtene Beschluss insoweit mit dem Genfer Abkommen vereinbar sei.

324. Nach der Auslegung, wie sie in dem vom UNHCR herausgegebenen Handbuch vertreten werde(89), sollte dem Antragsteller nämlich der Aufenthalt in dem Mitgliedstaat gestattet werden, in dem er seinen Antrag eingereicht habe, bis die Behörden dieses Staates über seinen Antrag entschieden hätten.

325. Dieses Recht auf Verbleib in dem genannten Mitgliedstaat sei auch in Art. 9 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes(90) anerkannt.

326. Der angefochtene Beschluss entziehe den Antragstellern jedoch ihr Recht auf Verbleib in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Antrag gestellt hätten, und ermögliche ihre Umsiedlung in einen anderen Mitgliedstaat, selbst wenn keine signifikante Verbindung zwischen Antragsteller und Umsiedlungsmitgliedstaat bestehe.

327. Zwar scheine dieses Recht der Antragsteller durch die Dublin-III-Verordnung beeinträchtigt, da diese das Verbringen der Antragsteller aus dem Mitgliedstaat der Antragstellung in den für die Prüfung des Antrags zuständigen Mitgliedstaat vorsehe; dies erfolge aber unter Berücksichtigung der persönlichen Situation der Antragsteller und geschehe letztlich in ihrem Interesse.

328. Ich werde zunächst die Rüge eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Normenklarheit prüfen.

329. Ebenso wie der Rat erinnere ich daran, dass der angefochtene Beschluss eine Dringlichkeitsmaßnahme darstellt, die Teil des Besitzstands im Bereich des gemeinsamen europäischen Asylsystems ist und nur in einigen speziellen Punkten zeitweilig von diesem Besitzstand abweicht. Daher sind bei der Auslegung und Anwendung dieses Beschlusses alle Vorschriften, die diesen Besitzstand ausmachen, zu berücksichtigen, so dass es nicht erforderlich und übrigens auch nicht ratsam war, alle Vorschriften über den Status, die Rechte und die Pflichten der in ihren Aufnahmemitgliedstaat umgesiedelten Personen in diesem Beschluss zu erwähnen. Insoweit scheint mir der Rat vor allem in den Erwägungsgründen 23, 24, 35, 36 und 40 des angefochtenen Beschlusses hinreichend erläutert zu haben, in welchem Verhältnis dieser Beschluss zu den Bestimmungen in Gesetzgebungsakten steht, die die Union in diesem Bereich erlassen hat.

330. Was vor allem das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betrifft, so ergibt sich aus den Erwägungsgründen 23 und 35 des angefochtenen Beschlusses eindeutig, dass, sofern dieser Beschluss keine vorübergehende Ausnahme vorsieht, die in der Dublin-III-Verordnung festgeschriebenen Rechts- und Verfahrensgarantien auch für die unter den Beschluss fallenden Antragsteller gelten. So verhält es sich mit dem in Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Recht auf ein wirksames Rechtsmittel. Auf jeden Fall ist bei der Anwendung des angefochtenen Beschlusses Art. 47 der Charta zu beachten.

331. Zu der nach wie vor unter dem Aspekt des Grundsatzes der Rechtssicherheit vorgebrachten Rüge, der angefochtene Beschluss enthalte keine Vorschriften, durch die wirksam sichergestellt werde, dass die Personen, die internationalen Schutz beantragten, bis zur Entscheidung über ihren Antrag im Umsiedlungsmitgliedstaat verbleiben könnten, verweise ich auf Art. 6 Abs. 5 dieses Beschlusses, wonach „Antragsteller oder internationalen Schutz genießende Personen, die in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, der nicht der Umsiedlungsmitgliedstaat ist, einreisen, ohne die Voraussetzungen für den Aufenthalt in diesem anderen Mitgliedstaat zu erfüllen, … unverzüglich zurückkehren [und] … unverzüglich wieder vom Umsiedlungsmitgliedstaat aufgenommen werden [müssen]“. Im Übrigen sind in den Erwägungsgründen 38 bis 41 des angefochtenen Beschlusses hinreichend klar und eindeutig die Maßnahmen aufgeführt, die die Mitgliedstaaten zu treffen haben, um die Sekundärmigration von umgesiedelten Personen zu verhindern.

