Language of document : ECLI:EU:T:2012:493

URTEIL DES GERICHTS (Sechste Kammer)

27. September 2012(*)

„Wettbewerb – Kartelle – Niederländischer Straßenbaubitumenmarkt – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG festgestellt wird – Geldbußen – Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren – Erheblicher Mehrwert – Gleichbehandlung – Verteidigungsrechte“

In der Rechtssache T‑370/06

Kuwait Petroleum Corp. mit Sitz in Shuwaikh (Kuwait),

Kuwait Petroleum International Ltd mit Sitz in Woking (Vereinigtes Königreich),

Kuwait Petroleum (Nederland) BV mit Sitz in Rotterdam (Niederlande),

Prozessbevollmächtigte: D. Hull, Solicitor, und Rechtsanwalt G. Berrisch,

Klägerinnen,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch F. Castillo de la Torre als Bevollmächtigten im Beistand von Rechtsanwalt Gyselen,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung K(2006) 4090 endg. der Kommission vom 13. September 2006 in einem Verfahren gemäß Artikel 81 [EG] (Sache COMP/F/38.456 – Bitumen [Niederlande]), hilfsweise wegen Ermäßigung der mit dieser Entscheidung gegen die Klägerinnen verhängten Geldbuße

erlässt

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. Jaeger sowie der Richter N. Wahl und S. Soldevila Fragoso (Berichterstatter),

Kanzler: N. Rosner, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2011

folgendes

Urteil

 Sachverhalt

1        Die Kuwait Petroleum Corp. (im Folgenden: KPC), die staatliche Erdölgesellschaft von Kuwait und Muttergesellschaft des Konzerns Kuwait Petroleum, vertreibt ihre Produkte in Europa über ihre Tochtergesellschaft Kuwait Petroleum International Ltd (im Folgenden: KPI) mit Sitz in London. Zwei Tochtergesellschaften von KPC sind in den Niederlanden tätig, die Kuwait Petroleum Europoort BV, die für die Bitumenerzeugung der Raffinerie von Rotterdam verantwortlich ist, und die Kuwait Petroleum (Nederland) BV (im Folgenden: KPN), die für den Vertrieb von Bitumen in den Niederlanden zuständig ist. KPI und KPN gehören direkt oder indirekt zur KPC Holdings AEC mit Sitz in Aruba, die wiederum zu 100 % von KPC gehalten wird. Zur KPC Holdings gehören alle Tochtergesellschaften des Konzerns Kuwait Petroleum, die außerhalb von Kuwait niedergelassen und für das Raffinieren und den Vertrieb von Erdöl verantwortlich sind.

2        Mit Schreiben vom 20. Juni 2002 zeigte British Petroleum (im Folgenden: BP) der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an, dass auf dem niederländischen Straßenbaubitumenmarkt ein mutmaßliches Kartell bestehe, und beantragte gemäß der Mitteilung der Kommission vom 19. Februar 2002 über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 2002, C 45, S. 3, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002) den Erlass von Geldbußen.

3        Am 1. und 2. Oktober 2002 nahm die Kommission u. a. in den Räumlichkeiten von KPN unangekündigte Nachprüfungen vor. Die Kommission richtete am 30. Juni 2003 und am 5. April 2004 Auskunftsersuchen an mehrere Gesellschaften, u. a. an KPN. Diese antwortete am 16. September 2003 und am 30. April 2004.

4        KPN stellte am 12. September 2003 einen Antrag auf Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002, dem eine Unternehmenserklärung beigefügt war. Sie beantragte auch, einen Teil der am 16. September 2003 übermittelten Informationen im Rahmen ihres Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung zu berücksichtigen. Am 18. September 2003 schlug KPN bei einem Treffen mit der Kommission vor, drei ehemalige Angestellte anzuhören, die in der Lage seien, die vorgelegten Erklärungen zu vervollständigen; dies geschah am 1. und 9. Oktober 2003.

5        Am 14. Oktober 2004 teilte die Kommission gemäß Nr. 26 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 KPN ihre Absicht mit, deren Geldbuße um 30 % bis 50 % zu ermäßigen, da sie zu dem vorläufigen Ergebnis gelangt sei, dass die von KPN vorgelegten Beweise einen erheblichen Mehrwert darstellten.

6        Am 18. Oktober 2004 leitete die Kommission ein Verfahren ein und nahm eine Mitteilung der Beschwerdepunkte an, die sie am 19. Oktober 2004 an mehrere Gesellschaften, u. a. die Klägerinnen KPC, KPI und KPN übersandte. Auf ein Ersuchen von KPC und KPI bestätigte die Kommission ihnen gegenüber mit Schreiben vom 2. Dezember 2004, dass ihnen ebenfalls die KPN gewährte Ermäßigung der Geldbuße nach der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 gewährt werde.

7        Nach der Anhörung der betroffenen Gesellschaften am 15. und 16. Juni 2005 ergänzte KPN ihre Erklärungen, die ExxonMobil, eine Bitumenlieferantin, gegen die in der angefochtenen Entscheidung keine Strafmaßnahmen verhängt worden waren, betrafen und die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte verwendet und von anderen Teilnehmern der Anhörung in Frage gestellt worden waren. Diese Ergänzungen wurden allen Teilnehmern der Anhörung übermittelt und waren Anlass für mehrere Kommentare, zu denen die Kommission den Klägerinnen keinen Zugang gewährte.

8        Am 13. September 2006 erließ die Kommission die Entscheidung K(2006) 4090 endg. in einem Verfahren nach Artikel 81 [EG] (Sache COMP/B/38.456 – Bitumen (Niederlande) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung), von der eine Zusammenfassung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 28. Juli 2007 (ABl. L 196, S. 40) veröffentlicht ist und die den Klägerinnen mit Schreiben vom 22. September 2006 zugestellt wurde.

9        In der angefochtenen Entscheidung stellte die Kommission fest, dass die Unternehmen, an die die Entscheidung gerichtet ist, an einer einzigen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG beteiligt gewesen seien, die darin bestanden habe, dass sie während der betreffenden Zeiträume für den Verkauf und Einkauf von Straßenbaubitumen in den Niederlanden regelmäßig gemeinsam den Bruttopreis, einen einheitlichen Rabatt auf den Bruttopreis für an dem Kartell beteiligte Straßenbauunternehmen und einen geringeren maximalen Rabatt auf den Bruttopreis für sonstige Straßenbauunternehmen festgesetzt hätten.

10      Bei den Klägerinnen wurde festgestellt, dass sie für diese Zuwiderhandlung vom 1. April 1994 bis 15. April 2002 mitverantwortlich gewesen seien, und es wurde gegen sie eine Geldbuße in Höhe von 16,632 Mio. Euro festgesetzt, für die sie gesamtschuldnerisch haften.

11      Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße stufte die Kommission die Zuwiderhandlung, obwohl der relevante räumliche Markt begrenzt war, aufgrund ihrer Art als besonders schwer ein (Randnr. 316 der angefochtenen Entscheidung).

12      Um jeweils der spezifischen Bedeutung des rechtswidrigen Verhaltens der einzelnen am Kartell beteiligten Unternehmen und dessen tatsächlichen Auswirkungen auf den Wettbewerb Rechnung zu tragen, differenzierte die Kommission bei den betroffenen Unternehmen nach der am Marktanteil gemessenen Bedeutung auf dem relevanten Markt und teilte sie in sechs Kategorien ein.

13      Bei den Klägerinnen ergab sich so ein Ausgangsbetrag von 12 Mio. Euro (Randnr. 322 der angefochtenen Entscheidung), auf den die Kommission in Anbetracht der Größe und des Umsatzes des Konzerns einen Multiplikationsfaktor von 1,1 anwandte, um die abschreckende Wirkung der Geldbuße sicherzustellen (Randnr. 323 der angefochtenen Entscheidung).

14      Zur Dauer der Zuwiderhandlung stellte die Kommission fest, die Klägerinnen hätten eine Zuwiderhandlung von langer Dauer begangen, da diese länger als fünf Jahre gedauert habe, und legte eine Gesamtdauer von acht Jahren, vom 1. April 1994 bis zum 15. April 2002, zugrunde; sie erhöhte den Ausgangsbetrag daher um 80 % (Randnr. 326 der angefochtenen Entscheidung). Der anhand der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung festgelegte Grundbetrag der Geldbuße wurde bei den Klägerinnen also auf 23,76 Mio. Euro festgesetzt (Randnr. 335 der angefochtenen Entscheidung).

15      Die Kommission nahm bei den Klägerinnen keinen erschwerenden Umstand an. Sie war vielmehr damit einverstanden, die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 auf sie anzuwenden und ermäßigte ihre Geldbuße um 30 %. Sie war der Ansicht, dass die am 12. und 16. September 2003 sowie am 1. und 9. Oktober 2003 gelieferten Informationen aufgrund ihrer Ausführlichkeit ihr geholfen hätten, die Zuwiderhandlung nachzuweisen. Sie habe jedoch berücksichtigen müssen, dass der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung erst elf Monate nach der Durchführung der unangekündigten Nachprüfungen und nach dem Versenden ihres Auskunftsverlangens gestellt worden sei, dass ihr gewisse Beweise, die von anderen Unternehmen übermittelt worden seien, bereits vorgelegen hätten und dass KPN einige ihrer Erklärungen, die sie gegen ExxonMobil abgegeben habe, neu formuliert habe (Randnrn. 382 bis 388 der angefochtenen Entscheidung).

 Verfahren und Anträge der Parteien

16      Mit Klageschrift, die am 4. Dezember 2006 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen die vorliegende Klage erhoben.

17      Das Gericht (Sechste Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 seiner Verfahrensordnung den Parteien schriftliche Fragen gestellt. Die Parteien haben auf diese Fragen fristgerecht geantwortet.

18      In der Sitzung vom 15. Juni 2011 haben die Parteien mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.

19      Da ein Mitglied der Sechsten Kammer verhindert war, hat der Präsident des Gerichts gemäß Art. 32 § 3 der Verfahrensordnung sich selbst dazu bestimmt, die Kammer zu ergänzen.

20      Mit Beschluss vom 18. November 2011 hat das Gericht (Sechste Kammer) in seiner neuen Zusammensetzung die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung angeordnet, und die Parteien sind darauf hingewiesen worden, dass sie in einer erneuten mündlichen Verhandlung gehört würden.

21      Mit Schreiben vom 25. und 28. November 2011 haben die Kommission und die Klägerinnen dem Gericht jeweils mitgeteilt, dass sie auf eine erneute Anhörung verzichteten.

22      Der Präsident des Gerichts hat daraufhin beschlossen, die mündliche Verhandlung zu schließen.

23      Die Klägerinnen beantragen,

–        die angefochtene Entscheidung, soweit die Klägerinnen betroffen sind, für nichtig zu erklären;

–        hilfsweise, die gemäß Art. 2 Buchst. i der Entscheidung gegen die Klägerinnen verhängte Geldbuße herabzusetzen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

24      Die Kommission beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.

25      In ihrer Antwort auf eine schriftliche Frage des Gerichts hinsichtlich der Folgerungen, die aus den Urteilen des Gerichtshofs vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, Slg. 2009, I‑8237), und vom 20. Januar 2011, General Química u. a./Kommission (C‑90/09 P, Slg. 2011, I‑1), zu ziehen seien, haben die Klägerinnen am 24. März 2011 den Klagegrund, mit dem sie gerügt hatten, die Kommission habe offensichtliche Beurteilungs- und Rechtsfehler begangen, indem sie KPC und KPI die Verantwortung für die von ihrer Tochtergesellschaft KPN begangene Zuwiderhandlung zugerechnet habe, fallen gelassen, was vom Gericht in den Akten vermerkt wurde.

 Rechtliche Würdigung

26      Die Klägerinnen stützen ihre Klage auf zwei Klagegründe, und zwar erstens auf einen Verstoß gegen Nr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 und zweitens auf Fehler der Kommission bei der Festsetzung des Prozentsatzes der Ermäßigung ihrer Geldbuße.

1.     Zum Verstoß gegen Nr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002

 Vorbringen der Parteien 

27      Nach Ansicht der Klägerinnen hat die Kommission gegen Nr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 verstoßen, indem sie eine Geldbuße gegen sie verhängt habe, die auf Sachverhalte gestützt gewesen sei, die nur anhand von Beweismaterial nachweisbar gewesen seien, das KPN vorgelegt habe. Nur aufgrund dieses Beweismaterials sei es der Kommission möglich gewesen, die Zuwiderhandlung, ihren Schweregrad und ihre Dauer nachzuweisen, da die anderen in der angefochtenen Entscheidung genannten Beweise entweder indirekt, nicht schlüssig oder spekulativ seien. Allein durch die von KPN gelieferten Informationen sei es der Kommission möglich gewesen, die Zuwiderhandlung für den gesamten Zeitraum vom 1. April 1994 bis 15. April 2002 nachzuweisen, da die in den Geschäftsräumen der Koninklijke Volker Wessel Stevin NV, der Gesellschaft, gegen die in der angefochtenen Entscheidung Sanktionen verhängt worden seien, beschlagnahmten Notizen nur das Jahr 1997 betroffen und die von BP übermittelten Informationen nur für den Zeitraum nach 1999 gegolten hätten.

28      Die sehr restriktive Auslegung von Nr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 durch die Kommission, die die Anwendung allein auf die Fälle beschränke, in denen sie keinerlei Kenntnis vom Sachverhalt habe, widerspricht nach Ansicht der Klägerinnen ihrem Ziel, das darin bestehe, einen Anreiz für die Unternehmen, die die Kronzeugenregelung in Anspruch nehmen wollten, zu schaffen, so viel Beweismaterial wie möglich zu liefern. Diese Auslegung widerspreche außerdem dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, der aber in Nr. 29 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 ausdrücklich anerkannt sei.

29      Die Kommission weist das Vorbringen der Klägerinnen in vollem Umfang zurück.

 Würdigung durch das Gericht

30      Nr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 bestimmt: „Falls ein Unternehmen Beweismittel für [tatsächliche Umstände] vorlegt, von denen die Kommission zuvor keine Kenntnis hatte und die die Schwere oder Dauer des mutmaßlichen Kartells unmittelbar beeinflussen, lässt die Kommission diese Faktoren bei der Festsetzung der Geldbuße gegen das Unternehmen, das diese Beweismittel geliefert hat, unberücksichtigt.“

31      Es ist zunächst Sache des Gerichts, festzustellen, ob die Kommission einen Rechtsfehler begangen hat, indem sie den Anwendungsbereich dieser Vorschrift nur auf die Fälle beschränkt hat, in denen eine Gesellschaft ihr Informationen liefert, die ihr den Nachweis eines ihr vollkommen unbekannten Sachverhalts erlauben, und so den Fall ausschließt, in dem eine Gesellschaft ihr Informationen geliefert hat, die es ihr ermöglichen, einen bereits bekannten Sachverhalt zu bestätigen.

32      Es ist daran zu erinnern, dass die Kommission im vorliegenden Fall entschieden hat, KPN eine Ermäßigung der Geldbuße in Höhe von 30 % zu gewähren, und zwar aus folgenden Gründen: „Die von [KPN] vorgelegten Beweise halfen der Kommission aufgrund ihrer Eigenschaft, die mutmaßlichen Sachverhalte zu beweisen und stellten daher einen Mehrwert hinsichtlich der zur damaligen Zeit bereits im Besitz der Kommission befindlichen Beweismittel dar. Dieser Mehrwert war erheblich, weil das Material die bestehenden Informationen bestätigte und zusammen mit den bereits im Besitz der Kommission befindlichen Informationen die Kommission in die Lage versetzt, die Zuwiderhandlung zu beweisen. … [KPN war] das erste Unternehmen …, das unmittelbare Beweise [für das Stattfinden von Bitumengesprächen, dem] zentralen Element der Funktionsweise des Kartells, vorgelegt hat.“ Denn zu dem Zeitpunkt, als KPN ihre Beweise geliefert hat, d. h. vor Erhalt der Antworten auf die Auskunftsverlangen (insbesondere die der Unternehmen Shell, Total und Nynas), „war es noch nicht klar, ob und inwieweit die zeitnahen Unterlagen in der Akte der Kommission in Verbindung mit den von BP übermittelten Informationen an sich die Zuwiderhandlung hinreichend beweisen würden“ (Randnr. 383 der angefochtenen Entscheidung).