332. Ich bin sodann der Ansicht, dass Ungarn nicht dargetan hat, inwieweit der durch den angefochtenen Beschluss eingeführte vorübergehende Umsiedlungsmechanismus deshalb gegen das Genfer Abkommen verstoßen sollte, weil er die Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, vorsieht, bevor über deren Antrag entschieden wurde.

333. Zunächst garantiert, wie der Rat bemerkt, weder das Genfer Abkommen noch das Unionsrecht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, ihr Aufnahmeland frei auswählen darf. Insbesondere führt die Dublin-III-Verordnung ein System zur Bestimmung des für die Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats ein, dem die Aufstellung einer Liste objektiver Kriterien zugrunde liegt, wobei keines dieser Kriterien an die Wunschvorstellung des Antragstellers anknüpft. Aus dieser Sicht unterscheidet sich die in dem angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlung nicht wesentlich von dem durch diese Verordnung errichteten System.

334. Weiter teile ich die Auffassung des Rates, dass die in Fn. 89 dieser Schlussanträge erwähnte Passage des UNHCR-Handbuchs, auf die sich Ungarn beruft, als Ausdruck des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zu verstehen ist, wonach eine internationalen Schutz beantragende Personen nicht in ein Drittland ausgewiesen werden darf, solange über ihren Antrag nicht entschieden worden ist. Die im Rahmen einer Umsiedlung vorgenommene Überstellung einer internationalen Schutz beantragenden Person aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat verstößt nicht gegen diesen Grundsatz. Es ist nämlich hervorzuheben, dass durch die Umsiedlung der Zugang zu den Asylverfahren und zu den Aufnahmeeinrichtungen verbessert werden soll, damit gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV den Personen, die internationalen Schutz benötigen, ein angemessener Status angeboten werden kann. Die Union hat den in dem angefochtenen Beschluss vorgesehenen vorübergehenden Umsiedlungsmechanismus gerade deshalb eingeführt, weil es zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses unmöglich war, einen solchen Status denjenigen Personen anzubieten, die ihn in Italien und in Griechenland beantragten.

335. Der angefochtene Beschluss begnügt sich somit nicht damit, – gemäß der traditionellen Formel seines 45. Erwägungsgrundes – im Einklang mit den Grundrechten und den mit der Charta anerkannten Grundsätzen zu stehen. Er spielt darüber hinaus eine aktive Rolle in diesem Bereich. In der Tat wirkt er an der Gewährleistung der durch die Charta, insbesondere durch deren Art. 18, garantierten Grundrechte der Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, dadurch mit, dass er diese Personen in andere Mitgliedstaaten als die Italienische Republik und die Hellenische Republik lenkt, die eher in der Lage sind, ihre Anträge zu bearbeiten.

336. Außerdem ist, wie der Rat feststellt, das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten für die Zwecke des gemeinsamen europäischen Asylsystems einem gemeinsamen Raum gleichzustellen, in dem der Besitzstand der Union im Asylbereich einheitlich angewendet wird. Folglich können Überstellungen aus einem Mitgliedstaat in einen anderen nicht einer Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet der Union gleichgestellt werden.

337. Schließlich wird, wie der Rat ausführt und anders, als Ungarn zu behaupten scheint, die individuelle Lage der durch eine Umsiedlung betroffenen Personen, einschließlich ihrer etwaigen familiären Bindungen, nicht nur bei der Anwendung der Kriterien der Dublin-III-Verordnung, sondern auch nach Art. 6 Abs. 1 und 2 des angefochtenen Beschlusses in Verbindung mit dessen 34. Erwägungsgrund berücksichtigt.

338. So bestimmt Art. 6 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses: „Bei der Durchführung dieses Beschlusses berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Kindeswohl.“ Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 2 dieses Beschlusses verpflichtet, „dafür Sorge [zu tragen], dass Familienangehörige, die unter diesen Beschluss fallen, in das Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats umgesiedelt werden“.