33      Nach Ansicht des Gerichts ist Randnr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 eng auszulegen und auf die Fälle zu beschränken, in denen eine an einem Kartell beteiligte Gesellschaft der Kommission eine neue Information betreffend die Schwere oder Dauer der Zuwiderhandlung liefert und die Fälle ausschließt, in denen das Unternehmen nur Informationen liefert, die die Beweise für die Zuwiderhandlung untermauern.

34      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kronzeugenregelung eine Ausnahme von der Regel ist, nach der jede Verletzung des Wettbewerbsrechts durch ein Unternehmen zu ahnden ist; deshalb sind die Regeln, die sich darauf beziehen, eng auszulegen.

35      Im Übrigen würde die Wirksamkeit der Kronzeugenprogramme beeinträchtigt, wenn die Unternehmen die Anreize verlören, als Erste die Informationen vorzulegen, mit denen der Kommission ein Kartell angezeigt wird.

36      Die Auslegung, die von den Klägerinnen befürwortet wird, würde die Unterscheidung, die die Kommission in ihrer Mittelung zwischen dem einzigen Unternehmen, dem ein Erlass der Geldbuße gewährt werden kann (Titel A der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002), und den Unternehmen, die nur eine Ermäßigung der Geldbuße beanspruchen können (Titel B der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002), vornimmt, wirkungslos machen, wenn sie dazu führen würde, auch Letzteren einen vollständigen Erlass der Geldbuße zu gewähren. Die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 unterscheidet somit zwischen dem Unternehmen, das als Erstes Beweismittel vorlegt, die es der Kommission ermöglichen, eine Zuwiderhandlung festzustellen oder in einer Entscheidung Nachprüfungen anzuordnen, und dem die Geldbuße vollständig erlassen wird, und den anderen Unternehmen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen und denen höchstens eine Ermäßigung der Geldbuße in Höhe von 50 % gewährt werden kann.

37      Die Kommission hat somit keinen Rechtsfehler begangen, indem sie der Ansicht war, dass sie bei der Festsetzung der Geldbuße für KPN den Sachverhalt berücksichtigen konnte, an dessen Bestätigung KPN durch die Übermittlung bestimmter Beweise mitgewirkt hat, dessen Existenz der Kommission aber nicht unbekannt war.

38      Nach Ansicht der Klägerinnen verstößt eine solche Auslegung gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, der in Nr. 29 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 jedoch ausdrücklich anerkannt sei. Es trifft zu, dass jeder, bei dem die Unionsverwaltung, insbesondere durch bestimmte Zusicherungen, begründete Erwartungen geweckt hat, sich auf den Vertrauensschutz, der zu den allgemeinen Grundprinzipien des Unionsrechts gehört, berufen kann (Urteil des Gerichtshofs vom 11. März 1987, Van den Bergh en Jurgens/Kommission, 265/85, Slg. 1987, 1155, Randnr. 44, und Urteil des Gerichts vom 9. Juli 2003, Cheil Jedang/Kommission, T‑220/00, Slg. 2003, II‑2473, Randnr. 33). Im vorliegenden Fall hat die Kommission jedoch gegenüber KPN zu keinem Zeitpunkt bestimmte Zusicherungen in Bezug auf eine Möglichkeit, die Geldbuße zu erlassen, gemacht. Generell übermittelt bei der Kronzeugenregelung jeder Antragsteller der Kommission Informationen, ohne diejenigen zu kennen, die dieser bereits vorliegen, und er kann deshalb keine legitimen Erwartungen in Bezug auf die Höhe der Ermäßigung, die ihm gewährt werden kann, haben.

39      Im vorliegenden Fall ist schließlich zu untersuchen, ob die Kommission ihr Ermessen nicht offensichtlich überschritten hat, indem sie der Ansicht war, dass KPN die Voraussetzungen von Nr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002, wie er oben in Randnr. 33 ausgelegt wurde, erfülle.

40      Der angefochtenen Entscheidung ist zu entnehmen, dass die von KPN gelieferten Informationen es der Kommission zwar ermöglicht haben, die ihr bereits vorliegenden Beweise dafür, dass zwischen den am Kartell beteiligten Bitumenlieferanten (im Folgenden: Lieferanten) und Straßenbauunternehmen Treffen stattgefunden haben, zu untermauern und zu bekräftigen, dass ihr dieser Sachverhalt für den gesamten Zeitraum der Zuwiderhandlung durch von BP gelieferte Informationen und bei Nachprüfungen vor Ort beschlagnahmte Unterlagen, insbesondere den Notizen der Hollandsche Beton Groep (im Folgenden: HBG) von März und Juli 1994 jedoch bereits bekannt waren. Somit hat KPN keinen Beweis für einen Sachverhalt vorgelegt, der der Kommission zuvor nicht bekannt war und der sich unmittelbar auf die Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung ausgewirkt hätte.

41      Mithin ist der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.

2.     Zur Höhe der Ermäßigung der Geldbuße

 Vorbringen der Parteien

42      Nach Ansicht der Klägerinnen hat die Kommission einen offensichtlichen Ermessensfehler begangen, indem sie ihre Geldbuße nur um 30 % ermäßigt habe, mit der Begründung dass der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung elf Monate nach den unangekündigten Nachprüfungen und nach dem Versenden des ersten Auskunftsverlangens erfolgt sei, dass der Mehrwert der gelieferten Beweise durch die von anderen Unternehmen gelieferten Informationen gemindert worden sei und das KPN einige ihrer Erklärungen neu formuliert habe. Es sei Sache des Gerichts, die Begründung der Entscheidung über die Höhe der ihr gewährten Ermäßigung einer vollen Rechtmäßigkeitsprüfung zu unterziehen, und der Unionsrichter habe niemals ein weitgehendes Ermessen der Kommission im Rahmen der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 anerkannt.

43      Erstens sei ein Zeitraum von elf Monaten nicht unangemessen für den Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung, insbesondere im Hinblick auf die Gesamtdauer der Untersuchung der Kommission von 28 Monaten; dieser Zeitraum sei erforderlich gewesen, um die gesamten der Kommission gelieferten Information einzuholen, und die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 sehe keine spezifische Frist vor. Insoweit könne sich die Kommission nicht auf das Urteil des Gerichts vom 27. September 2006, Roquette Frères/Kommission (T‑322/01, Slg. 2006, II‑3137), berufen, da in dieser Rechtssache der Antrag des Unternehmens auf Anwendung der Kronzeugenregelung allein in seiner Antwort auf den Fragebogen der Kommission bestanden habe, während im vorliegenden Fall KPN ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt habe, bevor sie den Fragebogen beantwortet habe, und ihre Antworten bei Weitem umfassender gewesen als die gestellten Fragen seien.

44      Zweitens habe die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie die Ermäßigung ihrer Geldbuße aus dem Grund begrenzt habe, dass der Wert der am 16. September sowie am 1. und 9. Oktober 2003 vorgelegten Beweise durch die zuvor von Nynas und Total abgegebenen Erklärungen gemindert worden sei. Die Kommission habe jedoch in der angefochtenen Entscheidung eingeräumt, dass ihr durch die von KPN am 12. September 2003 und in ihren zusätzlichen Erklärungen gelieferten Informationen unmittelbare und entscheidende Beweise möglich gewesen seien, während die von Nynas und Total übermittelten Informationen keinen erheblichen Mehrwert geliefert hätten und im Übrigen die Kronzeugenregelung ihnen gegenüber abgelehnt worden sei.

45      Drittens sei die Kommission zu Unrecht der Ansicht gewesen, dass die Ermäßigung ihrer Geldbuße wegen einer behaupteten Umformulierung der Erklärungen von KPN in Bezug auf ExxonMobil zu begrenzen sei. Sie habe zunächst einen Fehler bei der Tatsachenfeststellung oder ‑würdigung begangen, indem sie feststellte, dass die Mitarbeiter von KPN in der Anhörung ihre Erklärungen geändert hätten, während sie sich darauf beschränkt hätten, sie klarzustellen, indem sie ausgeführt hätten, dass sie nur indirekte Beweise für die Beteiligung von ExxonMobil an der Zuwiderhandlung hätten und dass sie jedenfalls niemals behauptet hätten, unmittelbare Beweise für diese Beteiligung zu haben. Sie habe außerdem einen Rechtsfehler begangen, indem sie angenommen habe, dass der Mehrwert der von KPN gelieferten Beweise gering sei, weil sie keine Beweise für die Beteiligung von ExxonMobil an dem Kartell vorgelegt habe. Nach Ansicht der Klägerinnen ist somit der Wert der vorgelegten Beweise nur im Verhältnis zu den von der Kommission in ihrer Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlungen zu beurteilen. Außerdem verstoße die Kommission dadurch, dass sie sie wegen ihrer Erklärungen zu ExxonMobil bestrafe, gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, weil BP in ihrem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung ebenfalls behauptet habe, dass ExxonMobil an dem Kartell beteiligt gewesen sei.