339. Im 34. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses heißt es: „Die Integration von Antragstellern, die eindeutig internationalen Schutz benötigen, in die Aufnahmegesellschaft ist die Grundlage eines ordnungsgemäß funktionierenden gemeinsamen europäischen Asylsystems. Daher sollte“ – worauf derselbe Erwägungsgrund folgerichtig hinweist – „bei der Entscheidung darüber, in welchen Mitgliedstaat die Umsiedlung erfolgen sollte, den speziellen Qualifikationen und Eigenschaften der betreffenden Antragsteller wie ihren Sprachkenntnissen und anderen individuellen Angaben aufgrund von nachgewiesenen familiären, kulturellen oder sozialen Bindungen, die ihre Integration in den Umsiedlungsmitgliedstaat erleichtern könnten, besonders Rechnung getragen werden.“

340. Daraus ergibt sich, dass der achte Klagegrund Ungarns als unbegründet zurückzuweisen ist.

341. Da meines Erachtens keinem der von der Slowakischen Republik und von Ungarn vorgebrachten Klagegründe stattgegeben werden kann, schlage ich dem Gerichtshof vor, die von diesen beiden Mitgliedstaaten erhobenen Klagen abzuweisen.

IV.    Kosten

342. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat beantragt hat, die Slowakische Republik und Ungarn zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und da diese beiden Mitgliedstaaten unterlegen sind, sind ihnen die Kosten aufzuerlegen.

343. Außerdem tragen das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Italienische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Polen, das Königreich Schweden und die Kommission als Streithelfer nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs jeweils ihre eigenen Kosten.

V.      Ergebnis

344. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Die Klagen der Slowakischen Republik und Ungarns werden abgewiesen.

2.      Die Slowakische Republik und Ungarn haben die Kosten zu tragen.

3.      Das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Italienische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Polen, das Königreich Schweden und die Europäische Kommission tragen jeweils ihre eigenen Kosten.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2015, L 248, S. 80, im Folgenden: angefochtener Beschluss.


3      Die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c des angefochtenen Beschlusses vorgesehene verbleibende Quote von 54 000 Antragstellern (bekannt auch als „Reserve“), die in einer zweiten Phase ab dem 26. September 2016 umgesiedelt werden sollen, kommt entweder der Italienischen Republik oder der Hellenischen Republik (mangels Alternative) oder aber einem anderen Mitgliedstaat zugute, der sich in einer Notlage im Sinne von Art. 78 Abs. 3 AEUV befindet; diese Quote wird nach dem Schlüssel gemäß Art. 4 Abs. 2 und 3 des angefochtenen Beschlusses aufgeteilt. Nachdem durch den Beschluss (EU) 2016/1754 des Rates vom 29. September 2016 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/1601 (ABl. 2016, L 268, S. 82) ein Abs. 3a dieses Artikels in den angefochtenen Beschluss eingefügt wurde, unterliegt diese Reserve dem durch die Erklärung EU–Türkei vom 18. März 2016 eingeführten „1:1‑Mechanismus“, wonach die freiwilligen Aufnahmen syrischer Staatsangehöriger aus der Türkei in die Mitgliedstaaten, namentlich in Form von Neuansiedlungen, darauf angerechnet werden können.


4      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-III-Verordnung).


5      Art. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 516/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 zur Einrichtung des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, zur Änderung der Entscheidung 2008/381/EG des Rates und zur Aufhebung der Entscheidungen Nr. 573/2007/EG und Nr. 575/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Entscheidung 2007/435/EG des Rates (ABl. 2014, L 150, S. 168) enthält eine Definition des Begriffs „Neuansiedlung“. Es handelt sich im Wesentlichen um den Prozess, bei dem Drittstaatsangehörige auf Ersuchen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), das aufgrund ihres Bedürfnisses an internationalem Schutz ergangen ist, aus einem Drittstaat in einen Mitgliedstaat überstellt werden, in dem sie sich als Flüchtling, mit subsidiärem Schutzstatus oder mit jedem anderen Status, der nach dem nationalen und dem Unionsrecht dieselben Rechte und Vergünstigungen gewährt, aufhalten dürfen.