46      Viertens sind die Klägerinnen der Ansicht, die Kommission habe dadurch, dass sie KPN die Kommentare der anderen Unternehmen betreffend die ergänzenden Erklärungen, die sie bei der Anhörung abgegeben hätten, nicht übermittelt habe, ihr Recht auf Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren nicht beachtet. Diese Kommentare, von denen einige nach der Anhörung im Verwaltungsverfahren abgegeben worden seien, seien jedoch von der Kommission bei der Festsetzung der Höhe ihrer Geldbuße verwendet worden.

47      Die Kommission weist das Vorbringen der Klägerinnen in vollem Umfang zurück.

 Würdigung durch das Gericht

 Zu den Rechtsfehlern

48      Die Klägerinnen sind zunächst der Ansicht, dass sich die Kommission in Bezug auf den Umfang ihres Ermessens im Hinblick auf den Wert der freiwillig von einem Unternehmen gelieferten Informationen für die Festsetzung der Höhe der Ermäßigung der Geldbuße geirrt habe. Insbesondere sei die Rechtsprechung, auf die die Kommission ihre Behauptung stütze, dass sie in dem Bereich über ein gewisses Ermessen verfüge und dass die richterliche Kontrolle auf die Prüfung eines offensichtlichen Ermessensfehlers beschränkt sei, nur auf die Bestimmungen der Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 1996, C 207, S. 4, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996) und nicht auf diejenigen der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 anwendbar.

49      Nach ständiger Rechtsprechung zur Mitteilung über die Zusammenarbeit von 1996 rechtfertigt eine Mitwirkung an der Untersuchung, die nicht über das hinausgeht, wozu die Unternehmen nach Art. 11 Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81 EG] und [82 EG] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) verpflichtet sind, keine Ermäßigung der Geldbuße (Urteile des Gerichts vom 14. Mai 1998, Cascades/Kommission, T‑308/94, Slg. 1998, II‑925, Randnr. 260, und vom 10. März 1992, Solvay/Kommission, T‑12/89, Slg. 1992, II‑907, Randnrn. 341 und 342). Dagegen ist eine solche Herabsetzung gerechtfertigt, wenn das Unternehmen Auskünfte gegeben hat, die weit über das hinausgehen, was die Kommission nach Art. 11 der Verordnung Nr. 17 verlangen kann (Urteil Cascades/Kommission, Randnrn. 261 und 262, und Urteil des Gerichts vom 9. Juli 2003, Daesang und Sewon Europe/Kommission, T‑230/00, Slg. 2003, II‑2733, Randnr. 137). Die Herabsetzung einer Geldbuße wegen Zusammenarbeit ist nur gerechtfertigt, wenn das Verhalten eines Unternehmens der Kommission die Wahrnehmung ihrer Aufgabe erleichtert hat, Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln der Union festzustellen und zu verfolgen; außerdem muss das Verhalten ein Zeichen echter Zusammenarbeit sein. Das Gericht hat daher zum einen zu prüfen, ob die Kommission falsch beurteilt hat, inwieweit die Zusammenarbeit der fraglichen Unternehmen über das nach Art. 11 der Verordnung Nr. 17 erforderliche Maß hinausging. Insoweit übt es eine umfassende Kontrolle aus, die insbesondere die Grenzen betrifft, die sich aus den Verteidigungsrechten der Unternehmen für die Pflicht zur Beantwortung von Auskunftsverlangen ergeben. Zum anderen hat das Gericht zu prüfen, ob die Kommission im Hinblick auf die Mitteilung über die Zusammenarbeit von 1996 den Nutzen einer Kooperation für den Nachweis der Zuwiderhandlung korrekt beurteilt hat. Innerhalb der durch diese Mitteilung vorgegebenen Grenzen verfügt die Kommission über ein Ermessen bei der Beurteilung der Frage, ob Auskünfte oder Schriftstücke, die die Unternehmen freiwillig geliefert haben, ihre Aufgabe erleichtert haben und ob einem Unternehmen ein Nachlass gemäß dieser Mitteilung zu gewähren ist. Diese Beurteilung unterliegt nur einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle (Urteil des Gerichtshofs vom 9. Juli 2009, Archer Daniels Midland/Kommission, C‑511/06 P, Slg. 2009, I‑5843, Randnr. 152; Urteil des Gerichts vom 14. Dezember 2006, Raiffeisen Zentralbank Österreich u. a./Kommission, T‑259/02 bis T‑264/02 und T‑271/02, Slg. 2006, II‑5169, Randnrn. 529 bis 532, bestätigt durch das Urteil des Gerichtshofs vom 24. September 2009, Erste Group Bank u. a./Kommission, C‑125/07 P, C‑133/07 P, C‑135/07 P und C‑137/07 P, Slg. 2009, I‑8681, Randnr. 249).

50      Die Klägerinnen begründen in keiner Weise, warum das Ermessen der Kommission in Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 eingeschränkt sein soll. Nach ständiger Rechtsprechung verfügt die Kommission jedenfalls bei der Beurteilung der Frage, ob die Auskünfte oder Schriftstücke, die die Unternehmen freiwillig geliefert haben, ihre Aufgabe erleichtert haben, und ob einem Unternehmen nach dieser Mitteilung eine Ermäßigung zu gewähren ist, über ein Ermessen und dieses unterliegt nur einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle (Urteil des Gerichts 18. Dezember 2008, General Química u. a./Kommission, T‑85/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 150).

51      Im Übrigen wurde bereits entschieden, dass die Kommission zwar verpflichtet ist, anzugeben, aus welchen Gründen sie der Ansicht ist, dass die von den Unternehmen im Rahmen der Mitteilung über Zusammenarbeit von 1996 gemachten Angaben einen Beitrag darstellen, der eine Herabsetzung der festgesetzten Geldbuße rechtfertigt oder auch nicht, dass demgegenüber aber die Unternehmen, die die entsprechende Entscheidung der Kommission anfechten wollen, nachzuweisen haben, dass diese in Ermangelung derartiger, von diesen Unternehmen freiwillig gelieferter Angaben nicht in der Lage gewesen wäre, die wesentlichen Elemente der Zuwiderhandlung zu beweisen und somit eine Entscheidung über die Festsetzung von Geldbußen zu erlassen (Urteil Erste Group Bank u. a./Kommission, oben in Randnr. 49 angeführt, Randnr. 297).

52      Im Rahmen der Anwendung der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 1996 hat der Unionsrichter entschieden, dass eine Herabsetzung der Geldbuße in Anwendung dieser Bestimmungen insbesondere erfordert, dass das betreffende Unternehmen als Erstes Angaben von entscheidender Bedeutung für den Beweis des Bestehens des Kartells gemacht hat, und dass solche Angaben zwar nicht unbedingt als solche für den Beweis des Bestehens des Kartells ausreichen müssen, dass sie hierfür jedoch von entscheidender Bedeutung sein müssen. Es darf sich daher nicht nur um eine Orientierungshilfe für die von der Kommission durchzuführenden Untersuchungen handeln, sondern es müssen Angaben sein, die unmittelbar als Hauptbeweisgrundlage für eine Entscheidung herangezogen werden können, mit der die Zuwiderhandlung festgestellt wird (Urteile des Gerichts vom 15. März 2006, BASF/Kommission, T‑15/02, Slg. 2006, II‑497, Randnrn. 492, 493, 517, 518, 521, 522, 526 und 568, und Daiichi Pharmaceutical/Kommission, T‑26/02, Slg. 2006, II‑713, Randnrn. 150, 156, 157 und 162).