6      Beschluss des Rates vom 14. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland (ABl. 2015, L 239, S. 146).


7      Zunächst konnte hinsichtlich der Umverteilung dieser Personen auf die Mitgliedstaaten ein Einvernehmen nur für 32 256 Personen hergestellt werden, da einige Mitgliedstaaten wie Ungarn es ablehnten, eine Verpflichtung einzugehen, und die Slowakische Republik sich nur für 100 Personen verpflichtete (vgl. die Entschließung der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 20. Juli 2015 zur Umsiedlung von 40 000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, aus Italien und aus Griechenland; Anhang B.2 zur Klagebeantwortung des Rates).


8      Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien, Griechenland und Ungarn (COM[2015] 451 final).


9      Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen und zur Änderung der Verordnung Nr. 604/2013 (COM[2015] 450 final).


10      Vgl. Labayle, S., „Les valeurs de l’Union“, öffentlich-rechtliche Dissertation, verteidigt am 12. Dezember 2016, wonach „das im Vertrag von Rom wiederholt beschworene Gebot der Solidarität … einen zentralen Wesenszug des Vertrags darstellt. Aus dem Vertrag geht deutlich hervor, dass dieses Gebot zu den maßgeblichen Leitlinien des europäischen Einigungswerkes gehört und sich bereits 1957 sowohl an die Mitgliedstaaten als auch an die Einzelnen richtet“ (Nr. 282, S. 117 und 118).


11      A. a. O., Nr. 431, S. 165.


12      Im Folgenden: Charta.


13      Vgl. Favreau, B., „La Charte des droits fondamentaux: pourquoi et comment?“, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne après le traité de Lisbonne, Bruylant, Brüssel, 2010, S. 3 bis 38 (13). Vgl. auch Bieber, R., und Maiani, F., „Sans solidarité point d’Union européenne, Regards croisés sur les crises de l’Union économique et monétaire et du Système européen commun d’asile“, Revue trimestrielle de droit européen, Dalloz, Paris, 2012, S. 295. Nach dem Hinweis darauf, dass der Begriff der „Solidarität“ nirgendwo in den Verträgen definiert ist, weisen diese Autoren darauf hin, dass „die Verträge ihr je nach dem Kontext eine unterschiedliche Tragweite beimessen – bisweilen Zielsetzung oder Parameter für die Tätigkeit der Union, bisweilen grundlegender Wert, bisweilen Kriterium der Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten bei ihrem Beitritt eingegangen sind. Der gemeinsame Nenner, der die verschiedenen Ausprägungen der Solidarität im Rahmen der Union verbindet, besteht darin, dass die Existenz eines ‚gemeinsamen Interesses‘ anerkannt wird, das sich von der Summe der Einzelinteressen unterscheidet und das davon auch isoliert werden kann“. Wegen einer Sammlung von Beiträgen zum Grundsatz der Solidarität vgl. schließlich Boutayeb, C., La solidarité dans l’Union européenne – Éléments constitutionnels et matériels, Dalloz, Paris, 2011.


14      Vgl. dazu insbesondere „Searching for Solidarity in EU Asylum and Border Policies, a collection of short papers following the Odysseus Network’s First Annual Policy Conference“, 26.-27. Februar 2016, Freie Universität Brüssel. Vgl. auch Küçük, E., „The principle of solidarity and fairness in sharing responsibility: more than window dressing?“, European Law Journal, Sweet and Maxwell, London, 2016, S. 448 bis 469, sowie Bast, J., „Deepening supranational integration: interstate solidarity in EU migration law“, European Public Law, Nr. 22, Heft 2, Wolters Kluwer Law and Business, Alphen aan den Rijn, 2016, S. 289 bis 304.