53      Was die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 betrifft, ergibt sich aus dem Wortlaut der Nrn. 7, 21 und 22, dass die Kommission die Qualität und den Zeitpunkt des Beitrags, den ein Unternehmen tatsächlich zum Nachweis der Zuwiderhandlung geleistet hat, beurteilen muss (Nr. 7) und dass sich der Begriff „erheblicher Mehrwert“ auf das Ausmaß bezieht, in dem die vorgelegten Beweismittel aufgrund ihrer Eigenschaft und ihrer Ausführlichkeit der Kommission dazu verhelfen, den Sachverhalt der Zuwiderhandlung nachzuweisen. Die Kommission misst dabei Beweismitteln, die ihr dazu verhelfen können, mit anderen, sich bereits in ihrem Besitz befindlichen Beweismitteln das Bestehen einen Kartells nachzuweisen, oder Beweismitteln, mit denen sie bereits vorliegende Beweise untermauern kann, oder solchen Beweismitteln, die sich unmittelbar auf Schwere oder Dauer des Kartells auswirken, einen besonderen Wert bei.

54      Die Klägerinnen sind schließlich der Ansicht, dass die Kommission nicht berechtigt gewesen sei, sie zu bestrafen, mit der Begründung, dass KPN ihre Erklärungen zur Beteiligung von ExxonMobil an dem Kartell geändert habe. Die Kommission hat in ihrer Entscheidung erwähnt, dass die Umformulierung bestimmter wichtiger Erklärungen in Bezug auf die Beteiligung von ExxonMobil an dem Kartell den Wert der von KPN gelieferten Beweise gemindert habe, da die ursprünglichen Erklärungen offensichtlich jeder Grundlage entbehrten. Nach Randnr. 27 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 „[bestimmt d]ie Kommission … in ihrer Entscheidung am Ende des Verwaltungsverfahrens die Ermäßigungen, die den Unternehmen, die eine Ermäßigung der Geldbuße beantragt haben, endgültig gewährt werden“. Es ist somit Sache der Kommission, den Wert der von einem Unternehmen gelieferten Informationen am Ende des Verwaltungsverfahrens zu beurteilen und es kann ihr deshalb nicht vorgeworfen werden, dass sie im vorliegenden Fall der Ansicht war, KPN nicht für Erklärungen belohnen zu können, die ihr zu einem Zeitpunkt des Verfahrens entscheidend erschienen, sich aber im weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens als unbrauchbar erwiesen haben.

55      Nach alledem hat die Kommission nicht die von den Klägerinnen im Rahmen dieses Teils des vorliegenden Klagegrundes geltend gemachten Rechtsfehler betreffend die Festsetzung der Höhe der KPN gewährten Ermäßigung der Geldbuße begangen.

 Zur Begründungspflicht

56      Nach der Rechtsprechung muss die erforderliche Begründung dem Betroffenen zum einen erlauben, die Rechtfertigungsgründe für die erlassene Maßnahme kennen zu lernen, um gegebenenfalls seine Rechte geltend zu machen und die Begründetheit der Entscheidung prüfen zu können, und zum anderen den Gemeinschaftsrichter in die Lage versetzen, seine Rechtmäßigkeitskontrolle auszuüben; das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, zu denen insbesondere der Inhalt der betreffenden Maßnahme, die Art der angeführten Gründe und der Kontext zählen, in dem die Maßnahme erlassen wurde (Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2001, Krupp Thyssen Stainless und Acciai speciali Terni/Kommission, T‑45/98 und T‑47/98, Slg. 2001, II‑3757, Randnr. 129).

57      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der angefochtenen Entscheidung, dass die Kommission die Gründe, aus denen sie entschieden hat, KPN eine auf 30 % beschränkte Ermäßigung der Geldbuße zu gewähren, mit hinreichender Deutlichkeit und Ausführlichkeit dargelegt hat. Die Kommission hat nämlich darauf hingewiesen, dass KPN das zweite Unternehmen gewesen sei, das mit ihr Kontakt aufgenommen habe, dass die von ihr vorgelegten Beweise ihr geholfen hätten, die Zuwiderhandlung zu beweisen, dass sie ihre Beteiligung spätestens zu dem Zeitpunkt beendet habe, zu dem sie diese Informationen übermittelt habe, dass aber der Antrag von KPN auf Anwendung der Kronzeugenregelung mehr als elf Monate nach ihren Nachprüfungen vor Ort eingereicht worden sei, dass Beweismaterial, das KPN noch später vorgelegt habe, ihr bereits von anderen Unternehmen übermittelt worden sei und dass KPN Erklärungen, die sie ursprünglich in Bezug auf die Beteiligung von ExxonMobil an der Zuwiderhandlung abgegeben habe, geändert habe (Randnrn. 382 bis 385 der angefochtenen Entscheidung). Unter Berücksichtigung des Kontextes, in dem die angefochtene Entscheidung ergangen ist, ist das Gericht der Ansicht, dass die Kommission es in die Lage versetzt hat, seine Rechtmäßigkeitskontrolle auszuüben, und dass sie es den Klägerinnen ermöglicht hat, die Rechtfertigungsgründe für die erlassene Maßnahme kennen zu lernen, um gegebenenfalls ihre Rechte geltend zu machen und die Begründetheit der Entscheidung prüfen zu können.

58      Dieses Argument ist folglich als unbegründet zurückzuweisen.

 Zu den offensichtlichen Beurteilungsfehlern

59      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Nr. 23 Buchst. b Unterabs. 2 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 Folgendes vorsieht: „Um den Umfang der Ermäßigung der Geldbuße innerhalb dieser Bandbreiten [von 0 bis 50 %] zu bestimmen, wird die Kommission den Zeitpunkt berücksichtigen, zu dem das Beweismittel, das die Voraussetzungen unter [Nr.] 21 erfüllt, vorgelegt wurde, sowie den Umfang des mit dem Beweismittel verbundenen Mehrwerts“. Ergänzend heißt es, dass die Kommission „ebenfalls berücksichtigen [kann], ob das Unternehmen seit der Vorlage des Beweismittels kontinuierlich mit ihr zusammengearbeitet hat“. Nach Nr. 7 dieser Mitteilung „[muss d]ie Ermäßigung der Geldbuße … der Qualität und dem Zeitpunkt des Beitrags, den das Unternehmen tatsächlich zum Nachweis des Kartells geleistet hat, entsprechen“.

60      Es ist zu prüfen, ob die Kommission dadurch, dass sie in Anwendung dieser Vorschriften die Ermäßigung der Geldbuße von KPN auf 30 % begrenzt hat, keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat. Die Kommission hat angegeben, sie habe zum einen den Umstand berücksichtigt, dass KPN das zweite Unternehmen gewesen sei, das Kontakt mit ihr aufgenommen habe, dass die von KPN vorgelegten Beweise ihre geholfen hätten, die Zuwiderhandlung nachzuweisen, und dass sie ihre Beteiligung spätestens zu dem Zeitpunkt beendet habe, zu dem sie diese Informationen übermittelt habe, zum anderen aber auch, dass dieser Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung mehr als elf Monate nach ihren Nachprüfungen vor Ort und nach dem Versenden ihres ersten Auskunftsverlangens gestellt worden sei, dass bestimmtes Beweismaterial, das KPN noch später beigebracht habe, ihr bereits von anderen Unternehmen vorgelegt worden sei und dass KPN ihre ursprünglichen Erklärungen zur Beteiligung von ExxonMobil an der Zuwiderhandlung geändert habe (Randnrn. 382 bis 385 der angefochtenen Entscheidung).

61      Was erstens das Vorbringen betrifft, die Ermäßigung der Geldbuße von KPN sei aus dem Grund begrenzt worden, dass ihr Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung elf Monate nach den unangekündigten Nachprüfungen und nach dem Versenden des ersten Auskunftsverlangens erfolgt sei, ist festzustellen, dass die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 zwar keine spezifische Frist für die Stellung eines Antrags auf Anwendung der Kronzeugenregelung vorsieht, jedoch als entscheidendes Element für die Höhe der Ermäßigung der Geldbuße den Zeitpunkt, zu dem die Beweise geliefert worden sind, nennt. Zwar kann ein Zeitraum von elf Monaten kein Grund sein, welcher der Stellung eines solchen Antrags entgegensteht, die Kommission kann ihn jedoch bei der Bestimmung der Höhe der Ermäßigung der Geldbuße berücksichtigen. (Urteil General Química u. a./Kommission, oben in Randnr. 50 angeführt, Randnr. 147). Im Übrigen hat der Unionsrichter im Rahmen der Mitteilung über die Zusammenarbeit von 1996, in deren Abschnitt D die Berücksichtigung des Zeitpunkts der Übermittlung der Informationen allerdings nicht besonders erwähnt wurde, die Auffassung vertreten, dass die Kommission bei der Festlegung des Prozentsatzes der Ermäßigung der Geldbuße den Umstand, dass ein Unternehmen erst auf das Auskunftsverlangen, das die Kommission an es gerichtet hatte, zusammengearbeitet hat, und somit die Frage der Spontaneität der Beantragung der Anwendung der Kronzeugenregelung berücksichtigen konnte (Urteil Roquette Frères/Kommission, oben in Randnr. 43 angeführt, Randnr. 266).

62      Im vorliegenden Fall hat KPN ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung erst am 12. September 2003 gestellt, während die Kommission ihre unangekündigten Nachprüfungen am 1. und 2. Oktober 2002 durchgeführt und ihr erstes Auskunftsverlangen an KPN bereits am 30. Juni 2003 versandt hatte. Der Umstand, dass in der Rechtssache, in der das Urteil Roquette Frères/Kommission, oben in Randnr. 43 angeführt, ergangen ist, der Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung die einzige Antwort auf das Auskunftsverlangen war, während im vorliegenden Fall KPN die Anwendung der Kronzeugenregelung beantragt und dann ihre Antwort auf das Auskunftsverlangen vorgelegt hat, deren Berücksichtigung bei ihrem Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung sie im Übrigen bei der Kommission beantragt hat, ermöglicht nicht, von der Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung abzuweichen. Schließlich hat KPN nichts vorgetragen, was eine Begründung dafür sein könnte, dass sie einen Zeitraum von elf Monaten verstreichen ließ, bevor sie ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung gestellt hat, z. B. Schwierigkeiten bei der intern durchgeführten Untersuchung.

63      Zweitens ist zu prüfen, ob die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie die Ermäßigung der Geldbuße von KPN aus dem Grund beschränkt hat, dass der Wert der Beweise, die KPN am 16. September sowie am 1. und 9. Oktober 2003 vorgelegt hat, durch die zuvor von den Unternehmen Nynas und Total abgegebenen Erklärungen gemindert worden sei.

64      Dem Akteninhalt ist zu entnehmen, dass KPN der Kommission am 12. September 2003 als zweites Unternehmen Informationen nach der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 geliefert hat, die einen erheblichen Mehrwert darstellten. Sie wartete jedoch bis zum 16. September 2003, um ergänzende Informationen vorzulegen, und obwohl die Kommission sie vor den Risiken gewarnt hatte, die vorgesehenen Gespräche mit den Mitarbeitern, die unmittelbar in das Kartell verwickelt waren, aufzuschieben, fanden sie erst am 1. und 9. Oktober 2003 statt. In diesem Zeitraum haben aber Total am 13. September 2003 und Nynas am 2. Oktober 2003 mit ihrer Antwort auf das erste Auskunftsverlangen der Kommission zahlreiche Informationen vorgelegt.

65      Nach Ansicht des Unionsrichters berücksichtigt die Kommission bei der Ermäßigung der Geldbuße innerhalb der vorgesehenen Bandbreite nicht nur das Maß des Mehrwerts der vorgelegten Beweise, sondern auch den Zeitpunkt, zu dem die genannten Beweise, die die Voraussetzung nach Abs. 21 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 erfüllen, übermittelt wurden. Sie muss somit den Umstand berücksichtigen, dass manche Beweise vorgelegt wurden, nachdem andere Adressaten wichtige Beweise vorgelegt hatten, was somit ihren Mehrwert mindert (Urteil General Química u. a./Kommission, oben in Randnr. 50 angeführt, Randnr. 147).

66      Im vorliegenden Fall hat die Kommission somit keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie den Umstand berücksichtigt hat, dass die von KPN im Oktober 2003 gemachten Angaben für sie zwar für die Beschreibung der Zuwiderhandlung nützlich waren, in Anbetracht der von zwei anderen Unternehmen in diesem Zeitraum gelieferten Informationen jedoch keine entscheidenden neuen Informationen enthielten.

67      Schließlich ist drittens zu prüfen, ob die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie der Meinung war, die Mitarbeiter von KPN hätten bei ihrer Anhörung ihre Erklärungen geändert, während sie diese angeblich nur klargestellt haben, indem sie erklärten, sie besäßen nur indirekte Beweise für die Teilnahme von ExxonMobil an der Zuwiderhandlung, und sie hätten sich nie darauf berufen, unmittelbare Beweise für diese Beteiligung zu besitzen.

68      Den Schriftsätzen der Parteien ist zu entnehmen, dass KPN in ihrer Erklärung vom 12. September 2003 fest behauptet hat, dass sich ExxonMobil „nach diesen Treffen im Rahmen bilateraler Kontakte mit anderen Lieferanten … selbst über den Ausgang dieser Treffen informiert hat“ und dass ihres Wissens „ExxonMobil diese Absprachen dann in die Praxis umgesetzt [hat]“. Ein ehemaliger Mitarbeiter von KPN hat in seiner mündlichen Erklärung vom 9. Oktober 2003 auch darauf hingewiesen, dass ExxonMobil zwar seit 1994 oder 1995 nicht mehr an den Treffen teilgenommen, sich jedoch weiter über das Ergebnis dieser Treffen informiert und entsprechend den daraus folgenden Entscheidungen verhalten habe (vgl. Randnrn. 208 bis 211 der Mitteilung der Beschwerdepunkte). Die Kommission hat sich bei ihrer Entscheidung, die Mitteilung der Beschwerdepunkte an ExxonMobil zu senden, im Wesentlichen auf diese Erklärungen (sowie auf diejenigen von Nynas) gestützt. Nachdem jedoch diesen Angaben von anderen Parteien in der Anhörung vom 15. und 16 Juni 2005, widersprochen worden war, hat KPN ihre Erklärungen am 28. Juni 2005 geändert, indem sie unter anderem eine Erklärung desselben ehemaligen Beschäftigten vorgelegt hat, in der dieser ausführt, dass die Beteiligung von ExxonMobil nur eine Vermutung von seiner Seite gewesen sei und er keinen Beweis dafür gehabt habe.

69      Diesen Schriftstücken ist zu entnehmen, dass die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie der Ansicht war, dass KPN ihren Standpunkt in Bezug auf die Beteiligung von ExxonMobil geändert habe und dass es sich nicht um bloße Präzisierungen aus eigener Initiative gehandelt habe.

70      Im Ergebnis ist das Gericht nach alledem der Ansicht, dass die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie die Ermäßigung der Geldbuße von KPN auf 30 % begrenzt hat.

 Zum Gleichbehandlungsgrundsatz

71      Im Stadium der Erwiderung haben die Klägerinnen ein zusätzliches Argument eingeführt, das zur Feststellung führen sollte, dass die Kommission sie nicht hätte bestrafen dürfen, weil sie ihre Erklärungen in Bezug auf ExxonMobil geändert hätten, und sie stützen dies auf einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz im Verhältnis zu BP.

72      Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist jedoch nur dann verletzt, wenn gleiche Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleichbehandelt werden (Urteil Raiffeisen Zentralbank Österreich u. a./Kommission, oben in Randnr. 49 angeführt, Randnr. 533), und die Kommission verletzt diesen Grundsatz nicht bei einer unterschiedlichen Behandlung wegen eines unterschiedlichen Grades der Zusammenarbeit, insbesondere durch die Lieferung unterschiedlicher Informationen oder die Lieferung der Informationen in unterschiedlichen Abschnitten des Verwaltungsverfahrens oder unter nicht gleichartigen Umständen (Urteil des Gerichts vom 6. Dezember 2005, Brouwerij Haacht/Kommission, T‑48/02, Slg. 2005, II‑5259, Randnrn. 108 und 109).

73      Da aber im vorliegenden Fall BP gemäß Nr. 8 der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 das erste Unternehmen war, das der Kommission Beweise vorgelegt hat, die es der Kommission ermöglichten, in einer Entscheidung unangekündigte Nachprüfungen anzuordnen, befindet sie sich auf alle Fälle nicht in der gleichen Situation wie KPN. Die Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 sieht nämlich vor, dass diesem ersten Unternehmen die Geldbuße vollständig erlassen wird, und zieht nicht die Möglichkeit in Betracht, diesen Erlass der Geldbuße abzuändern. Es ist somit nicht erforderlich, zu ermitteln, ob BP wie die Klägerinnen ihre Erklärungen betreffend ExxonMobil tatsächlich geändert hat.