15      Auf internationaler Ebene ist die Solidarität auch für die Asylpolitik von grundlegender Bedeutung. So heißt es in dem vierten Erwägungsgrund der Präambel zu dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Abkommen), „dass sich aus der Gewährung des Asylrechts nicht zumutbare schwere Belastungen für einzelne Länder ergeben können und dass eine befriedigende Lösung des Problems, dessen internationalen Umfang und Charakter die Organisation der Vereinten Nationen anerkannt hat, ohne internationale Zusammenarbeit unter diesen Umständen nicht erreicht werden kann“.


16      An dieser Stelle möchte ich nur bemerken, dass nach den Angaben des Rates in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vom 10. Mai 2017 bis zum 8. Mai dieses Jahres 18 129 Umsiedlungen aus Italien und Griechenland stattgefunden hatten.


17      Vgl. dazu Labayle, S., a. a. O, wo es u. a. im Zusammenhang mit den Meinungsverschiedenheiten, die zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bewältigung dieser Flüchtlingskrise zutage getreten sind, heißt: Obwohl man „sich vor einer Dramatisierung hüten muss, kann doch die Sorge nicht völlig ignoriert werden, dass das während mehr als einem halben Jahrhundert geduldig errichtete Werk zerfallen könnte. Eine allmähliche Zerstörung der Fundamente bedroht nämlich das gesamte Bauwerk, weshalb in dieser Angelegenheit umso mehr absolute Wachsamkeit geboten ist. Die Missachtung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch ihre eigenen Mitgliedstaaten setzt möglicherweise einen Prozess des Zerfalls von Wesensmerkmalen in Gang, die für ihren Fortbestand und ihre Funktionsfähigkeit aber unentbehrlich sind“ (Nr. 1 182, S. 477). Vgl. auch Chassin, C.‑A., „La crise des migrants: l’Europe à la croisée des chemins“, Revue Europe, Nr. 3, LexisNexis, 2016, S. 15 bis 21 (Nr. 43, S. 21): „Die Flüchtlingskrise ist … eine humanitäre Krise, aber auch eine moralische Krise für die Europäische Union: Über alle kurzfristigen Antworten hinaus unterstreicht sie die Labilität des europäischen Aufbauwerks.“


18      Im Folgenden: Protokoll Nr. 1 bzw. Protokoll Nr. 2.


19      EUCO 22/15.


20      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2015, Parlament/Rat (C‑363/14, EU:C:2015:579, Rn. 17).


21      Ungarn verweist z. B. auf die Gewährung einer finanziellen und technischen Hilfe sowie auf die Entsendung von Fachleuten.


22      C‑104/16 P, EU:C:2016:677.


23      Anders als Ungarn erklärt die Slowakische Republik in ihrer Erwiderung, sie stimme mit dem Rat darin überein, dass der angefochtene Beschluss ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter sei (Rn. 29).


24      Vgl. Ritleng, D., „Les catégories des actes de l’Union – Réflexions à partir de la catégorie de l’acte législatif“, Les catégories juridiques du droit de l’Union européenne, Bruylant, Brüssel, 2016, S. 155 bis 174 (159).


25      Vgl. Ritleng, D., a. a. O. (S. 161): „Der Gesetzgebungsakt ist ein Rechtsakt, an dessen Erlass das Europäische Parlament und der Rat gleichrangig im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens oder auf unterschiedlichen Rangstufen im Rahmen des besonderen Gesetzgebungsverfahrens beteiligt sind. Ein organisationsrechtliches Kriterium prägt somit die neue Gesetzgebungskompetenz des Duos Parlament-Rat“.


26      Vgl. u. a. Art. 86 Abs. 1 AEUV.


27      Vgl. u. a. Art. 77 Abs. 3 AEUV.


28      Vgl. u. a. Art. 223 Abs. 2 AEUV.


29      Vgl. Craig, P., und De Búrca, G., EU Law – Text, Cases and Materials, 6. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2015, S. 114.


30      Vgl. in diesem Sinne insbesondere Lenaerts, K., und Van Nuffel, P., European Union Law, 3. Aufl., Sweet and Maxwell, London, 2011, S. 677, § 16-038.


31      Ich greife hier den von Ritleng, D., a. a. O., S. 170, verwendeten Ausdruck auf.


32      Vgl. Craig, P., und De Búrca, G., a. a. O., S. 114.


33      Vgl. Ritleng, D., a. a. O., S. 174.


34      Vgl. u. a. Urteil vom 19. Juli 2012, Parlament/Rat (C‑130/10, EU:C:2012:472, Rn. 80).


35      Diese Bestimmung ermächtigt das Parlament und den Rat, gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem zu erlassen, die „Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz zuständig ist“, umfassen.


36      Vgl. Verordnungsvorschlag, S. 3.


37      A. a. O.


38      Vgl. Verordnungsvorschlag, S. 4.


39      A. a. O.


40      A. a. O., Hervorhebung nur hier.


41      A. a. O., Hervorhebung nur hier.


42      Vgl. diesen Vorschlag, S. 4.


43      Art. 4 Abs. 5 des angefochtenen Beschlusses sieht in dem fest umrissenen Rahmen des in dieser Bestimmung vorgesehenen Mechanismus einer teilweisen Aussetzung der Umsiedlungsverpflichtungen eine Verlängerungsmöglichkeit für höchstens zwölf Monate vor. Dieser Mechanismus kann jedoch nicht mehr aktiviert werden, und die Verlängerung ist nicht für den einzigen Mitgliedstaat vorgesehen (Republik Österreich), der ihn bis zum 11. März 2017 in Anspruch genommen hat. Der angefochtene Beschluss wird daher am 26. September 2017 endgültig außer Kraft treten.


44      Vgl. diesen Vorschlag, S. 1.


45      Vgl. in diesem Sinne auch den Beschlussvorschlag, in dem die Kommission erklärt (S. 3): „Italien und Griechenland sind wegen ihrer geografischen Lage einem höheren Druck ausgesetzt als die anderen Mitgliedstaaten. Angesichts der Konflikte in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ist in allernächster Zeit weiterhin mit einem enormen Zustrom von Migranten in ihr Hoheitsgebiet zu rechnen. Der infolge dieser externen Faktoren erhöhte Migrationsdruck verschärft die bestehenden strukturellen Defizite des italienischen und griechischen Asylsystems noch zusätzlich und stellt ihre Fähigkeit, mit dieser angespannten Situation in geeigneter Weise umzugehen, in Frage.“


46      Vgl. Art. 4 Abs. 2, 4 und 6 sowie Art. 11 Abs. 2 des angefochtenen Beschlusses.


47      Vgl. Nr. 4 Buchst. b dieser Schlussfolgerungen.


48      A. a. O.


49      Vgl. u. a. Urteil vom 14. April 2015, Rat/Kommission (C‑409/13, EU:C:2015:217, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).


50      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2015, Rat/Kommission (C‑409/13, EU:C:2015:217, Rn. 70). Diese Rechtsprechung muss meines Erachtens auch für Rechtsakte ohne Gesetzescharakter gelten.


51      Vgl. u. a. Urteil vom 10. September 2015, Parlament/Rat (C‑363/14, EU:C:2015:579, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Vgl. u. a. Urteil vom 10. Juni 1997, Parlament/Rat (C‑392/95, EU:C:1997:289, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).


53      Vgl. u. a. Urteil vom 10. Juni 1997, Parlament/Rat (C‑392/95, EU:C:1997:289, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).


54      C‑280/93, EU:C:1994:367.


55      Vgl. Urteil vom 14. April 2015, Rat/Kommission (C‑409/13, EU:C:2015:217, Rn. 71 und 72).


56      Vgl. u. a. Urteil vom 5. Oktober 1994, Deutschland/Rat (C‑280/93, EU:C:1994:367, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


57      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2003, Österreich/Rat (C‑445/00, EU:C:2003:445, Rn. 16 und 17 sowie Rn. 44 bis 47).


58      Verordnung 2009/937/EU des Rates vom 1. Dezember 2009 zur Änderung seiner Geschäftsordnung (ABl. 2009, L 325, S. 35).