 Zu den Verteidigungsrechten

74      Den Akten ist zu entnehmen, dass bei der Anhörung aller betroffenen Unternehmen durch die Kommission am 15. und 16. Juni 2005 mehrere von ihnen die Richtigkeit der Erklärungen von KPN betreffend ExxonMobil und Wintershall in Frage gestellt haben. Da KPN nicht in der Lage gewesen ist, in der Anhörung auf diese Entgegnungen zu reagieren, hat der Anhörungsbeauftragte sie aufgefordert, ihren Standpunkt innerhalb von acht Tagen zu bestätigen und zu klären. KPN sandte daraufhin am 28. und 30. Juni 2005 der Kommission neue Erklärungen ihrer beiden Mitarbeiter, in denen diese u. a. erläuterten, dass sie über keinen unmittelbaren Beweis der Beteiligung von ExxonMobil verfügt hätten und dass es sich nur um eine Vermutung gehandelt habe. Diese Ergänzungen wurden der Gesamtheit der Teilnehmer an der Anhörung mitgeteilt, und sie riefen mehrere Reaktionen hervor.

75      Am 8. Februar 2006 bat KPN die Kommission, sie in dem Fall zu informieren, dass bestimmte Reaktionen die Glaubwürdigkeit ihrer Ausführungen und folglich den Umfang der Ermäßigung ihrer Geldbuße beeinträchtigen könnten. Am 23. März 2006 hat sich die Kommission darauf beschränkt, KPN darauf hinzuweisen, dass über ihren Antrag auf Anwendung der Kronzeugenregelung erst am Ende des Verwaltungsverfahrens entschieden werde. Am 19. April 2006 beantragte KPN beim Anhörungsbeauftragten der Kommission, ihr Einsicht in die nichtvertraulichen Fassungen der schriftlichen Erklärungen der anderen Unternehmen zu gewähren, die die Glaubwürdigkeit der von ihr vorgelegten Beweise in Frage stellten und eine Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 zu ihren Gunsten beeinträchtigen könnten. Am 26. April 2006 lehnte der Anhörungsbeauftragte es ab, diesem Antrag stattzugeben, und er wies darauf hin, dass er einem Unternehmen Akteneinsicht in die Schriftstücke, die von anderen Unternehmen nach der Anhörung vorgelegt worden seien, nur gewähre, wenn die Kommission beschließe, sie in ihrer Entscheidung als Belastungsmaterial zu verwenden, und dass dies hier bei den Erklärungen, die von den anderen Unternehmen nach der Anhörung abgegeben worden seien und die bei der Beurteilung ihrer Zusammenarbeit keine Rolle gespielt hätten, nicht der Fall gewesen sei. Schließlich beantragte KPN am 12. Mai 2006 ergänzend bei der Kommission Einsicht in alle Schriftstücke, die die Glaubwürdigkeit ihrer Erklärungen beträfen und nicht allein in die Schriftstücke aus der Zeit nach der Anhörung. Diesem Antrag wurde nicht entsprochen.

–       Allgemeine Grundsätze zur Einsichtnahme in Schriftstücke aus der Zeit nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte

76      Gemäß Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. L 1, S. 1) „[gibt die Kommission v]or einer Entscheidung gemäß den Artikeln 7, 8, 23 oder 24 Absatz 2 … den Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, gegen die sich das von ihr betriebene Verfahren richtet, Gelegenheit, sich zu den Beschwerdepunkten zu äußern, die sie in Betracht gezogen hat“ und „[d]ie Kommission stützt ihre Entscheidung nur auf die Beschwerdepunkte, zu denen sich die Parteien äußern konnten“. Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt außerdem, dass „[d]ie Verteidigungsrechte der Parteien … während des Verfahrens in vollem Umfang gewahrt werden [müssen]“, dass „[diese] Recht auf Einsicht in die Akten der Kommission [haben], vorbehaltlich des berechtigten Interesses von Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse“ und dass „… vertrauliche Informationen sowie interne Schriftstücke der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten [von der Akteneinsicht ausgenommen sind]“. In ihrer Mitteilung über die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 [EG] und 82 [EG], der Artikel 53, 54 und 57 des EWR-Abkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates (ABl. 2005, C 325, S. 7) definiert die Kommission in Nr. 8 die „Akte der Kommission“ als bestehend aus „sämtlichen Schriftstücken bzw. Dokumenten …, die von der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission während des Verfahrens erhalten, erstellt oder zusammengestellt wurden“. In Nr. 27 dieser Mitteilung erklärt die Kommission, dass „die Akteneinsicht … auf Antrag und in der Regel einmalig nach Mitteilung der Beschwerdepunkte gewährt [wird], damit der Grundsatz der Fairness und die Verteidigungsrechte der Betroffenen gewahrt bleiben“, dass „in der Regel … daher keine Einsicht in die Erwiderungen der übrigen Betroffenen auf die Beschwerdepunkte der Kommission gewährt [wird]“, dass „[d]er Betroffene … dagegen Einsicht in Dokumente [erhält], die nach Übermittlung der Beschwerdepunkte in einem späteren Verfahrensstadium eingehen, sofern diese Dokumente neues be- oder entlastendes Beweismaterial zu den gegen diesen Betroffenen in den Beschwerdepunkten erhobenen Vorwürfen darstellen können“, und dass „[d]ies … insbesondere insofern [gilt], als sich die Kommission auf neue Beweise zu stützen beabsichtigt“.

77      Nach Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 [EG] und 82 [EG] (ABl. L 123, S. 18) „[gibt d]ie Kommission … den Parteien, an die sie eine Mitteilung der Beschwerdepunkte gerichtet hat, Gelegenheit, ihre Argumente in einer Anhörung vorzutragen, wenn sie dies in ihren schriftlichen Ausführungen beantragen“.

78      Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Beachtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts dar, der auch in einem Verwaltungsverfahren beachtet werden muss (Urteile des Gerichtshofs vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche/Kommission, 85/76, Slg. 1979, 461, Randnr. 9, und vom 2. Oktober 2003, ARBED/Kommission, C‑176/99 P, Slg. 2003, I‑10687). In diesem Sinne sieht die Verordnung Nr. 1/2003 vor, dass den Beteiligten eine Mitteilung der Beschwerdepunkte übersandt wird, in der alle wesentlichen Tatsachen, auf die sich die Kommission in diesem Verfahrensstadium stützt, klar angegeben werden müssen. Eine solche Mitteilung der Beschwerdegründe stellt eine Verfahrensgarantie dar, die Ausdruck eines tragenden Grundsatzes des Unionsrechts ist, dem zufolge die Verteidigungsrechte in allen Verfahren beachtet werden müssen (Urteil des Gerichtshofs vom 3. September 2009, Papierfabrik August Koehler u. a./Kommission, C‑322/07 P, C‑327/07 P und C‑338/07 P, Slg. 2009, I‑7191, Randnrn. 34 und 35).

79      Der Zweck der Akteneinsicht besteht in Wettbewerbssachen insbesondere darin, es den Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte zu ermöglichen, von den Beweisstücken in den Akten der Kommission Kenntnis zu nehmen, damit sie sinnvoll zu den Schlussfolgerungen Stellung nehmen können, zu denen die Kommission in ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte aufgrund dieser Beweisstücke gelangt ist. Die Akteneinsicht gehört somit zu den Verfahrensgarantien, die die Verteidigungsrechte schützen und insbesondere die effektive Ausübung des Anhörungsrechts sicherstellen sollen (vgl. Urteil des Gerichts vom 30. September 2003, Atlantic Container Line u. a./Kommission, T‑191/98 und T‑212/98 bis T‑214/98, Slg. 2003, II‑3275, Randnr. 334 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieses Recht bedeutet, dass die Kommission dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit geben muss, alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte zu prüfen, die möglicherweise für seine Verteidigung erheblich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 2. Oktober 2003, Corus UK/Kommission, C‑199/99 P, Slg. 2003, I‑11177, Randnr. 125, und Urteil des Gerichts vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission, T‑30/91, Slg. 1995, II‑1775, Randnr. 81). Zu ihnen gehören sowohl belastende als auch entlastende Schriftstücke mit Ausnahme von Geschäftsgeheimnissen anderer Unternehmen, internen Schriftstücken der Kommission und anderen vertraulichen Informationen (Urteile des Gerichtshofs Hoffmann-La Roche/Kommission, oben in Randnr. 78 angeführt, Randnrn. 9 und 11, und vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg. 2004, I‑123, Randnr. 68).

80      Nach der Rechtsprechung wird das betroffene Unternehmen erst zu Beginn des kontradiktorischen Abschnitts des Verwaltungsverfahrens durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte über alle wesentlichen Gesichtspunkte informiert, auf die sich die Kommission in diesem Verfahrensstadium stützt. Folglich gehört die Antwort der anderen Parteien auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte grundsätzlich nicht zu den Unterlagen der Ermittlungsakte, die die Beteiligten einsehen können (Urteil des Gerichts vom 30. September 2009, Hoechst/Kommission, T‑161/05, Slg. 2009, II‑3555, Randnr. 163). Will sich die Kommission jedoch auf einen Abschnitt in einer Erwiderung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte oder auf eine Anlage zu einer solchen Erwiderung stützen, um in einem Verfahren zur Anwendung von Art. 81 Abs. 1 EG das Bestehen einer Zuwiderhandlung nachzuweisen, so müssen die anderen Beteiligten dieses Verfahrens in die Lage versetzt werden, sich zu einem solchen Beweismittel zu äußern (vgl. Urteile des Gerichts vom 15. März 2000, Cimenteries CBR u. a./Kommission, Ciments, T‑25/95, T‑26/95, T‑30/95 bis T‑32/95, T‑34/95 bis T‑39/95, T‑42/95 bis T‑46/95, T‑48/95, T‑50/95 bis T‑65/95, T‑68/95 bis T‑71/95, T‑87/95, T‑88/95, T‑103/95 und T‑104/95, Slg. 2000, II‑491, Randnr. 386, und vom 27. September 2006, Avebe/Kommission, T‑314/01, Slg. 2006, II‑3085, Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

81      Beabsichtigt die Kommission, sich auf ein Schriftstück zu stützen, das aus der Zeit nach dem Versenden der Mitteilung der Beschwerdepunkte oder sogar aus der Zeit nach der Anhörung stammt und das sich möglicherweise auf die Höhe der Geldbuße auswirkt, die in der endgültigen Entscheidung gegen ein Unternehmen verhängt wird, muss dieses Unternehmen zur Sicherstellung der Beachtung der Verteidigungsrechte während des gesamten Verwaltungsverfahrens ebenso in die Lage versetzt werden, sich zu diesem Schriftstück zu äußern. Es kann sich u. a. um ein Schriftstück handeln, das sich auf die Anwendung der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 auf das genannte Unternehmen auswirkt.

82      Im Übrigen stellt nach der Rechtsprechung zu den Verwaltungsunterlagen vor Mitteilung der Beschwerdepunkte die unterbliebene Übermittlung eines Schriftstücks nur dann eine Verletzung der Verteidigungsrechte dar, wenn das betreffende Unternehmen zum einen dartut, dass sich die Kommission zur Untermauerung ihres Vorwurfs, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, auf dieses Schriftstück gestützt hat (Urteil des Gerichtshofs vom 9. November 1983, Michelin/Kommission, 322/81, Slg. 1983, 3461, Randnrn. 7 und 9, und Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Randnr. 79 angeführt, Randnr. 71) und zum anderen dieser Vorwurf nur durch Heranziehung des fraglichen Schriftstücks belegt werden kann (Urteile des Gerichtshofs vom 25. Oktober 1983, AEG-Telefunken/Kommission, 107/82, Slg. 1983, 3151, Randnrn. 24 bis 30, und Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Randnr. 79 angeführt, Randnr. 71; Urteil vom 29. Juni 1995, Solvay/Kommission, oben in Randnr. 79 angeführt, Randnr. 58). Der Gerichtshof unterscheidet insoweit zwischen be- und entlastendem Material. Bei einem Beweisschriftstück muss das betroffene Unternehmen dartun, dass das Ergebnis, zu dem die Kommission gekommen ist, anders ausgefallen wäre, wenn das Schriftstück ausgeschlossen worden wäre. Wurde dagegen ein entlastendes Schriftstück nicht übermittelt, so muss das betroffene Unternehmen nur nachweisen, dass seine Nichtoffenlegung den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung der Kommission zu seinen Ungunsten beeinflussen konnte (Urteil Aalborg Portland u. a./Kommission, oben in Randnr. 79 angeführt, Randnrn. 73 und 74). Diese Unterscheidung gilt auch für Schriftstücke aus der Zeit nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte (Urteil des Gerichts vom 27. September 2006, Jungbunzlauer/Kommission, T‑43/02, Slg. 2006, II‑3435, Randnrn. 351 bis 359).

83      Auch was ein Schriftstück betrifft, das möglicherweise zu einer Erhöhung der von der Kommission in ihrer abschließenden Entscheidung verhängten Geldbuße führt, ist es Sache des betroffenen Unternehmens, nachzuweisen, dass die Kommission zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn dieses Schriftstück zurückgewiesen worden wäre.

–       Anwendung im vorliegenden Fall

84      Im vorliegenden Fall ist den Akten zu entnehmen, dass die Klägerinnen der Ansicht sind, dass ihnen der Zugang zu den Kommentaren der anderen Unternehmen zur Glaubwürdigkeit der von den Beschäftigten von KPN gelieferten Beweise, und insbesondere den zusätzlichen Erklärungen, die Letztere nach der Anhörung abgegeben hätten, hätte ermöglicht werden müssen.

85      Die Klägerinnen haben sich jedoch darauf beschränkt, ganz allgemein und rein spekulativ auszuführen, dass die Nichtoffenlegung der in Rede stehenden Schriftstücke die Entscheidung der Kommission über die Höhe der Ermäßigung der Geldbuße möglicherweise beeinflusst habe und dass die Kommission möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn diese Schriftstücke abgelehnt worden wären. Sie haben somit keinen besonderen Hinweis geliefert, der einen ersten Beweis in diesem Sinne hätte darstellen können.

86      Darüber hinaus hat sich die Kommission jedenfalls für die Entscheidung über die Höhe der den Klägerinnen gewährten Ermäßigung der Geldbuße darauf beschränkt, den Umstand zu berücksichtigen, dass KPN bestimmte Erklärungen in Bezug auf ExxonMobil neu formuliert hat, und hat nicht irgendeine Reaktion eines anderen Unternehmens zur Glaubwürdigkeit der Erklärungen von KPN erwähnt (Randnr. 385 der angefochtenen Entscheidung).

87      Die Klägerinnen haben somit nicht nachgewiesen, dass die Kommission sich auf die Bemerkungen von Unternehmen zur Glaubwürdigkeit der von KPN vorgelegten Beweise gestützt hat, um den Umfang der Ermäßigung der Geldbuße auf der Grundlage der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002 zu beschließen. Folglich können sie sich nicht auf die fehlende Offenlegung der in Rede stehenden Schriftstücke berufen.

88      Somit ist auch das Vorbringen einer rechtswidrigen Ablehnung der Akteneinsicht und der Verletzung der Verteidigungsrechte zurückzuweisen.

89      Nach alledem ist die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

90      Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen gemäß den Anträgen der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Kuwait Petroleum Corp., die Kuwait Petroleum International Ltd und die Kuwait Petroleum (Nederland) BV tragen die Kosten.

Jaeger

Wahl

Soldevila Fragoso

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. September 2012.

Unterschriften

Inhaltsverzeichnis


Sachverhalt

Verfahren und Anträge der Parteien

Rechtliche Würdigung

1.  Zum Verstoß gegen Nr. 23 Buchst. b letzter Unterabsatz der Mitteilung über Zusammenarbeit von 2002

Vorbringen der Parteien

Würdigung durch das Gericht

2.  Zur Höhe der Ermäßigung der Geldbuße

Vorbringen der Parteien

Würdigung durch das Gericht

Zu den Rechtsfehlern

Zur Begründungspflicht

Zu den offensichtlichen Beurteilungsfehlern

Zum Gleichbehandlungsgrundsatz

Zu den Verteidigungsrechten

–  Allgemeine Grundsätze zur Einsichtnahme in Schriftstücke aus der Zeit nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte

–  Anwendung im vorliegenden Fall

Kosten


* Verfahrenssprache: Englisch.