59      Es ist darauf hinzuweisen, dass diese vom Rat im Rahmen des vorliegenden Verfahrens abgegebene Erklärung sich mit den Erläuterungen des Rates zu seiner Geschäftsordnung deckt: „Insbesondere ermöglicht Artikel 14 Absatz 2 GO jedem Mitglied des Rates, gegen die Beratung Einspruch zu erheben, wenn der Wortlaut etwaiger Änderungsvorschläge nicht in allen Amtssprachen abgefasst ist“ (vgl. Erläuterungen zur Geschäftsordnung des Rates, S. 53).


60      Vgl. u. a. Urteil vom 25. Oktober 2005, Deutschland und Dänemark/Kommission (C‑465/02 und C‑466/02, EU:C:2005:636, Rn. 37).


61      Vgl. u. a. Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat (C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).


62      Vgl. u. a. Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat (C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a. (C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


63      Durch die „Hotspots“ sollen vor allem die an den Außengrenzen befindlichen Mitgliedstaaten wie die Italienische Republik und die Hellenische Republik bei ihren Kontroll- und Identifizierungsverpflichtungen sowie bei ihrer Pflicht zur Registrierung von Zeugenaussagen der Ankömmlinge und zur Abnahme ihrer Fingerabdrücke unterstützt werden.


64      Vgl. u. a. Urteil vom 17. Mai 2001, IECC/Kommission (C‑449/98 P, EU:C:2001:275, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).


65      Vgl. u. a. Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a. (C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


66      Am 10. April 2017 belief sich die Zahl der Umsiedlungen aus Italien und Griechenland auf 16 340 (vgl. Elfter Fortschrittsbericht der Kommission vom 12. April 2017 zur Umverteilung und Neuansiedlung, COM[2017] 212 final, Anhang 3). Nach den Angaben, die der Rat in der mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2017 vor dem Gerichtshof gemacht hat, belief sich die Zahl der Umsiedlungen aus Italien und Griechenland am 8. Mai 2017 auf 18 129.


67      Vgl. Elfter Fortschrittsbericht der Kommission zur Umverteilung und Neuansiedlung, Anhang 3.


68      Vgl. insbesondere Urteil vom 7. Februar 1973, Kommission/Italien (39/72, EU:C:1973:13), in dem der Gerichtshof entschieden hat: „Der Vertrag erlaubt es den Mitgliedstaaten, die Vorteile der Gemeinschaft für sich zu nutzen, er erlegt ihnen aber auch die Verpflichtung auf, deren Rechtsvorschriften zu beachten. Stört ein Staat aufgrund der Vorstellung, die er sich von seinem nationalen Interesse macht, einseitig das mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten, so stellt dies die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem [Unionsrecht] in Frage und schafft Diskriminierungen für die Einzelnen … Ein solcher Verstoß gegen die Pflicht zur Solidarität, welche die Mitgliedstaaten durch ihren Beitritt zur Gemeinschaft übernommen haben, beeinträchtigt die Rechtsordnung der [Union] bis in ihre Grundfesten“ (Rn. 24 und 25). Vgl. auch Urteil vom 7. Februar 1979, Kommission/Vereinigtes Königreich (128/78, EU:C:1979:32, Rn. 12).


69      ABl. 2001, L 212, S. 12.


70      ABl. 2004, L 349, S. 1.


71      C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865.


72      Rn. 93 dieses Urteils.


73      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 93).


74      Vgl. S. 2 dieses Beschlussvorschlags.


75      Vgl. insbesondere den Elften Fortschrittsbericht der Kommission zur Umverteilung und Neuansiedlung, der mir als letzter bei der Abfassung dieser Schlussanträge vorgelegen hat.


76      In ihrem Beschlussvorschlag ging die Kommission von der Feststellung aus, dass sich die finanziellen und operationellen Maßnahmen, die sie bislang ergriffen habe, um die Asylsysteme in Italien, Griechenland und Ungarn zu stützen, zur Bewältigung der Krisensituation in diesen drei Mitgliedstaaten als unzureichend erwiesen hätten. Sie war deshalb der Auffassung, angesichts der Dringlichkeit und des Ernstes der durch den Zustrom von Drittstaatsangehörigen in diesen Mitgliedstaaten verursachten Lage gehe die Entscheidung zugunsten weiterer EU-Maßnahmen als Reaktion auf dieses Phänomen nicht über das hinaus, was zu einer wirksamen Bewältigung dieser Lage notwendig sei (S. 8/9).


77      Vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 9. Juni 2016, Pesce u. a. (C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


78      Vgl. Beschluss 2016/1754, durch den ein Abs. 3a in Art. 4 des angefochtenen Beschlusses eingefügt wurde.


79      Vgl. u. a. Urteil vom 30. März 2006, Spanien/Rat (C‑36/04, EU:C:2006:209, Rn. 9 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Rn. 12).


80      Vgl. u. a. Urteil vom 30. März 2006, Spanien/Rat (C‑36/04, EU:C:2006:209, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).


81      Der Rat bestreitet, dass sich Ungarn beim Erlass des angefochtenen Beschlusses in einer Notlage befunden habe. Die Situation habe sich im Verlauf des Sommers 2015 infolge der von Ungarn einseitig getroffenen Maßnahmen geändert, insbesondere der am 14. September 2015 abgeschlossenen Errichtung eines Sperrzauns entlang der Grenze zur Republik Serbien und der von Ungarn praktizierten Politik des Transits nach anderen Mitgliedstaaten, insbesondere nach Deutschland. Diese Maßnahmen hätten die Einreise von Flüchtlingen nach Ungarn gestoppt, während Flüchtlinge, die es bis nach Ungarn geschafft hätten, rasch wieder hätten ausreisen müssen. Um seine damalige Notlage zu veranschaulichen, weist Ungarn darauf hin, dass die ungarische Polizei 190 461 illegale Flüchtlinge zwischen dem 15. September und dem 31. Dezember 2015, davon 31 769 zwischen dem 15. und dem 22. September 2015, festgenommen habe. Ungarn habe unter einem „enormen Migrationsdruck“ gestanden, was die folgenden Zahlen belegten: Bis zum 15. September 2015 seien 201 126 illegale Grenzübertritte erfolgt. Diese Zahl habe sich am 31. Dezember 2015 auf 391 384 belaufen. In der zweiten Septemberhälfte habe es an manchen Tagen 10 000 illegale Übertritte der kroatisch-ungarischen Grenze gegeben. Im Lauf des Jahres 2015 seien bei der zuständigen ungarischen Asylbehörde 177 135 Anträge auf internationalen Schutz eingegangen.


82      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat (C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 103).


83      Vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat (C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung).


84      Für das Königreich Schweden verweise ich auf den Beschluss (EU) 2016/946 des Rates vom 9. Juni 2016 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Schweden gemäß Artikel 9 des Beschlusses (EU) 2015/1523 und Artikel 9 des Beschlusses (EU) 2015/1601 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland (ABl. 2016, L 157, S. 23). Nach Art. 2 dieses Beschlusses werden die Verpflichtungen des Königreichs Schwedens als Umsiedlungsmitgliedstaat gemäß dem Beschluss 2015/1523 und dem angefochtenen Beschluss bis zum 16. Juni 2017 ausgesetzt. Für die Republik Österreich verweise ich auf den Durchführungsbeschluss (EU) 2016/408 des Rates vom 10. März 2016 über die zeitweilige Aussetzung der Umsiedlung von 30 % der Antragsteller, die Österreich auf der Grundlage des Beschlusses (EU) 2015/1601 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland zugewiesen wurden (ABl. 2016, L 74, S. 36). Nach Art. 1 dieses Beschlusses wird die Umsiedlung von 1 065 der Österreich auf der Grundlage des angefochtenen Beschlusses zugewiesenen Antragsteller bis zum 11. März 2017 ausgesetzt.


85      Hervorhebung nur hier.


86      Vgl. insbesondere Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat (C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).


87      Vgl. 31. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses.


88      Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9). Die Anerkennung als Flüchtling oder die Gewährung subsidiären Schutzes ist u. a. ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass der Antragsteller ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen, dass er eine schwere Straftat begangen hat oder dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.


89      Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Genf, 1992, Nr. 192 Buchst. vii.


90      ABl. 2013, L 180, S. 60.